12 neuromuskuläre erkrankungen - Klinik und Poliklinik für Neurologie

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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
12
NEUROMUSKULÄRE ERKRANKUNGEN
12.1
12.1.1
12.1.2
12.1.3
12.1.4
Myasthenia gravis
Epidemiologie-Prävalenz der Myasthenie-Prävalenz in Norwegen
Diagnostik der Myasthenia gravis
Klinischer Verlauf und Therapie der Myasthenia gravis
Okuläre Myasthenie
12.2
12.2.1
12.2.2
12.2.3
12.2.4
12.2.5
Polymyositis/Dermatomyositis/Einschlusskörpermyositis
Diagnostik von Polymyositis (PM) und Dermatomyositis (DM)
Malignität bei Polymyositis und Dermatomyositis
Therapie von DM und PM
Einschlusskörpermyositis
Neue Therapieansätze
12.3
12.3.1
12.3.2
12.3.3
12.3.4
12.3.5
Muskeldystrophien
Duchenne´sche Muskeldystrophie
Becker´sche Muskeldystrophie
Gliedergürteldystrophie
Myotone Dystrophie
Proteasomen Inhibitoren erhöhen Missense-mutiertes Dysferlin in
Patienten mit Muskeldystrophie
12.4
12.4.1
12.4.2
Amyotrophe Lateralsklerose
Symptomatik
Therapie der ALS
12.5
Literatur
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
12.1
Myasthenia gravis
12.1.1
Epidemiologie-Prävalenz der Myasthenie_Prävalenz in Norwegen
(1)
Internationale Studien zeigen eine Myasthenie-Prävalenz von 15 – 179
Personen pro Million sowie eine Inzidenz von 3 – 30 Patienten pro 1 Million
Einwohner. Die meisten dieser Studien beruhen auf Daten aus
Krankenhäusern. In Skandinavien ist durch die lang etablierte
Gesundheitskarte und zentrale Register gegeben, was in Deutschland nicht
möglich wäre, nämlich Nation-übergreifend Prävalenz und Inzidenzraten von
vorgegebenen Erkrankungen zu berechnen. Für diese Arbeit wurden 2
norwegische
nationsweite
Datenbanken
genutzt,
nämlich
die
Azetylcholinrezeptor-Antikörper-Datenbank
sowie
die
norwegische
Verordnungsdatenbank (Medikamentenverordnungen). Da die meisten
Patienten auch heute noch gegen Azetylcholinrezeptoren Antikörper aufweisen
(85%), und da sämtliche Azetylcholinrezeptor-Antikörperbestimmungen in
Norwegen in einem einzigen Labor durchgeführt werden, ist hier eine
hervorragende Ausgangsposition gegeben. Zum Zweiten sind im Register
NorPD sämtliche Informationen über Verschreibung für Pyridostigmin
gesammelt. Als Ergebnis dieser Studie konnte eine Prävalenz-Rate von 131
pro Million, was einer Populations-angeglichenen korrigierten Prävalenz von
145 pro Million zum Januar 2008 entspricht. Die jährliche Inzidenz-Rate betrug
16 pro 1 Million in der Studienkohorte und bezogen auf Januar 2008 waren es
8,8 Patienten pro 1 Million Einwohner. Somit zeigte die Studienkohorte
zweimal so viele Myasthenia gravis Patienten wie eigentlich erwartet.
Kommentar: Zusammenfassend bietet auch diese norwegische Studie ein
hervorragendes Zahlenmaterial und belegt, dass wir mit etwa 140 MyastheniePatienten pro 1 Million Einwohner zu rechnen haben.
Myasthenie in Katalonien (2)
In dieser spanisch publizierten Arbeit geht eine der berühmtesten MyologieGruppen Europas um Frau Illa der Frage nach, wie viele Myasthenie-Patienten
in Katalonien leben. Sie beschreibt etwa 320 pro 1 Million Einwohner, was
deutlich über der oben diskutierten norwegischen Studie liegt. Das Verhältnis
von Frauen zu Männern war 1.3 und worauf sie insbesondere hinweist, ist,
dass die Gruppe der Patienten älter als 65 Jahre etwa 63 % aller MyastheniePatienten ausmachte, wohingegen sie unter 25 Jahren keine Myasthenie in
Katalonien registrierte. Ihre Zahlen weisen darauf hin, dass zumindest in der
Region Barcelona bei Patienten über 65 Jahre 1220 Myasthenie-Patienten auf
1 Million Einwohner zu erwarten sind. Sie geht davon aus, dass uns dies
Anlass sein muss, sehr kritisch zu prüfen, ob wir bei älteren Patienten nicht ab
und an eine Myasthenia gravis übersehen.
12.1.2
Diagnostik der Myasthenia gravis
Diagnostisches Vorgehen und Behandlung der juvenilen Myasthenia
gravis (3)
Wie oben berichtet, bewegt sich die Prävalenzrate für Myasthenia gravis in
Europa zwischen 30 und 150 pro 1 Million pro Jahr, wobei die der Kinder und
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Adoleszenten mit Myasthenia gravis, das heißt, die Anzahl von juvenilen
Myasthenia gravis Patienten im Alter von 0 – 19 irgendwo zwischen 1 – 5 pro
1 Million Einwohner rangiert. In dieser Arbeit werden typische Symptome der
präpubertären kindlichen Myasthenie, wo insbesondere Ptose und
Doppelbilder sowie Sehunschärfe im Vordergrund stehen, sowie von älteren
Kindern mit ebenfalls okulärer Störung und generalisierter Muskelschwäche
ausführlich geschildert. Es wird darauf hingewiesen, dass im Vergleich zu den
Erwachsenen die Kinder und Adoleszenten doch einige Unterschiede
aufweisen und dass häufig bei diesen Patienten die Diagnose lange nicht
gestellt wird. Ganz häufig kommt es initial zu isolierten okulären Symptomen,
aber auch mitunter zur generalisierten Schwäche schon im 2. Lebensjahr. Bei
diesen Patienten können die spezifischen Antikörper gegen die
neuromuskuläre Endplatte nur leicht erhöht sein oder sogar negativ. Auch bei
den Kindern ist an Thymektomie und immunsuppressive Therapie zu denken,
die mit erheblichen Risiken bei den Heranwachsenden verständlicherweise
verbunden sind. Im Gegensatz zu den Erwachsenen wird bei Kindern
bevorzugt mit Pyridostigmin, Steroiden, Plasmapherese und gegebenenfalls
Thymektomie gearbeitet, wohingegen immunsuppressive Therapie mit
Zurückhaltung appliziert werden sollten. Alternativen dazu stellen intravenöse
Immunglobuline und Plasmaaustauschbehandlungen dar.
Tabelle 1: Differentialdiagnose der kindlichen Myastenie [aus Marina AD et al. (2014)
Neuropediatrics 45:75-83]
Kommentar: Die Behandlung von Kindern und Adoleszenten mit Myasthenia
gravis sollte in ausgewiesenen Zentren erfolgen. Aus meiner Sicht sollten
Immunsuppressiva bei den Patienten nur in niedriger Dosis und nur, falls die
First-Line-Therapie mit Pyridostigmin und Steroiden nicht ausreicht, zum
Einsatz kommen.
Autoantikörper bei Patienten mit Myasthenia gravis (4)
Die meisten von uns gehen davon aus, dass eine einmalige Bestimmung von
z. B. Azetylcholinrezeptor-Antikörpern nichts über den individuellen
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Schweregrad eines Patienten mit Myasthenia gravis aussagt. Auf der anderen
Seite ist es doch so, dass z. B. eine Zunahme von solchen Autoantikörpern
darauf hinweist, dass eine klinische Verschlechterung bei den gegebenen
Patienten droht. Aus diesem Grund ist es interessant, dass in der
norwegischen Arbeitsgruppe aus Bergen eine longitudinale Analyse des
klinischen Schweregrades von Myasthenia gravis Patienten und deren
Azetylcholinrezeptor-Antikörper-Konzentrationen vorgenommen wurde. Im
Register wurde zunächst jeder Patient identifiziert, der in der Zeit 1983 – 2013
2 Bestimmungen seiner Azetylcholinrezeptor-Antikörper erfahren hatte. Der
Schweregrad der Myasthenia gravis wurde nach der Myasthenia gravis
Foundation of America Clinical Classification Scale festgelegt. Insgesamt
wurden 67 Patienten in die Studie aufgenommen, bei denen zumindest zwei
Azetylcholinrezeptor-Antikörpertests vorlagen und bei denen korrespondierend
der MGFA-Score ermittelt werden konnte. 56 Patienten erhielten
immunsuppressive Behandlung und 11 lediglich Pyridostigmin. Es bestand
eine positive Assoziation zwischen der Konzentration an AzetylcholinrezeptorAntikörpern und dem longitudinalen Myasthenia-Schweregrad für die Gruppe
der Immunsuppremierten, aber nicht für die, die lediglich Pyridostigmin
erhalten hatten. Der Score wurde im Übrigen immer schlechter, je länger die
Pateinten an Myasthenia gravis erkrankt waren.
Kommentar: Aus dieser Studie ist abzuleiten, dass zumindest bei Patienten,
die immunsupprimiert werden, der longitudinale Verlauf und die Registrierung
von Azetylcholinrezeptor-Antikörpern sehr gut mit dem klinischen Bild des
individuellen Patienten übereinstimmt, so dass durch die kontinuierliche
Bestimmung dieser Autoantikörper auch sehr wohl, wie oben bereits
angedeutet, klinische Verläufe vorhergesagt werden können.
Azetylcholinrezeptor-Antikörper bei okulärer Mysthenie (5)
Es ist allgemein bekannt, dass bei der okulären Myasthenie in der
überwiegenden Anzahl der Patienten keine Azetylcholinrezeptor-Antikörper
nachweisbar sind. Somit ist auch der sichere Nachweis einer okulären
Myasthenie bei weitem schwerer als der einer generalisierten Myasthenie. Die
koreanische Arbeitsgruppe machte sich zur Aufgabe, die klinische Signifikanz
von Azetylcholinrezeptor-Antikörper bei vermuteter okulärer Myasthenie in
Korea zu prüfen. Dazu konnten sie 144 Patienten rekrutieren, die zum größten
Teil eine Diplopie, zum Teil eine Ptose und nur bei 29 in der Gruppe beides
aufwiesen. Lediglich 14% der Patienten wiesen abnorme AzetylcholinrezeptorAntikörper auf. In den drei Gruppen, nämlich Patienten mit ausschließlich
Ptose, Diplopie oder beidem gab es diesbezüglich keine signifikanten
Unterschiede. 28% aller Patienten hatten abnorme Thyreoidea-Autoantikörper.
Somit zeigte diese Studie eine besonders geringe Anzahl an Patienten mit
positiven Azetylcholinrezeptor-Antikörpern. In Europa geht man von 30 – 50%
positiven Nachweis von Azetylcholinrezeptor-Antikörper bei okulärer
Myasthenie aus.
Titin-Antikörper bei früh- und späterkrankten Patienten mit Myasthenia
gravis (6)
Etwa 85% aller Patienten mit einer Myasthenia gravis weisen Antikörper gegen
Azetylcholinrezeptor auf. Antititin-Antikörper wurden insbesondere bei
Patienten mit Thymomen und schwerem Verlauf der Myasthenia gravis
gesehen. In dieser Studie aus Warschau sollte somit geprüft werden, inwiefern
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Antititin-Antikörper mit dem Schweregrad einer Myasthenia gravis bzw. einem
Thymom in früh- bzw. späterkrankten Myasthenia gravis Patienten korreliert. In
die Studie wurden 188 Frauen und 107 Männer im Alter von 12 – 89 Jahre
integriert. 164 Patienten hatten eine früh beginnende Myasthenia gravis, das
heißt, sie waren jünger oder gleich 50 Jahre alt. 131 erkrankten nach dem 50.
Lebensjahr. 26 Patienten wiesen ein Thymom auf. Die Schwere der
Myasthenie wurde mit der MGFA Skala festgelegt. Dazu wurden die
Thymushistologie, die Medikation und das subjektive klinische Bild der
Patienten registriert. Bei 27% aller Patienten konnten Antititin-Antikörper
nachgewiesen werden. Bei 54% aller Thymom-Patienten, lediglich bei 0,6%
der Nichtthymom- und früherkrankten Myasthenie-Patienten und bei 55% der
Späterkrankten konnten Titin-Antikörper nachgewiesen werden. Titin-positive
Patienten hatten häufiger bulbäre Symptome. Erstaunlicherweise war der
Schweregrad der Myasthenia gravis und der Bedarf an Immunsuppressiva
nicht positiv mit dem Antititin-Antikörpernachweis korreliert.
Kommentar: Zusammenfassend spricht auch diese Studie dafür, dass AntititinAntikörper einen hohen positiven prädiktiven Wert bei jung Erkrankten mit
Thymom aufweisen. Bei den Patienten ohne Thymom und positiven AntititinAntikörpern können sie lediglich als Marker einer spätmanifesten Myasthenia
gravis betrachtet werden und korrelieren nicht mit dem Schweregrad der
Myasthenie.
Klinische Aspekte der Patienten mit Muskel spezifischen Antikörpern in
der Myasthenia gravis (7)
Abbildung 1: Die neuromuskuläre Endplatte [aus Reddel SW et al. (2014) Curr Opin Neurol
27:558-565]
Etwa 5% aller Patienten mit einer Myasthenia gravis weisen Autoantikörper
gegen die Muskel-spezifische Tyrosinkinase auf. Die MuSK liegt in einem
Proteinkomplex in der postsynaptischen Membran der neuromuskulären
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Endplatte. Es scheint so zu sein, dass insbesondere während der Entwicklung
die MuSK wichtige Signale sendet, um eine vitale Endplatte zu generieren. Die
Autoantikörper scheinen die Assemblierung und Aktivierung der MuSK zu
blocken. In Mäusemodellen konnte ein Transfer dieser Antikörper mit daraus
resultierender Myasthenie nachgewiesen werden. MuSK-Antikörper positive
Patienten weisen Charakteristika dahingehend auf, dass sie häufig besonders
stark bulbäre und respiratorische Muskelschwäche aufweisen und eine hohe
Rate an myasthenen Krisen haben. Die beste Medikation scheint der
Plasmaaustausch, die Immunsuppression mit Kortikosteroiden und Rituximab
zu sein, wohingegen viele Patienten auf Cholinesteraseinhibitoren nicht positiv
reagieren.
Kommentar: Es lohnt sich sicherlich, bei Patienten mit einer so genannten
seronegativen Myasthenia gravis nach MuSK-Antikörpern dann zu fahnden,
wenn die Patienten insbesondere bulbäre oder respiratorische muskuläre
Probleme aufweisen. Dies ist deswegen nützlich, weil dann im Vergleich zur
Azetylcholinrezeptorantikörper-positiven Myasthenia gravis relativ rasch bei
Versagen von Cholinesterasehemmer auf andere Therapiegrundsätze wie z. B.
Steroide oder Immunsuppressiva gewechselt werden kann.
Wirkweise von MuSK-Antikörper (8)
An der motorischen Endplatte sind die muskelspezifische Tyrosinkinase und
das low-density-lipoprotein receptor-related protein 4 (Lrp4) eng miteinander
verknüpft. Neurales Agrin bindet und stimuliert die muskelspezifische Kinase.
In dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass Autoantikörper gegen MuSK an
ein strukturelles Epitop binden und danach eine Bindung zwischen MuSK und
Lrp4 verhindern, so dass eine Agrin-stimulierte MuSK-Phosphorylierung nicht
mehr möglich ist. Somit wird durch den Autoantikörper die Funktion der MuSK
unterbrochen. Es konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass die MuSK
Dimerisierung und Internalisierung dagegen durch die Antikörper nicht
beeinträchtigt wurden.
Lrp4 und die Funktion der neuromuskulären Endplatte (9)
Die neuromuskuläre Endplatte besteht aus einer feinen Interaktion von
motorischen Neuronen, Muskelfasern und Schwann-Zellen. Agrin ist ein
Heparansulfat-Proteoglykan, das von motorischen Neuronen sezerniert wird,
um die Endplatte zu differenzieren, was unter anderem das Clustering von
Azetylcholinrezeptoren und Synapsen mit beinhaltet. Mäuse, die kein Agrin
erthalten, können keine motorischen Endplatten bilden und nur primitive
Azetylcholinrezeptor-Cluster aufbauen. Agrin ist besonders hoch konzentriert
zwischen der post- und präsynaptischen Membran in der neuromuskulären
Endplatte. Agrin scheint eine Bindung an Lrp4 einzugehen und dann die MuSK
zu stimulieren.
In dieser Studie wurden Mäuse generiert, deren Lrp4-Gen im Muskel durch
Doxycyclin zerstört werden konnte. Die Autoren konnten nachweisen, dass
durch den Einsatz des Doxycyclin und der Zerstörung des Lrp4 Gens die
erwachsenen Mäuse muskelschwach wurden und kleine motorische Potenziale
im EMG zeigten. Die Azetylcholinrezeptorcluster waren fragmentiert mit
weniger Faltenbildung der neuromuskulären Endplatte und weniger
synaptischer Vesikel. Die neuromuskuläre Transmission war gestört und es
fand sich weniger synaptisches Agrin, so dass davon auszugehen ist, dass
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Lrp4 die Stabilität des synaptischen Agrin reguliert. Somit konnte aufgrund
dieser Studie gezeigt werden, dass Lrp4 essentiell für das Aufrechterhalten der
Struktur und der Funktion der neuromuskulären Endplatte ist und dass ein
Fehlen von Lrp4 im Erwachsenenalter allein ausreicht, myasthene Symptome
zu entwickeln.
