Deutsch-Japanische Gesellschaft Baden-Württemberg e.V. バーデンヴュルテンベルク州独日協会 Bambusblätter Informationen für die Mitglieder und Freunde der Deutsch-Japanischen Gesellschaft BW e.V. April 2009 Liebe Mitglieder, liebe Japanfreunde, wir begrüßen Sie herzlich zur April 2009 Ausgabe der Bambusblätter, der dritten in Langform. Den Hauptbeitrag lieferte uns dieses Mal Prof. Dr. Fritz Opitz, der vormalige Leiter des Tübinger Seminars für Japanologie. Er stellt eine Zusammenfassung seines Vortrags zur Entstehung des japanischen Nationalgefühls dar, den er am 11. November 2008 gehalten hat. Betitelt „Nihonjinron“, was wörtlich übersetzt „Wissenschaft vom japanischen Menschen“ heißt. Der Vortrag erhellt nicht nur die Entstehung des speziell japanischen Nationalgefühls, sondern gibt auch Aufschluss darüber, wie gemeinsame Gefühls- und Gemütslagen überhaupt entstehen können und entstanden sind. Auch die anderen Beiträge, ohne sie hier einzeln zu benennen, geben uns Aufschluss über Aspekte der fernöstlichen Kultur mit dem Ziel zu erkennen, was der Autor des Buchs von Tao bereits ausgedrückt hat: „Nicht nur bei uns wird mit Wasser gekocht und mit Butter gebraten“, d.h. Fremdartigkeit erklärt sich nicht aus Mystik, sondern aus unseren eigenen Gemüts- und Stimmungslagen. Die Bambusblätter in Langform finden Sie auf unserer Homepage http://www.djg-bw.de Dort können sie gelesen werden und bei Interesse können Sie diese herunter laden (Download). Aus finanziellen Gründen ist die Gesellschaft z.Zt nicht in der Lage, gedruckte Hefte herauszugeben. Dr. Hans-Dieter Laumeyer für den Vorstand der DJG- BW e.V. 1 Inhalt Festvortrag anlässlich des Shinnenkai 2009 im Linden-Museum Lyrische Gesänge Nihonjinron – Entstehung des japanischen Nationalgedankens Japans Selbstverteidigungs –Streitkräfte Rudolf Steiner in Japan Shakuhachi Konzert Haruki Murakami, sein „Mister Aufziehvogel“ und die Prägung der Helden Dr. H.D- Launeyer, Zum neuen Jahr Mitteilungen Seite 4 Seite 5 Seite 6 Seite 26 Seite 31 Seite 41 Seite 49 Seite 58 Seite 62 Gedichtet und vorgetragen zur Begrüßung der SHINNENKAI 2009 Teilnehmer durch den Präsidenten Dr. H.-D. Laumeyer 2009 - Das Jahr der Kuh In Nippon nennt man mich statt Kuh: Ushi - und ich sag Muh dazu! Doch wenn ihr mich am Schwanze zieht So wisst ihr, was im Jahr geschieht Du musst mir nur - wie allen Frauen Ganz tief in meine Augen schauen Und sag mir tausend schöne Sachen Die schmeicheln und mich glücklich machen Dann wird’s für euch ein gutes Jahr Gesund wie frucht - und wunderbar Denn jetzt beginnt das Jahr der Kuh Der Ushi - ich sag Muh dazu! Streich mir mein Fell, sprech mir ins Ohr Denn Gras ist sicher auch was Feines Nachhaltigkeit ist mir sehr teuer Und lieb als altem Wiederkäuer Ägypter nannten mich Hathor Auch Zeus hat mich wohl gut gekannt - Und Hera Kuhäugige genannt Den Indern bin ich Weltenmutter Den Deutschen bring ich Milch und Butter Yoghurt und Eiskrem allerorten Und all die guten Käsesorten Darum ein Hoch auf mich, die Kuh Auf Ushi - ich sag Muh dazu! Drum schau mir in die Augen, Kleines Man lobt auch meine Sparsamkeit Die hoch des Schwaben Herz erfreut So bleibt euch weiter nichts zu tun Als an mir lehnend auszuruh’n Und stürzt die Welt auch in die Krise Und macht auch jede Bank nur Miese An meinem wunderschönen Wesen Soll dieses Jahr die Welt genesen Beginnt das neue Jahr der Ushi Mit Shinnenkai - auch ohne Sushi! Bei der Suche nach einem geeigneten Bild für das japanische Tierkreiszeichen zum Jahr 2009, passend zum Gedicht von der Roten Kuh, legte Herr Andris aus seinem Fundus das folgende Bild vor, wobei er nicht ahnte, dass es in Japan ein bekanntes Sprichwort illustriert und eine 2 Episode darstellt, die in Nagano stattgefunden hat. Es zeigt einen Stier, dem eine alte Frau hinterherläuft, weil er die Wäsche auf die Hörner genommen hatte, die sie mühsam auf die Leine spannte. Die fünf anderen Personen betrachten erstaunt als Zuschauer am Wegrand den Vorfall. Die umgebende Schönschrift gibt Auskunft über das Ereignis. Da der Zweck von Schönschrift nicht unbedingt gute Lesbarkeit ist, will ich die Episode in eigene Worte fassen und bitte zu entschuldigen, dass sie der Ästhetik der Darstellung nicht entsprechen werden. Das Sprichwort lautet wörtlich: „Ushi ni hikarete Zenkoji mairi“, übersetzt „Von einem Stier zum Tempel Zenko geführt werden“. Was soll der Witz an diesem Spruch sein, werden Sie jetzt fragen. Ein sehr tiefsinniger, wie Sie gleich sehen werden, nämlich: „Ein Mensch kann durch Zufall auf den richtigen Weg, zum Glauben oder zur Erkenntnis geführt werden!“ Natürlich kennt jeder Japaner die Episode, die das Verständnis der dürren Worte aufschließt: Der Tempel Zenko in Nagano stellt einen Wallfahrtsort dar, den jeder in seinem Leben besucht haben sollte. Die alte Frau aus einem Dorf 30 km von Nagano hatte ihn aber noch nie aufgesucht, weil sie nicht an Unsinn glaubte. Bis der Stier vorbei kam und ihr die Wäsche entführte. Dem lief sie hinterher, bis zum Tempel nach Nagano. Dort wurde sie eine Gläubige und die Heldin einer Legende. 3 Prof. Dr. Peter Thiele Shintô, die ursprüngliche Religion Japans Festvortrag anlässlich des Shinnenkai 2009 im Linden-Museum Wer komplizierte Erklärungen zum Shintô erwartet hatte, wurde enttäuscht. Prof. Thiele zeigte herrliche, farbgesättigte Dias von Reisfeldern, Schreinen und folkloristischen Festveranstaltungen. Denn das ist es, was den Shintô ausmacht. Reis ist die Pflanze, die seit jeher die Basis der japanischen Ernährung darstellt. Die Kultivierung von Reisfeldern erfordert kollektive Zusammenarbeit von Dorfgemeinschaft, allein schon, um die Wasserversorgung der Felder in Betrieb zu halten. Der Reisanbau förderte das Zusammenleben der Menschen bei der Arbeit aber auch bei festlichen Zeremonien im Ablauf des Jahres. Dabei handelt es sich um die Bitten für Regen oder gute Ernten und um Erntedankfeiern, also nichts Ungewohntem. Der naturgegebene Ablauf von Arbeits- und Festvorgängen hat typische Werkzeuge, Gegenstände und Riten hervorgebracht, die uns Prof. Thiele auf seien Dias mit passenden Worten vorstellte. Mit dem Aufkommen des Buddhismus wurde Shintô nicht verdrängt, sondern integriert. Der Begriff Staats - Shintô entstand erst in der Meiji-Zeit, nach der Wiedereinsetzung des Kaisers in seine weltlichen Funktionen, um seine Verwurzelung in uralten Traditionen zu betonen. Als oberster Priester des Shintô wurde seine Authorität nie ernsthaft in Frage gestellt. ティーレ教授の講演要約 日本文化の根源と価値観の一つに数えられる神道を私達はまた“Shintoismus“と呼 んでいます。神道の概念は中国のシンダオ(神への道)に由来しています。日本で は仏教到来(651年)まで全ての宗教観念がこの概念をもとに理解されていまし た。神道はよって日本人の元来の宗教だとも言え、今日に至るまでいつも多くの神 社で特別な自然美のなかで挙げられる儀式や式典を通して一般庶民にしっかりと定 着しているのです。新年会もそのような祭式のひとつに数えられ私達は新年祝祭と 呼んでいます。日本人はこの機会に神社に参って神々に旧年中無事に過ごせたこと に感謝し来る年が神の祝福と援助により成功の年となりますよう祈るのです。6x 6のスライド講演で私は皆様にいろんな種類の神社を紹介するとともにそれに関連 しての特種な建築様式、神社の立地条件並びに式典の特徴やいわれを画像で呈示し ながら考察していくつもりです。 4 Teru Yoshihara und Mai Damerau-Shigeoka „Lyrische Gesänge“ Der Vortrag des musikalischen Duos anlässlich der Shinnekai - Veranstaltung der DJG-BW im Linden – Museum am 23.1.2009 bezog sich auf das Werk des Dichters Hakushu Kitahara ( 1885 – 1942 ). Seine Schaffenszeit begann in der Taisho – Periode und endete in der Amtszeit des Showa - Kaisers. Die Spanne reichte von einer Zeit, in der das moderne Japan sein Selbstbewusstsein gefunden hatte nach militärischen Siegen über Russland und seinem wirtschaftlichen Aufschwung im ersten Weltkrieg und endete in der Atmosphäre der anfänglichen Blitzsiege des WWII. Der Überschwang der Erfolge nährte den Wunsch der Volksmassen nach Demokratie und die anfänglichen Blitzsiege wurden wohl auch als passende Antwort auf das Bestreben des Westens angesehen, durch diskriminierende Maßnahmen, verlorenes Terrain zurück zu gewinnen. Kitahara hatte alle damals im Westen gepflegten Stilrichtungen und Formen ausprobiert ohne die eigenen Traditionswurzeln zu verleugnen. Seine Gedichte wurden von den zeitgenössischen Komponisten aufgegriffen und vertont. Das alles trug der Bariton den Zuhörern mit bewegten Gesten vor, bevor er die ersten Beispiele der Lieder Kitaharas in Begleitung von zarten Tönen, die Frau Shigeoka ihrem Hammerflügel entlockte, anstimmte. Besonders mit dem Vortrag der Kinderlieder erfreute das Duo sowohl das rhythmische als auch das melodische Empfinden der Zuhörer. Aber es waren nicht nur die Lieder, die begeisterten, sondern auch die Erklärungen, die der Sänger in witziger, die Neugierde der Zuhörer herausfordernder Weise gab. Immerhin war es für ihn eine Fremdsprache, in der er seine Kommentare vortrug. Seine Erklärungen zu spezifischen Besonderheiten der japanischen Musik waren verständlich, plausibel und an den Beispielen nachvollziehbar. Er führte sie auf Unterschiede in den Tonleitern zurück, die in Ost und West gepflegt wurden sowie auf eine speziell in Japan geschätzte Ästhetik, die des Abklingens. Was die Tonleitern betrifft, so sind sie im Westen seit den Pythagoräern von Zahlen geprägt, die der Harmonie der Sphären zugrunde liegen, im Osten sind die Tonleitern von den Tönen geprägt, die bestimmte Instrumente hervorzubringen vermögen. In China und Japan waren Fünftonleitern unterschiedlicher Ausprägung im Einsatz. Die Ästhetik des Abklingens kann anhand der Art und Weise erläutert werden, wie in Japan Glocken zum Klingen gebracht werden, nämlich nicht als harmonisches Geläut mehrerer Glocken, sondern durch Anschlagen einer einzelnen. Erst wenn der Ton verklungen ist, wird sie erneut angeschlagen. Das Ausklingen des Tons wird bewundert. In der Sylvesternacht werden Tempelglocken 108 Mal hintereinander angeschlagen. Ein anderes Beispiel für Abklingen ist die Vorliebe der Japaner für Hanabi (Kirschblütenschau). Das Vergehen und Abfallen der Blütenblätter wird als bemerkenswert empfunden nicht das Anschwellen der Knospen oder das Aufgehen der Blüten, die im Westen größere Beachtung finden. Mit dem Aufschwellen von Tönen wird im Westen die Aufmerksamkeit der Zuhörer angeregt. Johann S. Bach soll einmal gesagt haben: „Es gibt gute Musik und es gibt schlechte Musik.“ Nach meinem Empfinden war es gute Musik, die das Duo vortrug. (GWW) 5 Teru Yoshihara und Mai Damerau-Shigeoka beim Vortrag japanischer Lieder ------------------------------------------------------ Prof. Dr. Fritz Opitz Nihonjinron – Entstehung des japanischen Nationalgedankens Gehalten am 21. November 2008 im japanologischen Seminar der Universität Tübingen. (Der Vortrag gab nicht nur Aufschlüsse über die Entstehung des japanischen Nationalgedankens, sondern über die Entstehung von kollektiven Gefühls- und Stimmungslagen allgemein) 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 Marko Matijevic Japans Selbstverteidigungs –Streitkräfte Zusammenfassung des Vortrags vom 5.12.2008 im Bürgerhaus Stuttgart-West Die Entstehung der JSDF 1 1. 1.1 Ursache und Wirkung Japan war nach 1945 ein vom Krieg gezeichnetes Land. Die zwei Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sowie die Zerstörung anderer Städte, hatten die japanische Bevölkerung nicht nur physisch, sondern auch psychologisch stark getroffen. Es setzte sich eine Welle von Flüchtlingen aus den ehemaligen Kolonien Japans in Bewegung, begleitet von der Stadtbevölkerung Japans, die vor den Luftangriffen in ländliche Gegenden flüchtete, nun aber in die zerbombten Städte zurück strömte. Das Chaos in den überfüllten Städten, der Hunger und die Entbehrungen der folgenden Jahre, blieben der Kriegsgeneration Japans als Trauma in Erinnerung. Das besiegte Japan wurde von US-Truppen okkupiert und verwaltet, unter Leitung von General Douglas MacArthur und dem GHQ (General Headquarter). Alle staatlichen Institutionen Japans waren diesem unterstellt und von dem GHQ erlassene Direktiven hatten einen gesetzesähnlichen Status. Die ersten Jahre nach Kriegsende waren vom Wiederaufbau geprägt und brachten Frieden ins Land, wenn auch mit großen politischen und sozialen Veränderungen. Neben der auferlegten Demokratisierung nach amerikanischem Vorbild und Demilitarisierung des Landes, war es den Japanern selbst ein wichtiges Anliegen, die Fehler der jüngsten Vergangenheit keines Falls zu wiederholen. Der Wille sich zukünftig ohne ein Militär und nur mit diplomatischen Mitteln der Konfliktlösung zu widmen, war nicht zuletzt auch im Interesse der USA. Entsprechend wurde von den Vätern der japanischen Nachkriegsverfassung Artikel 9 definiert, der den Verzicht auf Streitkräfte und das Recht eines Staates auf Kriegsführung erklärt. Kapitel 11, Artikel 9 der Verfassung2 §1 Aufrichtig nach einem internationalen Frieden strebend, basierend auf Recht und Ordnung, verzichtet das japanische Volk für immer auf Krieg als souveränes Recht einer Nation sowie auf die Androhung und den Einsatz von Gewalt, als ein Mittel internationale Konflikte zu lösen. §2 Um die Absicht des vorangegangenen Paragraphen in die Tat umzusetzen, werden niemals Land-, See- und Luftstreitkräfte oder andere Kriegspotentiale unterhalten. Das Recht eines Staates auf Kriegsführung wird nicht anerkannt.3 1.2 Eine Lüge wird zur Normalität Am 25.06.1950 begann der Koreakrieg. Noch im selben Jahr wurde Japan zum Hauptumschlagplatz für Truppen und Material der Vereinten Nationen, die im Koreakrieg 1 JSDF: Japan Self Defense Force/Nihonkoku Jieitai (“ú–{‘Ž©‰q‘à). In Kraft seit dem 03.05.1947. 3 Maeda, Tetsuo: The Hidden Army-The Untold Story of Japans Military Forces. Tokyo, 1995, Part I. 2 26 involviert waren und General MacArthur zum Oberkommandierenden der Streitkräfte in Korea ernannte. Während die Öffentlichkeit in Japan sich noch in Sicherheit wähnte, wurde in Tokio bereits die Aufstellung einer bewaffneten Polizeireserve vorbereitet, die mit einer Direktive des GHQ umgesetzt wurde. Obwohl nur unter Protest und mit Bezug auf Artikel 9, war die Entscheidung des GHQ jedoch endgültig. Nach dem Seoul in die Hände der Nordkoreaner viel, befanden sich die Truppen der Vereinten Nationen auf dem Rückzug. Washington entschied die in Japan stationierten U.S.-Truppen nach Korea zu verlegen, um das Blatt zu wenden und eine Niederlage zu vermeiden. Gleichzeitig wurde eine Vergrößerung der Polizeireserve angeordnet. Im GHQ wurden damit konkrete Schritte zum Aufbau japanischer Streitkräfte unternommen Nach dem in Regierungskreisen bekannt wurde, in welchem Umfang sich die Polizeireserve wiederbewaffnete, wurde am 21.07.1950 von der Sozialistischen Partei Japans die offene Diskussion dieses Problems verlangt. Premier Yoshida hoffte hingegen, die Sache mit etwas Glück am Parlament vorbei regeln zu können. Ohnehin wären die Ansichten der japanischen Regierung ohne Belang gewesen, da das GHQ durch die Potsdamer Deklaration von der japanischen Verfassung nicht eingeschränkt werden konnte. Statt über die Polizeireserve zu debattieren, wurde das Parlament vor vollendete Tatsachen gestellt. Man unternahm alles um die öffentliche Debatte zu umgehen. Am 10.09.1950 wurde die Regierungsverordnung Nr. 260 bekannt gegeben. Im Einklang mit der Potsdamer Deklaration konnten nun Entscheidungen der Regierung, die auf GHQ Direktiven basierten, auch ohne direkte Zustimmung durch das Parlament durchgesetzt werden4. Damit war auch Japans große Lüge entstanden, die später Panzer, Flugzeuge und Schiffe nicht als Waffen bzw. NichtKriegswaffen proklamierte. Mit Korea kam die Verhärtung in der internationalen Politik zwischen Ost und West – der kalte Krieg. Er war das Alibi des Ausbaus der einstigen Polizeireserve zu einer schlagfertigen Streitkraft. Die Bildung der NATO 1949 und der AntiKommunismus Japans haben dies nur beschleunigt. Die japanische Regierung, die Öffentlichkeit und auch die Rekruten selbst wußten, daß es sich um eine Armee handelt, aber niemand schien dies mit Artikel 9 der Verfassung in Einklang bringen zu können. Es schien daher angebracht darüber zu schweigen. Schließlich einigte man sich mit dem GHQ, die neue Truppe und ihre Ausrüstung einfach mit anderen Bezeichnungen zu benennen, als sie zu Kriegszeiten üblich waren. Dies geschah in der Hoffnung man könne den eigentlichen Zweck dieser Truppe verschleiern. Mit der Zeit kam auch die Verwaltungsform zur Sprache. Von amerikanischer Seite ließ man keinen Zweifel daran, daß man auf eine Zivilverwaltung bestand. Auf japanischer Seite drängten viele ältere Offiziere auf eine militärische Verwaltung, was aber nicht in Frage kam. Man wollte eine klare Trennung von Administration und Exekutive. Das amerikanische Modell sollte als Vorbild dienen. Es wurden später zwar vermehrt ehemalige Offiziere der kaiserlichen Armee in die Truppe aufgenommen, da ihr Fachwissen in militärischen Fragen unentbehrlich war, aber der Zugang in die Verwaltung blieb ihnen verwehrt5. 