Geschlechterrollen in der antiken Ethnographie

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Christoph Ulf – Robert Rollinger
Anstelle einer Einleitung: Grundsätzliche Überlegungen zum Projekt „Geschlechterrollen in
der antiken Ethnographie“
Es ist das letzte Ziel jeder Forschung zu wissen, wie etwas war oder ist. Dahinter steht nichts
anderes als die Frage nach der Beschaffenheit und dem Aussehen vergangener und
gegenwärtiger Realitäten. Sie wird gestellt aus dem impliziten oder expliziten Bedürfnis,
dieses Wissen für sich als Individuum oder für die Gesellschaft als ganze in verschiedenster
Weise nutzbar zu machen.
Wer forscht, weiß natürlich, daß sich ‘die Realität’ nicht so einfach dem forschenden Zugriff
darbietet.1 Es gehört zu den Basiskenntnissen des professionellen Historikers, daß jede Art
von Realität einen eigenen Zugang und auch spezifische Methoden benötigt. Wer forscht,
weiß aber auch, daß die Realität niemals als ganze erfaßt werden kann, sondern eine Vielzahl
von Annäherungen die Voraussetzung sind, damit sich auch nur die Konturen historischer
Realität erkennen lassen. Der für eine Publikation mit Bedacht gewählte Titel zeigt an, auf
welchem Weg sich die Untersuchung der historischen Realität annähert.
Eben das ist mit dem Titel des 1997 am Institut für Alte Geschichte der Universität Innsbruck
begonnenen Projekts „Realtät und Topik in der Darstellung der Geschlechterrollen in der
antiken Ethnographie” zum Ausdruck gebracht. Das gilt auch für den Band, der bisher in
Zusammenhang mit diesem Projekt erschienen ist: „Geschlechterrollen und Frauenbild in der
Perspektive antiker Autoren”, und ebenso für den vorliegenden: „Geschlechter – Frauen –
Fremde Ethnien in antiker Ethnographie, Theorie und Realität”. Beide Bände weisen den
Haupttitel präzisierende Zusätze auf: einmal „in der Perspektive antiker Autoren”, das andere
Mal „in antiker Ethnographie, Theorie und Realität”. Hiermit soll ausgedrückt sein, daß das
Problem, zur Realität vorzudringen, nicht nur darin liegt, daß die historische Realität weder
als ganze noch auf einmal erfaßt werden kann, daß also der Umfang der Realität nicht auf eine
Fragestellung reduziert werden kann. Es wird hiermit auch zum Ausdruck gebracht, daß jeder
Zugriff auf die historische Realität zwangsläufig eine Auswahl darstellt. Weil aber keine
Selektion völlig willkürlich sein kann, sondern in irgendeiner Weise, bewußt oder unbewußt,
auf einen Standpunkt bezogen ist, ist die Frage zu stellen, in welcher Weise dieser
Bezugspunkt mit der selektierenden Perspektive, die jeder Titel zum Ausdruck bringt,
verbunden ist.
Dieses Problem verdoppelt sich gewissermaßen, wenn man die Quellen, über die der Zugang
zur historischen Realität erst möglich wird, ins Blickfeld nimmt. Denn auch jede historische
Quelle ist selbst perspektivisch. Auch sie vermittelt nur einen perspektivischen Ausschnitt aus
der möglichen Fülle der Realität an den Forscher. Auch dieser Sachverhalt wird über die Titel
der beiden Bände signalisiert: Das Adjektiv ‘fremd’ verweist auf einen schon in den Quellen
vorhandenen Standpunkt ebenso wie die Substantive ‘Frau’, ‘Geschlecht’ und ‘Ethnographie’.
Ein weiteres Problem deutet sich in diesen ersten Präzisierungen der Bezugspunkte für die
Auswahl schon an. So wie keine Quelle direkt die historische Realität abbildet, so ist auch
keine Perspektive einfach nur ein Ausschnitt der Realität. Denn jede Perspektive steht auch
mit theoretischen Überlegungen in Gestalt von Sichtweisen oder Konzeptionen der
Einen Blick auf einige Facetten des Problems der ‘historischen Realität’ bietet der Aufsatz von Ch. Ulf in
diesem Band.
1
1
historischen Realität in Verbindung. Sie entscheiden nicht nur über die Auswahl aus ihr,
sondern auch über ihre Strukturierung und die Art ihrer Präsentation.
Diese sich der Ermittlung der Realität auf verschiedenen Ebenen in den Weg stellenden
vielfältigen Schwierigkeiten sind natürlich seit der Ausbildung der historischen
Wissenschaften Thema vielfältiger und umfangreicher Erörterungen. In dem schon genannten,
in Innsbruck durchgeführten Projekt wurde versucht, diesen systematisch zu begegnen. Das ist
für den hier vorliegenden Band deswegen von Bedeutung, weil er eng mit diesem Projekt
verbunden ist. Dem Projekt wurden folgende Überlegungen zugrunde gelegt.
Die Objekte zur Ermittlung antiker Realität werden immer vorzugsweise Texte und/oder
archäologisch zu erfassende Bilder sein. In jedem dieser historischen Gegenstände mischen
sich schon vorliegende Tradition und der Herstellungszeit entstammendes Material. Weil
jeder dieser historischen Gegenstände eine perspektivische Darstellung antiker Realität ist, ist
es notwendig, die jeweilige Perspektive offenzulegen. Nur so ist es möglich, einen Eindruck
davon zu erhalten, in welcher Weise der jeweilige Ausschnitt der Realität an den Rezipienten
vermittelt wird. Weder die Wahl des Ausschnittes aus der Realität noch die jeweilige
Verbindung von existierender Tradition und aktuellem Material ist natürlich ein selbsttätiger
Prozeß, sondern hängt von den Entscheidungen eines Individuums ab, das den historischen
Gegenstand in Form eines Textes oder Bildes herstellt. In anderen Worten: In jedem
historischen Gegenstand, der erst zur historischen Realität hinführt, steckt ein mehr oder
weniger ausgeprägtes Maß an gestalterischer Intention.
Aus diesen Feststellungen lassen sich folgende Konsequenzen ableiten.
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Die Intention des Produzenten eines historischen Gegenstandes schlägt sich in dessen
Struktur nieder – unabhängig davon, ob diese Intention als Text- oder als Autorintention
zu fassen ist.
Die Struktur eines historischen Gegenstandes bestimmt wesentlich – wenn auch nicht
ausschließlich – über die Aussagekraft eines jeden seiner Teile. Daher ist keine Passage
eines Textes in ihrem Aussagewert hinreichend erfaßt, wenn sie nicht in bezug zum
gesamten Text gestellt wird.
