Andreas Hepp, Rainer Winter Radikaler Kontextualismus und Ethnologie in der Rezeptionsforschung (aus: Kultur-Medien-Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Andreas Hepp, Rainer Winter (Hrg.), Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, 1999) Abstract Der Artikel beschäftigt sich mit der Thematik des radikalen Kontextualismus und der Ethnologie in der Rezeptionsforschung. Diese Theorie findet ihre Begründung in der postmodernen Gesellschaft, die immer mehr in sich zusammenwächst und miteinander stark verbunden ist. Durch die Ethnologie wird versucht den gesamten (sozialen) Kontext eines untersuchten Feldes zu Rezeptionsforschung zu erfassen. Diese Theorie lehnt die üblichen Rezeptionstheorien ab. Schlagwörter: Radikaler Kontextualismus, Ethnographie, Rezeptionsforschung, Rezeptionstheorie, Massenkultur Zlatic Zlata, 0250955 696511 VO Medienpädagogik: Medienbildung, Medienkompetenz, Medienkultur Univ.-Prof. Dr. Thomas A. Bauer, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, WS 2004/2005 Durch die starke Veränderung in der Gesellschaft und in der Medienlandschaft ist die Medienrezeptionsforschung in eine Krise geraten. Rezipienten kann man nicht mehr als eine abgegrenzte Einheit erfassen und innerhalb der Gruppe klar unterscheiden. Aktuelle Rezeptionsforschung beruht auf den Cultural Studies, die diesen Aspekt nicht oder nur zum Teil berücksichtigen. Aus diesem Grund ist es unentbehrlich die Ethnographie in der Rezeptionsforschung anzuwenden. Dazu kommt noch, dass wir uns in einer Gesellschaft des „radikalen Kontextualismus“ befinden. Medien wie z.B. Fernsehen, Radio oder die Presse kann man nicht mehr als voneinander unabhängige Variablen betrachten. Unsere Gesellschaft ist sehr komplex und dermaßen miteinander verbunden und die ethnographsich orientierte Forschung eignet sich am ehesten dazu um die Details von Unterschieden herauszufinden. Bei der ethnographischen Forschung werden Methoden wie Beobachtung, Interviews oder Auswertung von Dokumenten angewendet. Ziel der Ethnographie ist es Handlungen der sozialen Akteure bzw. der Rezipienten zu zeigen und zu beschreiben. Im Mittelpunkt stehen dabei die Begründungen die die Rezipienten selbst über ihre Aktivitäten haben. Die Aufgabe der Wissenschafter liegt darin diese selbsteinschätzende Perspektive zu rekonstruieren. Doch es ist eine genaue Beschreibung des Verhaltens der erforschten Rezipienten ist ziemlich unmöglich, weil die gegenwärtige Kultur sehr komplex ist. Aber trotzdem bleibt die Ethnographie anwendbar, denn die Aufgabe der Ethnographen ist es Sequenzen aus der erforschten Umgebung zu ziehen und diese dann miteinander zu verknüpfen. Der Ethnograph wird somit vermehrt in die Forschung eingebunden und übernimmt eine größere Verantwortung. Ein Beispiel zum radikalen Kontextualismus und der Bedeutung der Ethnographie stammt aus der Betrachtung von Morley und Silverstone. Diese beiden Wissenschafter geben der Bedeutung des Fernsehens zwei unterschiedliche Betrachtungen und zwar sehen sie auf der einen Seite die Bedeutung des Fernsehens im häuslichen Kontext und auf der anderen Seite als Technologie. Mit dem häuslichen Kontext ist gemeint, dass „die Nutzung des Fernsehens nicht getrennt gesehen werden kann von allen anderen Geschehnissen, die drummherum ablaufen“ (Morley und Silverstone 1990, S.35). Das Fernsehen ist mit zahlreichen anderen Tätigkeiten verbunden und somit ist es schwierig zu definieren wann denn nun wirklich das Publikum in Verbindung mit zum Fernsehkonsum steht. Der technische Aspekt vergrößert nocheinmal die Kapazität der Rezipienten und eine genaue Definition des Fernsehpublikums wird noch schwieriger. Der zweite Aspekt des Fernsehens als Technologie umfasst z.B. die Platzierung des Fernsehgerätes. Das Gerät kann in verschiedenen Wohnräumen untergebracht werden und auf verschiedene Weisen in den