1952 wurde die Polizeireserve in Sicherheitskräfte umbenannt und am 01.04.1953 die Sicherheitsakademie eröffnet 6 . Ziel war es, zukünftige Führungskräfte mit Demokratieverständnis und mehr Humanismus auszubilden und Offiziere zu staatsbürgerlich orientierten Gentlemen zu erziehen. Die Schwerpunkte bei der Ausbildung lagen damals daher auf den Naturwissenschaften und dem Ingenieurwesen. Allerdings wurden diese Anfänge durch die schlechte, öffentliche Meinung getrübt. Sie wurden von den Medien als „Diebe der öffentlichen Staatsgelder“ beschimpft 7 . Man empfand sie als eine gesellschaftliche 4 Ders., a. a. O., S. 10 Ders., a. a. O., S. 26 6 Ders., a. a. O., S. 53 7 Ders., a. a. O., S. 55 5 27 Peinlichkeit und Parasiten 8 . Der Anreiz für die jungen Männer lag aber in den Verdienstmöglichkeiten. Das Monatsgehalt lag bei anfangs 5.000 Yen und wer nach zwei Jahren ausschied bekam eine Abfindung von 60.000 Yen. Ein Durchschnittsgehalt in Japan lag zu jener Zeit bei nur 3.000 Yen. Auf die 75.000 ausgeschriebenen Stellen bewarben sich 382.003 Personen9. 1953 schien sich ein Ende des Koreakonfliktes abzuzeichnen. Zuvor wurde die Okkupation Japans 1951 wieder aufgehoben. Damit war Japan wieder ein souveränes Land. Doch noch immer bewegten sich die Sicherheitskräfte im Schatten der Vereinigten Staaten, als ihren quasi Geburtshelfer. Auch in Japan wurde die politische Lage der Welt verfolgt und man war sich im klaren darüber, daß Japan Wohl oder Übel ein Militär haben müsse. Allerdings gab es immer noch den Verfassungsartikel 9. Während all der Jahre wurden die Sicherheitskräfte aufgerüstet. Die Vereinigten Staaten machten den Vorschlag eines gegenseitigen Sicherheitsvertrages - dem „Mutual Security Assurance“ (MSA)10. Das MSA war ein ökonomisches und militärisches Unterstützungsprogramm für junge Demokratien. Japan war von nun an ein Bündnispartner und zog eine Reorganisierung der Sicherheitskräfte in Betracht. Nach Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten wurden im Juli 1954 die Sicherheitskräfte in Selbstverteidigungs-Streitkräfte umbenannt11 1.3 Artikel 9 Was Artikel 9 angeht, so hat man diesen sehr simpel interpretiert. Unter Kriegspotential müsse man all das verstehen, was über das nötige Minimum zur reinen Selbstverteidigung hinaus geht. Auf japanisch: „Senryoku naki guntai“ •í—Í–³‚«ŒR‘à („Militär ohne Kriegspotential“) 12 . Damit wurde auch der Begriff der Kriegsführung nicht mehr als Kriegspotential verstanden. Doch bis heute gibt es unaufhörliche Debatten über die Verfassungsmäßigkeit der Selbstverteidigungsstreitkräfte, ihre Bewaffnung, den Einsatz von Truppen und Japans angemessene, strategische Interessen. Dies hat bis heute zur Spaltung der politischen Meinung geführt und anfänglich zur Antipathie seitens der Gesellschaft. Fakt aber bleibt, daß es die Streitkräfte gibt. 2. Die JSDF und die Bevölkerung 2.1 Zwischen Realpolitik und öffentlicher Meinung In Japan konnten zu Zeiten des kalten Krieges wenige behaupten, sie hätten sich bedroht gefühlt13. Das öffentliche Bewußtsein in Japan ist seit jeher stark insular geprägt. Insbesondere in Bezug auf die frühere UDSSR schien man sich lange keiner großen Bedrohung bewußt. Die Gewißheit auf Inseln zu leben und keine gemeinsamen Landgrenzen mit der UDSSR zu haben, hat ein relativ starkes Sicherheitsgefühl entstehen lassen14. Hiroshima und Nagasaki sind die ausschlaggebenden Erfahrungen der japanischen Bevölkerung, in Hinsicht auf die Antimilitär- und Antikriegshaltung der Menschen. Trotz Wiederbewaffnung scheint aber bis heute die Haltung „nie wieder Krieg“ in der Öffentlichkeit weithin präsent. Stärker als zum Beispiel in der BRD. Auch die japanische Verfassung ließ keinen Zweifel an dem antimilitärischen Geist Japans. Zum Teil wurde dies natürlich auch durch die Besatzungspolitik gelenkt. Eine Änderung des Artikel 9 wäre schon 8 Ders., a. a. O., S. IX Ders., a. a. O., S. 16 10 Ders., a. a. O., S. 71 11 Ders., a. a. O., S. 58 12 Ders., a. a. O., S. 78 13 Wettig, Gerhard: Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Japan und der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Zwei Zaghafte Riesen?; A. Baring/M. Sase (Hrsg.), Stuttgart u. Zürich, 1977 14 Ders., a. a. O., S. 321 9 28 damals kaum möglich gewesen, denn in Japan muß dafür eine 2/3 Mehrheit im Parlament erreicht werden und noch zusätzlich die Mehrheit durch einen Volksentscheid15. Im Juni 1960 kam es nach der Unterzeichnung eines neuen Sicherheitsvertrages mit den USA zu Unruhen in Japan. Die antimilitaristische Opposition wurde zunehmend radikal. Die allgemeine antimilitärische Haltung der Bevölkerung führte zur verstärkten Ablehnung der JSDF. Es drohten soziale Isolation und Gettoisierung der Stützpunkte. In den 50er und 60er Jahren war dies dann meist der Fall. Die JSDF fand in der Masse der Bevölkerung keine Akzeptanz. Hervorgerufen durch die überwiegend ablehnend orientierten Massenmedien und die oppositionelle Haltung der Sozialistischen Partei Japans. Innenpolitisch ging es den Sozialisten aber gar nicht so sehr um die JSDF, sondern viel mehr um den eigenen Ausschluß von einer Chance zur Regierungsbeteiligung durch die Konservativen. Die Folgen dieses Streits aber gingen zu Lasten des sozialen Ansehens der Soldaten16. In den 70er Jahren kam es zum Meinungsumschwung in der breiten Bevölkerung, jedoch nicht in den Massenmedien und auch nicht bei den Sozialisten. Es wäre aber an dieser Stelle übertrieben von erhöhter Akzeptanz zu sprechen, denn es handelte sich nur um eine Billigung der Existenz der JSDF17. Es ist anzunehmen, daß man sich mit der Existenz eines japanischen Militärs abgefunden hatte, zumal sich die Weltpolitik stark gewandelt hatte. Konflikte wie in Korea (1950-1953) und Vietnam (1965-1975) haben gewiß zum Teil einen Wandel bei der breiten Bevölkerung bewirkt. Doch was tat die JSDF um ihre Existenz zu rechtfertigen? Seitens ihrer Führung will man möglichst wenig politische Angriffsfläche bieten. Um ihren zivilen Charakter zu betonen, werden bis heute die militärischen Bezeichnungen von früher absolut vermieden (z. B. Dienstränge von damals). Dem zivilen Image versucht man durch Nebenaufgaben (Sekundäraufgaben) gerecht zu werden, wie z. B. dem Katastrophenschutz, der Logistik, der Personenrettung, der Kampfmittelbeseitigung und Forschung (Arktisforschung und Ozeanographie). Trotzdem ist die JSDF den Angriffen der Sozialisten und Medien weiterhin ausgesetzt, obwohl die Bevölkerung mittlerweile deutlich freundlicher eingestellt ist 18 . Da Japan ein Land ist, das auf Grund seine Geographie und Geologie ständig Erdbeben, Tsunamis, Vulkanen und Taifunen ausgesetzt ist, scheinen die Sekundäraufgaben für die Bevölkerung weit wichtiger, als die Primäraufgabe – die Landesverteidigung. 2.2 Die JSDF heute Der Einsatz der JSDF außerhalb Japans stellt immer noch juristisch und politisch ein Problem dar, da viele diesen für absolut verfassungswidrig halten, andere ihn aber als Erfüllung der Bündnispflicht betrachten. Oft wird daher gerne militärisches mit humanitärem vermischt, wenn nicht sogar überdeckt. Seit Anfang der 90er Jahre war der Kurs der japanischen Außenpolitik deutlich aktiver, wenn es um die Präsenz Japans bei internationalen Krisen ging. Das probateste Mittel dazu war und bleibt aber die JSDF. Der heutige Zulauf an Personal und die Akzeptanz in der Bevölkerung kommen aber nicht allein aus einem falschen Enthusiasmus, daß man mit Hilfe der JSDF die Welt retten könne, sondern aus reinem Pragmatismus. Mit Ende der 90er Jahre und dem Platzen der Bubble Economy kam eine soziale Krise in Japan auf, die zu einem Umdenken führte. Während bis dahin die meisten Stellen in der Wirtschaft sicher schienen, war man nun mit dem Phänomen 15 Ders., a. a. O., S. 320 Ders., a. a. O., S. 323 17 Ders., a. a. O., S. 324 18 Ders., a. a. O., S. 329 16 29 einer spürbaren Arbeitslosigkeit konfrontiert. Junge Japaner zogen und ziehen seitdem den Beruf des Soldaten und Staatsbürgers in Uniform durchaus in Betracht. Der Wohlstand und die Sicherheit des japanischen Volkes sind mehr denn je in das Bewußtsein der Öffentlichkeit getreten. Das Hegemoniestreben der Volksrepublik China, die Aufrüstung Nordkoreas und der Kampf gegen den Terrorismus haben ihren Anteil daran, wie auch das Bewußtsein über die schwindenden Ressourcen weltweit. Eine Industrienation, wie Japan, ist daher zum handeln gezwungen. Eine Verfassungsänderung ist daher letztendlich die einzige Möglichkeit. Diese gestaltet sich jedoch äußerst schwierig, da selbst die konservative LDP durch ihre starke Zersplitterung in interne Gruppen mit Partikularinteressen (Faktionen) und die Sozialisten kaum eine einfache und schnelle Einigung finden werden. 日 本 国 自 衛 隊 (JSDF) 日本政府は90年代から新しい外交政策と安全保障政策(ASP)を定義して来ま した。 日本が80年代末国際的に特に金銭、資材と人材で人道的活動をサポートしていた 間90年代初頭来既に軍事作戦遂行が新しくASPに加わったのです。 発起は日本が「グローバル プレーヤー」としてもアジアの領域を超えてまで相応 の影響を保証するため頑張り通したことによります。 最近の出動と JSDF の対テロ戦、それに憲法第9条にしても逆説的に軍隊を持つこと に反対することが内政の激論となりました。新しいASPの支持者はこの条項の変 更を要求しています。 今日のJSDFはもはや今までの様に日本社会で影のような存在ではなくなり、 とりわけ最近の経済危機来軍隊に求人が殺到するようになったことを喜んでいるの です。世間のイメージにも変化があったように思えます。講演は(言葉、画像、 音声で)簡単にJSDFの歴史、その課題とその結果出された論争上の問題点を テーマとしています。 講演者:マルコ マティエヴィッチ、政治学(副専門科目 日本学)修士、 ドイツ海軍予備軍大尉。IFORとSFORからの外国出動の後最後はドイツ 連邦国防軍の土地事情に詳しいアドバイサーとしてコソボで勤務(2006年)。 重点:旧ユーゴスラビア、バルカン、外向政策と国防政策、紛争学。 2004年来JSDFをテーマとする仕事に従事。 30 Momoko Inoue „Rudolf Steiner in Japan“ Der Vortrag von Momoko INOUE, einer jungen Soziologin und DAAD-Stipendiatin beschäftigte sich hauptsächlich mit einem japanischen Boom, der um 1975 ausgelöst wurde und der später (um 2000) von einer Mode abgelöst wurde. Der Boom wurde durch ein Ereignis ausgelöst, das eine bereits bestehende nationale Stimmungslage verstärkte. Die Mode entstand durch eine Stimulierung der bestehenden Stimmungslage aus kommerziellen Interessen. Das soll nicht bedeuten, dass es in Japan keine wissenschaftliche Rezeption des Rudolf Steiner gab, doch diese entfaltete niemals Breitenwirkung, denn Rudolf Steiner ist in Japan nicht anders als in Deutschland hauptsächlich ein Mystiker, lediglich das Konzept der Waldorfschulen ist breit bekannt und mit seinem Namen verknüpft. Da in der Zuhörerschaft nicht nur Kenner der Materie saßen, gab Herr Grosse als Stuttgarter, Kenner und gleichzeitiger Geschäftsführer der DJG-BW eine kleine Einführung in historische Gegebenheiten und Konzepte. Der Vortrag von Herrn Grosse wird durch den Wikipedia – Eintrag wiedergegeben: „Die Waldorfschule entstand in der Umbruchssituation nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland im Zusammenhang mit der ebenfalls aus der Anthroposophie heraus entwickelten Dreigliederungsbewegung. Rudolf Steiner hatte bereits 1907 eine Schrift über die Erziehung des Kindes veröffentlicht, deren Gedanken aber zunächst wirkungslos verhallt waren. Ausgangspunkt der am 7. September 1919 in Stuttgart vollzogenen Schulgründung war die Bitte Emil Molts, des Direktors der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, an Rudolf Steiner, eine Schule für die Kinder der bei ihm beschäftigten Arbeiter pädagogisch zu betreuen . Steiner übernahm die Ausbildung und Beratung des Lehrerkollegiums und hatte bis zu seinem Tod im Jahr 1925 zwar nicht formal, aber praktisch die Rolle eines Schulleiters inne. Die AstoriaBetriebsschule auf der Stuttgarter Uhlandshöhe, Modell für alle späteren Waldorfschulen, unterrichtete von Anfang an koedukativ und war in gewisser Hinsicht die erste Gesamtschule in Deutschland. Von der Zigarettenfabrik erhielt die pädagogische Bewegung ihren Namen. In den folgenden Jahren wurden weitere Waldorfschulen in Deutschland und im Ausland begründet. Während der Zeit des Nationalsozialismus, stellten die deutschen Waldorfschulen, wie andere nichtstaatliche Schulen auch, spätestens nach 1937 ihren Lehrbetrieb durch Selbstauflösung oder Zwang ein. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es wieder zu Neugründungen, zunächst in überschaubarer Zahl, ab den 70er Jahren in größerem Umfang im In- und Ausland.“ Herr Grosse machte den Ahnungslosen in der Zuhörerschaft auch anschaulich deutlich, was mit Eurythmie gemeint ist: Die Eurythmie (von altgr. εὖ (gut, richtig) und ῥυθμὀς (Rhythmus), etwa „Gleich- und Ebenmaß in der Bewegung“ oder „schöne Bewegung“) ist eine expressive Tanzkunst, die Anfang des 20. Jahrhunderts (zwischen 1908 und 1925) in Deutschland und der Schweiz auf Anregung von Rudolf Steiner, entstand. Äußerlich ähnelt sie entfernt dem klassischen Ballett, sie wird aber im Allgemeinen weniger artistisch und körperbetont inszeniert. Eurythmie wird als eigenständige Darstellende Kunst, aber auch als Teil von Bühneninszenierungen betrieben. Kombiniert mit alternativmedizinischem Fachwissen wird sie von Anthroposophen auch therapeutisch angewendet.An Waldorfschulen ist Eurythmie ein reguläres Pflichtfach. 31 Der Übergang vom Waldorfpädagogikboom zur ‚Steiner‘ Mode in Japan Zusammenfassung des Vortrags vom 6 März 2009 im Bürgerhaus Stuttgart-West 1. Einleitung – Die leicht spürbare Welle des ‚Anthroposophischen‘ in Japan Ende der 70er Jahre neben der heißen Diskussion über das japanische Erziehungssystem begann der Waldorfpädagogikboom. Er änderte nach einer kurzen Pause am Ende der 90er Jahre seine Gestalt und zwar wurde er zur ‚Steiner‘ Mode. Der Boom, wohl zu unterscheiden von der späteren ‚Steiner‘ Mode, begann mit der positiven Rezeption des Buchs München-no-Shôgakuse’i [Ein Schulkind in München] von einer Germanistin KOYASU Michiko aus dem Jahr 1975. Seitdem ist die Waldorfpädagogik in Japan bekannt geworden und bis Mitte der 90er Jahre wurde über die Waldorfpädagogik immer wieder positiv berichtet. In der letzten Hälfte der 90er Jahre nahm die Diskussion darüber in der Presse stark ab. Nach der Jahrtausendwende sieht man wieder Artikel über die Waldorferziehung, allerdings im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten in einer anderen Art und Weise. Denn heute kommen in der Presse zu dem bekannten Thema, Waldorfpädagogik, anthroposophische Produkte hinzu, wie z. B. ein Hautöl von Weleda auf den Markt. Neben den Berichten über solche Produkte in den japanischen Zeitschriften wird dann etwa die Bio-Dynamische Wirtschaftsweise mit dem Namen Steiners kurz erklärt. Diese Erklärungen kann man in Deutschland fast nie finden. Es wird heutzutage über solche Produkte berichtet, und gleichzeitig über einen schönen Lebensstil, bei dem man etwa anthroposophische Handarbeit selbst herstellt, oder in dem man sogar an der anthroposophischen Bewegung teilnimmt. Wenn es in Artikel um einen solchen Lebensstil geht, findet der Name Rudolf Steiner oder seine Weltanschauung, die Anthroposophie, keine besondere Erwähnung. Diese zweite Phase seit ca. 2000 werde ich hier als die ‚Steiner‘ Mode bezeichnen und den Inhalt dieser Mode mithilfe eines nominalisierten Wortes ‚Anthroposophisches‘, in Klammern, beschreiben. Diese Bezeichnung wird von mir mit der Anthroposophie nicht identifiziert. Eine der größten Veränderungen im Übergang vom Waldorfpädagogikboom zur ‚Steiner‘ Mode ist, dass man nicht mehr nur auf die originelle Waldorfpädagogik aufmerksam macht, sondern kritiklos die Ergebnisse der anderen anthroposophischen Bewegungen rezipiert. Um sich der ‚Steiner‘ Mode anzunähren, werden wir zunächst einige Beispiele ansehen. Die Modezeitschrift Vogue Japan berichtet auf ihrer Internetseite positiv über die Produkte Dr. Hauschka und Weleda und nennt sie ‚Steiner Kosmetik‘:19 „Seine [Steiners] LOHASPhilosophie, die gerade auf dem Prozess der Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts von ihm erdacht wurde, ist der vertrauenswerte Grundstein der biologischen Kosmetik“. LOHAS heißt ein Akronym von Lifestyle of Health and Sustainability, auf dessen Thema ich später eingehe. Eine andere Zeitschrift Living Design stellt die Weleda-Produkte und die Biologisch-Dynamischen Wirtschaftsweise ihrer Rohmaterialien vor. Sie erklärt, dass diese Form der Landwirtschaft „nach der Bewegung des Mondes, der Sterne und der Planeten von 32 der Saat bis zur Ernte durchgeführt wird“ und dass die Weleda-Produkte „aus den Pflanzen hergestellt werden, in die die kosmische Energie von der Erde mitgeteilt wird“. Über eine andere bio-dynamische Methode, bei der man Kristallpulver in den Hörnern von weiblichen Kühen in der Erde gären lässt und danach das Pulver auf den Feldern ausstreut, wird begeistert mit dem Ausdruck „Wow!“ berichtet. Im Gegensatz hierzu wendet sich die deutsche Wochenzeitschrift der Spiegel in einem Bericht eben dieser Form der Landwirtschaft zu. Dort wird sie als „eine von Steiners Erleuchtungen“ bezeichnet und danach den Zweifel des Lesers weckend „ein pseudowissenschaftliches Glaubenssystem“ genannt. In den japanischen Zeitschriften sieht man nicht nur die kosmetischen Produkte. Im Film Chihiro’s Reise ins Zauberland vom Regisseuer Miyazaki Hayao erregte das Instrument Leier Aufsehen, die 1920 aufgrund der Steinerschen Musiktheorie neu konzipiert wurde. Die Sängerin Kimura Yumi singt beim Spielen der Leier die Titelmelodie. Das Instrument wurde oft bei Berichten über das Lied und die Sängerin mit dem Namen Steiners vorgestellt. Diese drei Beispiele zeigen, dass die ‚Anthroposophischen‘ in Japan allmählich etwas alltägliches werden, und dass sie als Teil der ‚Steiner‘ Mode in unterschiedlichen Bereichen positiv rezipiert werden. Dabei fragt man sich nicht, welche Philosophie hinter dieser Mode steht. 