Von der einen historischen Gegenstand herstellenden Intention ist es abhängig, in welcher
Weise die existierende Tradition in den Gegenstand aufgenommen und inwieweit sie
dabei auch verändert wird.
Die existierende Tradition wird, weil Perspektiven nie gänzlich identisch sein können, in
keinem historischen Gegenstand in gleicher Weise wiedergegeben. Daher gibt die Art und
Weise, wie das geschieht, darüber Auskunft, wie sich der Produzent in der ihm
zeitgleichen historischen Realität positionieren will.
Wenn man einen historischen Gegenstand in seiner Spezifik erfassen will, dann – das ergibt
sich aus der letzten Feststellung – ist die Bezugnahme auf eine außerhalb des historischen
Gegenstandes liegende Realität unvermeidlich. Weil aber die historische Realität nur über die
als ihre Vermittler fungierenden historischen Gegenstände zugänglich ist, ist gleichzeitig auch
ein seit jeher die wissenschaftstheoretische Diskussion bestimmender Zirkelschluß
unvermeidlich. Wir benötigen Wissen von der historischen Realität, um die in den Quellen
getroffenen Aussagen über eben diese Realität kontrollieren zu können. Gleichzeitig
gewinnen wir dieses Wissen über die Realität aus eben den Quellen, die wir zu kontrollieren
genötigt sind.
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Der wegen dieses Sachverhalts in jüngerer Zeit eingeschlagene Weg, die Möglichkeit,
Wirklichkeit zu erfassen, zu leugnen, bietet eine nur scheinbare Lösung des Problems. Denn
wenn man, wie gefordert, den wissenschaftlichen Zugriff auf die Ebene des sogenannten
Diskurses reduziert, dann kehrt der Zirkelschluß in anderer Form wieder. Jeder angenommene
Diskurs stellt ein Konstrukt dar, das über die Analyse von ihn vermittelnden historischen
Gegenständen (Texte, Bilder usw.) hergestellt werden muß. Dem Konstrukt ‘Diskurs’ fehlt
aber ein außerhalb von Aussagen über den Gegenstand ‘Diskurs’ existierendes
Referenzobjekt. Somit fehlt auch die theoretische Möglichkeit einer korrigierenden Kontrolle
dieser Aussagen. Auch aus diesem Grund ist es sinnvoll, von einer historischen Wirklichkeit
auszugehen, die trotz aller Vermittlungsprobleme als Referenzpunkt für alle Aussagen über
sie fungiert.
Neben diesen allgemeinen Gedanken, die dem seit 1997 in Innsbruck betriebenen Projekt
„Realität, Projektion und Topik der Geschlechterrollen in der antiken Ethnographie“ zugrunde
liegen, sind für dessen Umsetzung eine Reihe weiterer spezifischer Überlegungen maßgebend.
Diese bilden die Grundlage sowohl der bereits erschienenen, der hier vorliegenden
Publikation als auch der noch geplanten zukünftigen Bände. Mit diesen Bänden ist die
Bereitstellung eines Arbeitsinstruments beabsichtigt, das – wie wir glauben – eine
existierende Lücke im Wissenschaftsbetrieb zu schließen imstande ist.
Im Titel des genannten Projekts ist sein Ziel enthalten. Es besteht darin zu ermitteln, wie sich
das Verhältnis der Geschlechter in den verschiedenen Phasen und kulturellen
Zusammenhängen der Antike in der Realität dargestellt hat. Der Weg dorthin – das zu zeigen,
war Sinn der obigen Erörterungen – ist kompliziert.
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Als Ausgangspunkte der Forschung sollen Einzel-Texte gewählt werden. Dies geschieht in
der Absicht, um über die Analyse des Textes zu seiner Struktur und damit auch seiner
Intention vorzudringen. Denn erst mit Hilfe der Bestimmung der jeweils spezifischen
Text- bzw. Autorintention wird die Möglichkeit eröffnet, das Maß an Individualität eines
Textes im Verhältnis zur existierenden Tradition zu bestimmen.
Die Konturen eines Textes lassen sich dann klar bestimmen, wenn ein Punkt zu gewinnen
ist, von dem aus der Text wie ‘von außen’ betrachtet werden kann. Dies ist einer der
Gründe dafür, den Schwerpunkt bewußt auf Texte zu legen, die vornehmlich der
Ethnographie gewidmet sind oder zumindest ethnographische Elemente enthalten. Weil in
der Darstellung ethnographischer Gegebenheiten „nicht nur lebensweltliche Realitäten
außerhalb und am Rande der Oikumene dargestellt werden, sondern gleichzeitig in
beträchtlichem Maße mit Projektionen, eigenen Gedanken und Vorstellungen, Spiegelund Zerrbildern zu rechnen ist”,2 wird in den ethnographischen Texten bzw. in den
ethnographischen Partien anderer Textsorten der jeweilige kulturelle Code eines Textes
bzw. Autors erkennbar.
In der konkreten Durchführung dieses Vorhabens werden nicht zu unterschätzende
Probleme sichtbar. Die Abgrenzung von Eigen- und Fremdwelt kann nach
verschiedenartigen Parametern erfolgen. Diese Grenzziehung ist nicht nur von den sich
wandelnden geographischen Realkenntnissen abhängig, sondern auch von der Perspektive
des jeweiligen Autors zu der ihm – je nach historischem Kontext – anders verstandenen
fremden Welt. Zu dem möglichen unterschiedlichen Verständnis von fremder Welt gehört
auch eine jeweils anders aussehende Abgrenzung der historischen von der mythischen
2
R. Rollinger, Einleitung, in: R. Rollinger/Ch. Ulf (Hg.), Geschlechterrollen und Frauenbild in der Perspektive
antiker Autoren, Innsbruck/Wien/München 2000, 9.
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Zeit, weil ‘mythisch’ und ‘ethnographisch’ nicht selten als kompatible Größen angesehen
werden.3
Daneben steht das alte Problem der sogenannten Topologie. Damit ist die Frage gemeint,
inwieweit ein ethnographisches Bild Realität abbildet, in welchem Ausmaß schon
verfestigte ethnographische Bilder von einem Text zum anderen unverändert übernommen
werden, wie und in welchem Ausmaß sich bei solchen Übernahmen die Aussage des
Topos wandelt, ob und wie Topoi aufgrund ihrer Position in der Struktur eines Textes ihre
Aussage im Sinne der Intention des Textes verändern.