Autoantikörper gegen Agrin in Myasthenia gravis Patienten (10,11)
Es ist davon auszugehen, dass etwa 80% aller Patienten mit einer
generalisierten
Myasthenia
gravis
Autoantikörper
gegen
Azetylcholinrezeptoren aufweisen. 50% der Azetylcholinrezeptor-Antikörper
negativen Patienten zeigten Antikörper gegen die muskelspezifische
Tyrosinkinase. Für die doppelseronegativen Myastheniesyndrom-Patienten
konnten 2011 erstmals Antikörper gegen das low-density lipoprotein receptorrelated protein 4 (Lrp4) identifiziert werden. Somit kann die Myasthenia gravis
durch Autoantikörper ausgelöst werden, die direkt an den Azetylcholinrezeptor
oder an Proteine, die in die Aggregation von Azetylcholinrezeptoren
eingebunden sind, ausgelöst werden. Nachdem Agrin, ein Matrixprotein, ein
Ligand von Lrp 4 ist, welches MuSK aktiviert und somit für die
Azetylcholinrezeptor-Aggregation essentiell ist, wollten die Autoren prüfen, ob
es auch Antikörper gegen Agrin bei Patienten mit Myasthenia gravis gibt.
Insgesamt wurde in 54 Seren von Patienten mit einer generalisierten
Myasthenie mittels eines ELISA-Testes nach Agrin-Antikörpern gefahndet. 30
der 54 Seren stammten von Patienten, die weder Azetylcholinrezeptor- noch
MuSK-Antikörper aufwiesen. 15 hatten erhöhte Anti-MuSK-Antikörper und 9
Antiazetylcholinrezeptor-Antikörper. 16 Seren von gesunden Freiwilligen
wurden als Kontrolle herangezogen. Insgesamt konnten 5 Seren mit erhöhten
Agrin-Antikörpern identifiziert werden. Dabei lag die Konzentration dieser
Antikörper zwischen 0,04 – 0,12 nM. Vier der fünf Agrin-positiven Seren waren
auch positiv für Anti-MuSK, 1 war positiv für AntiazetylcholinrezeptorAntikörper, 2 hatten erhöhte Lrp4 Autoantikörper.
Kommentar: Diese Arbeit ist äußerst spannend, da sie zeigt, dass manche
Myasthenie-Patienten zusätzlich zu Antikörpern gegen Azetylcholinrezeptoren,
MuSK oder Lrp4 auch Antikörper gegen Agrin ausbilden.
Einen ähnlichen Ansatz wählten amerikanische Kollegen (11), die bei 93
Patienten mit einer Myasthenia gravis und bekannten Antikörper-Titern gegen
Azetylcholinrezeptoren muskel-spezifische Tyrosin-Kinase und Lrp4 sowie bei
Kontrollpatienten (gesunde und Patienten mit anderen neurologischen
Erkrankungen), Agrin-Antikörper bestimmten. Keiner der 25 gesunden oder 55
kontrollneurologischen Patienten wies Agrin-Antikörper auf. Zwei von 4 triplenegativen Myasthenia gravis Patienten, das heißt, Patienten ohne Antikörper
gegen Azetylcholinrezeptor, MuSK oder Lrp4 wiesen Agrin-Antikörper auf und
5 von 83 Patienten mit Azetylcholinrezeptor-Antikörper assoziierter Myasthenia
gravis zeigten Agrin-Antikörper. Keiner der Patienten mit MuSK-Antikörper (6
Patienten) wies Agrin-Antikörper auf. Die Autoren konnten zeigen, dass die
Agrin-Antikörper zu einer Inhibierung der MuSK-Phosporylierung und des
Azetylcholinrezeptor-Clustering in Muskelzellen führte.
Kommentar: Diese Studie belegt erneut, dass auch Agrin-Antikörper in die
zunehmend länger werdende Liste der Myasthenia gravis auslösenden
Antikörper mit aufzunehmen ist.
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Abbildung 2: Agrin-Antikörper bei Patienten mit Myasthenia gravis [aus Zhang B et al.
(2014) PLOS ONE 9(3):e91816]
Kombination von Antikörpern bei Myasthenia gravis (12)
Im vergangenen Jahr wurden Patienten beschrieben, die zum Einen
doppelsero-positiv für Azetylrezeptorantikörper und low density-receptorrelated protein 4 waren. Alle diese bisher beschriebenen doppelsero-positiven
Patienten waren Männer, die eine generalisierte Muskelschwäche sowie einen
besonderen Befall der Gesichtsbulbären- und Extremitätenmuskulatur
aufwiesen. Aufgrund der noch sehr geringen Anzahl solcher Patienten ist
allerdings eine Generalisierung des klinischen Bildes nicht möglich.
In einer weiteren Studie (13) wurden bei Patienten mit einer okulären
Myasthenie bei 3 Kaukasiern positive Lrp4 Antikörper festgestellt. Alle
Patienten konnten erfolgreich mittels Azetylcholinesterase-Inhibitoren und
Prednison behandelt werden und 2 Patienten erzielten eine komplette
Remission ihrer Symptome, wobei der dritte Patient noch milde Doppelbilder
zurückbehielt. Eine Generalisierung der Erkrankung wurde hier nicht
festgestellt.
Kommentar: Somit wäre aus dieser Studie zu schlussfolgern, dass bei
Patienten mit einer okulären Myasthenie sehr wohl nach Lrp4 Antikörpern
gefahndet werden sollte.
Der nächste Autoantikörper bei Myasthenia gravis: Cortactin (14)
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Wie oben bereits mehrfach ausgeführt, weist zwar die überwiegende Anzahl
von Pateinten mit einer Myasthenia gravis Azetylcholinrezeptor-Antiköper oder
MuSK-Antikörper auf. Es gibt aber nach wie vor eine Vielzahl von Patienten,
die doppelsero-negativ sind. Bei diesen Patienten würde man, insbesondere
bei okulärer Manifestation an Lrp4 Antikörper oder Agrin-Antikörper denken
müssen. Die Arbeitsgruppe aus Barcelona hat sich hier nun die Aufgabe
gestellt, einen weiteren Bestandteil der neuromuskulären Endplatte, nämlich
das Protein Cortactin, zu analysieren. Cortactin agiert abwärts der Agrin MuSK
vermittelten Azetylcholinrezeptor Assemblierung. Die Autoren untersuchten 91
Seren von Patienten mit einer seronegativen Myasthenia gravis und von 103
Patienten mit einer seropositiven Myasthenia gravis und konnten durch einen
ELISA-Test bei 19,7% der Patienten mit einer seronegativen Myasthenia gravis
Antikörper gegen Cortactin nachweisen. Dies steht im Gegensatz zu 4,8% bei
Patienten mit seropositiver Myasthenia gravis. Bei etwa 12,5 % der Patienten
mit anderen Autoimmunerkrankungen konnten ebenfalls Cortactin-Antikörper
nachgewiesen werden, was zu der niedrigen Zahl von 5,2% bei Gesunden
kontrastiert. Somit könnte auch das Cortactin in der Entstehung einer
Myasthenia gravis eine wichtige Rolle spielen.
Abbildung 3: Anti-Cortactin Antikörperbestimmung bei Patienten mit neurodegenerativen
Autoimmunerkrankungen [aus Gallardo E et al. (2014) Autoimmunity Reviews 13:10031007] .
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12.1.3
Klinischer Verlauf und Therapie der Myasthenia gravis
Einmal Myasthenie immer Myasthenie? (15)
Der Verlauf einer Myasthenia gravis ist außerordentlich schwierig zu
prognostizieren. In dieser indischen Studie wurden 100 Patienten mit einer
Myasthenia gravis bezüglich ihrer pharmakologischen Remission,
Verschlechterungen, myasthenen Krisen bezüglich Alter bei Krankheitsbeginn,
Schweregrad der Erkrankung, Erkrankungsschwere bei Beginn, AcetylcholinRezeptor-Antikörper positivem Nachweis, Thymektomie Status, Dauer der
Erkrankung, Pharmakotherapie und Anzahl myasthener Krisen sorgfältig
evaluiert. In der Studie konnte gezeigt werden, dass innerhalb des ersten
Jahres die meisten Remissionen gelangen, danach zunehmend weniger. Die
okuläre Myasthenie hat eine deutlich niedrigere Gefahr, klinisch schlechter zu
werden und eine hohe Option, komplett zu remittieren. Bei einer
generalisierten Myasthenie konnten die indischen Kollegen seltener das
Absetzen von Medikamenten erreichen. Innerhalb des ersten Jahres war die
Wahrscheinlichkeit einer Krankheitsverschlechterung am höchsten. Das Risiko
von Exazerbationen war unvorhersehbar und konnte selbst nach längerem
klinischen stabilen Befund auftreten. Häufig war sie allerdings mit einer
Reduktion der immunsuppressiven Therapie verknüpft. Der Krankheitsverlauf
war zwischen Jugendlichen und Erwachsenen Myasthenie-Patienten nicht
unterschiedlich. Es wurde propagiert, den Patienten permanent
Immunmodulation anzubieten.
Komorbidität bei Myasthenia gravis (16)
Die Myasthenia gravis kann in Untergruppen wie Patienten die jünger als 50
oder älter als 50 Jahre bei Krankheitsbeginn sind, unterteilt werden. Darüber
hinaus können die Patienten entsprechend des Vorliegens eines Thymoms in
Untergruppen eingeteilt werden. Manche Patienten weisen eine rein okuläre
Symptomatik auf, manche Patienten sind gegen Acetylcholin-RezeptorAntikörper negativ und gegen MuSK und LRP4 dagegen positiv. Die Autoren
aus der englischen Arbeitsgruppe in Bergen wollten analysieren, wie bei
diesen Untergruppen die Komorbidität, z. B. bezüglich anderer
Autoimmunerkrankungen welche Komorbidität vorliegt. Sie konnten zeigen,
dass entsprechend unserer eigenen Erfahrungen Schilddrüsenerkrankungen,
ein systemischer Lupus erythematodes und die rheumatoide Arthritis die
häufigste Komorbiditäten waren. Auch Kardiomyositiden und leichte
Herzfunktionsstörungen wurden bei Patienten mit Thymomen oder bei spät
beginnender Myasthenie beschrieben, ohne dass sie ein nennenswertes Risiko
aufweisen. Bei Patienten, die ein Lymphoepitheliom des Thymus aufwiesen,
bestand ein erhöhtes Risiko für eine weitere Krebserkrankung. Generell konnte
festgestellt werden, dass zwar ein erhöhtes Thymomrisiko bei MyastheniPatienten
bestand,
aber
nicht
eine
generalisiert
höhere
Krebswahrscheinlichkeit vorlag. In ihrer Kohorte war die Thymektomie sicher
für junge und Langzeiterkrankte.
Kommentar: Auch diese Studie belegt, dass insbesondere nach anderen
Autoimmunerkrankungen und bei Vorliegen eines Thymoms nach weiteren
Krebserkrankungen bei Patienten mit Myasthenia gravis zu suchen ist.
Acetylcholinesterase-Hemmer bei MuSK-Antikörper positiver Myasthenia
gravis (17)
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Etwa die Hälfte aller Patienten mit Acetylcholin-Rezeptor-Antikörper negativer
Myasthenia gravis weisen Antikörper gegen die muskelspezifische
Tyrosinkinase auf. Bekanntermaßen reagieren viele dieser Patienten nicht
positiv auf die Einnahme von Acetylcholinesterase-Hemmer. Es kommt zum
Teil darunter sogar zu einer Verschlechterung der Myasthenia gravis
Symptomatik und cholinergischen Nebenwirkungen. Die elektrophysiologische
Antwort zu diesen Acetylcholinesterase-Hemmern ist allerdings bisher nicht
untersucht worden. Die Autoren hypothetisierten, dass somit MuSK-Antikörper
positive
Myasthenia
gravis-Patienten
sensitiver
gegenüber
Acetylcholinesterase-Hemmern sind und wollten dies sowohl klinisch als auch
elektrophysiologisch analysieren. Sie untersuchten dazu retrospektiv die
klinischen Aufzeichnungen und elektrodiagnostischen Befunde von 17
Myasthenia gravis-Patienten, wovon 10 MuSK-Antikörper positiv und 7 MuSKAntikörper negativ waren. Die Frequenz der Intoleranz gegenüber
Pyridostigminbromid war bei MuSK-Antikörper positiven Patienten deutlich
höher mit 50 % gegen 0 % bei den MuSK-Antikörper negativen Patienten.
Interessanterweise zeigten die MuSK-Antikörper positiven Patienten bei 40 %
der
Neostigmin-Tests
ein
negatives
Ergebnis.
Repetitive
Muskelaktionsableitungen traten nach Neostigmin-Test bei MuSK positiven
Patienten häufiger auf, mit 90 % gegenüber MuSK negativen Patienten mit 14
%. Die Frequenz eines hochfrequenten stimulationsinduzierten InkrementMuster war bei MuSK-Antikörper positiven Patienten mit 100 % gegenüber
17,7 % der MuSK-Antikörper negativen Patienten eine äußerst interessante
Beobachtung.
Kommentar: Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass MuSK-Antikörper
positive Patienten eine hyperaktive Reizantwort auf AcetylcholinesteraseHemmer aufweisen. Das Auftreten von repetitiven Muskelaktionspotentialen
und insbesondere von einem Dekrement-Inkrement-Muster könnten
spezifische neurophysiologische Charakteristika der MuSK-Antikörper
positiven Patienten sein.
Cholinesterase-Hemmung als Behandlung der Mysthenia gravis, ein
Cochrane Review (18)
Es ist unstrittig, dass Acetylcholinesterase-Hemmer einen positiven Einfluss
auf die Symptomatik von Patienten mit Myasthenie haben und deren
Muskelschwäche signifikant verringern. Auf der anderen Seite gibt es wenig
Information zur Langzeiteffektivität, Dosierung und den Nebenwirkungen dieser
Präparate, so dass in diesem Cochrane Review die Effektivität der
Acetylcholinesterase-Hemmer bei sämtlichen Subgruppen der Myasthenia
gravis untersucht wurden. Mit Stichtag 8. Juli 2014 wurden die bekannten
wissenschaftlichen Datenbasen nach randomisierten, kontrollierten Studien, in
denen Acetylcholinesterase-Hemmer bei Myasthenia gravis zum Einsatz
gekommen waren, ausgewählt. Darüber hinaus kontaktierte das Konsortium
die Autoren der ausgesuchten Arbeiten, um sie nach weiteren Publikationen,
die möglicherweise übersehen worden waren, zu fragen. Bei den Studien, die
in den Review-Prozess eingingen, handelt es sich um randomisierte oder quasi
randomisierte Studien. Als primäre Effektivitätsparameter wurde die
Verbesserung der Muskelkraft unter den Inhibitoren innerhalb von 14 Tagen
gewertet. Sekundäre Ergebnisparameter waren die Verbesserung der
Muskelkraft später als zwei Wochen nach Beginn der Behandlung,
Veränderungen im quantitativen Myasthenia gravis Score innerhalb von 14
Tagen und später sowie des Myasthenia gravis Assoziation of America postNeuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
intervention Status. Darüber hinaus wurden Nebenwirkungen festgehalten. Es
wurde keine einzige große randomisierte oder quasi randomisierte Studie mit
Acetylcholinesterase-Inhibitoren bei generalisierter Myasthenie gefunden.
Lediglich eine Cross-Over-Studie mit intranasalem Neostigmin bei 10 Patienten
wurde in Abstractform gefunden. Die Cochrane Reviewer schließen, dass die
positive Wirksamkeit von Acetylcholinesterase-Hemmern so offensichtlich ist,
dass eine Finanzierung einer doppelblinden Studie nicht zu erwarten sei.
Kommentar: Der Einsatz von Cholinesterse-Hemmern bei Myasthenia Gravis
ist für uns so offensichtlich, dass uns gar nicht bewusst ist, dass es sich hierbei
um eine Therapieform handelt, die nie nach modernen Doppelblind-Kriterien
evaluiert wurde.
Wirksamkeit von oralen Corticosteroiden zur Behandlung der Myasthenia
gravis (19)
Diese japanische Studie machte es sich zur Aufgabe zu prüfen, wie effektiv
orales Prednisolon bei Patienten mit Myasthenia gravis bezüglich der
Verbesserung der Muskelkraft ist. Sie untersuchten 472 Patienten mit
Myasthenie. Die Autoren konnten feststellen, dass hohe Prednisolon-Dosen
und lange Therapiezeiten nicht notwendigerweise zu einer Verbesserung des
klinischen Bildes beitrugen. Somit sollte bei fehlender guter Therapieantwort
unter oralem Prednisolon die Dosis dringlich gesenkt werden und andere
Therapiemodalitäten, wie z. B. Plamapherese oder Immunglobuline zur
Anwendung kommen.
Diesem Thema widmet sich auch ein Artikel aus Berlin, wo die Frage gestellt
wird, ob Glucocorticoide wann, wie und in welcher Dosis bei Myasthenia gravis
verwendet werden sollen (20). Zusammengefasst kann man festhalten, dass
Glucocorticoide meist zu einer raschen Verbesserung der myasthenen
Symptome führen, das Risiko einer Generalisierung senken, Symptome vor
Thymektomie verbessern und in niedriger bis mittelhoher Dosis relativ sicher
sind. Als Nachteile muss festgehalten werden, dass es keine guten
randomisierten Studien gibt. Es gibt keine eindeutige Empfehlung bezüglich
Dosis und Reduktion über die Zeit, gefährliche Nebenwirkungen können
ebenfalls auftreten.