2. Das ambivalente Image in Deutschland Die Rezeption der Anthroposophie in Deutschland werde ich wegen des hauptsächlichen Zwecks meiner Arbeit nicht groß anschneiden. Nur um die japanische ‚Steiner‘ Mode anhand des Vergleichs mit der Situation in Deutschland noch deutlicher zu skizzieren, möchte ich das Image Steiners und der Waldorfschule in Deutschland kurz betrachten. Das Bild Steiners und der Anthroposophie ist hierzulande meines Erachtens ambivalent. Vor der Vertiefung des Themas sehen wir den Lebenslauf Rudolf Steiners. Er ist am 27. Februar 1861 im heutigen Kroatien geboren und studierte an der Technischen Hochschule in Wien Mathematik, Chemie, Physik und Biologie als Hauptfächer. Nebenbei besuchte er an der Wiener Universität Vorlesungen der Philosophie, der Literaturwissenschaft und der Geschichte. Zwischen 1882 und 1897 war er als Herausgeber der naturwissenschaftlichen Schriften von Johann Wolfgang von Goethe in Weimar tätig. Im Jahr 1891 promovierte er an der Universität Rostock. Bis 1904 arbeitete er in Berlin als Herausgeber und Redakteur mehrerer Zeitschriften, wie das „Magazin für Literatur“. Trotz der regen Vortragstätigkeit auch in der theosophischen Gesellschaft trennte er sich 1913 davon, und darauf gründete er die anthroposophische Gesellschaft. Er starb 1925 in Dornach. Er ist heute als der Begründer der Anthroposophie bekannt. Diese Biographie beeinflusst nicht wirklich die alltäglichen Diskurse in Deutschland. Auf einer solchen Ebene hört man manchmal als gemeinen Witz, dass die Waldorfschüler in der Schule den eigenen Namen tanzen usw… Auf der anderen Ebene z. B. hat der Spiegel vor zwei Jahre einen Artikel veröffentlicht, dessen Titel ‚Die Lehre von Atlantis‘ lautete. Die zweite Überschrift führt aus: „Die Prüfstelle für jugendgefährdende Medien muss über eine heikle Frage entscheiden: „War Rudolf Steiner, Inspirator der Waldorfschulen, ein Rassist? [Der Spiegel, Nr. 36, 03. Sep. 2007, S. 161]“. Allein in diesem Satz versteckt sich ein negativ konnotatives Wort, ‚Rassist‘. Es geht hier um zwei Bücher Steiners. Obwohl das Fazit des kurzen Artikels einen nicht zu ignorierenden Aspekt akzentuiert, dass man seine Bücher im Verständnis des damaligen Zeitgeists und dem zeitgenössischen Hintergrund betrachten soll, assoziiert eine solche Überschrift damit, dass der Begründer der Anthroposophie ein besonderer Rassist gewesen wäre. Daraus könnte eine rhetorische Täuschung beim Leser entstehen. Während das Bild von Steiner und der Waldorfpädagogik in Deutschland teilweise in dieser negativen Art dargestellt wird, bilden die Waldorfschulen hierzulande „nach den kirchlichen Schulen den größten nichtstaatlichen Schulverband [Zander, Helmut: 33 Anthroposophie in Deutschland, Bd. 1, S. 1]“. Die erste Waldorfschule Uhlandshöhe wurde 1919 in Stuttgart auf die Bitte des Direktors der Waldorf-Astria-Zigarettenfabrik, Emil Molt, an Steiner für die Kinder seiner Arbeiter gegründet. Nach dem Namen der Zigarettenfabrik wird die Schule die ‚Waldorfschule‘ genannt. 0.9% der gesamten Schüler in Deutschland, 1.8 % in Baden-Württemberg sind Waldorfschüler. Der Anteil ist groß, besonders wenn man denkt, dass nur wenige Schüler aus anthroposophischen Elternhäusern stammen. Dieses Beispiel zeigt, dass die Anthroposophie und Steiner trotz der oben genannten Konnotationen in der deutschen Gesellschaft doch eine gewisse Wirkungskraft besitzen. Bei meiner Arbeit geht es um die Frage, warum und wie die Waldorfpädagogik und die Anthroposophischen in Japan auf der alltäglichen Ebene, also nicht auf der wissenschaftlichen Ebene, rezipiert werden. Dazu werde ich vom Jahr 1975 an zwei Phasen unterscheiden und auf die Hintergründe und die Grundlagen der Rezeption, nämlich des Booms und der Mode, hinzuweisen. Beide haben unterschiedliche Rezeptionsinhalte und Grundlagen. Ich verwendete für diese Analyse der Zeitungs- und Zeitschriftartikel im Wesentlichen vier japanische Datenbanken. Das Ergebnis meiner Recherche zeigt, dass der größte Anteil der Artikel über die Waldorfpädagogik von der großen Mediengruppe Asahi Shinbun [Asahi Zeitung] veröffentlicht wurde. 3. Der Hintergrund des Waldorfpädagogikbooms – 70er Jahre Um den Hintergrund des Waldorfpädagogikbooms in Japan zu hinterfragen und um die damalige Diskussion über die Schulerziehung zu rekonstruieren, betrachten wir nun einige ausgewählte Beispiele aus gedruckten Medien. Der Anlass des japanischen Waldorfpädagogikbooms war die Publikation eines Taschenbuchs Ein Schulkind in München von einer Germanistin Koyasu Michiko im Jahr 1975. Das Buch machte zum ersten Mal die Waldorfpädagogik in Japan bekannt. Dieses Buch ist ein positiver Bericht über die persönliche Erfahrung, dass das Ehepaar Koyasu beim Auslandstudium in Deutschland ihre sechsjährige Tochter Fumi durch Zufall in die RudolfSteiner-Schule in München schickt.i Vor dieser Begegnung kannte Koyasu die Anthroposophie nicht. Sie stellte sich überhaupt nicht vor, dass ihr eigenes Buch in Japan später zur Einführung in die Waldorfpädagogik führen würde! Aber der Publikation wurde 1976 der „Kulturpreis der Mainichi Shinbun“ [Zeitung] verliehen und sie ist ein Longseller geworden. Warum wird dieses Buch gerade in dieser Zeit hoffnungsvoll bewertet? Den Grund kann man anhand der zeitgenössischen Rezensionen begreifen. Ein Kritiker schreibt: „Die Praxis der Steiner-Schule, deren Aufgabe‚ die Befreiung von der Ideologie der allmächtigen Noten ist, ist eine Kritik an der japanischen Schulerziehung und kann eine Aussicht auf Reformen vertreten“. Ein Anderer schreibt, dass die harte Anklage der Steiner-Schule gegen die Bewertung der Menschen durch die Tests und das Prädikat der Noten „eine direkte Anklage der Autorin gegen die Schulerziehung in unserem Land ist“. In einer weiteren Rezension wurde berichtet: „das Buch ist jenes, das von den Bürokraten im Kultusministerium unbedingt gelesen werden sollte“. Die Schreiber der Rezensionen verstehen alle das Buch als Kritik der damaligen Schulerziehung in Japan. Deswegen fasst ein Kritiker, Nada y nada, zum Schluss in seiner Rezension zusammen, dass „die Leser dieses Buchs wohl davon träumen, diese Schule auch in Japan zu gründen“. Der Erziehungssoziologe, Hirota Teruyuki, weist darauf hin, dass als einer Blickwinkel in den 70er Jahre auftaucht, dass eine Erziehungsproblematik nicht allein ein persönliches Problem, sondern als ein schulisches Problem zu sehen ist. Der andere Erziehungssoziologe, Abe Kôya, erwähnt als einen weiteren Aspekt, dass eine Serie der Asahi Zeitung namens „Heute in den Schulen“ im Unterschied zu den früheren Artikeln durch Artikel eine Problematik der Erziehung erschaffe. Bereits in der ersten Hälfte der 70er Jahre dachte man, 34 dass die Wurzel der Probleme der Schulerziehung im pauschalen Erziehungssystem und im Versagen der Bildungspolitik liegt. Als die Waldorfpädagogik von Koyasu in Japan bekannt wurde, gab es anhand der Kritik an dem bestehenden Schulsystem die gesellschaftliche Grundlage, dass man nach ‚einer neuen Schulerziehung‘ als einem alternativen Weg verlangte. In dieser Zeit wurde das japanische Schulsystem aufgrund des Auswendig-Lernens für Tests und Aufnahmeprüfungen in der Presse kritisiert. Diese Kritik bezeichnete das Schulsystem als Aufnahmeprüfungskrieg (Jukensensô) oder als „zupackende Erziehung“ (Tsumekomi- Kyôikuii). Einer der bekanntesten Kritiker war Tôyama Hiraku, ein Mathematiker, der seit den 60er Jahren die Reform des Mathematikunterrichts vorgeschlagen hatte. Er thematisierte die Konkurrenz in der Erziehung, deren Reihenfolge, das Zwangslernen nur für Noten. Er schlug deshalb die Abschaffung der Noten vor. Denn nach ihm bewerten die Schulen die Schüler mit einem einzigen Maßstab, den Noten der Tests und Prüfungen, als ob sie den Wert der Menschen dadurch messen könnte. Einerseits hat man es damals als nötig erachtet, dass die Schüler möglichst viel auswendig lernten. An dieser Stelle sind mehrmalige Benotungen, Hierarchie und Konkurrenz unter den Schülern wichtig. Andererseits gab es Kritik an einer solchen Erziehung mit der Notenpeitsche zum Lernen. Sie betonte, dass man mit diesem Schulsystem die Originalität und die Individualität der Schüler nicht entwickeln kann. Demnach verwendeten die Kritiker ein einfaches Schema, die öffentliche Schulerziehung für die Aufnahmeprüfung als imaginäres Feindbild versus eine ideale Erziehung, die die Originalität und die Individualität aufzieht. Das Buch von Koyasu wird gerade in dieser Zeit publiziert. Die Praxis der Waldorfschule, die von Koyasu in Ein Schulkind in München beschrieben wird, ähnelt dem Idealbild, das Tôyama darstellte. Sie selber unterscheidet allerdings die Waldorfpädagogik vom japanischen Schulsystem und von der idealen Schule Tôyamas. Obgleich die Waldorfpädagogik zuletzt durch die Presse als die ideale Pädagogik gegebenenfalls „vergöttlicht“ wurde, indem sie die ‚übliche Bildung‘ gegenüberstellt, die von Tôyama und einigen Massenmedien als Feind kritisiert wurde. 4. Die Beschreibungen der Zeitung und Zeitschriften – von der zweiten Hälfte der 70er bis Mitte der 90er Jahre Was für ein Image erhält die Waldorfpädagogik in Japan? Ab 1979 wurden drei Berichte von Koyasu einmal pro Jahr in der Zeitschrift Jidô Shinri [Seelenzustand der Schüler] veröffentlicht. Da der größte Anteil der Leser dieser Zeitschrift Lehrer sind, versteht man, wie hoch das Interesse der Erziehungsfachleute war. Der Titel des Artikel aus dem Jahr 1980 lautet ‚Die Eltern, die die Individualität der Kinder beleben‘ (Sep. 1980). Hier sieht man das Schlüsselwort ‚Individualität‘. Die Waldorfpädagogik wird in der Kombination damit rezipiert. Im nächsten Jahr findet man keine Erläuterung über die Waldorfschule in Zeitschriftartikeln über diese Pädagogik mehr. Das heißt, der Begriff Waldorfpädagogik ist schon damals wohl durch den Wissensdurst aus dem schulischen Umfeld bekannt geworden. Charakteristisch für die Artikel aus den 80er Jahren ist es, die Waldorfpädagogik mit dem Schriftsteller Michael Ende zu verbinden. Die literarischen Werke Endes werden in Japan besonders beliebt. Sein Vater, Edgar Ende, der surrealistische Maler, interessierte sich für die Anthroposophie und schickte seinen Sohn Michael, am Ende seiner Schulzeit auf die Waldorfschule in Stuttgart. Als Absolventen der Waldorfschule waren nur Michael Ende und Koyasu Fumi, die Tochter von Koyasu Michiko, zu der Zeit in der japanischen Öffentlichkeit bekannt. Das ist aber für das Image der Waldorfpädagogik ein glücklicher Zufall, weil der positive Eindruck von Ende als das Ergebnis der Waldorfpädagogik aufgefasst werden konnte. 35 Als die Asahi Zeitung 1990 über Koyasu Fumi schrieb, druckte sie als Überschrift „die ausgeprägte Individualität“ und der Artikel endete mit den Worten: „durch die Waldorfpädagogik erzogene intensive Eigenart“. Auch die folgenden Artikel in der ersten Hälfte der 90er Jahre setzten voraus, dass die Waldorfpädagogik eine Individualität bzw. eine Eigenart kultiviere. Im Bericht dieser Zeitung über die Waldorfschule in Sacramento in Kalifornien 1993 wurde diese Schule als ‚Messias‘ bezeichnet, weil die Lehrer in den öffentlichen Schulen immer mehr am waldorfpädagogischen Seminar teilnahmen und weil die Anzahl der Waldorfschule in dieser Stadt zunimmt, um die Probleme der öffentlichen Schulen zu lösen. In einem anderen Artikel aus demselben Jahr fällt die Überschrift auf. „Die auch Utopia der Erziehung genannten deutschen Waldorfschulen“. Diese Schulen bilden die besondere Fähigkeit jedes Kindes aus, so berichtet ein Journalist. Im nächsten Jahr 1994 stand in einem Artikel: „Die Erziehung in der Steiner-Schule scheint das Gegenteil der japanischen Schulerziehung zu sein“. In dem Artikel sieht man auch noch ähnliche Slogans, wie sie Tôyama verwendete, in dem die japanischen Schulen als ein Feindbild gegenüber den Waldorfschulen als ein Idealbild gestellt wurden. Diese Logik ist gewiss zu einfach, aber sie wurde als die Tatsache wahrgenommen. In diesem Kontext sollte die Waldorfpädagogik für eine bestimmte Schicht reizvoll gewesen sein. Ein Journalist der Asahi Zeitung, der ein paar Mal über die Waldorfpädagogik und – Schule berichtete, schrieb einmal über die größte Resonanz seiner Leser. Z. B. nach dem Bericht über eine Waldorfschule in den USA erkundigte man sich für zwei bis drei Monate lang immer wieder nach weiteren Informationen. Und als die Telefonnummer eines Gemeindehauses wegen einer Informationsveranstaltung eines Steiner College in der Zeitung veröffentlicht wurde, war der Telefonanschluss des Gemeindehauses aufgrund der viel zu vielen Anfragen in kurzer Zeit vollkommen überlastet. Wenn die Leser seit den 70er Jahren konstant die kritischen Artikel über das japanische Schulsystem gelesen und alltäglich diese Situation mit eigenen Augen gesehen hatten, und erst danach plötzlich eine Nachricht über Waldorfschule als Schulersatz gelesen haben, dann musste die Waldorfpädagogik für die Leser eine noch stärkere Anziehungskraft besitzen. Diese Leser stützten den Waldorfpädagogikboom. Die Steiner-Schule ist im Laufe der Zeit durch die Presse zu einer Traumschule geworden, indem man sie zum positiven Schulsystem nach der weit verbreiteten Logik Tôyamas zugeordnet hat. Die Prämisse war hartnäckig. Das Schema kann schwer umgeschrieben werden. Koyasu äußerte manchmal eine indirekte Kritik an dem stereotypen Lob der Waldorfpädagogik, wie der Entwicklung der Individualität und dem Erziehungssystem ohne Tests. Die Anthroposophie, die nie den Kindern beigebracht wird, ohne die jedoch die Waldorfpädagogik nicht existiert, wurde fast in keinen entsprechenden Artikeln thematisiert. Diese positive Aufnahme entstand dadurch, dass die Waldorfpädagogik in Japan unter dem Schema Tôyamas rezipiert wurde. 5. Die Prämisse der ‚Steiner‘ Mode – die zweite Hälfte der 90er Jahre Nach der Mitte der 90er Jahre begann die japanische öffentliche Erziehung, sich deutlich zu ändern. Im Juli 1997 wurde der Mangel an Freizeit und des freien Gefühls im Alltagsleben der Kinder im 15. Zentralbildungsberatungsausschuss zur Diskussion gestellt. Die Kommission wies darauf hin, dass die Schüler Freizeit, freies Gefühl [Yutori] und Lebenskraft erlernen sollten. Der Antrag wurde 2002, als der neue Lernplan in Kraft trat, durchgeführt. Im Zusammenhang mit der Rezeption der Waldorfpädagogik ist die schulische Änderung relevant, da man nicht mehr das Oppositionsbild verwenden kann. Der Feind verschwände. Diese Situation schaffte die neue Rezeptionsform, die ‚Steiner‘ Mode. Erst in dieser Zeit tauchten neue Berichte über die anthroposophische Bewegung auf, die vorher schwer erreichbar waren. Die neue Situation kann man als Knospen des Übergangs 36 vom Waldorfpädagogikboom zur ‚Steiner‘ Mode verstehen. Hier möchte ich drei Anlässe erwähnen, die den Neubeginn vorbereiteten. Erstens wurde eine Fernsehsendung, in der Koyasu Michiko und Fumi auftraten, 1996 bei der NHK gesendet. Sie wurde zum 20. Jubiläum der Publikation Ein Schulkind in München produziert und es ging hier im Unterschied zu den bisherigen Pressenberichten nicht nur um die Pädagogik. Die Sendung berichtete dazu über eine Lebensgemeinschaft für behinderte Menschen, in der man auf biodynamische Weise landwirtschaftlich arbeitete. Sie vermittelte Einblicke in die Anthroposophie – ihre Architektur, ihr Bankwesen, ihre Therapien, Heilmethoden und Medizin. Zweitens fand die Ausstellung ‚Rudolf Steiner – Tafelzeichnung‘ 1996 für vier Monaten im Museum Watari-um in Tokyo statt, das bekannt für Moderne Kunst ist. Dort wurden die 60 Tafelzeichnungen, die von Steiner bei seinen Vorträgen gemalt wurden, ausgestellt. Die zwei großen Kunstzeitschriften Geijutsu Shinchô (Mai; Dez. 1996) und Taiyo (März 1997) behandelten diese Bilderausstellung. Drittens fand eine weitere Ausstellung ‚Rudolf Steiner – Architektur und Erziehung‘ am Anfang 1997 für zwei Monate im Pocket Park in Ginza in Tokyo statt. Die Zeitung Mainichi Shinbun berichtete über diese Ausstellung, dass „eine neue Seite des Pädagogen Steiner als Architekt vorgestellt“ wird. Während Steiner bis zum Ende der 90er Jahre in Japan nur als der Begründer der Waldorfschule bekannt gewesen war, erhielten seine Arbeiten in den unterschiedlichen Bereichen hier zum ersten Mal in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit. Diese Veränderung in den Massenmedien bildete eine Möglichkeit heraus, dass man ohne das Oppositionsschema über Steiner berichten konnte. Die drei Anlässe des Übergangs ergaben sich zugleich mit dem Übergang von der zupackenden Erziehung zur freieren Erziehung. Die Gleichzeitigkeit ergab sich wohl zufällig, dieser Zufall spielte allerdings eine große Rolle, um die ‚Steiner‘ Mode zu begründen. 