Für Antworten auf diese Fragen ist der Vergleich von Texten dann, wenn sie vorher mit
Blick auf die eben genannten Ziele analysiert worden sind, unabdingbar. Ein derartiger
Vergleich wird aber erst dann umfassend auswertbar, wenn die Texte in ihrer
chronologischen Abfolge – so weit wie möglich – fixiert worden sind. Aus diesem Grund
sollen die durch das Projekt initierten Analysen schrittweise bis an den Übergang von der
Antike zum Mittelalter geführt werden.
Idealtypisch gesehen kann erst auf der Basis der Ergebnisse der in der geschilderten
Reihenfolge durchgeführten Analysen die Frage nach dem historischen Kontext für die Texte
gestellt werden. Wird so verfahren, dann kann das oben angesprochene Problem des
unausweichlichen Zirkelschlusses nicht nur minimiert, sondern es kann auch jeder
Argumentationsschritt in der Charakterisierung von Texten und des Bezugs von Texten zur
historischen Realität in seiner Plausibilität bestimmt und nachvollzogen werden. In der Praxis
werden die verschiedenen Analyseschritte, manchmal auch wegen einer zu gering
ausgeprägten methodischen Reflexion, parallel geführt. Der vorliegende Band wie das hinter
ihm stehende Projekt insgesamt wollen diesen Mangel reduzieren. Dabei werden
unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, die durch die einzelne Beiträge jeweils
zusammenfassenden Abschnitte sichtbar gemacht werden sollen.
Literarische Bilder als oder statt Realität
Die in diesem ersten Abschnitt präsentierte Gruppe von Beiträgen folgt mit Bedacht direkt auf
die beiden einleitenden, theoretisch orientierten Artikel der Herausgeber. Keine der
Untersuchungen beschäftigt sich allein mit einem Autor, sondern jede zieht mehrere Autoren
und auch Quellengattungen heran, um ein Bild der Geschlechter bzw. Frauen sichtbar zu
machen. Sie beziehen sich auch nicht direkt auf die antike Realität, sondern deutlicher als die
anderen Beiträge in diesem Band darauf, was man „kulturelle Grammatik” nennen könnte.
Damit ist der Sachverhalt gemeint, daß sich menschliche Gesellschaften und ihre kulturellen
Ausdrucksformen in einem System von Sprache, Symbolen, Zeichen, Deutungen und
Bedeutungen verorten, mit dem auf die historische Wirklichkeit Bezug genommen wird, das
zum Teil historische Wirklichkeit auch erst entstehen läßt.
Die ägyptische Königin: Ausgehend von Herodot setzt Peter W. Haider Zu Herodots
ägyptischen Nachrichten: Die Historisierung des Neith-Mythos aus mehreren ägyptischen
Traditionssträngen ein Bild der weiblichen Schöpfergottheit Neith zusammen, das in der
ägyptischen Tradition spätestens in der 26. Dynastie deutliche Konturen gewinnt. Die
konstituierenden Elemente dieses Bildes stammen aus unterschiedlichen Quellen, wobei in
3
Man vgl. dazu etwa E. Hall, Asia unmanned: Images of victory in classical Athens, in: J. Rich/ G. Shipley
(Hrsg.), War and society in the Greek world (Leicester-Nottingham Studies in Ancient Society, Volume 4)
London/New York 1993, 108-133, hier 114f, bzw. B. Hutzfeldt, Das Bild der Perser in der griechischen
Dichtung des 5. vorchristlichen Jahrhunderts (Serta Graeca, Beiträge zur Erforschung griechischer Texte Band 8)
Wiesbaden 1999, 7, 13, 80, 97-106.
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erster Linie einzelnen Schöpfungsmythen als auch dem ortsgebundenen Osirismythos eine
zentrale Rolle zukommt. Haider geht von der Weiterexistenz dieser um Neith kreisenden
Mythologeme bis in die Zeit Herodots aus. Unter der Voraussetzung, daß in die Vorstellung
der neuen weiblichen Schöpfergöttin auch die Züge älterer männlicher Schöpfergottheiten
eingeflossen sind, ergibt sich aus der von Haider vorgenommenen Zusammenführung der
verschiedenen Stränge ein Bild, das verblüffende Parallelen zu Nitokris aufweist, die bei
Herodot II 100 als einzige ägyptische Königin erscheint. Nitokris rächt ihren ermordeten
Bruder dadurch, daß sie die schuldigen Ägypter in einem von ihr errichteten unterirdischen
Saal bewirten läßt, der dann unter Wasser gesetzt wird. Anschließend begeht sie selbst in
charakteristischer Weise Selbstmord. In der Erzählung Herodots sieht Haider eine
interpretatio graeca von Einzelerzählungen über die in der 26. Dynastie zur Hauptgöttin
gewordene, in Sais lokalisierte Schöpfergöttin Neith. Dabei zeigt Haider, daß in der Erzählung
Herodots aus der Göttin und ihrem Mythos die einzige ägyptische Königin und ein
historisierender Bericht geworden ist.
Trunkene Frauen: Mit dem Bild der weiblichen Trunkenheit beschäftigt sich Barbara
Mauritsch-Bein Trinkverhalten bei Fremdvölkern aus der Sicht antiker Autoren – dargestellt
am Beispiel der Perser, Thraker und Skythen unter bewußtem Blick auf die Ethnographie.
Ihre Untersuchung, Teil einer sich in Arbeit befindlichen viel umfangreicher geplanten Studie,
setzt mit Platons Nomoi ein, in denen die Intensität der Trunkenheit als Charakteristikum von
‘Völkern’ angesehen wird, aber nicht – wie in der Forschung oft angenommenen – in der
Absicht, eine evolutive Abfolge zu konstruieren. In der Zusammenschau mit weiteren Quellen
arbeitet Mauritsch-Bein heraus, daß Trunksucht als ein jedes Volk korrumpierendes
Zivilisationsphänomen betrachtet wurde. Übertragen auf die Völker östlich und nördlich der
Griechen, heißt das, daß wegen ihrer Trunksucht die Lyder und auch die Meder den Persern
unterlagen, die Perser jedoch den Massageten. Die Charakterisierung eines ganzen Volkes als
dem Wein ergeben kann in zweierlei Weise zur Erzeugung spezifischer Bilder benützt
werden. Einerseits kann die Verhaltensabweichung eines einzelnen Individuums vom
‘Volkscharakter’ positiv hervorgehoben werden, andererseits das weibliche Geschlecht in
seinem Verhältnis zum Verhalten des männlichen beschrieben werden. Bei den Skythen, die
seit Herodot bzw. Anakreon als trunksüchtig angesehen wurden, wird das Verhalten von
Frauen in dieser Hinsicht nicht eigens thematisiert. Bei den Thrakern soll das Trinken eine
Sache der Männer sein, obwohl auch von betrunkenen Frauen die Rede ist; eine Angabe über
den Anlaß fehlt. Bei den Persern genießen Frauen Wein anläßlich eines „Umkehrfestes” oder
bei Gelagen anläßlich eines Empfanges. Die makedonisch-griechischen Frauen sind dabei
jedoch nicht anzutreffen. Wie sehr dies alles Bilder sind, die erst auf ihren Konnex mit der
Realität zu befragen sind, zeigt das Zitat aus den Bakchen des Antiphanes, in dem es heißt,
daß der ein „Unglückmann” ist, der eine Frau heiratet. Dies wäre nur bei den Skythen nicht so,
weil dort kein Wein wachse. Der Rückschluß aus diesem ethnographischen Bild ist
unabweisbar, daß griechische Frauen Wein tranken. Gleichzeitig wird das eben genannte, die
Quellen dominierende Bild der Skythen als Weintrinker als eine Projektion aus der
griechischen Welt klar erkennbar.