Präoperative niedrige Steroid-Therapie verbessert respiratorische
Insuffizienz nach Thymektomie bei generalisierter Myasthenia gravis (21)
In dieser japanischen Studie konnte bestätigt werden, dass eine Annahme, die
von anderen Autoren ebenfalls getroffen worden war, wonach der Einsatz von
niedrig dosierten Glucocorticoiden vor einer Thymektomie zur einem
postoperativ besseren Ergebnis, insbesondere bezüglich der respiratorischen
Insuffizienz führt, richtig ist. Dies war insbesondere für Patienten mit
Hochdosissteroid-Therapie gezeigt worden. Die Autoren machten sich
deswegen zur Aufgabe, bei 37 Patienten eine Niedrigdosis-Therapie bezüglich
deren Effektivität zu prüfen. Sie applizierten Glucocorticoide, nämlich 30 mg
pro Tag als Maximaldosis, die die Patienten unmittelbar vor der Thymektomie
erhielten. Es gelang der Nachweis, dass auch die Verwendung von niedrig
dosiertem Glucocorticoid präoperativ zu einem deutlich verbesserten
postoperativen Outcome führt, als dies für die nicht Steroid-therapierten
Patienten der Fall war. Die Autoren schlussfolgern, dass somit nicht nur
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Hochdosissteroid-Therapie, sondern auch niedrig bis mittelhohe Steroid-Dosen
für einen positiven postoperativen Verlauf bei Thymektomie ausreichend sind.
Intravenös applizierte Immunglobuline bei Myasthenia Gravis (22)
In den Vorjahren wurden mehrere Studien publiziert, die die Effektivität von
intravenös
applizierten
Immunglobulinen,
Plasmapherese
und
Immunadsorption bei Patienten mit einer Verschlechterung der Myasthenia
gravis oder myasthenen Krise bewiesen. Dagegen sind Auskünfte über die
Langwirksamkeit von Immunglobulinen nur schwer zu erhalten. Aus diesem
Grunde wurde prospektiv bei 16 Indexpatienten mit chronischer und nicht
ausreichend
kontrollierter
Myasthenia
gravis
unter
Standard
immunsuppressiver Therapie und symptomatischer Therapie die Antwort auf
intravenös applizierte Immunglobuline gemessen, indem der quantitativen
Myasthenia gravis Score (QMG) verwendet wurde. Die 16 Patienten wurden
mit einer initialen Dosis von 0,4 g pro kg Körpergewicht pro Tag an fünf
konsekutiven Tagen infundiert. Danach erhielten sie alle vier bis zwölf Wochen
einmalig 0,4 g pro kg Körpergewicht appliziert. Während dieser Therapie kam
es zu einer kontinuierlichen permanenten Reduktion des QMG Scores um etwa
50 % unter Immunglobulin-Langzeittherapie.
Kommentar: Der Einsatz des QMG-Scores und einer LangzeitImmunglobulintherapie ist aufgrund dieser Arbeit bei Patienten mit Myasthenia
gravis dienlich und gerechtfertigt.
Effektivität und Sicherheit von Rituximab bei Myasthenia gravis (23)
Rituximab ist ein Therapeutikum der dritten Linie bei Myasthenia gravis.
Insbesondere bei MuSK-Antikörper positiven Patienten scheint Rituximab eine
hohe Effektivität aufzuweisen. Rituximab ist ein monoklonaler Antikörper, der
spezifisch gegen das CD20 B-Cell Oberflächengen gerichtet ist. In dieser
Arbeit wurde ein systematischer Review und Metaanalyse der Effektivität und
Sicherheit von Rituximab bei Patienten mit Myasthenia gravis vorgenommen.
Es fand sich eine Effektivitätsrate von etwa 84 %, wobei erneut die MuSKAntikörper positiven besonders gut respondierten und interessanterweise auch
die seronegativen Patienten mit 86 % Ansprechrate eine gute Effektivität
aufwiesen. Sieben von 168 Patienten, d.h. lediglich 4,2 % wiesen
nennenswerte Nebenwirkungen wie Herpes Zoster, Bronchitis, Pneumonie,
Verlängerte B-Cell Depletion und Herzversagen auf.
Kommentar: Dieser sorgfältige Review unterstreicht erneut die hohe
Effektivität von Rituximab zur Therapie von sogenannten therapierefraktären
Myasthenie-Patienten.
Induktion durch intravenöses Cyclophosphamid bei therapierefraktärer
Myasthenia gravis (24)
In dieser australischen Studie werden acht Patienten beschrieben, die eine
sogenannte therapierefraktäre Myasthenia gravis bei Verwendung
konventioneller Immuntherapie hatten. Bei diesen Patienten wurden sechs
Zyklen einer intravenösen Cyclophosphamid-Therapie von 0,75 g pro m2 alle
vier Wochen durchgeführt. Nach dieser Induktion erhielten die Patienten orale
Immunsuppressiva. Sechs der untersuchten acht Patienten waren bereits nach
drei Monaten Behandlung deutlich gebessert. Vier Patienten blieben in einer
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
klinischen Remission (längste Beobachtungszeit 31 Monate). Zwei Patienten
reagierten nur teilweise und ein Patient hatte ein Wiederauftreten schwerer
myasthener Symptome nach 11 Monaten. Zwei Patienten reagierten auf die
intravenöse Cyclophosphamid-Therapie nicht positiv. Das Cyclophosphamid
wurde von den Patienten gut toleriert, der Leukozytennadir war unter
Cyclophosphamid-Therapie dann hoch, wenn die Patienten gut auf das
Cyclophosphamid ansprachen. Bei positiver Reaktion war auch die
Erniedrigung der Acetylcholinrezeptor-Antikörper deutlich höher als bei den
Nichtrespondern.
Kommentar: Diese Studie belegt, dass bei sogenannten therapierefraktären
Patienten es durchaus Sinn macht, eine intravenöse CyclophosphamidTherapie dazwischen zu schalten und dann auf immunsuppressive Therapie
(oral) wieder zurückzugreifen.
Langzeiteffektivität und Grenzen der Cyclophosphamid-Therapie bei MG
(25)
In dieser indischen Studie wurde die Langzeiteffektivität von Cyclophosphamid
bei Patienten mit Myasthenia gravis studiert. Insgesamt wurden 22 Patienten
mit einer generalisierten Myasthenia gravis, die Cyclophosphamid erhalten
hatten, bezüglich Sicherheit und Effektivität studiert. Zwölf dieser Patienten
hatten
zumindest
sechs
Pulsbehandlungen
von
intravenösem
Cyclophosphamid und alle reagierten positiv nach sechs Monaten. Nach einem
Jahr berichteten lediglich sieben dieser zwölf Patienten über eine
persistierende gute klinische Symptomatik. Fünf davon hatten orales
Pyridostigmin absetzen können. Innerhalb der darauf folgenden 57 Monate
entwickelte mit einer Ausnahme jeder der Patienten eine erneute
Verschlechterung und benötigt alternative Immunmodulation. Somit war in
dieser Studie bei den zwölf Patienten die mittlere Zeit bis zur Remission nach
Beginn einer intravenösen Pulscyclophosphamid-Therapie 3,6 Monate und die
mittlere
Remissionszeit
betrug
20,3
Monate.
46
nennenswerte
Nebenwirkungen wurde bei elf Patienten im Rahmen von 127
Cyclophosphamid-Infusionen berichtet. Die meisten dieser Nebenwirkungen
konnte symptomatisch behandelt werden. Bei vier Patienten musste
Cyclophosphamid abgesetzt werden.
Kommentar: Eine intravenöse Pulstherapie mit Cyclophosphamid scheint
effektiv und gut tolerabel zu sein, allerdings ist das Sistieren einer
Langzeitimmunsuppression auch nach Cyclophosphamidpuls-Therapie
offensichtlich nicht möglich.
Bortezomib von Behandlung von Myasthenia gravis (26)
Bortezomib ist ein potenter Proteasom-Inhibitor, der derzeit benutzt wird, um
maligne Plasmazellen bei Patienten mit multiplen Myeloma zu eliminieren.
Bortezomib kann aber auch Autoantikörper bei Lupus- und Myasthenia gravisModell depletieren. In dieser Studie konnte gezeigt werden, dass Bortezomib in
einer Konzentration von 10 nM und höher Plasmazellen von kultivierten
Thymuszellen von 9 früherkrankten Myasthenia Gravis Patienten zerstörten
und konsistent die Spontanproduktion nicht nur der Acetylcholin-RezeptorAntikörper, sondern auch der gesamten Immunglobuline Typ D anhielt. Aus
dieser grundlagenwissenschaftlichen Arbeit kann somit geschlussfolgert
werden, dass vielleicht Bortezomib eine neue Therapieoption für Patienten mit
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Myasthenia gravis und anderen autoimmunvermittelten oder allergischen
Erkrankungen sein könnte. Dies sollte dann insbesondere niedrigdosiert und
kurzfristig zur Anwendung kommen.
Internationales Konsortium zur Forschung der Thymusmalignität (27)
Ein internationales Konsortium wurde gegründet, um bei Patienten mit
Thymom, Thymuskarzinom oder Thymuskarzinoid wertvolle Hinweise
bezüglich Prognose, Komorbidität und vielem mehr zu generieren. Über eine
sechsmonatige Periode schlossen sich 47 Akademische Institutionen aus 15
Ländern zusammen und konnten 6.097 Patienten mit Thymusmalignidität
sammeln. Bei Patienten mit Thymom waren es gleich viele Männer und
Frauen, wohingegen bei Thymuskarzinom die Männer genauso wie beim
Karzinoid in der Mehrzahl waren. 99 % aller Fälle wurden operativ therapiert.
38 % aller Patienten mit einem Thymom hatten eine Myasthenia gravis,
wohingegen bei Thymuskarzinom und Thymuskarzinoid es 5 % und weniger
waren. Die mittlere Überlebenszeit betrug etwa 19 Jahre bei Thymomen,
sieben Jahre bei Thymuskarzinom und 7,5 Jahre bei Thymuskarzinoid.
Kommentar: Diese Studie zeigt, dass durch internationale Kollaboration
innerhalb von kürzester Zeit äußerst wertvolle Hinweise über die Situation von
Patienten mit Thymom oder Thymuskarzinom gewonnen werden können.
Transsternale Thymektomie (28)
Nach wie vor ist die Thymektomie umstritten, aber doch eine anerkannte
Therapieoption bei Patienten mit Myasthenie, insbesondere bei denen, mit
einem Thymom. Die transsternale Thymektomie ist in den letzten Jahren als
eventuell zu invasiv beschrieben worden. Auf der anderen Seite kann in
diesem Artikel überzeugend nachgelesen werden, dass die transsternale
Inzision immer noch der Goldstandard für Patienten bleibt, die invasiv
wachsende Thymome haben, wo hingegen die nicht so invasiven
Operationsmethoden bei Patienten mit frühen Phasen eines Tumors zur
Anwendung kommen könnten. Sicherlich kann durch diesen Zugangsweg eine
verlässlichere Inspektion und Entfernung sämtlichen verdächtigen Gewebes
von der Thyreoidea bis zum Diaphragma garantiert werden als dies für die
Roboter-assoziierte nichtinvasive Therapie (29) möglich ist.
Roboter-assistierte Thymektomie (29)
In vielen internationalen Zentren ist mittlerweile die Roboter-assoziierte
Thymektomie verfügbar. In den Vorjahren hatte ich über mehrere dieser
Studien berichtet und zeigen können, dass diese Form der nichtinvasiven
Thymektomie zu einem deutlich kürzeren Krankenhausaufenthalt und deutlich
geringerem Blutverlust führt. Andererseits muss kritisch betont werden, dass
die Roboter-assoziierte Thymektomie keine optimale Garantie für Patienten mit
weit ausläufigen Thymomen bietet. In dieser retrospektiven Studie wurde bei
125 Patienten mit Myasthenia gravis die mit dem Da Vinci System Roboterassoziiert thymektomiert worden waren, bezüglich der Effektivität berichtet.
Insgesamt waren in der Studie 95 Frauen und 30 Männer. Hundert der
Patienten konnten ein Jahr postoperativ noch einmal untersucht werden. Im
Mittel dauerte die Operation zwei Stunden. Es gab keine nennenswerten
perioperativen Komplikationen oder gar Todesfälle. Die mittlere postoperative
Krankenhausdauer betrug drei Tage. 33 % der Patienten zeigten
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Thymusrestgewebe, 42 % eine follikuläre Hyperplasie, 24 % ein Thymom, 1 %
Lipom und 1 % eine Zyste. Klinische Folgestudien zwischen 12 und 104
Monate nach der Operation zeigten bei 77 % der Patienten einen guten
neurologischen Zustand. Eine Dreijahresremissionswahrscheinlichkeit liegt bei
28 %. Auch in dieser Studie konnte nachgewiesen werden, dass insbesondere
die Patienten, die kurz vor der Thymektomie Glucocorticoide erhalten hatten,
eine besonders hohe Remissionsrate aufwiesen.
Kommentar: Auch diese Studie belegt, dass Roboter-assoziierte
Thymektomien sicher durchführbar sind. Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass
vor diesem Eingriff eine Glucocorticoidbehandlung durchgeführt werden sollte.
Es gab keinen signifikanten Hinweis darauf, dass eine etwas prolongierte
Thymektomie sich negativ bezüglich der Remissionsrate auswirkt.
Achtjährige Follow up Studie von Patienten mit Thymektomie (30)
Obwohl die Thymektomie zu den anerkannten Therapieverfahren bei Patienten
mit Myasthenia gravis gehört, gibt es sehr wenige Langzeituntersuchungen. In
dieser chinesischen Studie wurde deswegen bei 306 Patienten die in der Zeit
von 1984 bis 2011 in Wuhan eine Thymektomie erfuhren, eine klinische
Verlaufsbeobachtung durchgeführt. 174 Patienten hatten ein Thymom, 132
Patienten kein Thymom. Jeder Patient wurde individualisiert pharmakologisch
behandelt. Während der perioperativen Periode starben neun Patienten und
297 Patienten konnten bis zu 8,6 Jahre nach der Operation weiter beobachtet
werden. 81 % dieser Patienten zeigten acht Jahre nach der Operation eine
zufriedenstellende Effektivität, 8 % waren verstorben und etwa 11 % der
Patienten waren nicht deutlich gebessert oder zeigten eine Verschlechterung
ihres Krankheitsbildes. Als besonders günstig für das Langszeitoutcome war
das Auftreten von okulären Symptomen vor der Thymektomie, kein
vorhandenes Thymom und eine fehlende Komorbidität. Es ist auch interessant
darauf hinzuweisen, dass insbesondere die Patienten, die kein Thymom
aufwiesen, eine stabile Remission erreichten, verglichen zu denen mit
Thymom.
Kommentar: Eine großflächige Thymektomie zusammen mit Immunotherapie
ist für das Langzeitoutcome, die wohl beste Kombination. Insbesondere
Patienten ohne Thymom zeigen eine besonders gute Prognose. Trotz dessen
führte auch in dieser Studie das Absetzen von Immunsuppressiva zu einem
Wiederauftreten myasthener Symptome.
Verbessert Re-Thymektomie eine therapierefraktäre Myasthenia gravis?
(31)
In dieser Review-Arbeit wurde der Frage nachgegangen, ob eine ReThymektomie die Symptome bei Patienten mit einer refraktären Myasthenie
nach bereits erfolgter Thymektomie verbessern hilft? Insgesamt wurden 189
Publikationen gefunden, die in den Fokus dieser Fragestellung passten. Alle
Studien waren verständlicherweise klein und beinhalteten vier bis 21 Patienten.
Häufig waren es retrospektive und monozentrische Studien. In den Studien war
darüber hinaus eine nennenswerte Heterogenität festzustellen. Das Intervall
zwischen der ersten und zweiten Operation war zwischen weniger als ein Jahr
und mehr als 10 Jahre. Meist war bei erstem operativen Eingriff ein
transzervikaler, transsternaler oder subssternaler Zugang gewählt worden. Die
medikamentöse Therapie vor der Re-Thymektomie reichte ausschließlich von
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Acetylcholinesterase-Hemmer
bis
zu
zytotoxischer
Therapie
und
kontinuierlichem Plasmapheresen. Der Schwergrad der Symptome reichte von
Ossermann Klasse 2a bis 5. Bei der Re-Thymektomie kam es zu
Resternotomie, Thorakoskopie oder Kombination von Beidem. Keiner der
Patienten verstarb nach Re-Thymektomie. Lediglich in einer Studie wurde eine
komplette Remission in zwei Patienten berichtet. 52 bis 95 % der studierten
Patienten zeigten eine Verbesserungstendenz.
Kommentar: Aus dieser Studie kann geschlussfolgert werden, dass eine ReThymektomie relativ sicher ist, allerdings kommt es auch darunter äußerst
selten zu einer kompletten Remission, allerdings bei bis zu einem ¾ aller
Patienten zu einer deutlichen Befundverbesserung. Diese Verbesserung
scheint insbesondere bei den Patienten zu gelingen, die Thymusrestgewebe
noch vor der Reoperation aufwiesen.
Soll somit thymektomiert werden? (32)
Trotz der in sämtlichen Leitlinien empfohlenen Thymektomie gibt es nach wie
vor viele unbeantwortete Fragen bezüglich des Nutzens einer Thymektomie.