6. Die ‚Steiner‘ Mode – Ende der 90er Jahre bis Heute ‚Anthroposophisches‘ ist seit ca. 2000 immer häufiger in der Presse aufgetaucht. Es ist langsam und unauffällig zur Mode geworden, während sich die so genannte LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability) Mode auffallend häufig verkauft hat. Es gibt zwar einen Kontrast zwischen den beiden Moden, allerdings sind sie eng mit einander verbunden. Zuerst wurde ein Gedanke ‚slow life‘ durch die Publikation Slow is beautiful eines Kulturanthropologen namens Tsuji Shinichi aus dem Jahr 2001 verbreitet. In diesem Buch definiert Tsuji das englische Wort slow nicht nur als langsam, sondern auch als ökologisch und nachhaltig. Als man in Japan durch die Massenmedien öfters den Begriff slow zu Hören bekam, entwickelte sich ein neues Zeitschriftgenre. Dieses Genre wird Slow Life bzw. Lifestyle bezeichnet und beginnt mit der Sonderausgabe namens Ku:nel 2002. Die Neubegründung dieses Genres hielt bis 2004 an. Normalerweise haben Frauenzeitschriften Kosmetik, Liebe, Partnerschaft, Horoskop oder gegebenenfalls schnelles und müheloses Kochen und einfache Haushaltsführung als Themen. Die neuen Zeitschriften haben solche Themen nicht. Sie legen, oberflächlich gesehen, den Wert auf einen schlichten Lifestyle. Bei dieser Lebensweise sollte man so viel wie möglich selber machen. Handarbeit wird hoch geschätzt. Die Menschen, die man in den Zeitschriften sieht, haben oft Kinder. Überdies haben sie meistens einen eigenen Lebensstil und einen bestimmten Geschmack. Auf den ersten Blick kann man denken, dass sich der Wert in der Konsumgesellschaft geändert hätte, weil das Leben schlicht sei. Die ‚Steiner‘ Mode bezieht sich auf diese Zeitschriften. In dieser Mode sieht man zwar keine Überschrift, wie Waldorfpädagogik, aber anthroposophische Merkmale verstecken sich in Fotos und in Texten. Diese möchte ich hier durch Beispiele zeigen. Über den Lifestyle einer Stylistin, Yamashita Rika, wird am Anfang Ku:nels berichtet. Im zweiten Heft findet man zwei Fotos, das eine von einem Bild aus Filz, das andere von Yamashita, die Leier spielt. 37 Aus dem Text erfährt man, dass ihre Kinder statt fernsehen, eine grüne Raupe beobachten. Im vierten Heft zeigt sie ihre Hand gemachten Wohnaccessoires. Die hier gezeigte Strickgabel hat eine organische Form und ist nicht eckig, wie bei der anthroposophischen Architektur fast keine rechten Winkel vorkommen. Anhand der Fotoobjekte und den Textinhalten kann der Leser erahnen, dass sich die Stylistin für die Anthroposophie interessiert. Aufgrund der großen Resonanz dieses Artikels fanden später mehrmals Work Shops von ihr statt. Über einen Strickliesel Work Shop von Yamashita, in dem Teilnehmer nicht nur selber ein kleines Werk stricken, sondern auch danach Bio-Gemüse-Suppe essen, wird 2007 in einer anderen Slow Life Zeitschrift (Ten’nen Se’ikatsu [natürliches Leben]) berichtet. Die Teilnehmer freuen sich über die Handarbeit, als ob sie wieder in den Kindertagen gingen, und über den Alltag mit selbst Gemachtem, ohne den Einfluss der anthroposophischen Richtung zu bemerken, für die die Lehrende sich interessiert. Denken wir über den Prozess der Mode nach. Zunächst wird ein Lifestyle mit einigen ‚anthroposophischen‘ Modellen gezeigt und der Stil wird positiv angenommen. Manche Leser fangen dann an, das Leben des Modells nachzuahmen. Erst danach wird das Vorbild als eine Ware verkauft. Das alltägliche Leben Yamashitas selbst wird zu einem zu konsumierenden Objekt. Die Anthroposophie, die sich hinter dem Modell verbirgt, wird hier nicht thematisiert, weil man nur oberflächlich über diese Lebensweise informiert werden möchte. Also man lernt hier auch nicht die Steinersche Denkweise kennen. Äußerlich scheint die ‚Steiner‘ Mode nur eine Strickliesel Mode oder eine Ökokosmetik Mode. Aus diesem Grund nenne ich sie die Mode, die nur indirekt sichtbar ist. Um den Unterschied zwischen dem Waldorfpädagogikboom und der ‚Steiner‘ Mode stärker zu verdeutlichen, möchte ich einen anderen Artikel betrachten. Die Zeitschrift Lingkaran berichtet über das Leben eines Fotomodells, Hitomi, die auf waldorfpädagogische Weise auf dem Land ihre vier Kinder großzieht. Das Thema des Artikels ist nicht die Waldorfpädagogik, sondern ihr Lifestyle mit ihren vier Kindern. Die Traumpädagogik zieht sich in den Hintergrund zurück. Der Ort des Hauptthemas zeigt uns den Unterschied der 90er Jahre. Diese Zeitschriften lassen den Leser indirekt ein Kaufobjekt begehren, indem sie den Leser zuerst für den Lifestyle eines Modells begeistern. Seit einigen Jahren hört man jeden Tag ‚LOHAS‘. LOHAS nimmt im japanischen Kontext die verankerte Stelle des modischen Worts slow ein. Dieser Begriff wurde 2000 in den USA vom Soziologe Paul Ray und der Psychologen Sherry Anderson aufgrund ihrer Feststellung der neuen Schicht ‚the Cultural Creatives‘ erfunden. Die Menschen aus dieser Schicht sind nach ihnen Umwelt- und Gesundheitsbewusst. Ein japanisches Wörterbuch für den aktuellen Wortschatz definiert LOHAS als „die allgemeine Bezeichnung eines Lifestyles, in dem man ein gesundes, umweltfreundliches und nachhaltiges Leben zu führen versucht“. LOHAS „ist anders als bisherige Ökobegriffe, da er nicht einzelne Begehren ablehnt“. Die Autoren des deutschen Buchs Greenomics. Wie der grüne Lifestyle Märkte und Konsumenten verändert (2008) hervorheben aus der Sicht des Marketings die Große der potenziellen Zielgruppe, die altersindifferent, schichtenübergreifend und einkommensunabhängig sei. Die heutige Zielgruppe in Japan scheint mir allerdings meist noch Großstädter zu sein, weil man mit dem Slogan LOHAS in einer Großstadt bequem und gleichzeitig scheinbar ökologisch leben kann. Man bevorzugt „den Lebensstil des Sowohl-als-auch“. Was im heutigen Japanischen als ‚LOHAS leben‘ bezeichnet wird, heißt nicht umweltfreundlich zu leben, sondern so genannte LOHAS Produkte zu konsumieren. Dafür benötigt man ein relativ gutes Einkommen. Ein solches Produkt fungiert deswegen für einen reichen Großstädter wie ein Ablassbrief. Während das Buch Slow is Beautiful eine Sicht der Anti-Globalisierung und AntiTransnational-Gesellschaft hatte, berücksichtigt LOHAS im wirklichen Sinne diese Sichtweise nicht. LOHAS empfiehlt stark, dass man der eigenen Begierde gehorchen soll. Diese Begierde wird selbstverständlich durch Werbungen produziert. 38 Nach 2000 geht die Tendenz hin zu dem natürlichen Leben, wie LOHAS, und man sehnt sich nach dem Alltag mit der eigenen Handarbeit und ‚biologischen‘ Leben. Auf diesem Boden wächst ‚Anthroposophisches‘ und es wird kritiklos rezipiert. In Deutschland sieht man auch oft Slogans, wie grün, öko, bio usw. in unterschiedlichen Bereichen. Allerdings hört man in Deutschland noch nicht LOHAS und sieht auch keinen positiven Artikel über die biodynamischen Wirtschaftsweise mit dem Namen Steiners in den verbreiteten Zeitschriften. Falls man in Deutschland bald täglich über LOHAS hören sollte, würde man hierzulande wegen der negativen Konnotation die japanische merkwürdige Kombination schwer sehen. Innerhalb der japanischen ‚Steiner‘ Mode gibt es zwei inhaltliche Richtungen. Einerseits gibt es Reportagen, die ohne das Thema Pädagogik auskommen. Dazu gehören Berichte über die organische Architektur, über bio-dynamische Produkte und über die anthroposophische Kunstrichtung. Seit dem Beginn der ‚Steiner‘ Mode ist es charakteristisch, dass die ‚Anthroposophischen‘ nicht einzelne, sondern neben anderen Objekten vorgestellt werden. Andererseits gibt es immer noch Artikel über Waldorfpädagogik und Waldorfschule. Allerdings, wie schon erwähnt, kann man nicht mehr das alte Schema der Gegenüberstellung zum früheren japanischen Schulsystem verwenden. Dazu kommt ein weiteres Phänomen. Die erste Waldorfschule, die Tokyo Steiner Schule, in Japan hat erst 11 Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 1998 ihre Richtlinie erneuert und ihre Tür der Presse geöffnet. Ab derselben Zeit zeigt sich eine andere Schule, die Kyotanabe Waldorf School, die seit 2001 das Vollzeitschulsystem eingeführt hat, häufig in der Presse. Als die Tokyo Steiner Schule in Japan im März 2004 als die erste Waldorfschule durch ein Sonderbildungsgesetz vom Staat anerkannt wurde, berichteten alle Zeitungen darüber. Diese Reihe von Bildungsartikel beziehen sich nun nicht mehr auf Traum oder Ideal, sondern auf Praxis und Realalität. Wenn man nach ca. 2000 über die Waldorfpädagogik hört, sind diese Berichte über ‚Anthroposophisches‘ deutlich anders als die frühen Berichte, weil die Pädagogik als eine Kategorie in der anthroposophischen Bewegung thematisiert wird. 7. Schlusswort Ich versuchte in dieser Arbeit unter Berücksichtigung des japanischen gesellschaftlichen Kontexts die Rezeption der anthroposophischen Bewegungen in Japan von der Publikation 1975 über den Richtungswechsel bis heute zu betrachten. Am Anfang hatte die Waldorfpädagogik große Beachtung gefunden, weil man das japanische Schulsystem in Frage stellte und die „zupackende Schulerziehung“ kritisierte. Nach den Veränderungen zu einer neuen ‚freieren‘ Erziehungsmethode konnte dieses Schema auf der diskursiven Ebene nicht mehr angewendet werden. Zu diesem Zeitpunkt wurde die genannte Fernsehsendung ausgestrahlt und zeitgleich fanden diese zwei erwähnten sehr erfolgsreichen Ausstellungen statt. Ihre Inhalte waren die Einführungen in die Pädagogik und in weitere Bereiche, in denen Anthroposophie praktiziert wird. Einige Jahre später steht ‚Anthroposophisches‘ mit Hilfe des Öko- und LOHAS-Booms durch unterschiedliche Artikel und Flüsterpropaganda trotz fehlender inhaltlicher Informationen im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Diesen Prozess zeigte ich als den Übergang vom Waldorfpädagogikboom zur ‚Steiner‘ Mode. Wenn man diesen Übergang aus einer kritischen Perspektive sieht, müsste man sagen, dass sich die beiden Rezeptionen trotz des Protests einiger anthroposophischer Importeure gegen den vereinfachten, schematischen Glauben entsprechend den Bedürfnissen der jeweiligen Zeit ergaben. Tiefe Überlegung der Rezipienten spielte dabei keine Rolle. Heutzutage sieht man nach meiner Wahrnehmung überhaupt keinen Widerstand von den Anthroposophen in Japan gegenüber Pressedarstellungen auf der öffentlichen Ebene. Trotz des inhaltlichen und zeitlichen Unterschieds zwischen dem Boom und der Mode werden die beiden auf das Schema der Konsumgesellschaft durch die Massenmedien reduziert, wobei die Massenmedien aufgrund des kommerziellen Charakters von einem solchen Schema untrennbar sind. In 39 unterschiedlichen Blogs und Foren im Internet und in Zeitschriften findet man, dass die Rezipienten den Lebensstil der Modelle aus den Artikeln direkt auf den eigenen Alltag kopieren möchten. Diese Rezeption kann man ironischerweise als gehorsam bezeichnen. Während die Waldorfpädagogik auf Eigenart und Originalität abzieht, beinhaltet die Mode die Kopie eines Modells. So kann man einen gemeinsamen Punkt bei „Boom“ und „Mode“ der letzten Jahrzehnte erkennen: beide Rezeptionen zeichnen sich konsequent im japanischen gesellschaftlichen Kontext durch die Vereinfachung jedes Beispiels, jeder Meinung und sogar der Leseweise aus. Ein Philosoph nannte die Massenmedien Massenbetrug. Das Problem der gehorsamen Rezeption liegt an dem nicht selbständigen Denken. Wenn man den Text von der Internetseite Vogue Japan liest, nämlich „Seine [Steiners] LOHAS-Philosophie, die gerade auf dem Prozess der Industrialisierung am Ende der 19. Jahrhundert von ihm erdacht wurde“, hinterfragt man nicht, dass die LOHAS-Philosophie am Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht existierte und deswegen Rudolf Steiner selber LOHAS nicht erdenken konnte. Falls viele Rezipienten den Slogan oder den Inhalt einer Zeitschrift kritisch betrachten würden, würde eine Mode erscheinen? Beim Interview im Spiegelartikel, den ich anfangs erwähnt habe, sagt der Historiker Helmut Zander folgendes: „Diese [Steiners rassistisch erscheinende Theorie] müssen aber stets vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte gesehen werden, sonst liest sich Steiner wirklich wie das Werk eines Verrückten“. Die Zeit und die Mode, die von den zeitgenössischen Diskursen verursacht wird, trennen sich nicht voneinander, daher versuchte ich in meiner Analyse nicht nur den Inhalt der Mode, sondern auch den Rezeptionshintergrund zu rekonstruieren. Die von einer Germanistin importierte Waldorfpädagogik, die in Deutschland in einem bestimmten Kontext in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts begann, hat anhand der Hindergründe in Japan weitere Facetten erhalten. Als ihr Ergebnis bezaubern die ‚Anthroposophischen‘ im gegenwärtigen Japan nicht wenige Menschen. Man sollte sich nicht immer den modischen Zaubermitteln anvertrauen, sondern es ist auch gelegentlich nötig, den eigenen Geschmack und die eigene Position, auf der man unbewusst steht, durch die Vogelperspektive zu betrachten. Der oben stehende Text basiert auf dem Manuskript, das der Veranstaltung der Deusch-Japanischen Gesellschaft am 6. März 2009 in Stuttgart-West zugrunde lag. Er entspricht grundsätzlich meinen japanischen Aufsatz 「流行するシュタイナー」( Rhodus, Nr. 23, 2007, 筑波ドイツ文学会発行) zugrunde legt. Der Text wird bei der Übersetzung neu umgeschrieben. Aufgrund der beschränkten Seitenanzahl werden keine Quellenangaben der von Japanisch übersetzten Zitate aufgeführt. Beim Interesse kann man sie in der japanischen Version erhalten. (1) Diese Internetseite existiert seit 28. Januar 2009 nicht mehr. ( 2) Nach diesem Schulnamen in Schwabing nennt man in Japan immer noch die Waldorfschule, Steiner-Schule. (3) Dieses Wort bezeichnet die Situation, dass die Schüler wegen des vielen Lernens keine Zeit zum Denken haben. DJG-BW 主催定期講演会要旨(2009年1月現在) タイトル 流行する「シュタイナー」 井上百子 ルドルフ・シュタイナーと聞いて何が連想されるだろうか。シュトゥットガルト 生まれのシュタイナー学校の創始者や前世紀のオカルティストという答えがあり得 るだろう。人智学(アントロポゾフィー)に特別関心のある人でない限り、彼の名 前はたいていシュタイナー教育と結び付けて考えられる。これはドイツに限ったこ とではなく、日本でも同様である。 何かが受容される際には、それが根付き、流行として花を咲かせるような土壌が必 要だ。日常レベルでの最初のシュタイナー受容は、ドイツ文学者・子安美知子『ミ 40 ュンヘンの小学生』(1975年出版)によって引き起こされた。このシュタイナー教 育ブームは日本では70年代後半から80年代に生じ、肯定的に評価されたが、その後 鳴りを潜め、90年代のゆとり教育導入という公教育改革以後、同教育は報道におい てイメージの路線変更を迫られることになった。90年代末以後、日本では「シュタ イナー」の流行がほとんど気づかれない形でざわめきだした。この流行のなかで教 育は主題にはなっていない。例えば、『ヴォーク』日本の HP には、シュタイナーが ゲーテアヌムの模型の横に立つ写真とコスメティック商品が並んでいる。その例だ けからも、シュタイナー教育とはおよそ似つかぬ分野で彼がいかに肯定的に語られ ているかがわかる。本講演では、どのような社会的背景がシュタイナー教育ブーム とシュタイナー的なものの流行を生み出 したのかという謎に迫りたい。 Tadashi TAJIMA 田嶋 直士 Wie der Hauch des Windes Meditative Solomusik für die japanische Bambusflöte Shakuhachi Am Sa. 28.03.2009, 19:00 h im Bürgerhaus Stuttgart-West Herr Reese, der Betreuer von Herrn Tajima anlässlich seiner Deutschland – Tournee hat einen informativen Begleittext verfasst, den wir Ihnen nicht vorenthalten wollen: ATEM - BAMBUS - KLANG DIE MEDITATIVE SHAKUHACHI-FLÖTENMUSIK JAPANS HEINZ-DIETER REESE, KÖLN Die Flöte zählt zu den ältesten Musikinstrumenten der Menschheit. Sie ist schon für die Steinzeit belegt und hat in vielen Kulturen Verbreitung gefunden. Mit ihr lässt sich der menschliche Atem unmittelbar in Klang umsetzen, was sie zu einem bevorzugten Medium für den Ausdruck von Emotionen macht. Die enge Beziehung zwischen dem Atem, der Essenz des Lebens, und dem Klang hat darüber hinaus dazu geführt, dass der Flöte auch übernatürliche, geradezu magische Kräfte mit positiven wie negativen Wirkungen zugeschrieben wurden. 