Philosophinnen: Im grundsätzlichen ähnlich geht Ulf Scharrer Frauen und Geschlechterrollen
in der Sicht der hellenistischen Stoa an das Bild der Philosophinnen, wie es in der mittleren
Stoa auftaucht, heran. In seiner ausführlichen und präzisen Analyse verweist Scharrer zuerst
darauf, daß den philosophischen Begriffen der Stoa kein Geschlecht immanent ist, daß aber in
der theologischen Allegorese der Götterwelt männliches und weibliches Geschlecht zumindest
in Spuren erhalten blieben. Ähnlich wie in der Theologie die Menschengestalt der Götter
geleugnet wird und statt dessen von Abstrakta die Rede ist, ist für Erreichen der menschlichen
5
Tugend die Übereinstimmung der Lebensführung der Menschen mit dem abstrakten Logos,
der universellen Natur, das einzige Maß. Es wird kein Unterschied zwischen Mann und Frau
gemacht. Die sich aus der individuellen Natur der Menschen ergebenden individuellen Rollen
sind nicht geschlechtsspezifisch. Innerhalb der politischen Philosophie bedeutet das, daß die
Tugend als Übereinstimmung mit der Vernunft als das einzige Bürgerkriterium angesehen
wurde. Freundschaft ergebe sich zwischen Wesensverwandten und daraus die Gemeinschaft
mit Frauen und Kindern, ohne daß der Körper dabei von Bedeutung sei. Geschlechter
verlieren ihr Gewicht. Die stoische Ethnographie des Poseidonios bietet in der Darstellung des
Fremden die communis opinio, insofern die Exkurse Studien des menschlichen Verhaltens
sein wollen. Sie tendieren in der Benutzung utopischer Topoi zur Gleichheit von Mann und
Frau.
Dennoch wendet sich Scharrer gegen die These, daß die Vorstellungen der mittleren Stoa in
Parallele zu einer Emanzpationsbewegung der Frau in hellenistischer Zeit entwickelt worden
seien. Schon in Teilen des ‘philosophischen Bildes’ drückte sich aus, daß der theoretische
Entwurf nicht nur nicht als Abbild der Realität aufzufassen ist, sondern ebensowenig als
‘Vorbild’ für die eigene zu verbessernde Wirklichkeit. Die Zeugungstheorie veränderte sich in
der Beurteilung der Qualität des Samens von Zenon zu Chrysipp in der Weise, daß zuerst die
Frau nur als Gefäß betrachtet wurde, das den Samen des Mannes aufnimmt, während der Frau
später aufgrund der Pneuma-Lehre der gleiche Anteil an der Zeugung wie dem Mann
zugeschrieben wurde Gewichtiger als das ist jedoch der Umstand, daß die philosphische
Theorie dann konterkariert wird, wenn die aktuelle historische Realität ins Spiel kommt. Ist in
der Theorie die Geschlechterdifferenz irrelevant, weil der Körper bedeutungslos ist, so findet
sich sowohl in der Anthropologie als auch in der politischen Philosophie, werden sie ins
praktische gewandt, die konventionelle, die Frau gegenüber dem Mann abwertende Topik. Die
nur schwer in ihrem Gewicht zu bestreitende Kontrolle für den Realitätsgehalt des
philosophischen Bildes ist die Tatsache, daß keine Philosophinnen aus der Stoa bekannt sind.
Die sexuell freizügige Frau: Das häufig und auch heftig diskutierte Bild der sexuell
freizügigen Etruskerin, wie es Theopomp gezeichnet hat, kontrolliert Erich Kistler Theopomp
und die Etruskerinnen: Etruskische Liebes- und Rauschfestkultur in der Perspektive eines
griechischen Geschichtsschreibers in methodisch klar nachvollziehbaren Schritten. Seine
Analyse der etruskischen Klinenpaare ergibt in Verbindung mit den diesen zu
parallelisierenden Abbildungen aus den Gräbern eindrucksvolle Indizien, daß die hier
dargestellten Frauen nicht als Gattinnen gelten dürfen, sondern als nicht-verheiratete sexuell
aktive Frauen. Kistler stellt diese Szenen mit guten Gründen in den Zusammenhang von
Dionysos- bzw. von Rausch-Festen. Er verfolgt die Herkunft dieser Feste, gewissermaßen
rückwärts, von den Etruskern nach Griechenland und verbindet die Elemente der etruskischen
Darstellungen mit der attischen Hetären- und Mänadenikonographie. Die Spuren des Bildes
führen über Griechenland noch weiter über Zypern bis zu den Phönikern, weshalb Kistler auf
einen vom Osten nach dem Westen sich ausbreitenden Rauschfest-Gedanken schließt. Am
Ende der Ausführungen verbindet sich das Bild wieder mit etruskischer Lebensrealität.
Einerseits verweist Kistler unter anderem darauf, daß sich in den Bestattungen die geachtete
Stellung des Bacchus-Priesters nachweisen lasse, andererseits spricht er Theopomp aufgrund
dieses Sachverhalts, aber auch wegen der so lautenden Einschätzung des Dionysios von
Halikarnaß partiell die antiquarische Kenntnis etruskischer Lebensrealität zu. Doch die
Kenntnis des eine Sondersituation darstellenden Verhaltens beim Rauschfest wird bei
Theopomp zum Verhalten der Etruskerin schlechthin generalisiert, in ein Umkehrbild
eingefügt, woraus dann ein sexuelles Schlaraffenland entsteht. Die von Kistler an den Schluß
gestellte, bekannte Absicht Theopomps, damit den platonischen Idealstaat zu parodieren, läßt
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die von Intentionen geleiteten komplizierten Wege zwischen Bild und Realität erkennen, die
mit dem Begriff des Diskurses zweifelsohne nicht ausreichend erfaßt werden können.