Es muss zwischen operativem Risiko und klinischer Verbesserung des
Patienten, der zu erwartenden Reduktion der Medikamente und des
geeigneten Eingriffsweges bei jedem einzelnen Patienten die möglichst
optimale Vorgehensweise gefunden werden. Ermutigend ist in diesem Kontext,
dass es doch einige Studien gibt, die eindeutig belegten, dass durch die
Thymektomie signifikant häufiger als ohne Thymektomie eine komplette
Remission der Myasthenia gravis gelang.
12.1.4 Okuläre Myasthenie
EFNS/ENS Guidelines für okuläre Myasthenie (33)
Im vergangenen Jahr wurden von der EFNS/ENS Leitlinien zur Behandlung
der okulären Myasthenie publiziert. Definiert wurde die okuläre Myasthenie als
eine Erkrankung die lediglich die extrinsischen Augenmuskeln betrifft und zu
Doppelsehen und Lidheberschwäche führt. Die initiale Behandlung sollte durch
Pyridostigmin erfolgen. Wenn dies nicht ausreicht, sollten orale
Glucocorticosteroide hinzugefügt werden, bevorzugt im umtägiger
Applikationsform. Wenn dies zu keiner ausreichenden Symptomkontrolle führt,
müssen Hochdosissteroidgaben erwogen werden bzw. Azathioprin hinzugefügt
werden. Auch bei der okulären Myasthenia gravis soll nach einem Thymom
gefahndet werden. Sollte ein solches nachgewiesen werden, wird eine
Thymektomie empfohlen. Bei Nichtvorliegen eines Thymoms ist die
Thymektomie bei der okulären Myasthenie umstritten. Steroide und
Thymektomie könnten die okuläre Myasthenie modifizieren und eine
Generalisierung verhindern.
12.2 Polymyositis/Dermatomyositis/Einschlusskörpermyositis
12.2.1 Diagnostik von Polymyositis (PM) und Dermatomyositis (DM)
Prävalenz, Diagnostik und klinische Charakteristiken der adulten
Polymyositis und Dermatomyositis in Norwegen (34)
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Nicht nur in Norwegen ist die Zahl an Patienten mit Dermatomyositis und
Polymyositis größtenteils unbekannt. Wir haben sehr wenige Daten zur
Prävalenz dieser beiden Erkrankungen, so dass diese Studie, die in Süd-OstNorwegen durchgeführt wurde, wo eine Population von 2,64 Million Menschen
lebt, von hoher Releva nz
ist.
Entsprechend
der
norwegischen
Gesundheitsversorgung werden sämtliche Patienten mit Polymyositis und
Dermatomyositis in Hospitälern betreut, so dass unter Heranziehung des
ICD10-Codes (Myositis) möglich wurde, in den in Süd-Ost-Norwegen
gelegenen
Krankenhäusern
die
entsprechenden
Krankenunterlagen
einzusehen, um zu prüfen, ob die Peter & Bohan bzw. Targoff
Klassifikationskriterien für PM/DM erfüllt waren. Mittels des ICD-10
Programmes konnten zunächst 3160 potenzielle Myositis-Patienten
identifiziert werden. Lediglich 208 erfüllten dann die Peter & Bohan Kriterien
und 230 die Targoff Kriterien, wovon 100 eine Polymyositis und 130 eine
Dermatomyositis
aufwiesen.
Bei
56
Todesfällen
während
der
Observationsperiode von 2003 – 2012 konnte somit eine Punktprävalenz für
PM/DM von 8.7 pro 100 000 gewonnen werden. Myositis spezifische
Antikörper wie Jo-1, PL-7, PL-12, SRP und MI-2 konnte bei 53% der Patienten
nachgewiesen werden, wohingegen 87% ein pathologisches Muskel-MRT
aufwiesen. Sehr häufig wurden Muskelschmerzen (75%), Arthritis (41%),
Dyspnoe (62%) und Dysphagie (58%) nachgewiesen. Insbesondere die
Patienten, die positiv für Anti-Jo-1 waren (bei 39% der DM-Patienten
vorliegend und bei 22% der PM-Fälle) zeigten eine hohe Assoziation zu
Dyspnoe, Arthritis und Handwerkerhände.
Kommentar: Diese interessante Studie aus Norwegen weist darauf hin, dass
die Prävalenz von PM/DM bei Kaukasiern relativ niedrig ist. Das klinische Bild
auf der anderen Seite erscheint recht variabel.
Aldolase zum Nachweis von Dermatomyositis (35)
Nahezu reflexartig prüfen wir die Kreatinkinase bei allen unseren Patienten, bei
denen wir auch nur im Entferntesten an eine Myopathie denken. Es ist
bekannt, dass insbesondere entzündliche Muskelerkrankungen (Myositiden),
Muskeldystrophien, endokrin bedingte Mypoathien und insbesondere auch der
Alkohol zur Zerstörung der Muskelfasern und damit zu einer Zunahme an
Kreatinkinase im Serum führen. Häufig wird in der Literatur auch empfohlen,
die Aldolase zu messen, was wir in Deutschland, unter anderem auch aus
Kostengründen, meist jedoch nicht durchführen. Wir verlassen uns somit auf
die Kreatinkinase. Interessanterweise gibt es eine Minorität von Patienten mit
Dermatomyositis, die normale Serumkreatinkinase-Spiegel aufweisen (vergl.
Fudman, Schnitzer 1986) (36). Somit machten sich die Autoren zur Aufgabe,
zu prüfen, ob die Analyse der Aldolase ein möglicher alternativer Biomarker bei
Patienten darstellt, die eine normale CK aufweisen. Retrospektiv wurden von
sämtlichen Patienten im Cook Country (Region Chicago), die in den Jahren
2006 – 2011 in Rheumakliniken gesehen wurden, lediglich die Patienten weiter
analysiert, die eine Myositis und eine normale CK aufwiesen. Es wurden
insgesamt 66 Dermatomyositis und 42 Polymyositis Patienten identifiziert. Bei
Aufnahme bzw. vor immunsuppressiver Therapie wiesen 17 Patienten mit
Dermatomyositis und kein Patient mit Polymyositis normale CK-Werte auf. Von
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
den 17 Patienten wurde bei 12 Patienten bei Aufnahme die Aldolase
gemessen und bei 9 Patienten, die allesamt weiblichen Geschlechts waren,
war die Aldolase erhöht. 6 dieser 9 Patienten hatten eine proximale
Muskelschwäche und 3 entwickelten eine CK-Erhöhung während des
Krankheitsverlaufes. Interessanterweise war dann bei den Patienten, die auf
die Therapie positiv ansprachen und bei denen z. B. die Dermatitis zurückging
(bei 2 von 3 Patienten) eine normale Aldolase im Serum gegeben.
Kommentar: Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass bei
Patienten mit Dermatomyositis und normaler CK bei 75% eine Erhöhung der
Aldolase, die somit ein wichtiger Biomarker für solche Patienten darstellen
könnte, nachgewiesen werden kann.
Sind Elektromyographie und klinische Untersuchung in der Lage, eine
Frühdiagnose der Polymyositis zu stellen? (37)
Retrospektiv wurde in dieser Studie bei 93 Patienten mit Polymyositis geprüft,
ob bei diesen chinesischen Patienten elektromyographische Untersuchungen
oder laborchemische und klinische Untersuchungen eine Frühdiagnose erlaubt
hätten. Insgesamt wiesen 93% der Patienten ein ausschließlich myopathisches
EMG auf und nur 3% zeigten myopathisch und neuropathische
Veränderungen. 4 Patienten wiesen kein myopathisches EMG auf, wovon 1
Patient eine inflammatorische Myopathie aufwies und 3 Kortikosteroide mit
klinischer Verbesserung vor der EMG Untersuchung erhalten hatten. Bei den
Patienten, die kein isoliertes myopathisches EMG aufwiesen, wurden in den
Muskelbiopsien zu 80% eine für Polymyositis typische Pathologie festgestellt,
17,5% zeigten nicht spezifischen Muskelfasernekrosen und 2,5% waren
normal. Beim Vergleich der analysierten Muskeln waren der Tibialis anterior
und Bizeps brachii aussagekräftiger als der Abductor pollicis brevis. All die
Patienten mit einer Krankheitsdauer von mehr als 3 Monaten hatten signifikant
höhere ALAT-Spiegel und verkleinerte motorische Potenziale, verglichen mit
Patienten, die neu erkrankt waren und eine kürzere Krankheitsgeschichte
aufwiesen. Statistisch konnte eine sehr gute Korrelation zwischen
Krankheitsdauer und Amplitudenreduktion bei Ableitung der motorischen
Potenziale festgestellt werden. All die Patienten, die eine interstitielle
Lungenerkrankung aufwiesen, zeigten niedrigere CK und LDH sowie kürzere
Krankheitsphasen als die mit einer interstitiellen Lungenerkrankung.
Kommentar: Diese Studie unterlegt, dass die Analyse der motorischen
Aktionspotenziale im EMG ein sehr wertvolles Diagnostikum für die
Polymyositis darstellt und invers mit der Krankheitsdauer korreliert.
Diagnose und Klassifikation der Polymyositis (38)
Die Polymyositis wird von der Dermatomyositis und Einschlusskörpermyositis
im Zuge einer Ausschlussdiagnose abgetrennt. Sie ist die am wenigsten
häufigste Myositis des Erwachsenenalters. Normalerweise zeichnet sie sich
durch eine subakute chronische symmetrische proximale Muskelschwäche
aus, nur selten kommt es auch neben der Muskulatur zur Alteration anderer
Organsysteme. Die Kreatinkinase kann bis zu 50fach oberhalb der Norm
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liegen. In der Muskelbiopsie werden charakteristischerweise endomysiale
inflammatorische Infiltrate, insbesondere CD8 positive T-Zellen gesehen, die
gesunde Muskelfasern invadieren und MHC-I Antigen exprimieren. Nach wie
vor ist neben der Analyse von Serum, Autoantikörpern, EMG und MRTechniken aber die Muskel-Histopathologie der entscheidende diagnostische
Schritt. Als Hauptdifferenzial-Diagnose für die Polymyositis müssen die
sporadische Einschlusskörpermyositis, toxische, endokrine und metabolische
Myopathien sowie die muskulären Dystrophien ausgeschlossen werden. Die
vorliegende Arbeit zeigt in einem sehr schönen Algorithmus, wie man
letztendes zuverlässig zur richtigen Diagnose der Polymyositis findet.
Abbildung 4: Diagnose-Algorithmen für Polymyositis [aus Milisenda JC et al. (2014) J
Autoimmunity 48-49:118-121]
12.2.2 Malignität bei Polymyositis und Dermatomyositis (39)
Im vergangenen Jahr erschienen zwei chinesische Studien, die erste aus
Peking und die zweite aus Shanghai, die sich erneut der Frage annahmen,
welche Faktoren für die Malignität bei Polymyositis und Dermatomyositis
verantwortlich sind. In der Studie von Lu und Kollegen (5) aus Peking wurden
Pubmed Artikel und andere Suchsysteme nach Patienten mit Polymyositis und
Dermatomyositis für eine Metaanalyse ausgewählt. Die statistische Evaluation
dieser Arbeiten zeigte, dass immer dann ein erhöhtes Krebsrisiko vorlag, wenn
die Patienten alt, zumindest älter als 45 Jahre, männlich waren, eine
Dysphagie, Hautnekrosen, Hautgefäßvaskulitiden, rasches Voranschreiten der
Myositis innerhalb von weniger als 4 Wochen, hohe CK-Werte, hohe
Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit und hohe CRP Spiegel aufwiesen.
Dagegen gab es auch Prädiktoren, die eher für ein reduziertes Risiko, an
Krebs zu erkranken sprachen, nämlich die Präsenz von ILD,
Arthritis/Arthralgie, Renaud-Syndrom, Anti-Jo-Antikörper. Für die Patienten mit
Dermatomyositis wurde ein erhöhtes Malignitätsrisiko bei alten Patienten,
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
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männlichen Patienten, Hautnekrosen, Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit
von mehr als 35 mm pro Stunde, hohen CRP Spiegeln oder Anti-P155
Antikörpern nachgewiesen. Das Vorhandensein von Anti-ENA-Antikörpern
scheint auf der anderen Seite ein reduziertes Risiko, eine Malignität zu
entwickeln, auszudrücken.
Kommentar: Zusammenfassend ist diese chinesische Studie sehr hilfreich, um
eine gewisse Prognose dahingehend zu machen, welche Patienten eine
besonders sorgfältige Analyse auf Tumoren erfahren müssen.
In der zweiten chinesischen Studie aus Shanghai (40) wurden insgesamt 20
Publikationen ausgewertet und mit der Vergleichspopulation für PM, DM und
PM/DM untersucht. Für Patienten mit Polymyositis war das Risiko 1,62, bei
Dermatomyositis 5,50 und bei PM/DM 4,7fach erhöht. Insbesondere im ersten
Jahr und bei männlichen Patienten und insbesondere für Dermatomyositis war
das Risiko, eine Malignität zu entwickeln, besonders hoch. Interessanterweise
waren weder Polymyositis noch Dermatomyositis mit Magen- oder
Prostatakrebsen assoziiert. Somit konnte auch diese Studie nachweisen, dass
sowohl PM als auch DM mit einer deutlich erhöhten Zunahme des MalignitätsRisikos verbunden sind. Es handelt sich dabei um lokuläre Krebse.
12.2.3 Therapie von DM und PM
Auswirkung der Behandlung bezüglich der
Polymyositis und Dermatomyositispatienten (41)
Überlebenszeit
von
In dieser monozentrischen Studie wurde die Überlebenszeit von Patienten mit
Polymyositis und Dermatomyositis bezüglich der vorangegangenen
Behandlung untersucht. Die Diagnose wurde bei sämtlichen Patienten
entsprechend der Behan und Peter Kriterien durchgeführt. Todesfälle wurden
registriert und insbesondere die Gründe des Todes noch einmal sorgfältig
evaluiert.
Mittels
Kaplan-Meier
Methodik
wurde
die
Überlebenswahrscheinlichkeit nach 5 und 10 Jahren nach Krankheitsbeginn
dokumentiert. Insgesamt wurden 43 Patienten mit Polymyositis und 48
Patienten mit Dermatomyositis in die Studie mit einbezogen. 24% der
Patienten, nämlich 22 starben nach einem mittleren Follow-up von 8,7 Jahren.
Die Fünf-Jahres und Zehn-Jahres Überlebenswahrscheinlichkeit nach der
Diagnosestellung betrugen 96 bzw. 89% für Polymyositis und 94% für
Dermatomyositis. Ein erhöhtes Mortalitätsrisiko wiesen die Krebs assozierten
Myositispatienten und die overlap Myositis Patienten, die männlichen Patienten
und die Patienten mit Herzveränderungen, interstitieller Lungenerkrankungen
und Arthritis auf. Die Mortalität war auch bei den Patienten höher, die
Glukokortikoide oder Immunsuppressiva erhalten hatten, wohingegen sie im
Vergleich dazu bei Immunoglobulintherapie deutlich niedriger lag.
Kommentar:
Diese
Studie
aus
Ancona
zeigt,
dass
die
Überlebenswahrscheinlichkeit
für
Patienten
mit
Polymyositis
und
Dermatomyositis in den letzten Jahren deutlich gesteigert werden konnte.
Interessanterweise scheinen Patienten, die Immunglobuline erhielten, eine
bessere Überlebenschance zu haben, was aber auch einem Bias geschuldet
sein könnte, wonach bei diesen Patienten geringe Glukokortikoid-und
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Immunsuppressive-Dosen verwendet werden konnten. Dies ist insbesondere
bei den Patienten wichtig, die über längere Zeit Glukokortikoide und
Immunsuppressiva erhalten mussten.
Subkutane Immunglobulintherapie bei Patienten mit Polymyositis und
Dermatomyositis (42)
In den letzten Jahren konnte eindeutig gezeigt werden, dass subkutan
applizierte
Immunglobuline
bei
Patienten
mit
Polymyositis
und
Dermatomyositis effektiv sind. In dieser Studie aus Ancona wurde das Präparat
Hizentra® von Behring, das eine 20%ige subkutane Immunglobulinlösung
darstellt, bezüglich seiner Effektivität in einer offenen Studie bei Patienten mit
Polymyositis und Dermatomyositis untersucht. Die Patienten hatten zuvor
16%iges subkutanes Immunglobulin erhalten. 8 Patienten mit Dermatomyositis
oder Polymyositis welche die Behan und Peter-Kriterien erfüllten, wurden somit
zu einer wöchentlichen Infusion von 20%igem subkutan Immunglobulin
gewechselt. Bei drei Patienten gab es keine wesentliche Änderung,
wohingegen 4 der Patienten eine deutliche Verbesserung ihrer Muskelkraft und
Normalisierung des Serum-CK-Spiegels erreichten. Bei keinem der Patienten
kam es zu einem Wiederaufflammen der Erkrankung. Die lokalen Reaktionen
waren mild und sistierten von allein. Nennenswerte Nebenwirkungen wurden
nicht gesehen. Vorteilhaft bezüglich der 20% Lösung war aus Sicht der
Autoren die Tatsache, dass die Infusionsdauer im Vergleich zur 16%igen
Lösung deutlich verkürzt werden konnte. Die Patienten fanden dies besonders
attraktiv.