41 In Japan sind solche Vorstellungen vor allem mit der Bambusflöte Shakuhachi verknüpft, und ihre Musik zeichnet sich in der Tat durch besondere Merkmale aus. Der Spieler produziert Klänge, die aus dem Atemstrom gleichsam aufblühen und wieder vergehen, langgezogene Einzeltöne und wenige Intervalle, die nur lose miteinander verknüpft sind und weder eine eindeutige Tonalität, noch eine feste metrische Ordnung erkennen lassen von einer fasslichen Melodie ganz zu schweigen. Viele Stücke des Shakuhachi- Solorepertoires, die mit Honkyoku („grundlegende, eigentliche Musik“) bezeichnet werden, muten geradezu modern und avantgardistischklangexperimentell an. In Wirklichkeit sind sie vor mehr als 300 Jahren entstanden. Sie wurden zwar auch in speziellen, individuell konzipierten und dem Spieler nur als mnemo- technisches Hilfsmittel dienenden Flötentabulaturen aufge- zeichnet. Die Überlieferung der Spielpraxis selbst geschah jedoch primär mündlich vom Lehrer auf den Schüler – und das bis auf den heutigen Tag. Von allen Gattungen der traditionellen japanischen Musik ist es diese Solomusik der Shakuhachi, die Zuhörer wie Komponisten unvermindert fasziniert und inspiriert – und das nicht nur in Japan. Instrumentenkundlich betrachtet handelt es sich bei der Shakuhachi um eine beidseits offene Längsflöte aus Bambus. Ihr Name gibt die Standardlänge des Bambusrohres wieder, die nach traditionellem Maß isshaku hachi-sun, d.h. „einen Fuß und acht Zoll“ (rund 54 cm) beträgt und den Grundton D erzeugt. Für ein primär solistisch gespieltes Instrument ist eine solche Normung jedoch ohne Bedeutung. Und so sind Shakuhachi-Flöten sehr unterschiedlicher Größe, d.h. mit unterschiedlichem Grundton, Tonumfang und Klangfarbe in Gebrauch, die je nach Charakter des Musikstücks ausgewählt werden. In allen Fällen besitzt das Instrument fünf ungewöhnlich große Grifflöcher, die eine pentatonische Skala ergeben. Für die Praxis ist diese jedoch kaum relevant. Der Spieler bedient sich verschiedenster Fingertechniken und nutzt die Veränderungen von Anblaswinkel, Lippenstellung und Blasdruck, um eine Vielzahl anderer Tonstufen, Klangfarben, Glissandi und Geräusche hervorzurufen. Erst damit entsteht der für die Shakuhachi charakteristische Klang. Wie viele andere Musikinstrumente Japans ist auch die Shakuhachi nicht japanischen Ursprungs, sondern im 8. Jahrhundert vom asiatischen Festland importiert und zunächst am japanischen 42 Kaiserhof verwendet worden. Originalinstrumente aus dieser Zeit findet man noch heute im Shôsôin, dem kaiserlichen Schatzhaus in Nara. Aus nicht geklärten Gründen ging diese Spielpraxis jedoch schon bald verloren, und die Shakuhachi geriet in Vergessenheit. Erst im 13. Jahrhundert taucht die Bambusflöte - offensichtlich ein zweites Mal aus China importiert - wieder in Japan auf, diesmal in der Volksmusik als Instrument wandernder Bettelmönche. Die Legende schreibt diese Einführung dem Kakushin (1207-1298) zu, einem Mönch der ebenfalls aus China übernommenen zen-buddhistischen Rinzai-Schule. Und es waren ZenMönche, die nun die weitere Entwicklung der Shakuhachi in Japan bestimmen sollten. Ziel des Buddhismus ist es, die Nichtigkeit des Daseins und die Illusionen des Ich-Bewusstseins einsichtig zu machen. „Erleuchtung“ wird als Befreiung von den Anhaftungen an das vergängliche Diesseits erfahren und soll zu einer Vereinigung mit den wandellosen und unvergänglichen Kräften des Universums führen, die auch als „Nichts“ oder „Leere“ bezeichnet werden. Im Mahayana-Buddhismus Ostasiens findet diese „Erleuchtung“ nicht in einem fernen Nirvana statt. Sie kann vielmehr im Hier und Jetzt erlebt werden. Die Schulen des Zen, die zu den jüngeren, in Ostasien entstandenen Lehrtraditionen des Buddhismus zählen, betonen vor allem diese Art der Erleuchtungserfahrung und stellen dazu die Meditation und eine intensive Selbstschulung in den Mittelpunkt der religiösen Praxis. Der Zen-Mönch Kakushin soll in China auch die Überlieferungen des Puhua (jap. Fuke) kennengelernt haben. Dieser war im 9. Jahrhundert durchs Land gezogen und hatte seine Rezitationen heiliger buddhistischer Texte mit einer Glocke begleitet, die er „Glocke der Leere“ (jap. Kyotaku) nannte. Mit ihrem verhallenden Ton gilt die Glocke im Buddhismus seit jeher als Symbol der Vergänglichkeit aller Erscheinungen des Diesseits, und ihre Verwendung in den Ritualen soll stets daran erinnern. Der Legende nach, hat ein Schüler des Puhua erstmals versucht, den Klang dieser Kyotaku-Glocke mit einer Shakuhachi-Flöte nachzuahmen. Die Flöte selbst, aber auch das so entstandene Musikstück wurden fortan ebenfalls „Kyotaku“ 43 genannt. Zusam- men mit den beiden Stücken „Mukai(ji)“ und „Kokû(ji)“, die von dem japa- nischen Mönch Kichiku, einem Schüler des Kakushin, nach einer Traumvision geschaffen worden sein sollen, zählt „Kyotaku“ zu den ältesten der noch heute gespielten Honkyoku im Repertoire der Shakuhachi. Im 17. Jahrhundert formierte sich in der Rinzei-Schule eine Gruppe von Mönchen, die die Kyotaku bzw. Shakuhachi nicht mehr nur als Ritualgerät verwenden wollten. Sie entwickelten die originelle Idee, das Flötenspiel zu einem zentralen Hilfsmittel der täglichen Meditation und Selbstschulung zu machen. Sie gründeten die Fuke-Sekte, die 1677 als Zweig der RinzaiSchule auch offiziell aner- kannt wurde. Die Bezeichnung knüpft an den Namen des chinesischen Mönchs Puhua bzw. Fuke aus dem 9. Jahrhundert an, auf den sich die Sekte in einer fingierten Genealogie, der dreibändigen Schrift „Kyotaku denki kokujikai“ (Geschichte der Kyotaku-Flöte) von 1779 auch ganz konkret zurückführte. Die Anhänger dieser neuen Sekte nannten sich Komusô („Mönche der Leere und des Nichts“). Wenn sie durchs Land zogen und um Almosen bettelten, trugen sich ihre charakteristische Kopfbedeckung, den Tengai-Korbhut, der sie vor den Blicken der Menschen verbarg und zugleich als weltabgewandt meditierende Mönche auswies. In der Fuke-Sekte wurde die Kyotaku-Shakuhachi zum Hôki, zu einem Werkzeug und Symbol des Dharma-Gesetzes, des (nach buddhistischer Auffassung) Urgrunds aller Phänomene. „Bläst man die Shakuhachi, wird das eigene Selbst mit diesen Phänomenen verschmelzen - Licht und Dunkel werden eins mit dem Herzens- grund.“ So heißt es in den Statuten der FukeSekte von 1811. Als Hilfsmittel der Meditation wurde das Flötenspiel in der Fuke-Sekte zu Suizen, zur „Blas-Meditation“, bei der das Bambusrohr der Flöte den menschlichen Atem Klang werden lässt und so dem Geist eine Brücke zur „Erleuchtung“ bereitet. Diese Funktion hat die ungewöhnliche, formal freie Gestaltung solistischer Shakuhachi- Musik geprägt - Musik, die nicht als Unterhaltung eines zuhörenden Publikums ver- standen werden wollte, sondern dem Spieler selbst genügte und seinem Erleuchtungsstreben diente. Honkyoku-Solostücke lassen sich daher nicht in den herkömmlichen musikalischen Parametern beschreiben. Der 44 Spieler gestaltet auf seinem Instrument vielmehr Ketten komplexer Tongebilde, bei denen die subtilen, auch mikrotonalen, klangfarblichen Veränderungen von Einzeltönen im Vordergrund stehen. Klang versteht sich hier als unmittel- bare Äußerung des Atems, der zum „geistigen Atem“ wird und dabei den Tettei-on, den „Absoluten Ton“ zu treffen sucht. In ihm manifestiert sich das Ziel der Zen-Meditation, die „Erleuchtungserfahrung“. Und so lautete die Maxime für jeden Flöte spielenden Fuke-Mönch: Ichion jôbutsu, „mit jedem einzelnen Ton Buddha werden bzw. Erleuchtung erstreben“. Der menschliche Atem spielt in den Spekulationen über Sitz und Stoff des Lebens und der Seele in vielen Kulturen eine wichtige Rolle. Man denke an zentrale Begriffe der antiken Philosophie, das griechische pneuma oder das lateinische spiritus, die beide sowohl „Hauch, Atem“ wie auch „Seele, Geist“ bedeuten. In der indischen Konzeption von Atman und Brahman kommt Ähnliches zum Ausdruck. Anhalten und Kontrolle des Atems verbinden Konzentrations- und Ekstasetechniken mit erkenntnistheoretischen und kosmologischen Vorstellungen. Das traditionelle ostasiatische Denken kreist um den Begriff der „Lebensenergie“ (im Chinesischen mit Qi, im Japanischen mit Ki bezeichnet). Sie durch- wirkt alle Natur und äußert sich bei Lebewesen in der Atmung. Im Taoismus, im Konfuzianismus wie auch im Buddhismus ist daher die intensive Schulung der Atmung eine wichtige Voraussetzung, das Qi/Ki in der eigenen Person zu aktivieren. Ziel ist die Einheit von Leib und Seele, die zu höherer geistiger Intensität und Wachheit, zu einer Steigerung der Erkenntnis- und Handlungsfähigkeiten und damit zur Ausbildung der Persönlichkeit führt. Solche psycho-somatischen Zusammenhänge, die durch die moderne Neurologie bestätigt werden, finden nicht nur im Yoga und in der ZenMeditation, sondern auch in den ostasiatischen Sportkünsten große Beachtung. Sie spielen aber auch in vielen anderen Lebensbereichen der japanischen Kultur eine wichtige Rolle und haben die traditionelle Musik insgesamt nachhaltig geprägt. „Die klassischen Musiktraditionen Japans“ - so erläutert der Musikwissenschaftler und Japanologe Peter Ackermann – „basieren allgemein auf der Vorstellung des Shugyô, einer mit voller innerer Konzentration ausgeführten Tätigkeit. Diese soll äußerlich durch die Schulung des Atems und der Muskulatur die Gesamtperson zu einem Zustand geistig-physischen Ausgleichs führen. Auf der geistigen Ebene bedeutet Shugyô das Beschreiten eines stufenförmigen 45 Wegs, der bei der Wahrnehmung der Unfreiheit und Vergänglichkeit der Existenz beginnt und zu der Erkenntnis führt, dass das Anhaften und Leiden an der irdischen Existenz den Menschen letztlich nicht nur in den physischen, sondern auch den geistigen Tod führt. Musik wie auch andere Künste verstehen sich daher immer auch als Hilfsmittel beim Erklimmen der Stufen dieser Erkenntnis. Und ihre Instrumente fangen dabei gewissermaßen die Kräfte des Universums ein, führen diese in den Menschen hinein und durch ihn hindurch und vereinen ihn so mit den Gesetzmäßigkeiten der Natur.“ Die Shakuhachi-Flöte wird nach diesen Vorstellungen zum „tönenden Bambus“ und der durch ihn „klanggewordene Atem“ zum Laut der Natur, der die Erfahrung einer Einswerdung mit dem Absoluten oder – buddhistisch gesprochen – einer „Erleuch- tung“ vermittelt. „Was den Shakuhachi-Meister auszeichnet ist, dass er wie die Natur spielt und nicht seine Kunstfertigkeit zur Schau stellt. Wie die Natur spielen heißt: Das Ich wird zum Bambus, der Bambus wird zum Ich.“ So schrieb der Fuke-Mönch Fûyô Hisamatsu im Jahre 1823. Bambus gehörte schon im antiken China zu den „Acht Klangmaterialien“ (Bayin), aus denen Instrumente hergestellt werden, und ist noch heute das bevorzugte Material für Blasinstrumente in ganz Ost- und Südostasien. Das ist nicht weiter verwunderlich, prägt doch in diesen Regionen der Bambus mit seinen vielen Arten die Vegetation. „Bambus ist eine ungewöhnlich schnell wachsende Pflanze“, erklärt der japanische Musikethnologe Osamu Yamaguti. „Die Schösslinge haben in wenigen Tagen eine Länge von 10-20 Zentimetern erreicht. Und nach ein bis zwei Monaten ist bereits ein Baum von mehreren Metern Höhe herangewachsen. Aufgrund dieser offensichtlichen Lebenskraft haben die Japaner dem Bambus seit alters her besondere Verehrung entgegengebracht. Was man auch mit ihm anstellte, es war stets der Wunsch dabei, an dieser Lebenskraft der Natur teilzuhaben.“ Die Hochachtung vor der Natur macht es verständlich, dass die Shakuhachi ausgesprochen schlicht gebaut ist. Man verwendet idealerweise eine gut gewachsene Bambuspflanze von etwa vier bis fünf Jahren und schneidet das Rohr nahe der Wurzel heraus. Knoten und Ansätze der abgeschnittenen Zweige bleiben beim fertigen Instrument ebenso deutlich erkennbar wie die Reste der Wurzeln an der unteren Öffnung des Rohres. Gleichwohl ist die 46 Shakuhachi das Ergebnis eines hochkomplexen Herstellungsprozesses, der viel Know-how eines erfahrenen Instrumentenbauers verlangt und die Ursprünglichkeit des Materials gleichsam auf einer höheren Ebene sichert. Etwa vier Jahre dauert es, bis sich ein Bambusrohr für die Herstellung einer Shakuhachi eignet und angeblasen den typischen Bambusklang hervorruft. Es ist - wie der japanische Komponist Tôru Takemitsu (1930-1996) einmal bemerkt hat – „jener Klang, der dem Laut des Windes gleicht, wenn er durch welkes Bambuslaub streicht. Dabei löst sich der herkömmliche musikalische Ton auf, wird komplexer und raffinierter und lässt so etwas wie einen natürlichen Ton entstehen, wie ihn eben welker Bambus hervorruft, einen Ton, der zur Natur selbst, zum Absoluten, zum (buddhistischen) Nichts wird.“ Angeblasen wird das Instrument unmittelbar an der oberen Öffnung des Bambusrohrs. Auf ein Mundstück, das - wie bei der Blockflöte - den Atemstrom lenkt, wird verzichtet. Einzige Hilfe: Das Rohr ist auf einer Seite der Öffnung schräg abgeschnitten, so dass eine scharfe Anblaskante entsteht. Für den Spieler bedeutet es eine besondere Herausforderung, das einfach gebaute Instrument differenziert zum Klingen zu bringen, ein Umstand, der dem bereits erwähnten Konzept des Shugyô, der ganzheitlichen geistigkörperlichen Schulung entgegenkommt. Shugyô bedeutet Anstrengung, sich abarbeiten an hartnäckigen Widerständen, die nur durch Konzentration aller Kräfte zu überwinden sind. Der Weg zur Meisterschaft ist zunächst ein Weg der Reifung der Persönlichkeit. Die Vollendung im Musikalischen wird dann als deren natürlicher Ausdruck empfunden. In neuerer Zeit hat dieser Aspekt die vormals exklusiv-religiöse Funktion des Shakuhachi-Spiels im Rahmen der zen-buddhistischen „Blas-Meditation“ mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Dazu trug zunächst der Umstand bei, dass die Fuke-Sekte 1871 während der Meiji-Ära, die Ende des 19. Jahrhunderts das moderne Zeitalter in Japan einläutete, aufgelöst und verboten wurde. Die Gründe waren vor allem politischer Natur: Nicht wenige Fuke-Mönche hatten sich unter dem Schutz ihres Tengai-Korbhuts als Geheimpolizisten der alten Feudalregierung 47 betätigt und damit die gesamte zen-buddhistische Fuke-Sekte diskreditiert. Ihres unmittelbaren religiösen Kontextes beraubt hatte sich die ShakuhachiFlöte in der Folgezeit als ein „Musikinstrument“ zu bewähren, das mit seinen vergeistigt- meditativen Honkyoku-Solostücken nun auch auf ein zuhörendes Konzertpublikum zu wirken suchte. Herausragende Bedeutung in diesem Transformationsprozess hatte die Kinko-Schule, die sich auf den Fuke-Mönch Kinko Kurosawa (1710-1770) beruft. Andere Schulen wie Tozan, Ueda, Chikuho haben ihre jeweils eigene Auswahl und Bearbeitung des Honkyoku-Repertoires vorgenommen. Daneben versuchten einzelne Shakuhachi- Spieler bis heute immer wieder, den Geist der Komusô und die ursprünglich religiöse Funktion des Shakuhachi-Spiels zu bewahren. Sie berufen sich vor allem auf Taizan Higuchi, der 1890, kurz nach dem Verbot der Fuke-Sekte, zu diesem Zweck seine eigene Shakuhachi-Schule begründete, die „Myôan Taizanryû“. Die meisten japanischen Shakuhachi-Spieler der Gegenwart gehören allerdings einer der genannten „weltlichen“ Schulen an. Sie verstehen sich nicht mehr als Zen-Mönche, sondern als Musiker und Künstler. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der Zen-Buddhismus über die rituelle Praxis der Klöster hinaus zu einer alltäglichen, alle Lebensbereiche durchdringenden japanischen Geisteshaltung entwickelt hat. Er wird von vielen daher gar nicht mehr als „Religion“ im engeren Sinne, sondern als eine allgemeine Methode betrachtet, die Arbeit am Selbst zu fördern, die sich als unmittelbare Erfahrung der in jedem Menschen angelegten Vollkommenheit erfüllt. Der ursprünglich zen-buddhistische Gehalt der Honkyoku-Solostücke der Shakuhachi bleibt auch in diesem gewandelten Funktionszusammenhang einer vergeistigten Konzertmusik mit dem Anspruch des Shugyô weiterhin präsent. Der „Absolute Ton“ der Erleuchtung manifestiert sich nun in einer künstlerisch vollkommenen Klanggestaltung. Und aus der Maxime Ichion jôbutsu (s.o.) wird bei heutigen ShakuhachiSpielern wie Tadashi Tajima der Anspruch Ichion ni kokoro wo komete („In einen einzelnen Ton sein ganzes Herz hineinlegen“). Damit werden Religion, Ethik und Ästhetik letztlich eins. 48 Der Autor des Beitrags, Heinz-Dieter Reese, M.A., studierte Musikwissenschaft (Musikethnologie), Völkerkunde und Japanologie. Seit 1994 ist er als Kulturreferent des Japanischen Kulturinstituts Köln (The Japan Foundation) tätig. 要約 タジマ タダシ氏は1942年堺(大阪府)で生まれました。最初のころ都山派の 師匠のもとで受講後タジマ氏 は チクホ派マイスターであるサカイ チクホ(II)氏の弟子となりました。後年タ ジマ氏は尺八マイスターとして国際的にも有名なキンコー派ヨコヤマ カスヤ師匠 のもとでさらに尺八の教育を受け学び続けました。 そのうち数々の賞を受賞したタジマ氏(最後は2008年1月国際芸術祭の大賞) は今日では日本の尺八奏者のなかでも最も多面的な奏者と言われています。タジマ 氏は彼独自のいろいろなルートから得た様式で力強さと 内面的かつ瞑想的な面を等しく特徴付けているのです。 演奏者として活発なコンサート生活の傍ら1979年来海外出演が度重なりおまけ に国内テレビ・ラジオ放送プログラム協演の録音の傍らタジマ氏は大阪、東京、横 浜で若い尺八奏者の育成に専念しておられます。1994年にタジマ氏はそのため に独自の派ジキショー タジマ会を結成しました。そして2000年には尺八の教 科書(楽譜)および尺八奏者の精神についての本も出版されました。1999年に 彼のネットワークメディアで 「日本:タジマ タダシ、尺八マスター」という題目のもとに発売された CD には演 奏の基準となる選択された本曲 ―独奏作品も含まれていて今日なお入手出来ます。 