Die Barbarin als Königin: Mit diesem Bild schließt Norbert Ehrhardt Teuta. Eine
„barbarische“ Königin bei Polybios und in der späteren Überlieferung hier direkt an. Er
weist nach, daß Polybios die Königin der Illyrier, Teuta, unter zwei Perspektiven darstellt. In
der Skizzierung ihrer Handlungen erscheint sie als rational handelnde Politikerin, in dem über
sie gefällten allgemeinen Urteil wird sie zur unbeherrschten Frau und Barbarin. Mit
zunehmender Distanz zu den historischen Ereignissen verliert sich in den Quellen nach
Polybios der Gesichtspunkt, daß Teuta politisch sinnvolle Handlungen setzte. Reziprok dazu
verstärkt sich der Aspekt der Frau als emotionalem und unstetem Wesen auf der einen und der
der grausamen Barbarin auf der anderen Seite. Die historische Figur erstarrt zum topischen
Bild, dessen Bezug zur historischen Person kaum noch erkennbar ist.
Ethnographische Räume
Den Versuchen, ‘historische Realität’ gegenüber ‘historischen Bildern’ abzugrenzen, steht im
zweiten Abschnitt der Versuch gegenüber, über die Ethnographie die – oben geforderte –
‘Außenposition’ zu gewinnen. Der wissenschaftlichen Literatur über die antike Ethnographie
ist es seit langem geläufig, daß die ‘Ausstattung’ des Fremden mit bestimmten Requisiten, wie
das auch in den bisher vorgestellten ‘Bildern’ zu erkennen war, nicht völlig willkürlich ist.
Kai Ruffing und Stefan Schmal nehmen zwei weit voneinander entfernt, am Rande der
Oikumene liegende fremde Welten ins Blickfeld.
Indische Frauen: Kai Ruffing Einige Überlegungen zum Bild der indischen Frau in der
antiken Literatur will eruieren, ob und in welcher Weise sich Realität und Konstruktion in den
Darstellungen der Frau im mirakulösen Indien vermischen. Ruffing verweist auf die Funktion
der Ethnographie im antiken Literaturverständnis als Belehrung und Unterhaltung. Darin sieht
er einen der Gründe, daß das zuerst von Herodot geprägte, dann von Ktesias und den
Alexanderhistorikern weiter bearbeitete Indienbild trotz wachsender geograpischer Kenntnisse
nicht mehr verändert wurde. Ungeachtet der vielen miracula und curiosa im fernen
Barbarenland, zu denen nicht zuletzt auch besondere sexuelle Verhaltensweisen, Heiratssitten
und die Witwenverbrennung gehören, beharrt Ruffing auf realen historischen Gegebenheiten,
die in diesem Bild enthalten seien. Er verweist hierfür darauf, daß eben von diesen Elementen
in altindischen Epen wie in historischen Quellen die Rede sei. Daß gerade diese Elemente
zum barbarischen Indienbild als einem Feld für verschiedene Projektionen passen, könnte für
ihre Tradierung verantwortlich sein.
Das Umfeld der Afrikanerin: Was aus Afrika unter dem Blick Roms wurde, beschäftigt Stefan
Schmal Geliebte oder Hinterhof? Anmerkungen zum republikanischen und augusteischen
Afrikabild. Roms Blick auf Afrika ist von klar benennbaren Kategorien bestimmt. Den
Maßstab, an dem die anderen gemessen werden, stellen die Römer dar. Dieser Maßstab ist
von dem Selbstverständnis der militärischen Überlegenheit eines Bauernvolkes und der seiner
staatlichen Ordnung geprägt, aber auch von einer vermeintlich kulturellen Überlegenheit – nur
dann relativiert, wenn die Griechen ins Blickfeld kommen. Diese römische Perspektive ist
aber nicht ‘steril’; sie kann bisherige Überlegungen und Bilder nicht ignorieren, vor allem die
Klimatheorie und die Existenz der vielen ethnographischen Topoi. Zu den letzteren gehört die
Schwierigkeit der Abgrenzung von Afrika gegenüber Asien. Dies hat zur Folge, daß die
negativen Merkmale Asiens auf Afrika übertragen wurden: Vielweiberei, Söldnertruppen,
7
Proskynese, Dominanz der Reiterei, zudem: Hinterlist, Grausamkeit, Treulosigkeit. War in der
griechischen Tradition das Bild Afrikas aus der Summe seiner Völker und der geographischen
Gegebenheiten zusammengesetzt, so verschwimmen die Unterschiede aus der römischen
Perspektive. Afrika ist nicht mehr als der im Dunklen liegende, d.h. durch sich vom 3. bis
zum 1. Jahrhundert verfestigende Stereotypen gekennzeichnete ‘Hinterhof’ Roms – mit einer
Ausnahme: Karthago. Denn Karthago hält dem römischen Maßstab stand; es ist ein mächtiger
militärischer Gegner. Mit dieser Wertschätzung geraten neben den abwertenden Klischees
auch Elemente ins Bild, die allen anderen ‘Afrikanern’ fehlen: die Karthager haben nicht nur
einen gut organisierten Staat und eine durchschlagkräftige Armee, sie kennen die Einehe und
bei ihnen treten starke Frauen in der Öffentlichkeit auf.
Texte als Produkte von Topos-Tradition und Autor-Intention
Die in diesem Abschnitt vereinigten Beiträge genügen in vieler Hinsicht dem Anspruch, das
Verhältnis zwischen der Gestaltung eines Textes, d.h. seiner ihn erst konstituierenden, von
einer Intention getragenen Struktur und der zum Gegenstand der Darstellung schon
vorliegenden Traditionen zu bestimmen.
Frauentypologie: Anders als Norbert Ehrhardt beschäftigt sich Peter Mauritsch Das
Frauenbild als Teil der Geschlechterrollen-Konzeption bei Polybios mit dem Werk des
Polybios. Sein Analyse zielt nicht auf eine einzelne Frauengestalt, sondern auf das Verhältnis
von Autor und Geschlechterrollen insgesamt. In dem vorliegenden Artikel hebt Mauritsch das
Bild der Frau vor der Folie des männlichen Verhaltens hervor. Zu diesem Zweck legt er –
ähnlich wie auch Brigitte Truschnegg – einen Kategorien-Raster über den Text und hebt so
das, was nach Polybios weibliches Handeln und Denken ausmacht, ans Tageslicht. Es handelt
sich um sechs Kategorien: Krieg, das Zusammenleben von Mann und Frau, Sexuelle
Maßlosigkeit, ‘Natur‘ der Frauen, Grausame Frauen und Andere Völker – andere Sitten. Als
ein Ergebnis, das erst noch der Kontrolle bzw. Bestätigung durch das polybianische
Menschenbild im allgemeinen und das Männerbild im speziellen unterzogen werden müßte,
kann Mauritsch folgende Züge im Text des Polybios festhalten: die Wertschätzung der
Monogamie und daneben eine misogyne Topik verbunden mit Frauenklischees; doch Topik
und Klischee werden relativiert durch eine auch zu beobachtende neutrale Verteilung der
Geschlechterrollen.