Kommentar:
Die
Verwendung
einer
20%igen
subkutanen
Immunglobulininjektion scheint sicher und effektiv zu sein. Sie ist für Patienten
deswegen so attraktiv, weil die Medikation zu Hause und mit deutlich weniger
Invasivität als bei intravenös zu applizierenden Immunglobulinen verwendet
werden kann. Es scheint sich mehr und mehr abzuzeichnen, dass bei
Patienten, deren Umfeld oder deren eigene Beweglichkeit die subkutane
Administration erlaubt, dies zur neuen und bessern Option bei kontinuierlicher
Immunglobulintherapie werden dürfte.
Subkutane
Immunglobulintherapie
behandlungsresistenter Polymyositis (43)
bei
Patienten
mit
Anerkannterweise stellen Glukokortikoide und Immunsuppressiva die
Therapeutika 1. Wahl bei Patienten mit Polymyositis dar. Intravenöse
Immunglobulintherapie ist dann zu empfehlen, wenn die Polymyositis bezüglich
der o. g. Medikamente Therapie refraktär ist. Diese Therapie weist aber eine
hohe ökonomische Belastung und Beeinträchtigung der Lebensqualität der
Patienten auf, da sie in der Regel in Kliniken erfolgen muss. Aus diesem
Grunde ist die Entwicklung subkutaner Immunglobulintherapien ein äußerst
attraktives neues Feld. Hier wird ein Fall berichtet, der auf Steroide und
Immunsuppressiva nicht ansprach, Schluckstörungen aufwies und der durch
subkutanes Immunglobulin erfolgreich behandelt werden konnte. Der Patient
hatte eine schwere Muskelschwäche, zunehmende Dysphagie und
Gewichtsverlust. Als er eine Therapie mit subkutanen Immunglobulinen (2 x
pro Woche zunächst 2, dann 1,3 g pro kg pro Monat) erhielt, kam es innerhalb
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Seite 23
von zwei Monaten zu einer deutlichen Befundverbesserung und nach einigen
Injektionen wies der Patient eine zunehmende Verbesserung der Muskelkraft
auf. Die Serumkreatinkinase kehrte zu Normalwerten zurück und die
Dysphagie verschwand. Der Patient konnte die subkutane Therapie gut
tolerieren.
Kommentar: Auch bei schweren Polymyositiden, die auf Glukokortikoide und
Immunsuppressiva nicht gut ansprechen, stellt die Immunglobulintherapie,
jüngst als subkutane Applikationsform vorhanden, eine interessante neue
Option dar.
Rituximab bei Patienten mit Therapie refraktärer Dermatomyositis oder
Polymyositis (44)
Interessanterweise hatte Rituximab in einem Doppelblind-Design bei Patienten
mit Polymyositis und Dermatomyositis keine Signifikanz bezüglich der
Initiierung (rasch, spät) erbracht. Hierbei waren die Patienten, die Rituximab
sofort bekamen, nicht besser bezüglich ihrer Therapieantwort als jene, die das
Rituximab erst nach 8 Wochen erhielten (Oddis at al 2013 (45)). In einer
retrospektiven Studie aus Deutschland wurden daraufhin die Patienten noch
einmal evaluiert, die Rituximab erhalten hatten. Ihre Glukokortikoid-Dosen,
Kreatinkinasespiegel, Lungenfunktionstests sowie schwere Nebenwirkungen
wurden ebenfalls evaluiert. Insgesamt wurden 19 Patienten identizifiert, von
denen einer wegen einer Aspirationspneumonie drei Wochen nach der ersten
Rituximab-Infusion verstarb. Eine sorgfältige Analyse war somit bei 13
Patienten mit Polymyositis und 5 Patienten mit Dermatomyositis möglich.
Neben der oben genannten letalen Pneumonie kam es bei 6 weiteren
Patienten zu schweren Infektionen. Ein Patient entwickelte eine
Hypogammaglobulinämie. Zwei Patienten hatten milde Infusionsreaktionen.
Unter dem Rituximab konnte nach 18 Wochen eine Reduktion der
Kreatinkinase und der täglichen Prednisolondosis erreicht werden. Sechs von
8 Patienten mit einer Alveolitis verbesserten sich unter Rituximab. Allgemein
konnte bei 9 von 13 Polymyositis-Patienten eine gute Effektivität des Rituximab
dokumentiert werden. Alle 5 Dermatomyositispatienten sprachen gut auf
Rituximab an. Somit kann zusammenfassend festgehalten werden, dass in
Klinikalltag bei Patienten mit einer schweren Therapierefraktären Polymyositis
oder Dermatomyositis meist unter Rituximab eine Verbesserung erzielt werden
konnte, was insbesondere für Patienten mit Dermatomyositis galt.
Erhöhtes Risiko venöser Thromboembolien
Dermatomyositis/Polymyositis (46)
bei
Patienten
mit
Die tiefe Beinvenenthrombose und pulmonale Thromboembolie bilden die
venöse Thromboembolie, die innerhalb von 30 Tagen eine Todesrate von 11 –
30% aufweist. Auslösende Faktoren für diese VTE sind frühere VTE,
Vorhofflimmern, zerebrovaskuläre Erkrankungen, hohes Alter, Diabetes,
Herzinsuffizenz, Beinfrakturen, große Bauchchirurgie sowie gewisse
Krebserkrankungen,
Schwangerschaft,
verlängerte
Bettruhe,
orale
Kontrazeptiva. DM und PM werden nicht traditionell als erhöhtes Risiko für tiefe
Beinvenenthrombosen bzw. Lungenembolien angesehen. Auf der anderen
Seite ist bekannt, dass solche chronische Entzündungen zu hohen
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
thrombotischen Faktoren und endothelialer Dysfunktionen beitragen, so dass
die Arbeitsgruppe aus Taiwan sich zum Ziel machte, auf Taiwan das Risiko
von Patienten mit DM/PM bezüglich venöser Thromboembolieerkrankungen zu
studieren. Dazu wurden die Jahre 2000 – 2010 ausgewertet und jedem DM/PM
Patienten 4 normale Kontrollpatienten assoziiert. Insgesamt wurden 2031
DM/PM Patienten in der Untersuchungsperiode kontrolliert und es konnte
gezeigt werden, dass diese Patienten im Vergleich zur alters- und
geschlechtsassoziierten Gruppe ein 11,1fach erhöhtes Risiko von venösen
thromboembolischen Komplikationen aufwiesen. Insbesondere war das Risiko
bei älteren Patienten mit DM/PM erhöht. Auch weitere Komorbiditäten erhöhten
dieses Risiko.
Kommentar: Aus dieser Studie kann geschlussfolgert werden, dass Patienten
mit Dermato- und Polymyositis, insbesondere aus meiner Sicht auch
deswegen, weil sie Glukokortikoide erhalten, ein deutlich erhöhtes tiefe
Beinvenenthrombose bzw. Thromboembolierisiko aufweisen, dem durch
Heparinisierung vorgebeugt werden muss.
Abbildung 5: Risiko thrombo-embolischer Symptome bei PB/DM [aus Chung WS et al.
(2014) Thrombosis Research 134:622-626]
Amyopathische Dermatomyositis (47)
In dieser Arbeit wird einem interessanten Phänomen, nämlich der
amyopathischen Dermatomyositis Rechnung getragen. Diese klinischamyopathische Dermatomyositis muss somit eine lediglich subklinische
Muskelerkrankung aufweisen. Nur wenige der Patienten mit einer
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Dermatomyositis zeigen dieses Phänomen. Klinisch sollten sie aus Ansicht der
Autoren nicht als von der klassischen Dermatomyositis distinct angesehen und
behandelt werden, da sie beide die gleichen Antikörper und assoziierte
Komorbiditäten als mögliches weites Spektrum einer gemeinsamen
Erkrankung aufweisen. Somit muss insbesondere der Dermatologe über
dieses Krankheitsbild informiert sein, wo ja die typischen Dermatitis-Zeichen
bei fehlender Klinik in Richtung Myositis vorliegen.
Gibt es eine Statin-induzierte Myositis als Teil der Polymyositis? (48)
Bekanntermaßen kann ein Statin, das heißt, ein HMG-CoA ReduktaseHemmer zu einer Myositis führen, wenngleich die größere Anzahl der
Patienten eine Muskelschwäche aufgrund mitochondrialer Störungen unter
Statinen aufweisen. Statine können zum Einen asymptomatische
Muskelenzymerhöhungen oder gar lebensbedrohliche Rhabdomyolysen
auslösen. Das häufigste klinische Zeichen sind Myalgien. Gründe für die
potenziellen toxischen Effekte der Statine sind Änderungen der
Muskelmembran, Exzitabilität, Modulierung des Membrancholesterols,
Störungen der mitochondrialen Funktion und der Kalziumsignalwege, Induktion
von Apoptose und erhöhte Lipidperoxidation. Einige Patienten scheinen einen
überzeugenden Zusammenhang zwischen der Statinapplikation und der
Entwicklung einer autoimmunen Myopathie im Sinne einer Myositis
aufzuweisen. Bei einigen dieser Patienten konnte in den Muskelbiopsien eine
Erhöhung der MHC1 Expression nachgewiesen werden. Diese Patienten
antworten gut auf Immunsuppressiva. Wenn man die Bohan und Peter
Kriterien heranzieht, würden sie auch den Diagnose-Kriterien einer
wahrscheinlichen oder definitiven Polymyositis genügen. Somit kann aus
diesem Artikel geschlossen werden, dass die Applikation von Statinen bei
wenigen Patienten zu einer idiopathischen inflammatorischen Myopathie
führen kann.
12.2.4
Einschlusskörpermyositis (49)
Die erste Beschreibung der Einschlusskörpermyositis wurde wohl von Adams
und Anderen 1995 getätigt und 1971 von Yunis und Samaha (50) als
Einschlusskörpermyositis betitelt. Mittlerweile ist bekannt, dass die sporadische
Einschlusskörpermyositis die häufigste primäre Myopathie bei Patienten über
40 Jahre ist und die Form der Myositis darstellt, die am häufigsten im
Erwachsenenalter gesehen wird. Typischerweise sind der M. quadrizeps und
die langen Fingerbeuger präferenziell betroffen und die Krankheit führt zu einer
progressiven Verschmächtigung der Kniestrecker und Fingerbeuger. Später
kommen Fußheberparesen hinzu und es kommt zum dropped-head oder zur
Kamptokormie, Somit sollte bei Patienten im Erwachsenenalter, die
Schwierigkeiten haben, Treppen zu steigen oder schwerere Gegenstände zu
halten, immer differenzialdiagnostisch an eine Einschlusskörpermyositis
gedacht werden. Eine Dysphagie kann ebenfalls relativ früh auftreten, eine
obstruktive Schlafapnoe kommt erst später hinzu. Ein weiteres klassisches
Phänomen ist die Asymmetrie des Befalls der Muskulatur, wobei
interessanterweise meist die nichtdominante Körperseite mehr betroffen ist als
die dominante. Pro Jahr kommt es zu einem Verlust der Muskelkraft von etwa
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
4% und nach 5 – 10 Jahren benötigen die meisten Patienten einen Gehstock
oder eine andere Gehhilfe, wohingegen nur eine Minorität rollstuhlpflichtig wird.
Trotz des schlechten Therapieerfolges bei Anwendung von Immunsuppressiva
geht man weiterhin von einer autoimmun-bedingten Erkrankung aus, wobei vor
allem auf die noch sehr jung endeckten Antikörper gegen cytosolische 5Nucleotidase hingewiesen werden muss (Larman et al 2013, Pluk et el 2013).
Besonders häufig kommt es zur Einschlusskörpermyositis in Begleitung
rheumatischer Erkrankungen, aber auch bei retroviralen Infektionen. Meist
handelt es sich um sporadische Einschlusskörpermyositiden, seltener um
familiäre Fälle. In der Elektromyographie findet sich typischerweise ein
gemischtes Muster zwischen myopathisch und neuropathisch, das heißt, kleine
polyphasische Potenziale, hohe Riesenpotenziale sowie Fibrillationen werden
gleichzeitig abgeleitet. Muskelpathologisch finden sich CD8 und CD4 positive
Zellen, das heißt, Inflammation mit Zerstörung von Muskelfasern und
endomysiale Entzündungen sind parallel zu finden. Besonders interessant ist,
dass die Einschlusskörper voll mit Amyloid sind, wie in einer Studie mittels des
Pittsburgh Compound nachgewiesen werden konnte. Immunologisch ist eine
MHC-I und II Hochregulation zu finden. Bisherige Therapieversuche
beinhalteten Prednison, Immunglobuline, Methotrexat, Azathioprin, InterferonBeta-1A, Etanercept, Arimoclomol und Alemtuzumab. Persönlich bin ich auf die
Ergebnisse einer derzeit laufenden Studie mit Bimagrumab (BYM338)
gespannt, da das Bimagrumab den inhibitorischen Effekt vom Myostatin
aufhebt und somit zumindest eine Verbesserung der Muskelfaserdurchmesser
und somit der groben Kraft auch bei diesen Patienten erzielen könnte. Es muss
auch sicherlich noch einmal geprüft werden, ob bei Patienten mit einer hohen
immunologischen Last, wie z. B. einer Einschlusskörpermyositis bei SjögrenSyndrom, eine konsequente Immunsuppression nützlich wäre.
Abbildung 6: Histologie der Einschlusskörperchenmyositis. (A) Endomysiale mononukleäre
Zellinflitrate und Einwanderung nicht-nekrotischer Muskelfasern, (B) umrandete Vakuolen in
Muskelfasern, (C) Amyloid-Ablagerungen in Muskelfasern, (D) erhöhte Anzahl Cytochrom-
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Oxidase defizienter Muskelfasern [aus Mastaglia FL & Needham M (2015) J Clin Neurosci
22:6-13]
Epidemiologie der Einschlusskörpermyositis in Norwegen (53)
Bisher durchgeführte epidemiologische Studien sprechen dafür, dass Patienten
auf der Nordhalbkugel der Erde deutlich häufiger dieses Krankheitsbild
aufweisen, als jene der südlichen Hemisphären. Folgerichtig hat sich ein
Konsortium aus Süd-Ost-Norwegen, welches eine Population von 2,64
Millionen aufweist, zum Ziel gesetzt, die Anzahl der EinschlusskörpermyositisPatienten zwischen 2003 und 2012 zu evaluieren. Dazu wurden zwei
Strategien verwendet, um möglichst alle Patienten zu erfassen. In einem
ersten Schritt wurden in sämtlichen Krankenhäusern in Süd-Ost-Norwegen die
Krankenunterlagen, das heißt, der ICD10-Code auf Einschlusskörpermyositis
gescreent. Danach wurden alle diese Fälle manuell überprüft. In einem zweiten
Ansatz wurden sämtliche Berichte zu Muskelhistologien bezüglich des
Schlüsselbegriffes Inflammation geprüft. Danach wurden die Patienten
entsprechend der European Neuro-Muscular Centre Research Diagnostic
Criteria für sporadische Einschlusskörpermyositis klassifiziert. Durch diese
kombinierte Strategie konnten 3160 Patienten, bei denen eine
Einschlusskörpermyositis vermutet worden war, identifiziert werden. Etwa 500
davon waren überlappend, das heißt, Patienten, die sowohl aufgrund ihres
bioptischen Befundes als auch aufgrund ihrer Krankenakte gefunden wurden.
Unter Heranziehung der ENMC-Kriterien blieben dann 95 Patienten. Diese
Ergebnisse führten zu einer Prävalenz von 33 auf 1 Million Einwohner. Das
mittlere Alter bei Diagnose war 67 Jahre mit einem Krankheitsverlauf von etwa
5,6 Jahren. Bei 25% der Patienten gab es eine koexistierende rheumatische
Erkrankung, wobei das Sjögren-Syndrom besonders häufig auftrat
Kommentar:
Diese
Punktprävalenz
der
sporadischen
Einschlusskörpermyositis in Norwegen ist 7fach höher als das, was bisher für
Europa als typisch in der Literatur zu finden war. Typisch ist leider auch, dass
es bei diesen Patienten etwa 5 – 6 Jahre dauerte, bevor die richtige Diagnose
gestellt wurde.
Gehtest als Diagnostikum (54)
Wie oben bereits ausgeführt, führt die sporadische Einschlusskörpermyositis
zu einer zunehmenden Muskelschwäche und Verkürzung der Gehstrecke
sowie Verlängerung der Gehzeit. Es ist davon auszugehen, dass neue
Medikamente immer wieder bezüglich ihrer Effektivität auch bei diesem
Krankheitsbild vorgestellt und geprüft werden sollen. Bisher hat man sich meist
auf den 6-Minuten-Gehtest zur Analyse der Funktionsfähigkeit bei
neuromuskulären Erkrankungen festgelegt, ohne aber dass jemals eine
optimale Wegstrecke oder Gehzeit zur Analyse solcher Erkrankungen
systematisch gesucht worden wäre. In dieser Studie wurden 67 Personen mit
Einschlusskörpermyositis bezüglich einer ganzen Batterie an quantitativen
Kraftanalysen und funktionalen Tests einschließlich des Gehtestes analysiert.
Der 2-Minuten- und 6-Minuten-Gehtest zeigten eine sehr hohe Korrelation
untereinander und auch zu quantitativen Analysen der Beinkraft. Alle der
untersuchten Patienten konnten den 2-Minuten-Gehtest durchführen,
wohingegen 7% die 6 Minuten aufgrund auftretender Schwäche nicht
bewältigen konnten. Somit gehen die Autoren davon aus, dass ein 2-Minuten-
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Gehtest zur Analyse
ausreichend ist.
von
Krankheitsverläufen
und
Therapieeffektivität
Kommentar: Diese Arbeit ist von Experten verfasst und zeigt eine eindeutige
Datenlage dahingehend, dass ein 2-Minuten-Test ausreicht, einen
ausreichenden Überblick zur Situation der Muskelkraft bzw. einer
Therapieeffektivität bei Patienten mit Einschlusskörpermyositis zu erzielen.