Eine CD mit der Aufzeichnung von Melodien des Herrn Tajima können Sie unter http://zweitausendeins.de/suche/index.cfm?CT=1 beziehen. Dort müssen Sie dann noch mit dem Stichwort Tajima suchen. ---------------------------------------Buchbesprechung zur Erinnerung an geschichtliche Ereignisse aus der nicht so fernen Vergangenheit Haruki Murakami, sein „Mister Aufziehvogel“ und die Prägung der Helden Bekanntlich gibt es gegenwärtig zwei japanische Künstler, einen Schriftsteller und einen Grafiker/Designer, die nicht nur in Japan, sondern weltweit im Gespräch sind. Beide hören auf den Nachnamen Murakami, was übersetzt Dorfgott bedeuten kann, aber auch „aus dem oberen Dorf“, jedoch in ihren Vornamen unterscheiden sie sich bereits, und verwandt scheinen sie auch nicht zu sein. Nachdem ich dem Geschäftsführer der Deutsch-Japanischen Gesellschaft BadenWürttemberg, Herrn Grosse, erzählt hatte, dass ich ein Buch von Haruki Murakami gelesen hatte, in dessen Titel der Name Kafka: „Kafka am Meer“ oder so ähnlich vorkam, und dass ich mit steigender Spannung von Anfang bis Ende gelesen hatte, schenkte er mir bei der 49 nächsten IGV – Sitzung 20 einen dicken Paperback, nämlich den „Mr. Aufziehvogel“ von Haruki Murakami. Eigentlich hatte ich gar keine Zeit, ein derart dickes Buch zu lesen, da ich aber ein undisziplinierter Mensch bin und außerdem Vorweihnachtszeit herrschte, konnte ich es mir nicht verwehren, einem Blick in das Buch zu werfen. Von seiner sprühenden Phantasie gefangen genommen, las ich es dann in einem Zug zu Ende. Die Geschichte war spannend erzählt, doch sonst reiner Alltag. Mich interessierten am meisten die Kontaktpersonen des Helden. Ihre Gemeinsamkeit bestand darin, ihre prägenden Erlebnisse von 1939 – 1945 in der Mandschurei empfangen zu haben, als diesem, an sich chinesischen Land, zwar ein Mandschu- stämmiger Kaiser vorstand, nämlich Puyi, nachdem er als letzter chinesischer Kaiser aus der Qing-Dynastie im Kindesalter auf sein Amt verzichtet hatte, das Land aber trotzdem einen von Japan abhängigen Staat unter der Bezeichnung Mandschukuo darstellte. Der Held der Geschichte, ein junger Mann, der plötzlich seinen sicheren Job kündigte, um darüber Nachdenken zu können, ob er in Zukunft nicht etwas Sinnvolleres mit seinem Leben anfangen könne, wird von seinem Schwager als Mensch, der nur „Schrott und Müll im Kopf hat.“ bezeichnet. Allerdings glaubt der Leser es ihm nicht, weil es sofort die Lesespannung abfallen ließe, der spannende Erzählfluss aber keineswegs abbricht. So kommt dann beim Nachdenken zutage, dass die meisten der Kontaktpersonen des jungen Mannes und seiner Frau mit Mandschukuo zu tun hatten. Die Menschen lebten dort ihren normalen Tagesablauf und wurden unversehens in politische Ereignisse verwickelt. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat Japan, fielen sie auf, als von einem speziellen Tick befallen zu sein. „Wie war das möglich?“ stellt sich dem Leser die Frage, besonders wenn er nicht mit den regionalen Verhältnissen vertraut ist. Das Buch gibt darauf keine direkte Antwort. Aber es schildert konkrete Erlebnisse, aus denen er sich ein Bild machen kann. Das erste Erlebnis aus der Mandschurei handelt von dem Grenzzwischenfall bei Nomonhan. Die Russen reden von der Schlacht am Khalkhyn Gol, Der Vorfall dauerte von 11. Mai 1939 bis zum 16. September des gleichen Jahres und wurde durch einen Waffenstillstand beendet. Anfang September 1939 hatte Hitler durch den Einmarsch der deutschen Armee in Polen den zweiten Weltkrieg ausgelöst. Die Russen hatte das bewogen, ihre Händel mit den Japanern im Fernen Osten vorläufig zu beenden. Sie konnten sich das leisten, denn sie waren dabei, den Japanern zum ersten Mal in der modernen Geschichte eine militärische Niederlage beizubringen21. Das Buch schildert nicht den Verlauf der Schlacht. Vielmehr den fürchterlichen Durst eines japanischen Teilnehmers an dem Ereignis. Das Trinkwasser war ihm ausgegangen, am Horizont breitete sich ein strömender Fluss aus, der Chalkha. Keiner der Japaner, der dort Wasser schöpfen wollte, kam zurück, die Russen hatten den Zugang mit einer Kette von Panzern versperrt. Die Japaner vertrauten damals auf ihre bis dahin erfolgreiche InfanterieTaktik, auf Überraschungs- und Nachtangriffe. Diesmal kamen sie damit nicht durch, die feindliche Artillerie auf dem höher gelegenen Gegenufer sah auf die Japaner herab und konnte jeder Überraschung mit gezielten Schüssen zuvorkommen. Der Dürstende, von dem später als Brunnenzieher erzählt wird, machte sich bei seinen Qualen Gedanken über die Sinnlosigkeit 20 Initiativgruppe Veranstaltungen, jeder kann mitmachen, der sich an der Vorbereitung einer Veranstaltung der DJG-BW beteiligen will. 21 Die Chinesen behaupten, bereits im September 1937 den Japanern bei ihrem Versuch, in die Shanxi-Provinz einzudringen, eine Niederlage beigebracht zu haben. Doch dabei handelte es sich um ein kleineres Ereignis, die Verluste der Japaner wurden mit 1000 Mann angegeben. Bei Nomonhan waren die japanischen Verluste viel höher. 50 der Situation. Das Land ringsumher war einförmige Steppe und die Blutopfer, die ihm abverlangt wurden, nicht wert. Die Dorfbewohner von Nomonhan hatten hart für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, selbst durch moderne Nutzungstechniken wäre daran nichts zu ändern gewesen. Niemand brauchte erpicht darauf zu sein, das Land zu besitzen. Wissen Sie wo Nomonhan liegt? Ich wollte es wissen und googelte im Internet. Eine erstaunliche Menge von Treffern wurde angezeigt. Nomonhan liegt einige Kilometer östlich des Flusses Chalkha, der in das Amur-Becken22 fließt. Von den Japanern wurde der Chalkha als westliche Grenze zwischen der Äusseren Mongolei und Mandschukuo betrachtet. Der Amur als Grenze zu Russland fließt etwa 500km entfernt im Norden. Heilar, der nächstgelegene japanische Eisenbahnstützpunkt, liegt 200 km weiter im Osten. Der nächstgelegene russische Eisenbahnstützpunkt liegt etwa 700km entfernt im Nordwesten Von den Stützpunkten zum Ort des Geschehens gab es nur erdige Pisten, die bei Regenwetter verschlammten. Was ich zusätzlich aus dem Artikel entnahm, ist folgendes: Im Jahre 1689 handelte das zaristische Russland mit dem China der Qing-Dynastie, also den Mandschus, im Vertrag von Nerchinsk 23 die Wasserscheide des Stanovoy – Gebirges als Grenze zwischen China und Russland aus. Damit gehörte der Amur mit seinem beidseitigen Talabhängen zu China24. Im Jahre 1858 lag das Qing-China wegen der Taiping – Aufstände in Unruhe. Russland hatte dem chinesischen Kaiser geholfen und wollte nun belohnt werden. Der Vertrag von Aigun, der als völkerrechtlich ungleicher Vertrag gilt, setzte deshalb den Amur als Grenze zwischen Russland und China fest. Zwei Jahre später gab es eine erneute Veränderung der Grenze zwischen Russland und China, nämlich diejenige zwischen der Inneren- und der Äußeren Mandschurei. Diese Grenze ist praktisch der Ussuri, der nördlich von Korea bei Wladivostok entspringt und bei Chabarovsk in den Amur fließt und heute noch als Grenze zwischen Russland und China fungiert. Die Innere Mandschurei stimmt ziemlich genau mit dem Gebiet von Mandschukuo überein. Die Äußere Mandschurei grenzt an den Pazifik, die Innere hat keinen Zugang zum Pazifik oder Ochostkischen Meer. Die Grenze von Mandschukuo zu Russland betrug mehr als 3000km. Heilar liegt an der Bahnstrecke, die seit 1902 Deutsche von Berlin aus benutzten, um nach Tsingtau zu fahren. Sie wurde von Russen und Chinesen gebaut. Der nächste Google-Eintrag belehrte mich über die militärische Bedeutung des Zwischenfalls von Nomonhan. Er wurde nämlich seither vielfach von Militärtheoretikern analysiert, wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Operationen auf der russischen Seite von Gregory Zhukov geleitet wurden. Die Schlacht begründete seinen Ruhm als Heerführer. Zhukov wurde später Held der Sowietunion, er organisierte 1941 mit seiner sibirischen Truppe die Verteidigung Moskaus vor den Deutschen, wandte die Schlacht von Stalingrad und nahm 1945 Berlin ein. Alle vier Operationen liefen nach dem gleichen Schema ab, Hinhalten des Gegners im Zentrum und Umzingelung durch Zangenbewegungen nach beiden Seiten. 22 Die Chinesen nennen ihn Schwarzer Drachen Fluss Der Vertrag von Nerchinsk ist der erste Vertrag auf der Grundlage des seit dem Frieden von Münster und Osnabrück entstanden Völkerrechts, das ein dem europäischen Kulturkreis zugehöriger Staat mit einem außerhalb liegenden abgeschlossen hat. Der Vertrag war kein „ungleicher Vertrag“. 24 In der Mythologie gilt China als das Land der vier Drachen; der von den Europäern Amur genannte Fluss ist der Schwarze Drachen. Der Gelbe Drachen ist der Gelbe Fluss, die anderen Drachen sind der Jangtsekiang und der Perlfluss. 23 51 Nach der Auswertung dieses Artikels hatte ich erst einmal genug aus Mandschukuo erfahren und wandte mich wieder dem Buch von Murakami zu. Dort las ich nun über das Abenteuer eines japanischen Leutnants in der Gegend von Nomonhan. Ihm war 1940 aufgetragen worden, den Chalkha zu überschreiten und illegal in das Gebiet der Äußeren Mongolei einzudringen. Wegen seiner Ausbildung als Geologe und Kartograf war er ausgewählt worden, zusammen mit zwei weiteren Soldaten, einen Zivilisten zu begleiten und dessen Anweisungen zu folgen. Es handelte sich offensichtlich um einen Agenten25 der Regierung. Auf dem Rückweg wurde die Reisegruppe von mongolischen Soldaten gefangen genommen. Der Agent hatte seinen Soldaten befohlen, ein Dokument, was er bei sich trug, unbedingt zu retten, falls er umkäme und es der Armeeleitung auszuhändigen. Die mongolischen Soldaten hielten die Gefangenen fest, bis ein Flugzeug in der Steppe landete, dem zwei Offiziere entstiegen, ein russischer und ein mongolischer. Der russische verlangte von dem Zivilisten die Herausgabe des Dokuments. Als dieser leugnete, eines zu besitzen, machte er ihm in wohlgesetzten Worten klar, dass die Mongolen ein Hirtenvolk seien, die seit Jahrhunderten gelernt hätten, Tiere zu enthäuten, er würde bei lebendigem Leibe solange enthäutet, bis es ihm einfalle und es herausgäbe. Der mongolische Offizier machte sich sogleich an die Arbeit. Der japanische Leutnant wurde gezwungen, der Prozedur zuzusehen. Einer der Begleitsoldaten lag mit durchschnittener Kehle seitwärts, der andere war verschwunden. Der Agent wurde völlig enthäutet und starb unter entsetzlichen Qualen und Schreien, aber er hatte nichts verraten. Der russische Offizier war nun überzeugt, dass auch der Leutnant nichts wissen konnte und stand davon ab, ihn zu töten. Aber die mongolischen Soldaten stießen ihn in einen tiefen ausgetrockneten Brunnen. Er brach sich einige Knochen, aber er lebte. Aus dem Brunnen herauszuklettern war ihm nicht möglich. Das Buch schildert die drei Tage, die der Leutnant in dem Brunnen verbrachte, bis er von dem vorher verschwundenen Soldaten herausgezogen wurde. Es gelang beiden zusammen, den Weg zurück in die Hauptstadt von Mandschukuo zu finden, die damals den Namen Hsin-Chin trug, übersetzt Neue Hauptstadt. Dort tat der Leutnant nach seiner Heilung ruhigen Etappendienst als Kartograf und lernte Russisch. Im Zuge des Auguststurms der Russen 1945 allerdings wurde er für den Erzählfluss erneut aktiviert. Harbin und Mukden sind zwei Namen von mandschurischen Städten, die weit bekannt sind. Auf einer modernen Karte sind sie nicht unbedingt zu finden, denn es handelt sich um mandschurische Namen, die Orte dort haben aber auch chinesische, russische und japanische Namen. Es hängt also davon ab, wann und von wem Ihre Karte erstellt worden ist, ob Sie einen Ort mit dem Ihnen bekannten Namen finden oder nicht. Zum Beispiel trägt Hsin Chin (Chinkyo) den chinesischen Namen Changchun und ist heutzutage Hauptstadt der Provinz Jilin. Im Jahre 1945 wurde die Stadt von den Russen erobert und 1946 den Kuomintang Chinesen übergeben. Seit 1947 wurde die Stadt von chinesisch kommunistischen Truppen belagert und 1948 erobert. Im 18. Jahrhundert befand sich der Ort im Zustand eines befestigten Marktfleckens. Erst 1906 erlangte der Ort Bedeutung im Zuge des Baus der Ostchinesischen Eisenbahn. Die Japaner 25 Nach der Aufhebung des Auslandsreiseverbots für Japaner im Jahre 1860 fanden sie Anschluss an die Panasiatische Bewegung, die sich hauptsächlich in China als antiimperialistische Bewegung gebildet hatte, die meist heimlich im Untergrund wirkte, zunächst mit dem Ziel, die rückständige Qing-Dynastie zu beseitigen. Im Westen wird diese Bewegung unter „Boxer“ zusammengefasst. Ein japanischer Zweig dieser Bewegung war die „Schwarze Drachen Gesellschaft“, die ab 1901 die japanischen Interessen gegenüber Russland vertrat. Diese Geheimgesellschaften tauschten Informationen und Agenten untereinander aus. Sun Yat-sen z.B. war 1901 Gast der „Schwarzen Drachen“ in Japan. Im Westen ist diese Bewegung hauptsächlich von der Filmindustrie verarbeitet worden. Die „Dr. Fu Man-schu“ – und „James Bond“- Filme sind Belege dafür. 52 machten den Ort zu einer Großstadt mit Kaiserpalast, der inzwischen eine Touristenattraktion darstellt. Die Kommunisten produzierten dort ihre ersten Lastwagen. Heute beherbergt die Stadt nicht nur 6 Mio. Einwohner, sondern auch eine Autofabrik von Volkswagen (VW). Pläne wollen den Ort zum chinesischen Detroit ausbauen. Der Bau einer weiteren umweltverträglichen Autofabrik wurde ausgeschrieben, verbunden mit einer Wohnanlage für 300.000 Personen. Ein Architekt Namens Albert Speer hat die Ausschreibung gewonnen und bekam den Bauauftrag. Mich interessierte zu erfahren, wie und warum die Japaner in die Mandschurei gekommen waren, obwohl sie sich lange Zeit gegen den Kontakt mit dem Ausland gesperrt hatten. Schnell fand ich heraus, dass der zweite Teil der Frage einfach zu beantworten ist, denn die Mandschurei weist weite Gebiete auf, die für den Anbau von Soja und Gerste geeignet sind, nicht zu reden von reichlichen Kohle- und Erzvorkommen, das Land ist also ein idealer Kandidat zum Aufbau einer externen Versorgungsbasis besonders für ein Land, dem solche Ressourcen fehlen. Aber es handelte sich um traditionell chinesisches Gebiet. Wie kommen Russen, Briten, Japaner und Sonstige dazu, sich dort breit zu machen? Im 17. Jahrhundert galten die Chinesen noch nicht als verrottetes Volk, über das sich starke Interessenten einfach hermachen konnten. Im Jahre 1697 veröffentlichte G.W. Leibniz 26 ein Buch „Neuestes aus China“, das nach modernen Begriffen als Bestseller bezeichnet werden kann. Es trug auf der Titelseite ein Bild des Kaisers K’ang-hsi (Kangxi) aus der Mandschu –Dynastie. Von Leibniz wurde dieser Kaiser als Beispiel eines Philosophenkönigs beschrieben, wie er von Platon vorgestellt worden war. Leibniz erwähnte in seinem Buch auch den Vertrag von Nerchinsk und betrachtete Russland als den gegebenen Vermittler zwischen Europa und China, das er als fernen und ebenbürtigen Partner Europas ansah. Das Buch erschien übrigens vor dem Ausbruch der China-Euphorie in Europa, die u.a. die Königschlösser (siehe. Sans Souci und Ldwigsburg) mit chinesischem Porzellan und Möbeln ausstattete. Erst im 19. Jahrhundert wurde Europa von einem neuartigen Eroberungsdrang befallen, der die Großmächte dazu trieb, sich Afrika und das ferne Asien abhängig zu machen. Die sich entfaltende Industrialisierung und die Herausbildung von Nationalstaaten spielt dabei eine Rolle. Um China kümmerten sich Frankreich, Britannien, Russland sowie die USA mit ihrer Politik der offenen Tür. Nach 1871 kamen Deutschland und Italien hinzu. Ab 1853 öffnete sich Japan und sah dem Treiben zu. Im Jahre 1860 wurde in Japan das Verbot von Auslandsreisen aufgehoben. Davon wurde sofort eifriger Gebrauch gemacht. Sowohl Privatleute informierten sich im Ausland, als auch offizielle Regierungsdelegationen. Private erkundeten wirtschaftliche Möglichkeiten, die Offiziellen wollten im Westen lernen und die Revision der ungleichen Verträge 27 bewirken. Letzteres gelang ihnen nicht. Doch sie wurden freundlich aufgenommen und bekamen Unterricht in Weltmacht- und in Realpolitik. Fürst Bismarck persönlich erteilte Lektionen. Als Tomomi Iwakura, ein an Einfluss reiches Mitglied des Hofadels, 1873 von einer Auslandsmission zurückkam, konnte er gerade noch das Militär davon abhalten, Korea anzugreifen. Er hielt den Ausbildungsstand des neu geschaffenen Militärs für unzureichend, doch im Jahre 1876 wurde Korea von Japan geöffnet und zwar auf ähnliche Art und Weise, Karin Yamaguchi, „G.W. Leibniz und China“, OAG Notizen 09/2008, Seite 22ff Die Verträge sind deshalb ungleich, weil sie den fremdländischen Souverain herabwürdigen, was sich u.a. in der Exterritorialitätsklausel für Ausländer in Japan äußert und in der Einschränkung der japanischen Zollhoheit und zwar in einer Weise, die die Bestimmungen des angewendeten Völkerrechts missachtet. 