Große Frauen, aber nur in der Fremde: Sabine Comploi Frauendarstellungen bei
Fremdvölkern in den ‘Historicae Philippicae’ des Pompeius Trogus/Justin, Mitarbeiterin am
Innsbrucker Projekt, läßt in diesem Stadium der Analyse sinnvollerweise die schwierige Frage
beiseite, wie der Text des Pompeius Trogus durch Iustin verändert wurde. Sie geht vom
vorliegenden Text aus und versucht dessen Intention dadurch näher zu kommen, daß sie im
Hinblick auf die Frauenthematik drei Gestaltungsformen unterscheidet: deskriptive, narrativdeskriptive und narrative Passagen. Alle thematisch einschlägigen Textpassagen werden in
der Weise, wie sie Robert Rollinger in seiner Analyse des Pomponius Mela vorgegeben hat, in
einer Tabelle erfaßt. In diesem Überblick zeigt sich rasch, daß die von Comploi gezogene
Schlußfolgerung nicht von der Hand zu weisen ist, daß nur die von ihr als „deskriptiv”
klassifizierten Passagen hinreichend aussagekräftiges Material liefern, um sich der Spezifik
des Textes zu nähern. Es handelt sich um drei Abschnitte der Historiae Philippicae, zuerst um
allgemeine Äußerungen über Skythen und Parther, dann in Verbindung mit den Assyrern die
Darstellung der Semiramis und schließlich die Beschreibung der Elissa im Rahmen der
Phöniker-Schilderungen. Es erklärt sich aus der Grundintention, mit dem Text unterhalten und
8
belehren zu wollen, daß Frauen nur hier ausführlicher dargestellt werden. Zum Ziel der
Darstellung gehört wesentlich das Vorzeigen von erfolgreichen politischen Persönlichkeiten
als Reichsgründer und/oder Feldherrn. In dem Projektionsfeld der Fremde dürfen hier auch
Frauen mit Namen erscheinen, während die tabellarische Erfassung zeigt, daß politische
Aktivitäten von Frauen in der eigenen Welt nur nebenbei und anonym erwähnt werden. Das
hat seinen Grund darin, daß derartige Aktivitäten von Frauen nur die – in der Fremde
‘entsorgte’ – Ausnahme sein sollen. Dies deckt sich mit den zu beobachtenden negativen
Wertungen, wenn nur allgemein von Frauen die Rede ist. Die Frage nach dem Realitätsgehalt
dieser Äußerungen ist natürlich nicht so zu stellen, ob Semiramis oder Elissa die ihnen
zugeschriebenen Handlungen ausgeführt haben oder nicht. Sie ist aber dennoch in der Weise
von Bedeutung, ob nicht der männerzentrierte Text wegen seiner negativen Grundeinstellung
gegenüber der Frau Elemente der eigenen Realität durch ihre Projektion in die Fremde
gewissermaßen unschädlich zu machen versucht. Um hierauf eine klarere Antwort zu
erhalten, wäre der von Comploi nicht durchgeführte Vergleich der Semiramis- und ElissaBilder mit solchen außerhalb des von ihr untersuchten Textes eine wesentliche
Voraussetzung.
Frauen als Männer – Männer als Frauen: Noch konsequenter benützt Brigitte Truschnegg
Das Frauenbild in der Exemplaliteratur am Beispiel des Valerius Maximus die quantitative
Methode als Grundlage der Analyse. Nur in 17% der von Valerius Maximus vorgetragenen
Exempla erscheinen Frauen, nur in einem Drittel von diesen, d.h. nur in 6% aller Exempla
bestimmen Frauen als Hauptfiguren das Geschehen. Daraus folgt fast zwangsläufig, daß in
vielen Exempla nur Männer auftreten, in keinem aber nur Frauen. Der nicht überraschende
männerzentrierte Blick ist damit in seinen Dimensionen klar abgrenzbar. Der Blick auf die
Ethnographie zeigt, daß Valerius anders als Pompeius Trogus/Iustin, aber auch anders als
Livius positiv konnotierte Frauengestalten gleichermaßen in der römischen und der fremden
Sphäre kennt. Truschnegg gibt hierfür den Grund an, daß Valerius‘ Werk vom Gedanken der
Weltherrschaft getragen sei, mit dem eine sich über die Oikumene erstreckende gleichartige
Zivilisation verbunden sei. Diese Begründung wird durch die Beobachtung gestützt, daß die
weiblichen Exempla fast ausschließlich aus der jüngeren Vergangenheit und nicht aus
zurückliegenden Zeiten stammen. Nicht nur hier werden ziemlich klare Konturen einer über
den Text auf den Autor reichenden Intention sichtbar. Es lassen sich die spezifischen
Frauentugenden benennen, denen Frauen gerecht werden müssen. Frauen werden aber auch
dann positiv gesehen, wenn sie handeln wie Männer. Der Maßstab für negatives Verhalten
wird durch die Umkehr des positiven gewonnen. Truschnegg kann darüber hinaus eine
regelrechte Geschlechterperspektive aus dem Text herausschälen. In den Exempla, in denen
Frauen als ‘Objekt‘ des Handelns der Männer erscheinen, dienen die Frauen als Negativ-Folie
für das Verhalten der Männer, so daß auch ein männlicher Maßstab gebildet werden kann.
Die politische Frau – zwischen Text und Realität: Obwohl Martin Korenjak Ekklesiazusen?