12.2.5 Neue Therapieansätze (55)
Erfreulicherweise werden derzeit bei der Einschlusskörpermyositis einige neue
Therapieansätze doppelblind und placebokontrolliert, randomisiert studiert. Es
handelt sich dabei z. B. um die Abregulation der Hitzeschockantwort mit
Arimoclomol, das oral eingenommen werden kann und die Synthese von
Hedgehog-Proteinen vermehrt. In einer klinischen Studie (56) wurden 24
Patienten 2:1 bezüglich Arimoclomol bzw. Placebo randomisiert. 4 Monate lang
wurde die Substanz verwendet und zwar in Dosen von 100 mg, danach wurde
noch 8 Monate lang doppelblind weiter observiert. Es traten keine
nennenswerten Sicherheitsaspekte auf und die Substanz wurde gut toleriert.
Nummerisch war der Rückgang der physikalischen Funktionsfähigkeit und der
Muskelkraft (maximale Handkraft rechts) weniger stark in der Verum-Gruppe
ausgeprägt, als bei den Placebopatienten mit einem noch stärkeren Trend
nach 8 Monaten. Somit scheint es sich hierbei um eine vielversprechende
neue Entwicklung zu handeln.
Zwei
Myostatin-Antagonisten
werden
ebenfalls
derzeit
bei
Einschlusskörpermyositis untersucht. Es handelt sich dabei um Follistatin
Gentherapie, die durch adeno-assoziierte Viren durch Injektionen in den
Quadrizeps-Muskel injiziert werden. In dieser offenen Studie soll die
Muskelkraft, der Muskelumfang mittels Histologie, MRT und klinischer
Evaluation geprüft werden (57). Für Bimagrumab gibt es ebenfalls eine Studie,
wo diese Substanz intravenös in einer Pilotstudie geprüft wurde (58). Nach 8wöchiger Substanzadministration kam es zu einer Vergrößerung der
Muskelmasse, nach 16 Wochen wiesen die Patienten in der aktiven Gruppe
eine Verbesserung der 6-Minuten-Gehstrecke um 14,6% auf im Vergleich zu
Placebo-Therapierten. Diese Differenzen waren jeweils statistisch signifikant.
Nun soll Bimagrumab bei bis zu 240 Patienten in einer weltweiten Studie
analysiert werden. Dies wird somit die größte Einschlusskörpermyositis-Studie
sein, die bisher weltweit durchgeführt wurde (RESILIENT-Studie) (59).
Kommentar: Aus meiner Sicht sind beide Therapieansätze von hoher
Relevanz und lassen hoffen, dass zumindest symptomatisch eine deutliche
Verbesserung der Situation für die Patienten mit diesem seltenen
Krankheitsbild gelingen kann.
Vorzüge von Kraftraining bei Patienten mit idiopathischen
inflammatorischen Myositiden (60)
In dieser Arbeit wird ein umfangreicher Review über existierende Arbeiten, das
heißt, zum großen Teil sogar randomisierte kontrollierte Studien zu Patienten
mit Polymyositis, Dermatomyositis und Einschlusskörpermyositis gegeben.
Interessanterweise profitierte ein Großteil der Patienten von dieser
Behandlungsmethodik.
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Kommentar: Neben der Möglichkeit moderner Therapieansätze wie MyostatinHemmern und Immunsuppressiva sollte nicht vergessen werden, das
einfaches Krafttraining für Patienten mit Einschlusskörpermyositis eine
wertvolle therapeutische Option darstellt.
Mitochondriale Abnormitäten bei der Einschlusskörpermyositis (61)
Bekanntermaßen ist eines der histopathologischen Kennzeichen der
sporadischen Einschlusskörpermyositis der Nachweis von Cytochrome C
Oxidase defizienten Muskelfasern. Molekulargenetisch ist dies verknüpft mit
multiplen mitochondrialen Deletionen. Bisher ist nicht bekannt, inwiefern sich
diese Abnormitäten auf die Funktionsfähigkeit der Muskeln und damit der
Patienten auswirken. Aufgrund dessen untersuchten Joshi et al (2014) (12) die
Sauerstoffdesaturierung, wobei in nichtanämischen Bedingungen ein
Unterarmkrafttest durchgeführt wurde und bei 10 Patienten mit Cytochrome C
Oxidase defizienten Fasern und multiplen DNA Deletionen diese Analysen mit
altersentsprechenden und geschlechtsentsprechenden Normalpersonen und
solchen mit anderen mitochondrialen Erkrankungen verglichen wurden. Im
Mittel wiesen die Einschlusskörpermyositis-Patienten ein Alter von 82.2 +- 5.7
Jahre auf. Die Patienten mit sporadischer Einschlusskörpermyositis zeigten
statistisch signifikant eine reduzierte Sauerstoffdesaturierung mit dem
Unterarmtest und erhöhte Laktatspiegel bei Fahrradergometrie. Die
biochemische Analyse der Atmungskette war bei EinschlusskörpermyositisPatienten und mitochondrialen Zytopathien ähnlich.
Kommentar: Diese Untersuchung legt nahe, dass mitochondriale
Abnormitäten zumindest teilweise für das klinische Bild, das heißt, die
Muskelschwäche bei Patienten mit sporadischer Einschlusskörpermyositis mit
verantwortlich sind.
12.3
12.3.1
Muskeldystrophien
Duchenne´sche Muskeldystrophie
Die Duchenne´sche Muskeldystrophie ist eine vererbte x-chromosomal
rezessive Erkrankung, die etwa einen von 3500 neugeborenen Jungen betrifft.
Es handelt sich um eine genetisch determinierte Erkrankung, die auf
Störungen im Dystrophingen zurückzuführen ist. Als Resultat dieses
Gendefektes kommt es zu wenig oder keiner Dystrophinproduktion, das
wiederum essentiell für die Integrität und Funktionsfähigkeit von Muskelfasern
ist. Bei fehlenden Dystrophin kommt es zum Einstrom von Kalziumionen, die
Proteasen und Nukleasen aktivieren und somit zum Muskelfaseruntergang und
Muskelschwäche führen, so dass die Patienten im Schnitt im 12. Lebensjahr
rollstuhlpflichtig werden. Später kommt es zu Störungen der Atemmuskulatur
und des Herzmuskels. Kausale Therapien sind bisher nicht bekannt.
Prävalenz der Muskeldystrophie (62)
In dieser Arbeit versuchten neuseeländische Neurologen die Prävalenz von
Muskeldystrophien weltweit herauszufinden. Diese Analyse ist deshalb wichtig,
um die Krankheitsbürde für die Gesellschaft weltweit besser zu kennen. Sie
verwandten für ihre Analysen hochrangig publizierte Studien aus den Jahren
1960 bis 2013 über die Prävalenz von Muskeldystrophien aller Art. Es handelte
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
sich am Ende um 38 Studien, die aus solch unterschiedlichen Ländern, wie
Japan, Italien, Canada, USA, Schottland, Norwegen, Russland, Südafrika,
China und vielen mehr stammten. Ihre Analysen zeigten, dass mit wenig
Differenz die meisten Studien von einer kombinierten Prävalenz für sämtliche
Muskeldystrophien von 19.8 bis 25.1 pro 100.000 Personen pro Jahr
ausgehen. Für die myotone Dystrophie liegen die Prävalenzen zwischen 0.5
bis 18.1 pro 100.000, für die Duchenne Muskeldystrophie 1.7 bis 4.2 pro
100.000 und für die fazioscapulohumerale Muskeldystrophie 3.2 bis 4.6 pro
100.000. Der relativ hohe Prävalenzbereich dieser Studie ist dem geschuldet,
dass die zugrunde gelegten Studien sehr unterschiedliche Methoden verwandt
hatten, um die Diagnosen zu sichern. Des Weiteren gab es Unterschiede in der
Propulationsgenerierung.
Kommentar: Diese Studie unterstreicht erneut, welche Herausforderungen
darin bestehen, eine verlässliche epidemyologische Studie unter anderem auf
dem Gebiet der neuromuskulären Erkrankungen durchzuführen. Andererseits
zeigt die Studie, dass Muskeldystrophien in keiner Weise zu den ganz seltenen
Erkrankungen zu zählen sind.
Lebensqualität bei Erwachsenen mit Duchenne´scher Muskeldystrophie
(63)
In dieser holländischen Studie wurden 79 Männer, die älter als 20 Jahre waren
und an einer Duchenne´schen Muskeldystrophie litten, bezüglich dreier
Lebensqualitätsskalen befragt und untersucht. Im Vergleich zur
Kontrollpopulation in den Niederlanden, waren die Patienten bezüglich ihrer
physikalischen Fähigkeiten, d.h. Arbeit, Freizeit, Transport oder soziale
Beziehungen, negativer in ihrer Einschätzung als die Kontrollpopulation. Auf
der anderen Seite waren sie bezüglich ihrer kognitiven Fähigkeiten und
geistiger Vitalität im Vergleich zur Normalpropulation in ihrem Assessment
nicht schlechter, so dass generell in dieser Studie nachgewiesen wurde, dass
die Lebensqualität dieser Erwachsenen mit Duchenne´scher Muskeldystrophie
überraschend gut zu sein scheint.
Corticosteroide zur Behandlung der Duchenne´schen Muskeldystrophie
(64)
Es ist mittlerweilen allgemein akzeptiert, dass Jungs mit Duchenne´scher
Muskeldystrophie von Prednisolon und Deflazacort bezüglich ihrer Muskelkraft
und Ambulanzfähigkeit profitieren. Deflazacort wird dabei von vielen Patienten
präferiert, weil es zu einer geringeren Gewichtszunahme als Prednisolon führt.
Die empfohlene Dosis für Prednisolon ist 0,75 mg pro kg pro Tag und für
Deflazacort 0,90 mg pro kg pro Tag. Die meisten Patienten erhalten ihr
Cortison täglich oder intermittierend, wobei die tägliche Applikation, wie ich
dies in einem vorangegangenen Neuro-Update zeigen konnte, eher günstiger
ist. Retrospektive Untersuchungen legen nahe, dass Patienten, die über fünf
bis acht Jahre Corticosteroide erhielten, um zwei bis fünf Jahre länger
ambulant blieben. In dieser Studie wurde deswegen die größte
populationsbasierte Datenbasis, nämlich das so genannte MDSTARnet aus
den vereinigten Staaten verwandt, wo longitudinal Jungs mit Duchenne´scher
Muskeldystrophie zwischen Januar 1982 und Oktober 2011 beobachtet
wurden. Insgesamt gingen in die Studie 477 Patienten ein, bei denen die
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Diagnose ausreichend gesichert war. Als Ergebnis fand sich, dass Patienten,
die eine kurzfristige Cortisontherapie erhielten, d.h. zwischen 1/4 und drei
Jahre, im Vergleich zu den nichttherapierten ein 77 %-ig höheres jährliches
Risiko aufwiesen, nicht mehr selbst gehfähig zu sein und dass dies 0,8 Jahre
früher auftrat, als bei den nichttherapierten. Im Gegensatz dazu wiesen die
Patienten, die kontinuierlich über mehr als drei Jahre Corticosteroide erhalten
hatten, zwei Jahre später und mit einem 82 %-ig niedrigerem jährlichen Risiko
einen Verlust der Ambulanz im Vergleich zu nichttherapierten auf.
Abbildung 7: Die Zeit bis zur Rollstuhlpflicht ist abhängig von der Medikation und
Behandlungsschwere [aus Kim S et al. (2014) J Child Neurology 4:1-6]
Kommentar: Somit kann aus dieser Studie geschlussfolgert werden, dass
kurzfristige Corticosteroid-Therapien negativ assoziiert waren bezüglich des
Verlustes der freien Beweglichkeit, wohingegen Patienten, die eine längere
Behandlung erhielten, eine positive Effektivität der Corticosteroid-Therapie im
Vergleich zu nichtbehandelten aufwiesen.
Exon-Skipping bei Duchenne´scher Muskeldystrophie
In den vorangegangenen Neuro-Updates wies ich wiederholt darauf hin, dass
das sogenannte Exon-Skipping eine der faszinierendsten Therapieformen für
Jungs mit Duchenne´scher Muskeldystrophie darstellen könnte. In einer sehr
schönen Übersichtsarbeit von Hoffman und McNally (2014) (65) wurden die
Vor- und Nachteile dieses Exon-Skipping ausführlich diskutiert. Kurz
zusammengefasst soll Exon-Skipping ein Rückführen in das Leseraster
ermöglichen und im weitesten Sinne aus einem Duchenne´schen Verlauf einen
Patienten, der einer Beckerschen Muskeldystrophie ähnelt, generieren. Hierzu
gibt es manigfaltig im vergangen Jahr publizierte Studien, auf die ich jetzt
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
näher eingehen möchte.
Drisapersen Studien (66,67)
Drisapersen ist eine 20mer chemisch modifiziertes Oligonukleotid, dessen
Sequenz so optimiert ist, um das Exon 51 in Messenger RNA für Dystrophin zu
blocken. Mutationen, bei denen ein Skipping des Exon 51 Sinn macht, treten
bei etwa 13 % aller Duchenne Patienten auf. In Voruntersuchungen hatte das
von der Firma GlaxoSmithKline hergestellte Drisapersen bereits gezeigt, dass
es bei Lokalinjektionen und systemischer Administration positive Ergebnisse,
inklusive beim 6-minütigen Gehtest erzielte. In diese Studie (5) wurden Jungs,
die neun Jahre oder älter waren und mindestens für ein Jahr bereits
rollstuhlpflichtig waren (aber nicht länger als vier Jahre) und bei denen die
Diagnose einer Duchenne Muskeldystrophie auf einer Mutation beruhte, die
durch Drisapersen korrigiert werden konnte, eingeschlossen. Patienten mit
anderen oder zusätzlichen Mutationen, die durch Drisapersen nicht korrigiert
werden konnten oder solche mit Nieren- oder Lebervorerkrankungen oder mit
einer symptomatischen Kardiomyopathie, wurden in die Studie nicht
aufgenommen. Die Einnahme von Glucocorticosteroiden war erlaubt, musste
aber bereits mindestens sechs Monate vor Beginn der Drisapersen-Therapie
begonnen worden sein und seit drei Monaten mit einer konstanten Dosis
durchgeführt worden sein. Die Verwendung von Idebenon oder Coenzym Q10
war nicht erlaubt. Nach einer Screening-Periode von bis zu zwei Wochen
wurden die Patienten dahingehend randomisiert, dass die eine Gruppe eine
einzige subkutane Injektion von Drisapersen oder eine entsprechende
Placebo-Therapie erhielten. Das Drisapersen wurde als subkutane Injektion
verabreicht und es wurden vier Kohorten gebildet, wobei die erste Kohorte 3
mg pro kg Körpergewicht Drisapersen oder Placebo, die zweite Kohorte 6 mg,
die dritte Kohorte 9 mg und die vierte Kohorte 12 mg pro kg Drisapersen oder
Placebo erhielten. In jeder Kohorte waren dreimal so viele Patienten, die
Drisapersen erhielten, als solche mit Placebo. Somit sollte jede Kohorte acht
Personen (sechs aktive und zwei Placebo) enthalten.
In der ersten Studie, Flanigan et al., 2013 (66) konnte gezeigt werden, dass bei
Einsatz von 3 bzw. 6 mg Drisapersen pro kg keine Sicherheits- oder
Tolerabilitätsprobleme auftreten, dass aber bei Jungs mit 9 mg pro kg
Körpergewicht Pyrexie und transiente Erhöhung von Entzündungsparametern
wie C-reaktives Protein auftraten. Somit wurden 6 mg Drisapersen als optimale
Dosis für weitere Studien von nicht ambulanten Duchenne Patienten
identifiziert.
In der Studie von Voit und Mitarbeitern, 2014 (67) wurde wie oben gesagt, mit
6 mg Drisapersen eine explorative randomisierte Placebo-kontrollierte Phase II
Studie (DIMAND II) durchgeführt. Insgesamt wurden Jungs im Alter von
mindestens fünf Jahre oder älter, die sich in weniger als sieben Sekunden vom
Boden aufrichten konnten, randomisiert. Es wurden 13 Spezialzentren in neun
Ländern als Mitarbeiter für die Studie gewonnen und die Patienten wurden
zwischen 2010 und 2012 rekrutiert. Die Patienten sollten entweder 6 mg pro kg
Drisapersen oder Placebo subkutan entweder kontinuierlich, d.h. einmal pro
Woche, oder intermittierend (neun Dosen über 10 Wochen) erhalten: Zweimal
pro Woche in den Wochen 1, 3 und 5, einmal wöchentlich in den Wochen 2,4
und 6 und nur Placebo in den Wochen 7-10 von jedem 10 Wochen-Zyklus. Als
primärer Endpunkt wurde die sechs Minuten Gehdistanz in der Woche 25
gewählt. Als Sicherheitsmarker wurden Nieren, Leber und hämatologisches
Monitoring sowie die sorgfältige Registrierung von Nebenwirkungen
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
herangezogen. Für die Studie wurden 53 Patienten rekrutiert, von denen 18
kontinuierlich Drisapersen, 17 intermittierend und 18 Placebo erhielten. Bei den
Patienten mit kontinuierlichen Applikation von Drisapersen kam es in der 25.