Alltag integriert werden z.B. die Platzierung des Fernsehers in der Küche bewirkt, dass die Medienbotschaft anders wahrgenommen wird als die Platzierung des Gerätes im Wohnzimmer. Dadurch kommt es zu einer enormen Vergrößerung der Rezeptionsreichweite und zu Änderungen von Interpretation von Medieninhalten. Der Fernsehkonsum ist ein typisches Beispiel für radikalen Kontextualismus. Viele Studien gehen von der Annahme aus, dass das Fernsehen ein gegebenes Phänomen mit festgelegten Merkmalen ist und das es von verschiedenen Rezipientengruppen auf verschiedene Art und Weise rezipiert wird. Beim radikalen Kontextualismus sind das Fernsehen und sein Publikum unbestimmte Kategorien. Durch diese Ansicht erweitern sich die Rezipientengewohnheiten- und erfahrungen in unendliche bzw. nicht mehr erfassbare Weise. Um in der Theorie des radikalen Kontextualismus eine Aussage über den Fernsehkonsum zu machen, muss der Rezeptionsforscher Ausschnitte aus den Feldbobachtungen festhalten, denn es ist derzeit einem Forscher nicht möglich die gesamte multikontextuelle Situation des Fernsehkonsums festzuhalten. Die Anwendung der Ethnographie ist auch vermehrt in der kommerziellen Medienindustrie vorzufinden. Die Krise der Einschaltquoten in den 80´er Jahren bewirkte eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Publikum. Die Lösung suchten die Industrien in verbesserten Messinstrumenten d.h. es wurden technische Messgeräte eingesetzt um genau die Nutzung des Fernsehens zu dokumentieren. Es gibt einen Trend in der Marketing- und Werbeforschung an qualitativen und inteprativen Methoden, doch inwieweit solches Messen von Rezeption möglich ist bleibt fraglich. Eine Person kann das Gesicht auf den Bildschirm des Fernsehers richten und diese Bewegung wird auch von den Instrumenten gemessen und als Rezeption interpretiert. Doch fraglich ist inwieweit und ob sich der Rezipient in diesem Augenblick mit dem Medieninhalt beschäftigt und dies kann nicht auf eine einfache Kopfbewegung zurückgeführt werden. Trotz des steigende Interesses der Marktforschung an der Ethnographie hütet sie sich davor das gesamte Konzept des Kontextualismus anzuwenden. Denn das Publikum könnte dadurch in zahlreiche kleine Teile auseinanderfallen und man könnte die Ware „Publikum“ nicht mehr erfassen und definieren. Auch wenn die Marktforschung einige Methoden und Techniken aus der Ethnographie ableitet, heißt das nicht das dadurch auch die Denkweise übernommen wird. Das Publikum bleibt in der Industrie eine Ware mit dessen Gruppierung Geschäft gemacht wird. Ein Forschungsvorhaben, das darauf ausgerichtet ist den gesamten Kontext des erforschten Publikums zu erfassen ist schwer durchführbar und daher gibt es sehr wenige Studien, die auf diesem Konzept basieren. Sich dem radikalen Kontextualismus zu widmen bedeutet für die Forscher überall dabei zusein und es ist unmöglich den Gesamtkontext jemals vollständig zusammenzutragen. Kontext ist grenzenlos, folglich können Erklärungen durch den Kontext niemals ganz die Bedeutung festlegen (Culler 1983, S.128). Doch die Anwendung des radikalen Kontextualismus ist trotzdem möglich, indem nicht versucht wird erkenntnistheoretisch perfekt zu sein, sondern mit dem Fakt zu forschen, dass der Ethnograph nicht überall sein kann und nicht alles erfassen kann. In der Praxis sind ethnographische Studien auf Rezipienten innerhalb einer Gruppe ausgerichtet, da der Gesamtkontext leichter zu erfassen ist als beim breitem Publikum. Der Forscher wird nicht auf den Autor bzw Textverfasser reduziert, sondern der soziale Kontext in dem er geschrieben oder publiziert hat wird berücksichtigt. Der Theorie des radikalen Kontextualismus sagt nicht aus, dass es keine gruppierte Medienrezeption gibt, sondern nur, dass die üblichen Konzepte der Rezeptionsforschung auf die gebräuchlichen Modelle wie z.B. Gratifikation, Wirkungen... beschränkt