Chariton und andere kaiserzeitliche Autoren über Frauen in der Volksversammlung für sich
einen literaturwissenschaftlichen Zugang beansprucht, greift er bewußt und weit stärker als
die meisten anderen Beiträge auf eine ‘neben dem Text’ existierende Realität zurück. Er geht
von der Frage aus, warum Chariton in seinem Text Frauen in die Volksversammlung
aufnimmt. Die Antwort wird nur ansatzweise über eine Textanalyse versucht. Korenjak geht
den Weg, in einem großen Rundblick andere Texte, in denen Frauen in öffentlichem
Zusammenhang erwähnt werden, zu analysieren. Er kommt zum Ergebnis, daß bei Plutarch,
Cassius Dio, Valerius Maximus, Appian, Augustinus, Favorinus von Arelate und Themistios
Frauen in der Versammlung stets als etwas Anormales gelten. Diesen Textanalysen stellt
Korenjak unter Berufung auf die historische Forschung ‘reale’ Verhältnisse gegenüber. Auf
9
der einen Seite habe die Frau in Rom aufgrund der Bürgerkriege im ersten Jahrhundert v. Chr.
eine freiere Stellung erlangt. Auf der anderen Seite würden lykische und karische Inschriften
von Bürgerinnen sprechen, die als Stifterinnen von Liturgien aufgetreten seien. Mit dem wird
der Hinweis verbunden, daß Frauen zur Zeit des Hellenismus und der Kaiserzeit als zumindest
bei Versammlungen anwesendes Publikum nachzuweisen seien. Weil Korenjak nicht
zwischen Autor und Erzähler trennt, kann er die so gewonnene ‘historische Realität’ direkt
mit dem Text verbinden. Chariton stammt aus Kleinasien, aus einem Umfeld, in dem die
Frauen eine politisch bedeutsamere Rolle spielten als sonst in der antiken Welt. Chariton
kannte den historiographischen Topos, nach dem Frauen in der Öffentlichkeit eine besondere,
den Männern vergleichbare Rolle spielen. Und Chariton ist von dem zur Zeit der späten
Republik vor sich gehenden gesellschaftlichen Wandel nicht unbeeinflußt geblieben. In der
Kumulation dieser drei Elemente sieht Korenjak die Motivation für Chariton begründet,
Frauen in der Volksversammlung auftreten zu lassen.
Das tugendhafte ‘Weib’: Maria Dettenhofer Frauenrollen in Plutarchs Schrift mulierum
virtutes im Verhältnis zum traditionellen Frauenbild der Griechen beschränkt sich im
Gegensatz zu Korenjak gänzlich auf den Text. Sie bezieht sich in der Abfolge der von
Plutarch ohne ein abschließendes Resümee vorgetragenen Exempla auf dessen Grundfragen,
ob es eine gleiche Tugend von Mann und Frau gebe und ob die Zuordnung des Mannes an die
Öffentlichkeit und die der Frau an das Haus zutreffend sei. Plutarch nimmt in seiner
Präsentation von tugendhaften Frauen keine Abgrenzung von Mythos und Geschichte vor.
Auch seine Frauen treten nur in Ausnahmesituationen in der Öffentlichkeit auf. Wenn
Männern die Lage aussichtslos erscheint, dann sind es Frauen, welche die Ordnung der Polis
retten; nach der ihnen hierfür gebührenden öffentlichen Anerkennung kehren sie wieder in die
Anonymität der häuslichen Rolle zurück. Dettenhofer sieht in dieser Rolle der Ergänzung,
welche die Frau für den Mann nur bei Bedarf einnehmen darf, einen Bruch mit einem von ihr
angenommenen traditionellen Verhaltenskodex der Griechinnen.
Den konservativen, patriarchalischen Autor, den Dettenhofer in Plutarch entdeckt, sieht
Linda-Marie Günther Geschlechterrollen im Werk des Flavius Arrianus noch viel
ausgeprägter in Arrian. Arrian geht nur selten auf Frauen ein. Wenige Male in der Anabasis,
ganze drei Mal in der Indike. Der Grund hierfür liegt im Autor selbst begründet, nicht in den
Themata, die er behandelt. Im Orientfeldzug Alexanders kommen Frauen nur als
Sexualobjekte ins Blickfeld bzw. so konnotiertes Verhalten der Männer ihnen gegenüber.
Unter anderem ist das an der Amazonen-Episode gut erkennbar. Obwohl Alexander nicht
bemerkt, daß – wie Arrian meint – die Frauen nur wie Amazonen gekleidet waren, erzählt er
die Geschichte dennoch, um die männlich-positive Reaktion Alexanders vortragen zu können:
Alexander will mit der Amazonin Kinder zeugen. Dieses Grundmuster der ausschließlichen
Orientierung am Mann findet sich in der Indike wieder. Das Lebensalter der von den Vätern in
der Öffentlichkeit vorgeführten Mädchen ist nur deswegen von Bedeutung, weil damit der
Hinweis auf das doppelt so hohe Alter der Männer verknüpft werden kann. Günther betrachtet
diese Passagen im Textzusammenhang mit der Absicht, dessen Intention zu eruieren – anders
etwa als Kai Ruffing, dessen Blick stärker auf den Realitätsgehalt der Mitteilung gerichtet ist.
Die Frau in der Fremde als virtuelle Realität: In dem in Antike und Renaissance beliebten
(Liebes)Roman ‘Aithiopika’ erweckt Heliodor ganz so wie Chariton mit verschiedenen
Mitteln den Eindruck, daß das vorgeführte Geschehen keine Erfindung sei, sondern sich vor
ungefähr fünfhundert Jahren in der Realität abgespielt habe. Zu dieser Realität gehören ganz
im Stile der Historiographie auch ethnographische Partien. Werner Petermandl Fremde
Frauen bei Heliodor. Vorstellungen der späten Antike beschäftigt sich mit den drei der
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Ethnographie zuzurechnenden Frauengestalten, der ägyptischen Alten, der Perserin Arsake
und der Aithiopin Persinna. Die Zeichnung der drei Frauen entspricht den mit den jeweiligen
Räumen verbundenen Vorurteilen, Stereotypen und Klischees. Die ägyptische Alte ist
einerseits bemitleidenswert, weil sie ihren Sohn in der Schlacht verloren hat, andererseits aber
eine böse Zauberin, die eben diesen Sohn durch Zauberei wieder zum Leben erweckt. Arsake,
die Schwester des persischen Großkönigs, ist nach der für die Perser geläufigen Mischung aus
zivilisatorischen und barbarischen Merkmalen geformt. Sie ist auf der einen Seite eine kluge
und gebildete Frau, auf der anderen Seite aber ‘orientalisch’, d.h. prunksüchtig und vor allem
ihrer sexuellen Leidenschaft völlig hingegeben und dann, wenn diese keine Erfüllung findet,
rachsüchtig und grausam. Die Aithiopenkönigin Persinna ist die Figur aus dem
‘Frommenland’ am Rande der Welt; sie ist verständig, sittsam und zudem noch Priesterin der
Selene. Die Frau der Fremde erscheint so wie eine virtuelle Realität, welche die Leser allem
Anschein nach auch deswegen für vergangene und vielleicht auch gegenwärtige Wirklichkeit
genommen haben, weil sich der Roman als Historiographie gibt. Auf jeden Fall wurden die
Erwartungen der Leser befriedigt, in deren Vorstellungen sich die ethnographische Welt eben
so darstellte, wie sie der Roman schilderte. Petermandl kann darüber hinaus aber auch noch
Umrisse von den Intentionen des Erzählers zeichnen. Dieser zeigt sich als Reproduzent
gängiger Vorstellungen: Den Frauen in der Fremde wie Arsake oder Persinna wird eine
gewisse Selbständigkeit zugestanden; Frauen sind den sozial gleichrangigen Männern
untergeordnet, wenn sie auch intellektuell gleichwertig sein können. Frauen dürfen aber
zumindest gleiches Interesse wie Männer beanspruchen. Darüber hinaus ist aber im Vergleich
mit Longos oder Achilleus Tatios ein offensichtlich individueller Zug abhebbar: Neben dem
Mitgefühl für die dem Mann unterlegene Frau erweist sich der Erzähler sexuellen Dingen
gegenüber als gehemmt, geradezu als prüde.