Woche zu einer Verbesserung der sechs Minuten Wegstrecke um 31,5 Meter,
im Vergleich zum Placebo zu einer Verbesserung von 31,1 Meter. Im Vergleich
zwischen Placebo und intermittierend verabreichten Drisapersen konnte kein
signifikanter Unterschied festgestellt werden. Die wichtigste Nebenwirkung
bestand in lokalen Reaktionen am Applikationsort und in renalen
Veränderungen, die bei den Drisapersen-Patienten deutlich höher lagen als bei
Placebo-therapierten. Es handelte sich dabei meist um eine subklinische
Proteinurie. Keine der schweren Nebenwirkungen führte zu einem sistieren der
Studie bei irgendeinem der Studienteilnehmer.
Kommentar: Diese Studie macht weiter Hoffnung, dass das Exon-Skipping
zumindest für einen Teil der Muskeldystrophiepatienten vom Typ Duchenne
eine faszinierende neue Option darstellen könnte.
Ataluren Studie (68)
Etwa 13 % aller Patienten mit einer Dystrophinopathie haben eine
Nonsensmutation im Gen für Dystrophin. Diese Nonsensmutation führt zu
einem verfrühten Stoppkodon, das dann die weitere Prozessierung eines
Proteins stoppt. Es kommt somit zu einem verkürzten, nicht funktionierenden
Protein. Ein sogenannter read through eines prämaturen Stoppkodons ist ein
neuer Weg, genetische Erkrankungen, die auf einer Nonsensmutation
beruhen, zu bessern. Aminoglycosid-Antibiotika scheinen diesbezüglich
hilfreich. Die Entwicklung einer Substanz, die eine read through Aktivität hätte,
wäre auch für Duchenne-Knaben hilfreich. Ataluren (PTC124) wurde als eine
der ersten neuen Substanzen entwickelt, um ein ribosomales read through von
prämaturen Stoppkodons zu erlauben.
In einer Vorstudie (69) zeigten Finkel und Kollegen die Wirksamkeit von
Ataluren in Patienten mit Nonsensmutationen. In dieser Phase 2b Studie (68)
wurde nunmehr randomisiert, doppelblind Placebo-kontrolliert international die
Effektivität und Sicherheit von zwei Dosen Ataluren bei Patienten mit
Nonsense-Mutationen einer Dystrophinopathie appliziert und die Wirksamkeit
im 6-Minuten-Gehtest evaluiert. Es wurden Jungs mit Duchenne´scher
Muskeldystrophie in 37 Zentren in 11 Ländern rekrutiert, die älter oder gleich
fünf Jahre alt sein mussten, eine Erhöhung der Kreatinkinase aufweisen sollten
und noch über 75 Meter allein gehfähig waren. Im Allgemeinen wurde Ataluren
gut toleriert. Bezüglich des primären Endpunktes waren die Patienten, die 10
oder 20 mg pro kg Körpergewicht Ataluren erhalten hatten, gegenüber den
Placebo-Patienten signifikant in der 48. Woche im 6-Minuten-Gehtest
überlegen, da sie 31,3 Meter im Schnitt länger zurücklegen konnten. Wichtig ist
darauf hinzuweisen, dass die Studiendosis oral 3 x täglich entweder in einer
Dosis von 10-10-20 mg pro kg Körpergewicht oder 20-20-40 mg Körpergewicht
bzw. Placebo für 48 Wochen appliziert wurden. Spezifisch wurde nach 48
Wochen für Patienten mit Placebo ein Rückgang im 6-Minuten-Gehtest von
42,6 Meter und bei den Patienten, die 40 mg pro kg Körpergewicht pro Tag an
Ataluren erhalten hatten, von nur 13 Metern beobachtet. Bei den Patienten, die
die hohen Ataluren-Dosen, nämlich 80 mg pro kg pro Tag erhielten, gab es im
Vergleich zu Placebo –therapierten keinen Unterschied.
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
Seite 33
Seite 34
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Kommentar: Diese erste kleine Vorstudie weist darauf hin, dass mit der
geringeren Dosis an Ataluren ein klinischer Vorteil, bei nicht vorhandener
Gefährdung für die Patienten erzielt werden konnte. Der Unterschied von 30
Metern scheint klinisch relevant zu sein. Dieser Vorteil für die 40 mg AtalurenDosis galt unabhängig davon, ob die Patienten Glucocordicoide erhalten
hatten.
12.3.2 Becker´sche Muskeldystrophie
Effekt von Sildenafil bei Beckerscher Muskeldystrophie (70)
Patienten mit Becker´scher Muskeldystrophie und Duchenne´scher
Muskeldystrophie haben keine neuronale Nitritoxydsynthase, die insbesondere
dafür nützlich ist, eine ausreichende Muskeldurchblutung zu garantieren. Im
Mäusemodell hatte der Einsatz einer neuronalen NOS restaurierenden
Medikation mit Sildenafil (Phosphordiesterase-5-Inhibitor) zu einer
Verbesserung der Skelettmuskel- und Herzmuskelfunktion geführt. Auch bei
Patienten mit Becker´scher Muskeldystrophie führt Sildenafil zu einer
Verbesserung des Blutflusses.
In dieser Studie sollte randomisiert und doppelblind sowie placebokontrolliert in
einem Cross-over-Design in zwei 4wöchigen Behandlungszyklen, die durch
eine 2wöchige washout-Phase getrennt waren, der Einsatz von Sildenafil und
dessen Wirkung auf Skelettmuskel- und Herzmuskelfunktion untersucht
werden. 16 Patienten beendeten sämtliche Untersuchungen des
Skelettmuskels und 13 kardiale MRT-Untersuchungen. Sildenafil hatte keine
positive Wirkung auf die maximale Handkraft, brachiale arterielle Durchblutung,
6 min Geh-Test, maximale oxidative Kapazität, Lebensqualität und
Herzfunktion (mittels MRI getestet). Keine der Patienten wies nennenswerte
Nebenwirkungen auf. PDE 5 und nNOS waren in 5 Muskelbiopsien nicht
nachweisbar. Somit ist im Gegensatz zum Tiermodell mit Dystrophinopathie
eine Verbesserung in dieser doppelblinden Studie unter Sildenafil weder für
den Skelett- noch für den Herzmuskel nachgewiesen worden. Diese
Diskrepanz zwischen Tiermodell und Becker-Patienten könnte am ehesten
durch eine Downregulation der Phosphordiesterase 5 im Muskel erklärt sein.
Follistatin Gen Therapie bei Beckerscher Muskeldystrophie (71)
In dieser Studie wurde ein potenter Myostatin-Antagonist, nämlich Follistatin
bei Becker´scher Muskeldystrophie verwendet. Von 3 untersuchten Patienten
verbesserte sich 1 Patient um 58 und der andere um 125 m im 6-min-Gehtest.
Ein dritter Patient zeigte keine Verbesserung. Bei höher dosiertem Follistatin
kam es bei einem Patienten zu einer Verbesserung von 108 und bei dem
anderen um 29 m im 6-min-Gehtest. Ein dritter Patient zeigte auch hier keine
Verbesserung. Nebenwirkungen konnten nicht festgestellt werden. In der
histologischen Nachanalyse konnte eine Verringerung der endomysialen
Fibrose, der zentralen Kerne, normalere Faserkaliber mit teilweise vorliegender
Muskelhypertrophie unter Hochdosis nachgewiesen werden.
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Seite 35
Kommentar: Die Follistatin-Therapie bei Beckerscher Muskeldystrophie schein
ein vielversprechender und sicherer Therapieansatz zu sein, der unbedingt
weiter verfolgt werden muss.
Abbildung 8: Muskelbiopsien im Verlauf einer Follistatin Gen Therapie bei Beckerscher
Muskeldystrophie. Muskelbiopsien vor Behandlung (a) und nach Behandlung (b-d). [aus
Mendell JR (2015) Molecular Therapy 23:192-201].
12.3.3 Gliedergürteldystrophie (72)
Die amerikanische Akademie für Neurologie (American Academy of Neurology)
publizierte in diesem Jahr eine Leitlinie zur Diagnose und Behandlung der
Gliedergürtel- und distalen Muskeldystrophien. Sie weisen darauf hin, dass die
Gliedergürtelmuskeldystrophien selten sind und eine Prävalenz von 0,07 –
0,43 pro 100 000 aufweisen. Manche der Gliedergürtelmuskeldystrophien
haben sehr charakteristische Muskelverteilungen, kardiale Abnormalitäten,
extramuskuläre Auffälligkeiten und Muskelbiopsiebefunde. Alle Patienten
sollten kardiologisch evaluiert werden. Bei denen, die eine Beeinträchtigung
der Atemfunktion aufweisen, sollte ein enges Monitoring erfolgen und
Patienten sollten in speziellen Zentren regelmäßig gesehen werden. Patienten
mit Gliedergürteldystrophie sollten bis auf Weiteres keine Gentherapie,
Myoblastentransplantation,
Antikörper
gegen
Myostatin
oder
Wachstumshormone außerhalb einer Studie erhalten.
Effektivität von Vitamin C, E, Zink,
fazioscapulohumeraler Muskeldystrophie (73)
Selen
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
bei
Patienten
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Die fazioscapulohumerale Muskeldystrophie (FSHD) ist eine autosomaldominant vererbte Erkrankung mit progressiver Muskelschwäche und Atrophie
der Muskulatur sowie fazialer Muskelschwäche. Es gibt zunehmend Hinweise
darauf, dass auch bei dieser Muskeldystrophie der oxidative Stress ein
nennenswertes Ätiopathogenese-Agens darstellt. Aus diesem Grunde könnte
der Einsatz von Antioxidantien hilfreich sein. Der Ansatz dieser Arbeitsgruppe
aus Frankreich und Belgien beinhaltete somit die Fragestellung, ob orale
Administration von Vitamin C, E, Zink und Selen die Muskelkraft von FSHDPatienten verbessern könne. Dazu wurden 53 Patienten in Montpellier einer
randomisierten doppelblinden placebokontrollierten klinischen Pilotstudie
unterzogen. Die Patienten wurden randomisiert und erhielten 500 mg Vitamin
C, 400 mg Vitamin E, 25 mg Zinkglukonat und 200 µg Selenmethionin oder ein
entsprechendes Placebo täglich für 17 Wochen. Der primäre Studienparameter
war die Veränderung der Gehstrecke im 2-min-Gehtest, die maximale
willkürliche Muskelkraft und die Ausdauerfähigkeit. Dazu kamen biochemische
Analysen des oxidativen Stoffwechsels. Signifikant verbesserten sich einige
Muskelparameter. Allerdings zeigte sich kein positiver Effekt bezüglich des 2min-Gehtests.
12.3.4 Myotone Dystrophie (74)
In einem Übersichtsartikel wurde die Diagnose, das Management und neue
Therapieformen der häufigsten Myopathie beim Erwachsenen, nämlich der
myotonen Dystrophie von Turner und Hilton-Jones (5) diskutiert. Nach wie vor
gibt es keine Heilung dieser Erkrankung, aber pro-aktives Management kann
die Morbidität und Mortalität deutlich reduzieren. In in-vitro-Studien und in
Tiermodellen konnten bereits erhebliche Fortschritte durch Gentherapie erzielt
werden, so dass zu hoffen ist, dass auch beim Patienten durch moderne
Gentherapie Verbesserungen zu erzielen sein werden.
12.3.5 Proteasomen Inhibitoren erhöhen Missense-mutiertes Dysferlin in
Patienten mit Muskeldystrophie (74b)
Für Patienten mit rezessiv vererbter progressiver Muskeldystrophie, die auf
eine genetische Störung im Muskelmembran-Reparatur-Protein Dysferlin
beruhen, gibt es derzeit keine Behandlungsmöglichkeit. Es konnte aber
nachgewiesen werden, dass durch zwei Pathogene DYSF alleles, die für
Dysferlin kodieren und Missense-Mutationen tragen, letzten Endes eine sehr
niedrige Dysferlin-Konzentration gefunden wurde, d.h. es muss Mechanismen
geben, die das trunkierte Dysferlin abbauen. Es muss sich dabei um das
Proteasom handeln. Aus dieser Überlegung wurden drei Patienten mit
muskulärer Dystrophie (beruhend auf einer Arg555Trp Mutation des Dysferlin
mit dem Proteasom Inhibitor Bortezomib behandelt und die DysferlinExpression in Monozyten und Skelettmuskel durch wiederholte perkutane
Muskelbiopsien kontrolliert. Die Expression des Missense-mutierten Dysferlin
im Skelettmuskel und in den Monozyten der drei Patienten waren merklich
erhöht und das Dysferlin war an korrekter Stelle im Sarkolemm der
Muskelfasern histologisch nachweisbar. Das trunkierte Dysferlin zeigte eine
Restfunktion, so dass die Autoren schlussfolgern, dass eine Inhibierung des
Proteasomen-Systems bei Patienten mit Dysferlinopathie oder anderen
genetischen Erkrankungen ein durchaus hilfreicher Therapieansatz darstellen
könnte.
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
12.4
Amyotrophe Lateralsklerose
12.4.1
Symptomatik
Differentialdiagnose von Faszikulationen (75)
Die amyotrophe Lateralsklerose hat ein kumulatives Lebensrisiko von einer
Person aus 400. Es gibt keine effektive Behandlung. Die ALS wird aufgrund
ihrer progressiven Lähmungserscheinungen der willkürlichen Muskulatur
inklusive derer, die zum Atmen notwendig sind, besonders gefürchtet.
Dementsprechend ist die amyotrophe Lateralsklerose mittlerweile die
Erkrankung mit der höchsten Selbstmordrate, wenn man die Patienten mit
einbezieht, die nach Euthanasie bei dieser Erkrankung nachfragen. Aus
diesem Grunde ist es sicherlich für den behandelnden Arzt und den Patienten,
der sich im Internet informiert, ein erschreckendes Zeichen, wenn
Faszikulationen auftreten. Faszikulationen sind eines der Hauptsymptome der
amyotrophen Lateralsklerose und eines der frühesten Warnzeichen für eine
Motoneuronerkrankung. Faszikulationen sind sichtbare, kleine und rasch
ablaufende fast an Würmchen erinnernde Kontraktionen der Muskelfasern, die
spontan und intermittierend auftreten. Die vorliegende Arbeit (75) macht es
sich dankenswerterweise zur Aufgabe, einmal kritisch zu beleuchten, welche
Differentialdiagnosen beim Auftreten von Faszikulationen zu stellen sind.
Zweifelsohne besteht Übereinstimmung darin, dass Faszikulationen Ausdruck
von Störungen des peripheren Nervensystems sind, die bei Gesunden und bei
Patienten mit Motoneuroerkrankungen auftreten können. Erst 1963 führten
Reed und Kurland (1963) (76) aus, dass Faszikulationen auch beim Gesunden
auftreten können. In einer jüngeren Arbeit wurde z. B. beschrieben, dass bei
20 Ärzten, die Faszikulationen aufwiesen, 14 befürchteten, an ALS erkrankt zu
sein. Meist treten die Faszikulationen beim Gesunden in den unteren
Extremitäten auf und die Patienten weisen eine normale Muskelkraft auf.
Elektrophysiologische Studien sind unauffällig bis auf den Nachweis der
Faszikulationen. Als häufigste Ursache beim Gesunden für das Auftreten
benigner Faszikulationen gelten Sport, Stress, Müdigkeit, Koffeinabusus und
vieles mehr. Es scheint auch ein benignes Faszikulations-Crampus-Syndrom
zu geben. Bei Patienten mit Motoneuronerkrankungen kann es sich um
Patienten mit ALS, progressiver spinaler Muskelatrophie, monomelischer
Amyotrophie, dem Postpoliosyndrom oder der Kennedy-Erkrankung handeln.
Aber auch bei systemischen Erkrankungen, wie z. B. Phosphatmangel oder
Kalziumstörungen im Rahmen eines Hyperparathyroidismus kann es zu
Faszikulationen kommen. Viele der von uns verabreichten Medikamente, wie z.
B. Corticosteroide, Neostigmin, Nortriptylin, Lithium, Flunarizin oder Isoniazid
können ebenfalls zu Faszikulationen führen.
Abbildung 9: Differentialdiagnose von Faszikulationen [aus Leite MAA (2014) Neurology
International 6:5208].
Fasciculations
in
healthy
Coffee; exhaustive physical activity/fatigue; stress; cramp syndrome and
subjects
benign fasciculations
Fasciculations associated with
Espino-cerebellar degeneration-type 3; espino-cerebellar degeneration-type
movement disorders
36; parkinsonisms (multiple system atrophy, ALS-plus syndromes)
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Systemic diseases
Hipertiteoidism; syndrome of inappropriate secretion of thyrotropin (Ohba);
hypophosphatemia, calcium disorders secondary to hyperparathyroidism
Drugs and/or intoxications by
Neostigmine;
heavy metals pollutants
intoxication; association of lithium and nortriptyline; flunarizine; isoniazid
corticosteroids;
succinylcholine;
elemental
mercury
Kommentar: Aus diesem Artikel kann die wichtige Lehre gezogen werden,
dass Faszikulationen primär abzuklären sind, bevor davon auszugehen ist,
dass ein solcher Patient an einer amyotrophen Lateralsklerose erkrankt ist. In
vielen Fällen wird man Entwarnung geben können und die Ängste des
Patienten damit korrigieren können.