sind und nur dem Versuch unterliegen eine Ordnung in eine komplexe Kultur zu bringen. Doch es gibt einen Mittelweg zwischen dem radikalen Kontextualismus und den gebräuchlichen Konzepten. Der radikale Kontextualismus sollte immer im Hinterkopf beibehalten werden und die Grenzen d.h. nicht überall zu selben Zeit sein zu können als Chance betrachtet werden und bewusste und verantwortliche Entscheidungen über die Medienrezeption im kontextuellen Rahmen zu treffen. Während der Forschungsprojekte kann die Entscheidung getroffen werden welche Kontexte in den Vordergrund treten und welche für den Forschungsgegenstand vorerst unberücksichtigt lassen. Der radikale Kontextualismus ist nicht von der Idee geleitet eine gemeinsame Theorie des Publikums zu entwickeln, sondern den Medienkonsum so genau wie möglich „nachzuerzählen“ bezogen auf die Forschungsfrage. Ein weiteres Beispiel indem das ethnographische Verständnis nützlich sein kann ist die Medienpolitik von Sendeanstalten zu verbessern. Weit weg von dem Ziel des Profits sollte z.B. ein Fernsehprogramm für Minderheiten in Europa aufgebaut werden und somit die Distanz zwischen zu dieser Rezipientengruppe verringert werden. Durch die Globalisierung sind die Medien fast überall vorzufinden, doch nicht immer auf die gleiche Weise. Der radikale Kontextualismus kann nützlich sein gegen die verallgemeinernden Aussagen der Forschung über Medienrezeption. Der Zusammenhang dieses Artikels zur Medienpädagogik ist der, dass der Kontextualismus ihr eine neue Denkrichtung gibt. Gerade dieses Fach ist von alten und üblichen Mustern wie z.B. die Medienwirkung gekennzeichnet. Ein beliebtes Thema in der klassischen Medienpädagogik ist die Wirkung von Videospielen auf Kinder. Obwohl eine Wirkung durch die üblichen Methoden nie bestätigt werden konnte geht die Medienpädagogik davon aus das diese eine Auswirkung auf die Kinder und deren Verhalten hat. Das Fehlverhalten von Kindern oder Jugendlichen wird auf den Konsum von Videospielen eingeschränkt. Dies ist nur eines der vielen Beispiele. Zu der Thematik des radikalen Kontextualismus gibt es auch einen kleinen Zusammenhang zum Vorlesungsinhalt. Wie in der Vorlesung angesprochen wurde sind komplexe und integrative Theorien notwendig um Kommunikation in weiter Form zu erklären aber auch andere Phänomene. Besprochen wurden auch kritische Punkte, die kritische Ansichten in Kommunikationstheorien aufweisen, wie z.B. das Ontologische Denken oder Trivialität. Ähnliche Ansichten vertritt auch der Autor des Artikels. Diese neue Denkrichtung sollte mehr Einfluss auf die Medienpädagogik haben und dessen „eingefleischten“ Theorien hinterfragen. Meiner Ansicht nach ist der radikale Kontextualismus genau die richtige Methode um komplexe Zusammenhänge der postmodernen Gesellschaft zu erklären und es sollte mehr an der praktischen Anwendung diese Konzeptes gearbeitet werden. Natürlich ist es unmöglich die gesamte Idee in der Praxis zu übernehmen, doch nur durch solch eine Denkrichtung wird es in Zukunft möglich sein den üblichen Theorien zu entfliehen und neue Theorien über die Beziehung von Publikum und Medium herauszuarbeiten. Wobei es, wie oben schon erwähnt, wichtig ist mit einem bestimmten Forschungsziel ins Feld zu gehen um unwichtige Zusammenhänge auszuschalten und die wichtigen zu berücksichtigen. Da die Praxis zu dieser Theorie noch unausgereift ist, gehe ich davon aus, dass sie sich nur sehr langsam entwickeln wird und außerdem gibt es bestimmte Industriezweige, die eine solche Theorie nicht gutheißen. Aber die Wissenschaft sollte weiterhin von den kapitalistischen Zielen getrennt sein, nur somit ist eine kontextbezogene Forschung möglich. Bibliographie Culler, J. (1983): On Deconstruction. London Morley, D.; Silverstone, R. (1990): Domestic Communication: Technologies and Meanings. Media Culture and Society, 12 (1)