Referenzpunkt und Zielpunkt: die historische Realität
Natürlich ist der Bezug zur historischen Realität in allen Beiträgen dieses Bandes zumindest
in der Form von Bedeutung, daß ein Textelement als Projektion charakterisiert wird. Er tritt
aber in den folgenden Studien insofern noch stärker in den Vordergrund, als in ihnen direkt
über die historische Realität gesprochen wird. Die Problematisierung des Zusammenhangs
von Text und Realität ist kein vorrangiges Anliegen.
Der verschönerte Körper: Der Versuch, den eigenen Körper zu verschönern, ist vermutlich als
eine anthropologische Konstante anzusehen. Monika Frass Körperpflege als Ausdrucksmittel
für Geschlechterrollen hat sich nicht nur auf die Suche nach Belegen hierfür in der Antike
gemacht, sondern sie richtet ihre Analyse auch auf die Frage, nach welchen Maßstäben eine
solche Veränderung im Aussehen vorgenommen wurde. Gleichgültig, ob der Mann oder die
Frau davon betroffen sind, jedes Urteil wird aus männlichem Blickwinkel gefällt. Ob aus
dieser Veränderung möglicherweise ein Schaden für den Mann entsteht, ist die durchgehende
Frage. Daraus erklärt sich die Forderung nach dem rechten Maß. Doch die Bestimmung dieses
Maßes ist eindeutig geschlechtsspezifisch. Für die Frau gelten die Begriffe samt ihren
Gegensätzen: Ehrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Treue; für den Mann die folgenden:
Natürlichkeit, Männlichkeit, Mut, Kraft, Freiheit. In der Offenheit der Begriffe ist die
Möglichkeit auch willkürlicher Abgrenzungen schon enthalten. So hängt Erlaubtes bzw.
Verbotenes auch vom sozialen Status ab, aber auch vom Alter; und es wird nach Weltbild
oder regionaler Herkunft unterschiedlich eingeschätzt. Auch auf diesem Feld kann die
Ethnographie so etwas wie eine Außenperspektive bieten: Was negativ ist, findet sich als
Projektion in die Fremde – geradezu ein Beweis dafür, daß es in der eigenen Welt existiert.
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Magische Bindung zwischen den Geschlechtern: Kai Brodersen Frauen und Männer auf
griechischen Fluchtafeln will über die Gattung der Fluchtäfelchen direkt zum realen Denken
und Verhalten vorstoßen. An einigen Beispielen kann er bestätigen, daß die Arbeitswelt keine
Trennung nach Geschlechtern kennt, er kann aber auch vorführen, wie sehr man der Magie
vertraute, um den geliebten Partner an sich zu binden. Dabei wird auch sichtbar, daß gerade in
den unteren Schichten der Gesellschaft Jungfräulichkeit keine unabdingbare Ehebedingung
war, wohl auch deswegen, weil die Ehe neben emotionaler vor allem auch wirtschaftliche
Geborgenheit bieten sollte. Wo der Wunsch aufhörte und die Realität begann, läßt sich aus
den Täfelchen allein freilich nicht ablesen.
Die Frau in der Religion: In Parallele zum Wandel der christlichen Institutionen verfolgt
Reinhold Bichler Zur Rolle der Frau im Frühchristentum die Veränderung der Einschätzung
und der Handlungsmöglichkeiten der Frau in den frühchristlichen Gemeinden. Bichler macht
darauf aufmerksam, daß der Zusammenhang zwischen der anfänglichen Endzeiterwartung und
der Auflösung von existierenden Bindungen auch Auswirkungen auf die
Handlungsmöglichkeiten der Frauen hatte. In der Ausnahmesituation der unmittelbaren
Erwartung des Gottesreiches wurde die geltende Wert- und Normenwelt aufgebrochen, was
den Außenseitern und auch den Frauen sonst nicht mögliche Freiheiten gab. Als sich die
Hoffnungen als trügerisch erwiesen hatten, wurden nicht nur die christlichen Institutionen
langsam entwickelt, sondern auch die gängigen Normen und Werte wieder in Geltung gesetzt.
Das hatte zur Folge, daß die auch als Verkünderinnen des Glaubens auftretenden Frauen in die
Rolle von Dienerinnen zurückgedrängt wurden - ein Prozeß, der sich schon in den Evangelien
abzeichnet und sich gleichfalls in den Paulusbriefen und der Apostelgeschichte erkennen läßt
und sich dann noch bei Plinius niederschlägt.
Reale Anstöße für literarische Bilder: Ähnlich jenen Beiträgen, die sich mit der Ethnographie
als Hauptthema auseinandersetzten, faßt auch die Studie von Sabine Fick Heliodors Heldin
Charikleia und die Vorstellungswelt der Priesterdynastie von Emesa die Ebene der Realität
ins Auge. Dabei sieht sie in der in Heliodors Roman vorgenommenen Gleichsetzung von
Apoll und Helios einen Reflex eines real in Emesa vorgenommenen Synkretismus. In diesen
religiösen Kontext stellt Fick in der Folge auch die Hauptfigur des Romans, Charikleia, bzw.
deren Familie. Charikleia ist Priesterin der Artemis und der Selene, Hydaspes, ihr Vater, ist
Oberpriester des Sonnengottes und gleichzeitig auch Herrscher. Der Hinweis Heliodors, ein
Mann zu sein, der von der Sonne abstammt, läßt sich besonders dann noch als bewußter
Verweis auf reale Hintergründe verstehen, wenn man an die aus Emesa stammenden
Kaiserinnen Julia Domna, Julia Maesa, Julia Mammaea und Julia Soaemias denkt, die sich
zum Teil auch mit Selene und Isis identifizierten. Charikleia ließe sich so als eine
Idealisierung und Heroisierung der weiblichen Mitglieder der Priester des Elagabal von Emesa
verstehen.
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