26 27 53 wie Japan von den Amerikanern geöffnet worden war. Das Motiv der Japaner waren sowohl Sicherheits- als auch wirtschaftliche Interessen, verletzter Stolz wegen der ungleichen Verträge, sie wollen es den Großmächten zeigen; die Ablenkung von innenpolitischen Schwierigkeiten, die wegen der eigenen Öffnung entstanden waren und nicht zuletzt die inneren Verhältnisse Koreas selbst. Korea galt traditionell als Vasallenstaat Chinas. Von Kora aus war zwar überlegene Kultur in Japan eingeflossen und dort dankbar aufgenommen worden, aber im Mittelalter auch zwei militärische Angriffe der Chinesen. Diese wurden abgewehrt, erzeugten aber eine politische Situation der Unsicherheit in Japan, die erst nach einer langen Reihe von internen Unruhen beigelegt werden konnte. Nun waren die Großmächte gerade dabei, China unter sich aufzuteilen, was Rückwirkungen auf die Koreaner haben musste. Nicht das erste Mal gab es Koreaner, die Japaner um Unterstützung gegen die Chinesen baten. Der aufkommende Nationalismus der Chinesen richtete sich nicht nur gegen die westlichen Eindringlinge, sondern suchte auch traditionelle Positionen zu halten, was 1894 den Ersten Sino-Japanischen Krieg auslöste, den die Japaner glänzend gewannen. Im Frieden von Shimoniseki wurde ihnen Korea und die nördlich angrenzende Liaotang-Halbinsel neben anderen Zugeständnissen als Einflusszone zugebilligt. Die Liaotang-Halbinsel ist der südliche Zipfel der Mandschurei, durch die das zaristische Russland, auf der Suche nach einem eisfreien Hafen, gerade die Baikal Traversale der transsibirischen Eisenbahn gebaut hatte. Die Franzosen bauten dort den Hafen Port Arthur (Lüshun) im Auftrag der Russen aus, selbst die Briten waren als Eisenbahn – Bauer und Investoren in der Mandschurei tätig und die Deutschen waren dabei, ihr Schutzgebiet Kiautschau auf der im gelben Meer gegenüber liegenden Halbinsel Schantung anzulegen. Es entstand ein massiver Interessenkonflikt zwischen Japanern und Kolonialmächten über chinesische Gebiete, der z.B. deutlich in einem Telegramm zum Ausdruck kam, welches der deutsche Kaiser28 an die japanische Regierung gesandt hatte und dort Ressentiments auslöste. 28 Siehe den Film „Bart no Gakuen“, der 2007 von der DJG-BW im Linden-Museum gezeigt wurde. 54 Die Mandschurei, Teil von China und japanische Kolonie Manchukuo Die Briten betrachteten die Situation etwas mehr von der pragmatischen Seite und schlossen einen Bündnispakt mit den Japanern, der sie erstmalig auf der Bühne der Großmächte als Gleichberechtigte behandelte. Die Japaner bedankten sich, indem sie die Hauptarbeit bei der Niederschlagung des wenig später in China ausbrechenden Boxeraufstandes erledigten. Deutsche sind stolz auf dieses Ereignis, weil damals unter den Kolonialmächten der Ruf: „Germans to the front“ erscholl. In die Geschichte gingen sie allerdings nicht als überlegene Krieger ein, sondern als Beteiligte an der Plünderung von Kunstschätzen und übertriebenen Rachemaßnahmen. Der Interessenkonflikt zwischen Russland und Japan über Korea führte 1904/05 zu einem Krieg zwischen den beiden Staaten, der hauptsächlich auf mandschurischem Boden ausgefochten wurde und den die Japaner zum Erstaunen der ganzen Welt gewannen. In Petersburg löste das Ergebnis den ersten Aufstand gegen die zaristische Regierung aus. In Fernost dagegen festigte sich die Stellung Japans in Korea und die von den Russen gebaute Südmandschurische Eisenbahn ging in das Eigentum der Japaner über, das sie durch eine eigene militärische Einheit, die Kwantung-Armee beschützen durften. In Japan führte das Ereignis zu einem enormen Prestigegewinn der Kräfte des festen militärischen Auftretens, Vertreter differenzierter Betrachtungsweisen gerieten ins Abseits. Die handelnden Japaner jener Zeit kannten noch das Leben der Samurai aus der Tokugawazeit. In der Meijizeit war der Stand der Samurai und Daimyo abgeschafft worden. Die nachfolgende Generation von Amtsträgern entstammte einer geänderten Lebenswirklichkeit, jedoch blieb der Gegensatz zwischen westlichen und östlichen Japanern bestehen. Die westlichen waren Teilhaber der Tradition der Fürstentümer, die die Restauration des Kaisers unterstützt hatten, die östlichen gehörten zu den Vertrauensleuten des Shoguns. Gegensätze zwischen westlichen und östlichen Landesteilen gab es bereits in der Yamatozeit, sichtbar an den geistlichen Zentren IZUMO und ISE. Sie beruhen auf unterschiedlichen Staats gründenden Mythologien, IZUMO im Nordwesten und ISE im Südosten der Hauptinsel. 1910 wurde Korea als Kolonie annektiert, 1912 starb der Meiji-Kaiser und 1914 brach der erste Weltkrieg aus. Japan als Verbündeter von Großbritannien saß in der Friedenskonferenz von Paris 1918 -192029 als fünfte Siegergroßmacht am Verhandlungstisch und kümmerte sich wenig um das, was die Größeren für ihre eigenen Belange aushandelten. Ihr Interesse, China zu kolonisieren hatten sie inzwischen aufgegeben. Die Shantung-Halbinsel 30 , während des Krieges von Japanern besetzt, wurde bald an China31 zurück gegeben. Die Auswirkungen des Krieges auf Japan waren enorm. Es brauchte nicht viel zu kämpfen und konnte industriell überall dort in die Breche springen, wo die im Krieg beschäftigten Industriemächte ausgefallen waren, was ihre Wirtschaft angekurbelt hatte. Doch es gab auch neue Herausforderungen. Die traditionellen Industriemächte wollten in ihre alten Märkte zurück und verunglimpften japanische Produkte als Copykat oder Billigware. Zudem das 29 Deutsche kennen diese Konferenz als Friede von Versailles Tsingtau, bei der Übernahme durch die Deutschen 1898 ein Dorf, ist heute eine Millionenstadt, die China mit Bier beliefert. Die japanische Besetzung der Shantung Halbinsel sollte das Eingreifen von China in Korea erschweren. 31 Nicht ohne Druck Chinas, das ebenfalls als Siegermacht an der Pariser Konferenz beteiligt war. 30 55 Anwachsen der Bevölkerung 32 sowie rassistisch begründete Einwanderungsverbote für Japaner in Australien und anderen britischen Einwanderungsgebieten, den USA und insbesondere in Kalifornien33. Das japanische Volk begehrte mehr Demokratie, der Taisho-Kaiser entfaltete nicht die vorantreibende Energie seines Vorgängers, möglicherweise wegen seiner gesundheitlich angeschlagenen Konstitution34. Im Militär prallten utopisch nationalistische und realistisch mahnende Strömungen aufeinander. Die russischen Revolutionswirren von 1917 zwischen Roten und Weißen beschäftigten die Fernostregion noch mehrere Jahre lang, wobei nicht nur japanische sondern auch amerikanische, französische und tschechische Streitkräfte involviert waren. So beherbergte z.B. Harbin, ein mandschurischer Eisenbahnknotenpunkt, in dieser Zeit etwa 200.000 – 300.000 Weißrussen auf der Durchreise nach Amerika, Palästina oder sonst wohin. Eine der militärischen Fraktionen hielt einen weiteren Krieg mit Russland für unausweichlich, und traf heimlich Vorbereitungen dafür in der Mandschurei. Als der chinesische Nationalisten-Führer Chiang Kai-scheck 1928 versuchte, die Mandschurei enger an China zu binden, weil dort moderne Industrien für die Rüstung aufgebaut worden waren und die Präsenz der Japaner auf wirtschaftliche Angelegenheiten zu beschränken suchte, wurde ein von Japanern ausgehendes Attentat auf den führenden mandschurischen Warlord ausgeübt. Dies brachte chinesische Volkmassen gegen die Japaner auf. Sie versuchten ihr schwindendes Prestige durch den Ausbau ihrer Machtbasis auszugleichen. 1931 verübte zudem die Kwantung- Armee bei der Stadt Mukden (Hoten, Shenyang) ein weiteres Attentat auf den amtierenden Warlord, gab es aber als eine chinesische Angelegenheit aus, gegen die japanische Gegenmaßnahmen gerechtfertigt seien. Die Kwantung - Armee benutzte die Gelegenheit, in wenigen Tagen große Teile der Innere Mandschurei zu besetzen und einen unabhängigen Staat Mandschukuo zu proklamieren. China protestierte beim Völkerbund, dem auch Japan angehörte. Der Völkerbund hatte kurz vorher im Briand-Kellog-Pakt die Kriegsführung als Mittel zur Konfliktlösung geächtet. Auch Japan hatte den Vertrag unterzeichnet. Der Völkerbund setzte eine Untersuchungskommission 35 ein, die Japan als Schuldigen herausstellte. Wegen der damals anhaltenden Weltwirtschaftskrise wurde Japan aber nur halbherzig verurteilt, den Mitgliedern wurde empfohlen, Mandschukuo nicht anzuerkennen, was Japan 1932 aber nicht davon abhielt, aus dem Völkerbund auszutreten. Der eigentliche Auslöser der Ereignisse war ein japanischer Militärangehöriger 36 , der die Leitung der Kwantung- Armee durch seinen Charm und seine Beredsamkeit dazu brachte, entgegen den Anweisungen der Regierung in Tokio, vollendete Tatsachen zu schaffen, die schließlich wegen der laufenden Erfolgsmeldungen sanktioniert wurden. Zur Zeit des Beginns der Ereignisse umfasste die Kwantung -Armee etwa 30.000 Mann. Ihr standen unter verschiedenen Warlords etwa 160.000 Mann an chinesischen Truppen im Lande gegenüber. 32 1853 hatte es 30 Mio. Einwohner gegeben. In den 1920er Jahren war die Bevölkerung auf 50 Mio. angewachsen, heute beträgt sie etwa 120 Mio. 33 Die damaligen Verhältnisse in Kalifornien werden von John Steinbeck in Cannery Row geschildert. 34 Taisho 1912 – 1926. Er wurde in seiner Kinderzeit (bis 1913) medizinisch u.a. von dem Bietigheimer Mediziner Erwin Belz betreut. 35 Die Lytton-Kommission 36 Kanji Ishihara, er vertrat die „Theorie des großen Weltkrieges“, war Teilnehmer des Gelöbnisses von BadenBaden, einer Vereinigung junger Offiziere, die sich das Ziel gesetzt hatten, die amtierenden japanischen Militärführer aus dem Amt zu drängen, die alle noch zu den West-Japan Leuten gehörten, die das moderne Japan aufgebaut hatten. Die jungen Leute hatte noch keine Kampferfahrung. Ishihara gilt als religiös (NichirenBuddhist) denkender Mensch. Siehe: The Road to Manchuria, Japan Echo, August 2008, Seite 62 ff. 56 Ein Teil der chinesischen Truppen leistete den Japanern Widerstand, der schnell niedergeschlagen wurde, ein Teil leistete auf Anweisung Chiang Kai-scheks 37 keinen Widerstand und zog ab, ein Teil lief zu den Japanern über und wurde die Nationalarmee von Manchukuo und der Rest ging in den Untergrund, um andauernden Widerstand zu leisten. Die Kwantung –Armee wurde auf etwa 60.000 Mann aufgestockt. Der unerklärte Zweite Sino-Japanische Krieg brach erst 1937 mit dem Zwischenfall an der Marko-Polo-Brücke bei Peking aus. Er war zu dieser Zeit kein strategisches Kriegsziel der Japaner, doch als er ausbrach, glaubten einige Japaner, ihn wie bisher immer, als Blitzkrieg in kurzer Zeit siegreich beenden zu können, doch blieben sie bald in den Weiten Chinas stecken und banden Kräfte, die ihnen an anderen Stellen geholfen hätten. Die Kwantung – Armee war davon wenig betroffen, ihr oblag der Schutz der japanischen Interessen in der Mandschurei. Bis 1939 hatte sie zwei Grenzkonflikte mit Russland zu bestehen, der bedeutendere bei Nomonhan und chinesische Guerillas zu bekämpfen. Von Hsin Chin (Changchun) nach Dalian am gelben Meer bauten die Japaner in dieser Zeit ihre erste Hochgeschwindigkeitsstrecke für Eisenbahnen. Der hier interessierende Erzählfluss des Buches von Murakami setzt bei den Ereignissen von 1945 ein, als die russischen Truppen des „Auguststurms“ 38 dabei waren, Mandschukuo zu erobern. Dem Leser begegnet wieder der Kartografen-Leutnant von 1940. Er war von einem Geschoss verwundet worden, das ihn auf den Boden niedersinken ließ. Ein Panzer fuhr nun über seine linke Hand und zerquetschte sie. In seiner Agonie murmelte er ein paar russische Worte, die ein Russe vernahm. Deshalb transportierte er den Verletzten in ein Lazarett, wo er behandelt wurde und genas, als Gefangener. Die Russen hatten damals viele Japaner gefangen genommen. Sie wurden in sibirische Kohlebergwerke geschickt und sollten Kohle fördern. Dazu wurden Dolmetscher benötigt. Unser Leutnant bekam die Ernennung zu einem solchen Dolmetscher und fungierte als Verbindungsmann zwischen der Lagerleitung und den japanischen Gefangenen. Dabei hatte er einen privilegierten Status, der ihm Bewegungsfreiheit im Lager einräumte. Die übrigen Gefangenen führten kein einfaches Leben und mancher von ihnen kam um, wegen schlechter Ernährung, mangelnder Sicherheitsvorkehrungen in den Stollen, ungewohnten klimatischen Bedingungen, Krankheiten und beim Aufbegehren gegen die Wachen. Unser Dolmetscher-Leutnant traf unerwartet auf den russischen Offizier, der die Enthäutung des ihm anbefohlenen Befehlgebers von 1940 angeordnet hatte und zwar als in Ketten gelegten Gefangenen. Durch seinen Kontaktmann bei der Lagerleitung erfuhr er Näheres über diesen Menschen. Es handelte sich um ein berühmt berüchtigtes Mitglied des russischen Geheimdienstes, das wegen einer Meinungsverschiedenheit zwischen Geheimdienst und Zentralkomitee in Ungnade gefallen war, aber immer noch die Unterstützung des Geheimdienstes genoss. Dieser gefesselte Geheimdienst Mann entfesselte die Geschicklichkeit eines James Bond, indem er die amtierende Lagerleitung neutralisierte und sich selbst zur faktischen Lagerleitung machte. Dies gelang ihm, indem er sich die Dienste des Dolmetschers zunutze 37 Chiang kai-schek verfolgte die Politik, erst die Kommunisten zu beseitigen und sich danach den Japanern entgegenzustellen, was bekanntlich die Verdrängung de Nationalchinesen auf die Insel Taiwan zur Folge hatte. 38 Der Auguststurm der Russen überrannte nicht nur die Mandschurei, sondern auch die koreanische Halbinsel bis zum 38. Breitengrad, wo ihnen amerikanische Truppen entgegenkamen. 57 machte und damit die Produktionsleistung des Bergwerks auf ein Niveau anhob, mit dem das Zentralkomitee zufrieden sein konnte. Die offizielle Lagerleitung dachte in bürokratischen Bahnen, womit sich die Erwartungen, die an das Bergwerk gestellt worden waren, nicht erfüllen ließen. Der Geheimdienstler ging auf die menschliche Natur der Lageinsassen ein. Er versprach den japanischen Gefangenen Autonomie bei der Ausübung ihrer Arbeit und der Verteilung der Lebensmittel. Die Bewachung wurde eingestellt. Das motivierte die Gefangenen, ihre Arbeitsleistung stieg. Im Zuge der Veränderungen gelang es, die Verwaltungsstrukturen des Lagers mit Vertrauensleuten des Geheimdienstlers zu besetzen, was seine Möglichkeiten der Einflussnahme stetig erweiterte. Mit zunehmendem Einfluss zog er die Daumenschrauben bei den Gefangenen an, was wiederum die Produktivität erhöhte. Der Dolmetscher machte sich bei seinen Landsleuten immer unbeliebter, weil sie ihn für einen Profiteur ihrer Peiniger und für einen Verräter hielten. Das Spiel, das mit ihm getrieben wurde, ahnte er zwar von Anfang an, aber er durchschaute die Wirkungsmechanismen erst nach und nach. Schließlich wurde er zum Privatsekretär des faktischen Lagerleiters ernannt und hatte dessen Buchführung auszubauen. Sie wies einen erheblichen Schwund bei der Verwertung der Erträge des Bergwerkes aus. Nur ein Teil des Ertrages floss in den gesetzlichen Kanal. Ein nicht unerheblicher wurde für den Bedarf des Geheimdienstes abgezweigt und der Rest ging in die Tasche des faktischen Leiters, der damit seine Bodyguards und sonstigen Kreaturen bezahlte. Seine Technik bestand darin, selbst stets freundlich mit den Leuten zu verkehren und Druck nur durch seine Kreaturen ausüben zu lassen. Erstaunlich, wie viele Menschen sich dazu bereit fanden, durch Zuckerbrot Kreaturen zu werden. Der Dolmetscher begann diesen Menschen zu hassen und nahm sich vor, ihn umzubringen. Allerdings sah der Geheimdienstler dies voraus und bot ihm eine Gelegenheit mit einer unbeaufsichtigten Pistole, einer Walter PPK, die er einst einem SS-Mann abgenommen hatte, als Lockvogel an. Der Dolmetscher feuerte sie tatsächlich auf ihn ab, erreichte damit aber nichts, denn die Waffe war präpariert. Der Geheimdienstler hätte nun Rache nehmen können, tat es aber nicht. Er eröffnete dem Dolmetscher, dass er nächstes Frühjahr, es war das Jahr 1947, zusammen mit seinen Landsleuten als letzte der japanischen Gefangenen entlassen werden würde. Die Gefangenen aus anderen Lagern seien bereits entlassen worden. Die Entlassungen seien gestaffelt vorgenommen worden, erst die Schwachen und Kranken, dann die übrigen, wobei das Verhalten ihrer militärischen Einheiten während der Besatzungszeit in der Mandschurei eine Rolle gespielt habe. . Mir fiel ein, dass der Bundeskanzler Adenauer 1956 nach Moskau geflogen war, um die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen zu erreichen, was ihm tatsächlich gelungen war. Sie wurden als die letzten 10.000 bezeichnet und stammten aus Einheiten, die im Krieg besonders aufgefallen waren. Die Innere Mandschurei wurde 1946 von den Russen an die Kuomintang - Chinesen übergeben. Danach wurde sie von den kommunistischen Chinesen erobert und gehört seit der Ausrufung des neuen Staates 1949 zur Volksrepublik China Der Dolmetscher führte nach der Rückkehr in seinen japanischen Heimatort ein zurückgezognes Leben als Schullehrer und Bauer. Seine Erlebnisse in der Mandschurei und Russland hatte er durch Vermittlung des Soldaten, der ihn bei Nomonhan aus dem Brunnen gezogen hatte, nur dem Helden des „Mister Aufziehvogel“ mitgeteilt und dem hatten diese Mitteilungen bei seinen Meditationen geholfen, seine Sinnkrise zu überwinden. 