Vom Schwarzmarkt zur Marktwirtschaft EPILOG (Frühjahr 2009) - redigierte Fassung vom 20.3.2009 Autor: Ernst Dohlus Als ich vor 30 Jahren für diese Sendung recherchierte, lebten meine Zeitzeugen noch, die ich interviewt hatte, die das Entstehen der deutschen Nachkriegsrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt hatten, die wussten, aus welchen Wurzeln, aus welchen Beweggründen die Wirtschaftsform der Bundesrepublik Deutschland entstanden war. Die Sendung entstand 1977, in einer Zeit, als die Wirtschaft pulsierte, der Schock der ersten Ölkrise noch nachwirkte, die wirtschaftliche Dynamik aber ungebrochen war. Der Bevölkerung ging es gut, die Arbeitslosenzahl lag bei nur einer Million Menschen. Heute sind die Zeitzeugen alle tot. 30 Jahre später sieht die Welt anders aus: Angst geht um, ganze Märkte brechen weg, die Regierung stützt eine private Bank mit dem Doppelten eines Jahresetats des Landes Nordrhein-Westfalen, die Arbeitslosenzahl liegt bei 3 ½ Millionen Menschen. Was hat sich getan in diesen 30 Jahren, was ist geblieben von der sozialen Marktwirtschaft, „von der Freiheit zum Konsum, der Freiheit des Arbeitsplatzes, von der Überwindung der Not und vom Wohlstand“? Es waren nicht die 68er, die Anarchisten und Chaoten, es waren nicht die Kommunisten und Einheitssozialisten aus der ehemaligen DDR, es waren nicht die Herz-Jesu-Sozialisten und nicht die Linken, die die Marktwirtschaft mit sozialistischen Modellen in Bedrängnis brachten. Dagegen waren Bevölkerung, Gewerkschaften und Regierende in Deutschland immun. Von links war die Soziale Marktwirtschaft nie wirklich bedroht. Bedroht ist sie von der anderen Seite des politischen Spektrums, von den Wirtschaftsliberalen, von denen, die nicht genug bekommen können an Deregulierung. Bedroht ist sie durch die Entwicklung der letzten 20 Jahre hin zu einer rein kapitalistischen Marktwirtschaft. Der Zusammenbruch der Finanzmärkte hat 2008 vor dieser zuerst schleichenden, am Schluss galoppierenden Entwicklung den Vorhang weggezogen. Die soziale Marktwirtschaft entwickelte sich in den 80er Jahren zum shareholder- valueKapitalismus: Kurzfristige Gewinnausschüttung war wichtiger als langfristiger Ertrag. Börsenkurse stiegen, wenn Arbeitsplätze wegfielen. Konjunkturflauten und die Öffnung der Märkte weltweit wurden genutzt, um die Gewerkschaften zu schwächen: Sie spielen kaum noch eine Rolle im wirtschaftlichen Gefüge der Bundesrepublik. Das System von Macht und Gegenmacht funktioniert beim Faktor Arbeit nicht mehr. Unter dem Stichwort Liberalisierung der Märkte wurden unwirtschaftliche Staatsbetriebe dem Wettbewerb ausgesetzt, aber auch Unternehmen der Daseinsvorsorge zwielichtigen Kapitalmarktfirmen überlassen. Der Zusammenbruch des Kommunismus als Wirtschafts- und Staatsform Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre ließ die letzten Dämme staatlicher Regulierung brechen. Breitgestreute staatliche Infrastruktureinrichtungen, soziale Errungenschaften für alle sollten ja im Westen das Soziale an der Marktwirtschaft betonen und den Kommunismus unattraktiv machen. Auch im Außenhandel hatte der politische Gegensatz zwischen den Blöcken zu einem Mindestmaß an Regulierung geführt, schon allein, um das eigene Lager vor „Dumping-Angriffen des Ostens“ zu schützen. Auch hier fiel – mit dem Kommunismus -das System von Macht und Gegenmacht in sich zusammen. Genau darauf aber baut „Soziale“ Marktwirtschaft auf, auf Macht und Gegenmacht, nicht nur auf dem Streben aller nach dem größtmöglichen kurzfristigen Gewinn. Liberalisierung und Entsolidarisierung also, und dann die hemmungs- und grenzenlose Globalisierung der Märkte. Das Fehlen jedes Regulativs in der internationalen Wirtschaft führte zu einer Trennung der Real- von der Finanzwirtschaft. Nicht reale Werte, Grund und Boden, Arbeitskraft, Maschinenpark, ausgebildete Menschen, neue Patente bestimmten den Wert von Firmen, Aktien, Anteilsscheinen und Wertpapieren, sie wurden ersetzt durch Wetten auf eine nicht vorhersehbare Zukunft, und besinnungslos folgten Bankvorstände und Anleger diesem Weg. Mit Sozialer Marktwirtschaft, wie sie in Deutschland vor 60 Jahren entstanden ist, wie sie vor 30 Jahren in der eben gehörten Sendung geschildert wurde, hat das nichts mehr zu tun. Soziale Marktwirtschaft spielt sich innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen ab, nach festen Regeln und mit einem Wertekanon aller Beteiligten. Diesen Wertekanon haben bei uns seit Anfang der 80er Jahren zuerst die Funktionäre des Arbeitgeber- und Industriellen-Lagers vergessen, dann die Politiker und die Banker. Außer bei den Gutmeinenden aus einigen Nichtregierungsorganisationen gab es auch international keinen Versuch, Rahmenbedingungen für eine soziale Marktwirtschaft über die nationalen Grenzen hinaus zu formulieren. Der IWF beispielsweise, als Weltpolizist der Finanzmärkte hätte diese Rolle spielen können. Aber bis zuletzt hat der IWF Hilfe davon abhängig gemacht, dass Länder sich allem öffneten, was es am Weltmarkt gab, ohne feste Regeln. Deshalb ist es zwar ehrenwert, wenn Horst Köhler als Bundespräsident im Jahr 2009 die Gier der Banker geißelt, wo aber blieb sein vorsorgliches Handeln als Geschäftsführender Direktor des IWF, der er vor seiner Bundespräsidentenzeit war? Was ist geblieben in 60 Jahren Sozialer Marktwirtschaft, die als ein Grundpfeiler des ebenfalls 60 Jahre alten Grundgesetzes gilt? Wir haben auf breiter Basis Wohlstand, auch wenn die Zahl der Arbeitslosen und Hartz IV-Empfänger für eine solche Behauptung eigentlich zu groß ist, auch wenn der Abstand zwischen immer mehr Armen und wenigen Reichen größer wird. Wir haben die Wahl zum Konsum und die des Arbeitsplatzes, aber immer häufiger bleibt wegen der notwendigen Vorsorge für Alter und Krankheit zuwenig für den Konsum, wird aus der freien Wahl des Arbeitsplatzes die Pflicht, jeden Arbeitsplatz anzunehmen, den es überhaupt noch gibt. Vor allem aber ist der Konsens der gesellschaftlichen Gruppen brüchig, über die Rahmenbedingungen, in denen sich Wettbewerb und Marktwirtschaft abspielen sollen. Brüchig ist der Konsens darüber, ob der Markt an sich „sozial“ ist, oder ob „sozial“ heißt, die abzufedern, die herausgefallen sind aus dem Markt. Vor 60 Jahren, vor 30 Jahren konnte man konstatieren, dass die Marktwirtschaft in den Regeln von damals genügend „sozialen Ertrag“ abwarf, um soziale Marktwirtschaft heißen zu können. Heute fehlen solche Regeln und weithin auch das Bewusstsein dafür. Das Grundgesetz wurde in seinen wirtschaftpolitischen Artikeln in diesen 60 Jahren nicht geändert, aber die Lebenswirklichkeit ist doch eine andere geworden.