58 Murakami hat im westlichen Kulturkreis gelebt. Er versteht es, Äußerlichkeiten der östlichen Lebensweise Westlern verständlich zu machen, so dass ihnen dabei nichts Fremdartiges auffällt. Die Wirkungsweise der Gemütsheilung seines Helden dagegen versteht wohl nur jemand, der weiß, was Meditation bewirkt. Dabei geht es nicht immer rational in unserem Sinne zu. Der Brunnenzieher z.B. ist hellseherisch begabt und wird von seinen Landsleuten wegen seiner Fähigkeiten als Außenseiter gemieden. Aber sie werden auch genutzt. Ohne seine „Irrationalität“ hätte er den Leutnant nicht aus dem Brunnen ziehen können und nicht den Heimweg gefunden durch eine einförmige Steppenlandschaft ohne markante Konturen für die notwendige Orientierung. „Ja, halt im Roman“, sagt ein Westler, wird aber dabei das Gefühl nicht los, möglicherweise etwas übersehen zu haben. (Gottfried W.Wollboldt) Ansprache des Präsidenten der DJG-BW Dr. H.D- Launeyer anlässlich des Shinnenkai 2009 Zum Neuen Jahr 2009 Ich möchte nun in einigen Gedanken über Japan verweilen. Im letzten Jahr, wohl überhaupt das erste Mal, geschah es, daß wir gemeinsam ein shinnenkai feierten. Und wir hatten schließlich auch ein haiku gefunden, um uns ein wenig verträumter Besinnlichkeit hinzugeben, die einer Feier, wie der heutigen, ja innewohnen sollte. Und ich fand, daß es eigentlich ein guter Brauch wäre, wenn an dieser Stelle, jeweils zum Neuen Jahr, der Präsident unserer Gesellschaft etwas ganz Persönliches zu Japan und seinem Engagement mit Japan von sich gibt. So will ich es heute wieder einmal versuchen. Professor Thiele sei gedankt, denn er hat mich mit seinem einfühlsamen Vortrag über den Shinto gleich doppelt inspiriert: Warum fasziniert uns Japan immer wieder? Ich will eine weitere Antwort darauf suchen. Schöpft Japan nicht seine Kraft aus einer Art doppelter Gestalt, aus zweifachem Sein? Ist die uns begeisternde Kultur Japans nicht aus der Dualität ihrer selbst, aus einem konstanten Dialog ihrer Traditionen erklärbar? Ist etwa eine uns kaum erklärbare Japan innewohnende Dialektik nicht ein gewisser Motor für diese auffällige, einzigartige Dynamik? Ist sie nicht prägendes, ja bestimmendes Element für jene Faszination, die Japan auf Außenstehende ausübt? Denn Japan ist schon in seinen Religionen sowohl das eine als auch das andere. Es hat den Shinto als bloße Tradition einerseits. Aber auch als wirkliche Religion in unserem Sinne andererseits. Je nachdem. Einmal Shinto als das wohl ureigenste Element japanischer Kultur ohne besonderen metaphysischen Anspruch – zum anderen aber eben doch mit eben einem solchen Verlangen nach Transzendenz ausgestattet, also Religion in unserem Sinne. Ich habe oft über solche Doppelgesichtigkeiten nachgedacht, die mir in Japan auf Schritt und Tritt begegneten. Und irgendwann wollte ich es mal zu Papier bringen, wenn ich jemanden mit ähnlichen Beobachtungen denn fände. Heute finde ich diese Gedankennähe. Ja, für mich gibt es wirklich zwei Japan. Ein Land, eine Kultur, die mich aber immer mit zwei Gesichtern anschaut. Was bedeutet das? 59 Kürzlich weilte der Literaturnobelpreis-Träger Oe Kenzaburo bei uns in Stuttgart und wir durften einer Probe seines letzten Werkes Sayonara meine Bücher lauschten. Ja, da war es wieder: Die Protagonisten seiner Erzählungen leben ihr Leben auf ein anderes Individuum fixiert, auf ein alter ego, an dem sie sich messen, von dem sie sich inspirieren lassen. Sie sind sowohl das eine als auch das andere und streben in einer Art geistigem und ideellem Tandem ihrer Bestimmung entgegen. Ich erkannte in diesem Bild auf einmal, was ich schon immer sah. Oe-sensei meinte vielleicht seine Heimat Japan als Ganzes, obwohl er es nicht explizit sagt. Deutet er nicht auf jeden seiner Landsleute, wenn er seine Gestalten schildert, die – wohl einzigartig – gleich zwei animi, zwei kokoro, in sich tragen, mit einem alter ego leben? Meine japanischen Freunde mögen mir diesen tapsigen Versuch von Kulturanthropologie und Seelenanalyse verzeihen. Doch mir bedeutet das sehr viel. Denn für mich ist es vor allem dieses Element des doppelten Seins, was unsere japanischen Freunde so auszeichnet, sie so liebenswert und faszinierend macht. Gott Janus ist der Namenspatron dieses Monats. Er hat zwei Gesichter. Eines blickt uns an, nach außen in die Zukunft schauend, und eines schaut in das eigene Innere, es schaut zurück. Wäre Janus ein Japaner – ihm gebührte eine besondere Position im Pantheon des Shinto. Ursprünglich waren auch wir in unserer abendländischen Welt auf Gott Janus fixiert, der uns lehrte, Werte aus Erfahrenem mit in die Zukunft zu nehmen. Das war unsere römische Tradition. Da waren auch wir ein bißchen Japan, vielleicht. In Japan ist dieser Dialog mit dem anderen, mit dem Selbst-Erfahrenem, nach wie vor lebendig, und es scheint mir, daß dieses wesentliche Element japanischer Wesensart das Land nach wie vor prägt und in die Zukunft führt. Kraft aus Dualitäten, wie Oe Kensaburo uns lehrt. Erfahrenes aus der Vergangenheit wird in einem Spiel von These und Antithese zu einer höheren synthetischen Entwicklungsform weiterentwickelt – Kreise und Ebenen von konkret erfahrenen und gesammelten Werten legen sich übereinander, stets an idealistischen Zukunfts- und Fremdbildern orientiert. Ein konstanter Dialog der Japan innewohnenden doppelten Kräftefelder - Dialoge mit dem alter ego, den ideellen Werten, die es zu erforschen, vielleicht zu erreichen gilt. Sie kennen vielleicht den berühmten Kurozawa-Film Kagemusha … ‚Der Schattenkrieger‘. Der Protagonist richtet all sein Handeln nach dieser unsichtbaren Figur, einem Ideal, aus. Es ist die Geschichte des Sowohl-als-Auch. Wo sind diese Doppelgesichter Japans, jene kagemusha, im Alltag? In seiner Kultur? Schon geographisch, ganz profan, unterscheidet man zwischen dem Vorderen Japan und dem Hinteren Japan – omote nihon und ura nihon. Ein Zufall? Nach vorn ist Japan dem Ozean zugewandt. Da sind die großen Städte, da ist der Motor der Zukunft, des Fortschritts. Da finden sich Weltoffenheit, die Begegnung mit dem existentiell Anderem. Auf seiner Rückseite ist Japan beschaulicher, Verharrender. Dort liegt es dem Festland und seiner kulturellen Alma Mater gegenüber. Da schaut es vor allem auf sich selbst und auf seine Traditionen. Dort darf es sich selbst sein. Wir sprechen von dem ‚weiblichen‘ und dem ‚männlichen‘ Japan – Sanindo und Sanyodo. Es ist nicht zuletzt dieser Dialog zwischen den Landschaften, der Japan Dynamik und Konsistenz verleiht. Früher war es auch der uralte Gegensatz zwischen Kanto und Kansai, der ausschlaggebend für die Dynamik werden sollte. Osaka als Zentrum des Wirtschaftslebens, ‚Küche und Bauch‘ Japans, gegenüber dem bürokratischeren Tokyo. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land – schauen wir auf die unterschiedliche Gewichtung bei den Stimmen zur Wahl – ist systemimmanent und bis heute lebendig. 60 Wer in Japan’s Wirtschaft-und Finanzwelt tätig war, weiß, wovon ich spreche. Hier lebt der Dualismus in seiner krassesten Form. Die Doppelstruktur, das Doppelgesicht, schaut uns an in Form unzähliger Kleinbetriebe, jener vertikalen Struktur, einzigartig und unvergleichlich japanisch – tatekozo oder nijukozo. Jenes breite Universum der Kleinbetriebe mit ihrer spezifischen Firmenkultur vis a vis der kleineren Welt einer hierarchisch übergeordneten Gruppe von Imperien an der Spitze. Doch das eine Universum ist undenkbar ohne das andere - ein Doppeluniversum, das eine das andere inspirierend. Wer sich wirtschaftlich ernsthaft mit Japan beschäftigen will, muß beide Universen betreten, quasi von oben nach unten gehen. Denn das untere ist das breitere und attraktivere Marktsegment, wo es gilt, Positionen aufzubauen und Firmenwerte zu etablieren. Nicht von ungefähr spricht man ja auch von der oberen Sektion der Tokyo-Börse und der unteren … Die und wir .. hörte ich früher Japaner immer sagen. Ach, Sie kommen von drüben? Muko no kata, yoso no hito – ein Fremder, Reingeschmeckter? Dabei unterschied man kaum zwischen den Nationalitäten, man blieb einer von drüben … Ja, Japan denkt in zwei Welten: Innen und Außen. Und in beiden Universen gelten unterschiedliche Wertvorstellungen. In der einen Welt lebt es in Tradition und den Werten seiner Prägung und Erfahrung. In der anderen Welt sucht es fremde unerfahrene Ideale: Soto und uchi, früher durchaus scharf gegeneinander abgegrenzt, sind noch immer lebendig und stehen in einem konstanten Spannungsverhältnis. Die und wir – entweder gehöre ich zu einem Firmenverbund oder nicht. Das gilt für das nähere Umfeld und alles, was eine Firma in ihrem Selbstverständnis prägt, und das gilt in ganz anderer Weise für das Fremde, das Externe. Gegenüber dem Außen praktiziert man andere Verhaltensformen. Und so gegenüber allem, was Nicht-Japan ist. Innen und Außen. Soto und Uchi. Die zwei Welten bedeuten aber auch Freiheiten und setzen Kreativitäten frei, die getrennt undenkbar wären. Denn die wohl schönste Faszination dieser universellen Doppelgestalt liegt in dem breiten Spektrum japanischer Literatur, seines Theaters und seiner bildenden Künste. Joge – oben und unten - also die traditionell eleganteren höfischen Genres seiner Kultur gegenüber den als niedere Formen gesehenen Strömungen eines mehr volkstümlichen Kulturschaffens. Jeder von uns, der sich mit Japans Kunst beschäftigt, schaut sowohl auf das eine als auch gleichzeitig auf das andere. Und wenn wir nicht wissen, daß wir uns gerade in der einen Welt befinden, verstehen wir oft nicht die synthetischen Zusammenhänge und neigen zu Fehlinterpretationen. Oft ist die freiere, die volkstümliche und urjapanische untere Welt japanischer Kreativität für konventionellere Geschmacksrichtungen und bürgerliche Moralhorizonte schwer ertragbar, kaum konsumierbar. Bisweilen übertrieben, grell, sehr burlesk … sehr momentan, manchmal gar primitiv-originär. Manchmal bedarf es ein gehörig Maß an Toleranz und Empathie gegenüber solcher expressiver Ausdrucksformen. Vergessen wir nicht, daß japanische Künstler früher nur in diesem Horizont jene Freiheit fanden, sich jenseits von Riten und Normen ausdrücken zu dürfen. Selbst ein Hokusai, die Holzschnitte in allen Varianten, die meiste Literatur der Edo-Zeit, Joruri und Kabuki , gehörten zu dieser unteren Strömung. Und sie lebt fort. In vielen bunten Kreationen japanischen Alltags wie Manga und Anime oder tausendfacher Publikationen, die wir im Straßenbild Tokyos finden. Und auch die andere, die obere, die man das höfische oder klassische Genre nennt, ist lebendig wie je: Die Geschichte vom Prinzen Genji, all die nikki und die Gedichte, Manyoshu etc., Höhepunkte japanischer Klassik, sind noch immer zugegen, manchmal sogar als Manga. Also: Das eine lebt mit dem anderen und inspiriert sich gegenseitig. Das No-Spiel ist ein solcher Dialog, der Antagonist (waki) lehrt den seine Selbstbestimmung suchenden Protagonisten (shite) das Essentielle seiner Existenz. Wer einfühlsam sich in die Welt des No 61 versenken kann, der wird vieles an Japan erkennen. Kraft sammeln aus Erfahrenem und Neugierde gegenüber dem unbekannten Neuen. Nolens volens stehen wir, die gesamte westliche Welt, in der Rolle des Protagonisten gegenüber japanischer Kultur. Das Land führt diesen Dialog mit uns im Makrokosmos, wir sind Vorbild und wir sind Gegensatz zugleich. Meinte das Oe Kensaburo? Ist das die tiefe Weisheit eines No? Und so ist Japan auch ein wenig der uns immer noch unbekannte Dritte, ein Tonio Kröger in dieser von westlichen Lebensformen zunehmend beherrschten Welt. Ja, wir sind wie Walfische, sagte einmal ein japanischer Geschäftsmann. Wir haben Flossen und schwimmen in einem westlichen Meer, genauso wie echte Fische … aber wir sind keine Fische. Wie die Wale orientieren wir uns immer auch an einem anderen Horizont. Das erste zarte Grün, das sich in der Asche Hiroshimas regte, war der Sproß eines GinkgoBaumes. Wie kein anderes ist diese Pflanze Symbol für das, was einzig und zugleich doppelt ist. Das Symbol für den dialektischen Gegensatz und für die daraus resultierende Kraft sich Neuem zuzuwenden, die für Japans Leben so von Bedeutung ist. Goethe hat das gefühlt, ohne Japan je erfahren zu haben, wenn er uns sagt: Dieses Baums Blatt, der von Osten Meinem Garten anvertraut, Gibt geheimen Sinn zu kosten, Wie’s den Wissenden erbaut. Ist es ein lebendig Wesen, Das sich in sich selbst getrennt? Sind es zwei, die sich erlesen, Daß man sie als Eines kennt? Solche Fragen zu erwidern Fand ich wohl den rechten Sinn: Fühlst Du nicht an meinen Liedern, Daß ich eins und doppelt bin? So wollen auch wir einmal versuchen, in das Innere und gleichzeitig in das Äußere zu blicken, um Kraft zu finden für das neue und die kommenden Jahre. (Hans-Dieter Laumeyer) Mitteilungen Bucherscheinungen Andrea Hirner: „Wilhelm Heine, ein weltreisender Maler zwischen Dresden, Japan und Amerika“ Edition Reintzsch 180 S., 78 Abbildungen in Farbe und Schwarz-Weiß. Zu beziehen über Edition Reintzsch, Altkötzschenbroda 32, 01445 Radebeul T & F (0351 83 84 640); e-mail [email protected] oder den Buchandel zum Preis von 24,90€ Der Dresdener Maler Wilhelm Heine (827 - 1885) musste wegen Beteiligung am Volksaufstand von 1849 fliehen. 1853 begleitete er die Perry- Expedition nach Japan. Nach einem Zwischenspiel in Lybien begleitete er die preußische Ostasien Expedition nach China und Japan. Im amerikanischen Bürgerkrieg brachte er es zum General der 62 Nordstaaten. Wenn die Schilderung eines solchen Lebenslaufes nicht Licht in die Zeitverhältnisse bringen kann, was dann? ----------------------------------------Klaus Hanelt: Taschenwörterbuch der Kampfkünste Japans Verlag Dieter Born, 14,7 x 20,8 cm, 160 Seiten, ISBN 978-3-922006-27-5, EUR 14,80 Online-Bestellung: http://1389.cleverreach.de/c/375112/aZqq Ein neues Taschenwörterbuch (Japanisch-Deutsch) mit rund 3700 Fachbegriffen auf rund 160 Seiten ist jetzt aktuell in Druck. Es handelt sich dabei um Fachtermini aus dem Bereich der japanischen Kampfkünste (Bujutsu) in lateinischer Umschrift (Romaji) und zusätzlich mit japanischen Schriftzeichen (Kanji). Das Buch wird Anfang März 2009 lieferbar sein und kann ab sofort über unseren OnlineShop bestellt werden. Die Auslieferung erfolgt dann direkt nach Erscheinen. --------------------------------------- Hirata Eiichirô und Hans Thies Lehmann: Theater in Japan Broschur mit 300 Seiten . EUR 18,00 Sehr geehrte Damen und Herren, erstmalig ist in unserem Verlag ein umfassendes Werk zum Theater in Japan erschienen. Die Herausgeber Hirata Eiichirô und Hans-Thies Lehmann setzen sich auf eine faszinierende Weise mit einer der ältesten Theatertraditionen der Welt auseinander. Nun möchten wir einer interessierten Leserschaft den Zugang zu diesem Band ermöglichen und wenden uns deshalb an Sie. Besteht die Möglichkeit in Ihrem Hause Flyer auszulegen oder ihre Mitglieder in anderer Weise auf das Buch aufmerksam zu machen? Nähere Informationen zu „Theater in Japan“ finden Sie auf unserer Internetseite unter:http://www.theaterderzeit.de/Book/Show/272 Wir würden uns sehr über Ihre Unterstützung freuen! Mit freundlichen Grüßen, Sabrina Günter, Paul Tischler Kommunikation/PR Theater der Zeit Zeitschrift und Buchverlag Paul Tischler T +49 (0) 30.2423626 F +49 (0) 30.24722415 [email protected] htp://www.theaterderzeit.de Im Podewil, Klosterstraße 68-70, 10179 Berlin Der Abgabetermin für den Wettbewerb ist in diesem Jahr abgelaufen. Wir geben die Anzeige weiter, weil er jährlich wiederholt wird: "BSI-Aufsatz- und Redewettwerb für junge Leute Die gemeinnützige Organisation „BSI“, die sich dem deutsch-japanischen Kulturaustausch widmet, weist auf ihren BSI-Japanisch-Redewettbewerb für junge Menschen im Alter 63 zwischen 16-35 hin. Parallel dazu läuft ein Aufsatzwettwerb für Oberschüler im Alter zwischen 13 und 18 Jahren zum Thema „Mein Lebensplan“. Eingereicht werden sollen hier 2 Seiten auf Deutsch (ca. 350 Wörter). Bewerbungsschluss für beide Wettbewerbe ist der 31.3.2009. Veranstaltungstag für den Redewettbewerb ist der 23.5.2009 in Hamburg. Die Hauptgewinner erwartet ein Hin- und Rückflugticket nach Japan. Bewerbungen werden erbeten an die Abteilung für Sprache und Kultur Japans, Universität Hamburg, EdmundSiemens-Allee1, Flügel Ost, 20146 Hamburg, E-mail: [email protected] oder Fax: 040- 42838-6200. Weitere Informationen unter www.bigs-i.com". ------------------------------------------- Bemerkung Alle unserer Konzertveranstaltungen wurden von der Ikebana-Schule Stuttgart e.V. http://www.stuttgarter-ikebana-schule.de/ mit viel beachteten IkebanaGebinden geschmückt. Impressum Die Bambusblätter erscheinen 5 – 6 Mal im Jahr in einer Auflage von ca. 250 Exemplaren. Verantwortlich für diese Ausgabe: Ihr Kontakt zur DJG- BW: Leitung : Geschäftsführung: Schriftführer: Kassenprüfer: Konto: Internet: Gottfried W. Wollboldt Tel.: 0711 – 65 83 223 e-Mail: [email protected] Dr. Hans-Dieter Laumeyer (Präsident), Telnr: 07 11 – 2 26 02 02 e-Mail: [email protected] Wolfgang Grosse Buchenweg 12, 73 650 Winterbach Telnr. 0 71 81 – 7 39 30 e-Mail: [email protected] Gottfried W. Wollboldt Wolfgang Müller, Christoph Andris LBBW Kto.:1376 836, BLZ 600 501 01, www.djg-bw.de, Jürgen Landauer: [email protected], 64