12.4.2
Therapie der ALS
Hochkalorische Ernährung (77)
Wills et al. (3) nahmen sich in einer doppelblinden, Placebo-kontrollierten
Studie vor, zu prüfen, ob eine hyperkalorische enterale Ernährung bei
Patienten mit amyotropher Lateralsklerose von Vorteil sein könnte. Diese
Untersuchung ist zum einen gut durchgeführt, obwohl sie an einer kleinen
Patientenzahl (24 Personen mit ALS) durchgeführt wurde. Sie ist andererseits
aber deshalb von höchstem Interesse, weil eine hochkalorische Ernährung
zunächst einmal sicher erscheint und potentielle Verbesserungen der
Lebenssituation von ALS-Patienten naheliegend sind. Vierundzwanzig
Patienten, die bereits eine Gastrostomie hatten, wurden in drei verschieden
Therapiearme aufgeteilt. Im ersten Therapiearm erhielten sie eine
isokalorische Ernährung, d.h. sie erhielten so viele Kalorien von außen
zugeführt, wie sie verbrauchten. Die zweite Gruppe erhielt eine
kohlenhydratreiche Diät mit einem Plus an Kalorien und in der dritten Gruppe
wurde eine fettreiche Nahrung mit ebenfalls hoher Kalorienzahl appliziert.
Diese Studie macht deswegen Sinn, weil es unstrittig zu sein scheint, dass die
amyotrophe Lateralsklerose zu Hypermetabolismus und damit Kachexie führt.
In Voruntersuchungen an Mäusen war darüber hinaus schon gezeigt worden,
dass hochkalorische Nahrung vorteilhaft war. Letzten Endes weiß man auch,
dass ALS-Patienten zu wenig Nahrung zu sich nehmen und dass die
Patienten, die eine leichte Adipositas und nüchtern hohe Lipidkonzentrationen
aufwiesen, eine verlängerte Lebenserwartung im Vergleich zu Patienten, die
bereits unterernährt wirkten, aufwiesen. In der Lancet-Arbeit von Wills und
Kollegen zeigten die Autoren, dass beide hochkalorische Diäten gut toleriert
wurden und sicher erschienen. Insbesondere die Patienten, die die
hochkalorische und kohlenhydratreiche Ernährung bekamen, wiesen sehr
wenige Nebenwirkungen auf. Keiner von neun Patienten, die die
kohlenhydratreiche Ernährung erhielten, starben während der fünf Monate
follow-up-Beobachtung, was im Kontrast zu drei Personen von sieben
Patienten steht, die in der Kontrollgruppe waren und zu einem Patienten von
acht, die die fettreiche Ernährung erhielten. Leider ist die Studie, wie oben
bereits erwähnt, mit drei Studienarmen bei insgesamt 24 Patienten klein, so
dass sie nur explorativen Charakter haben kann. Darüber hinaus hatten die
Patienten bei Beginn der Studie bereits 20 % ihres ursprünglichen
Körpergewichtes verloren, so dass auch eingewandt werden muss, dass diese
Diät relativ spät zum Tragen kam.
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Kommentar: Diese Studie ist von hohem Interesse und verdient in einer
größeren Phase-III-Studie noch einmal in einem ähnlichen Design untersucht
zu werden. Leider wird es aber schwierig sein, vor einer Ethikkommission und
vor dem eigenen ärztlichen Gewissen zu verantworten, noch einmal einen
Placeboarm mitzuführen. Somit haben Wills und Kollegen einen wichtigen
ersten Schritt für eine leichte Verbesserung der Situation für ALS-Patienten
getan.
Ist Vitamin D-Gabe für Patienten mit amyotropher Lateralsklerose
sinnvoll (78)
Vitamin D-Mangel ist ein sehr häufiger Laborbefund unabhängig von der
zugrundeliegenden Erkrankung und wird gerade bei unseren neurologischen
Patienten sehr häufig beobachtet. In größeren Fallserien konnte so z. B.
nachgewiesen werden, dass überdurchschnittlich viele Patienten mit Multipler
Sklerose oder Myasthenia Gravis einen Vitamin-D-Mangel aufweisen. Vitamin
D-Rezeptoren sind im Gehirn exprimiert und auch die enzymatische
Maschinerie zur Produktion von Vitamin D ist beim Menschen voll aktiv. Zu
dem weiß man, dass Vitamin D eine positive Beeinflussung der Muskelkraft
erzielen kann, in dem es unter anderem die Muskelfaserdurchmesser
vergrößert und andererseits bei einem Knock-out der Vitamin D-Rezeptoren im
Labortier zu einer Muskelverschmächtigung führt. Wenn bei diesen Tieren
Vitamin D supplementiert wird, kommt es zu einer Zunahme des
Muskelproteins und der ATP-Produktion. Vitamin D kann auch als Antioxidans
betrachtet werden, da es in mehreren Laboruntersuchungen gegen oxidativen
Stress und Entzündung bei Patienten mit Multipler Sklerose, rheumatoider
Arthritis, Herzinsuffizienz, Parkinson oder Alzheimer-Erkrankung positiven
Einfluss nahm. Letzten Endes ist auch Vitamin D ein taugliches Instrument,
eine Hypoxigenierung des Gehirnes abzumildern und letzten Endes zu hohe
Glutamatspiegel in vitro abzupuffern. Die oben genannten Pathomechanismen
des Vitamin D wären somit überzeigende Möglichkeiten in der Therapie von
Patienten mit amyotropher Lateralsklerose. Die Autoren dieses Artikels haben
in einem ersten Schritt in einem Mäusemodell der ALS zeigen können, dass in
der Tat Vitamin D3-Applikation zu einer Verbesserung der Muskelfunktion und
Vitamin D3-Restriktion zu einer verschlechterten Muskelfunktion ihrer
Labortiere führte. Somit ist ausreichend Grund gegeben zu fordern, dass bei
Patienten mit einer ALS eine Studie aufgelegt werden müsste, die den Effekt
von Vitamin D prüft.
Kommentar: Die positiven Effekte von Vitamin D3 bezüglich der ALS sind so
offenkundig, dass durchaus aus diesen Überlegungen geschlussfolgert werden
darf, ex invantibus Patienten mit ALS bei Beginn von Muskelschwund Vitamin
D3-Substitution angedeien zu lassen.
Ceftriaxon als mögliche Therapie bei ALS? (79)
In Lancet Neurology wurde in diesem Jahr von Cudkowicz und anderen (4)
eine randomisierte, doppelblinde, Placebo-kontrollierte Studie publiziert, die die
Sicherheit und Effektivität von Ceftriaxon bei Patienten mit amyotropher
Lateralsklerose untersuchte. Als bisher einzige Medikamentenintervention bei
ALS ist Riluzol zugelassen. Riluzol korrigiert die glutamaterge Exzitotoxizität
von Patienten mit ALS. In Tiermodellen und in menschlichem Gewebe konnte
zusätzlich gezeigt werden, dass die Konzentrationen des exitatorischen
Aminosäuretransporters 2 (EAAT2), der das synaptische Glutamat klärt,
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
reduziert ist. Somit wäre zu spekulieren, dass eine Überexpression dieses
Transporters zu einer Verbesserung der Erkrankung und damit der
Überlebenszeit beitragen könnte. Ceftriaxon ist eine solche Substanz, die
EAAT2-Aktivität erhöhen kann. In Tiermodellen ist Ceftriaxon auch geeignet,
glutamaterge Exizitotoxizität z.B. bei spinaler Muskelatrophie, Huntington,
Ischämie oder Multipler Sklerose positiv zu beeinflussen. Aus diesem Grunde
wurde in dieser Studie dreiphasig die Sicherheit und Effektivität von Ceftriaxon
studiert. Es handelte sich dabei um eine randomisierte, doppelblinde, Placebokontrollierte Studie, die an 59 Kliniken in den Vereinigten Staaten und Canada
zwischen 2006 und 2012 durchgeführt wurde. Es durften erwachsene
Patienten mit ALS und mit einer Vitalkapazität von mehr als 60 % der Norm
und mit einer Krankheitsdauer von weniger als drei Jahre rekrutiert werden. In
den Phasen I (Pharmakokinetik) und II (Sicherheit) konnten die Teilnehmer in
einer Randomisierung von 2:1 zu Ceftriaxon oder Placebo randomisiert
werden. In Phase III (Effektivität) erhielten die Patienten 4 g Ceftriaxon,
wohingegen in den Phasen I und II 2 bzw. 4 g pro Tag appliziert wurden. Die
Teilnehmer, Familienmitglieder und die lokalen Untersucher waren bezüglich
der Medikation verblindet. Die Patienten erhielten zu Hause 2 g Ceftriaxon
oder Placebo 2 x täglich durch einen zentralen intravenösen Zugang. Um
Gallenblasenprobleme zu minimieren, erhielten die Ceftriaxon-Patienten noch
zusätzlich 300 mg Ursodeoxycholic acid 2 x täglich und die Placebotherapierten erhielten statt dessen zusätzliche Placebokapseln. Die beiden
primären Studienziele waren Überleben und Funktionsfähigkeit der Muskulatur
entsprechend der Amyotrophic Lateral Sclerosis Functional Rating ScaleRevised (ALSFRS-R). In Phase III wurden 66 Patienten der Phasen I und II
sowie 448 neue Teilnehmer rekrutiert. Somit konnten insgesamt letzten Endes
340 Patienten zu Ceftriaxon und 173 zu Placebo randomisiert werden. In den
Phasen I und II ging die ALSFRS-R bei den Patienten die 4 g Ceftriaxon
erhielten, weniger schnell zurück als bei den Placebo-therapierten. In der
Phase III gab es leider keinen Unterschied bezüglich der funktionellen
Verschlechterung in den Behandlungsarmen und es konnte auch keine
signifikante Differenz im Überleben zwischen den einzelnen Gruppen
nachgewiesen werden. Gastrointestinale und hepatobiliäre Nebenwirkungen
wurden bei weitem häufiger in der Ceftriaxon-Gruppe als in der PlaceboGruppe nachgewiesen (72 % versus 56 % für gastrointestinale Störungen und
62 % versus 11 % für hepatobiliäre Nebenwirkungen beim Vergleich von
Ceftraixon und Placebo).
Kommentar: Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass trotz
einer überzeugenden Ratio der Einsatz von Ceftriaxon bei Patienten mit
amyotropher Lateralsklerose keine nennenswerte Verbesserung des klinischen
Bildes bzw. der Überlebenszeit erbringen dürfte.
Sind Lithiumcarbonat oder Valproinsäure geeignete Medikamente, die
sporadische ALS günstig zu beeinflussen? (80)
In den vergangenen Jahren wurden sehr unterschiedliche Ergebnisse zur
Lithium-Therapie bei Patienten mit ALS publiziert. Derzeit ist die
vorherrschende Meinung, dass Lithium keinen Platz in der Therapie der
amyotrophen Lateralsklerose einnehmen sollte, obwohl Lithium in Tiermodellen
und Zellkulturen hervorragende Effektivitäten hatte vermuten lassen. Im
Tiermodell konnte zudem gezeigt werden, dass Lithium zusammen mit
Valproinsäure effektiver war als Lithium oder Valproinsäure allein.
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Aus diesem Grunde legte dieses amerikanische Konsortium die hier publizierte
Studie auf, um zu prüfen, ob die Coadministration von Lithiumcarbonat und
Valproinsäure in der Lage wäre, die Überlebensrate von ALS-Patienten zu
modifizieren. In dieser Studie wurden 18 Patienten aufgenommen, die mit 31
Kontrollen verglichen wurden, die diese Kombinationstherapie nicht erhielten.
Die Patienten wurden sehr sorgfältig bezüglich Geschlecht, Alter,
Krankheitsprogression, Krankheitszeit angeglichen. Die Patienten durften im
Vorfeld weder Lithium noch Valproinsäure erhalten haben und es wurde die
ALSFRS-R bei Studienbeginn nach einem Monat und alle vier Monate bis zum
Tod oder einer schweren Nebenwirkung evaluiert. Im Plasma wurde bei den
Patienten zudem nach Kupfer-Zink-Superoxid-Dismutase und GlutathionPeroxidase-Aktivität
gefahndet.
Lithiumcarbonat
wurde
langsam
einschleichend von 150 bis auf 600 mg innerhalb von zwei Wochen appliziert.
In ihrer Studie konnten sie zeigen, dass diese biochemischen Marker allesamt
besser waren als im Vergleich zu den Patienten, die im Placeboarm waren.
Kommentar: Eventuell wird hier ein Königsweg aufgezeigt, dass nämlich die
Kombination aus Valproinsäure und Lithium zu einer Verbesserung der
Muskelkraft und Überlebensdauer bei Patienten mit amyotropher
Lateralsklerose verhelfen könnte.
Olesoxim in Patienten mit ALS: eine Phase II-III Studie (81)
In Voruntersuchungen konnte gezeigt werden, dass Olesoxim (cholest-4-one,
3-oxime) die Fähigkeit hat, motorische Neurone in vitro vor dem Zelltod zu
bewahren, wenn den Zellen neurotrophe Faktoren entzogen wurden. Es ist
davon auszugehen, dass der Verlust von neuromuskulären Endplatten und
distalen Schädigungen von Axone zu einer verminderten Freisetzungen von
neurotrophen Faktoren führt, eine Situation, die für die ALS typisch ist.
Olesoxim bindet zwei Membranproteine, die auf der äußeren
Mitochondrienmembran liegen und verhindert die Freisetzung von
Apoptosefaktoren. Darüber hinaus scheint es die Mikrotubulusaktivität zu
unterstützen. Aufgrund dieser Überlegungen wurde in dieser Studie Olesoxim
doppelblind, randomisiert, Placebo-kontrolliert über 18 Monate bei insgesamt
512 Patienten mit einer wahrscheinlichen oder sicheren ALS und einer
Vitalkapazität von zumindest 70 % verwandt. Es wurden 330 mg Olesoxim
täglich zusammen mit 50 mg Riluzol, was zweimal täglich appliziert wurde, in
der Studie gegen Placebo verglichen. Das primäre Studienziel war die
Überlebensrate nach 18 Monaten. Als sekundäre Studienziele wurde die
Veränderung auf der ALSFRS-R nach neun Monaten, der Vitalkapazität und
der groben manuellen Muskelkraft herangezogen. Blutspiegel, Sicherheit und
Tolerabilität von Olesoxim waren weitere Studienparameter. Nach 18 Monaten
waren 154 von 512 Patienten der Studie verstorben, nämlich 79 aus den 253
Placebo-therapierten und 75 der 259 Olesoxim behandelten Patienten.
Insgesamt war die Überlebensrate entsprechend der Kaplan-Meier-Analyse
67,5 % in der Placebo-Gruppe und 69,4 % in der Olesoxim-Gruppe, so dass
hier keine statistische Signifikanz erreicht wurde. Auch die übrigen oben
genannten Studienparameter waren allesamt negativ mit einer kleinen
Ausnahme, nämlich einer diskret verringerten Verschlechterung des ALSFRSR Global Scores nach neun Monaten, was aber nach 18 Monaten wieder
relativiert war.
Kommentar: Trotz der überzeugenden Wirksamkeit von Olesoxim in Tier- und
Zellkulturmodellen konnte auch für diese Substanz bei Patienten mit
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
amyotropher Lateralsklerose, die bereits Riluzol erhielten, kein zusätzlicher
Nutzen gezeigt werden. Ähnlich negative Ergebnisse würden für andere
mitochondriale Funktionsverbesserer, nämlich Kreatin, Minocyclin und
Despramipexol in vorangegangenen Studien gezeigt. Somit scheinen die
Tiermodelle doch nur von sehr beschränkter prädiktiver Potenz für den
Menschen zu sein.
Wirksamkeit des Radikalenfänger Edaravone (MCI-186) in ALS (82)
Es wird allgemein akzeptiert, dass auch beim Untergang motorischer Neurone
bei Patienten mit amyotropher Lateralsklerose oxidativer Stress mit freien
Radikalen eine wesentliche Rolle spielt. Deswegen sollte in dieser Studie
Edaravone, das von Mitsubishi Tanabe Pharma Corporation Tokyo hergestellt
wird, verwendet werden, da es sich hierbei um einen Radikalenfänger handelt,
der bereits für die Behandlung des Schlaganfalles (in Japan seit 2001)
zugelassen ist. Positive Effekte von Edaravone waren in Tiermodellen mit ALS
nachgewiesen worden und in einer Phase II Studie wurden die Sicherheit und
Effektivität von Edaravone in ALS-Patienten geprüft und dabei gezeigt, dass
die motorische Dysfunktion abgebremst werden konnte und keine
nennenswerten Nebenwirkungen durch Edaravone ausgelöst wurden. Im
Liquor der Patienten war der Spiegel an 3NT (3-Nitrotyrosin) niedriger als bei
Kontrollen, so dass durchaus anzunehmen war, dass Edaravone eine
neuroprotektive
Wirksamkeit
im
Rahmen
eines
antioxidativen
Wirkmechanismus aufweist. Aus diesem Grunde wurde eine zweite Phase III
Studie etabliert, in der 36 Wochen (12 Wochen Observation, 24 Wochen
Behandlungsphase) Patienten Placebo oder Edaravone-Infusionen über 60
Minuten für die ersten 14 Tage im Zyklus 1 und für 10 der ersten 14 Tage im
Zyklus 2-6 erhielten. Konkret wurde somit in sechs Zyklen, die jeweils aus 14
Tage Behandlung und 14 Tage Observation bestanden, die oben genannte
Therapie bzw. Placebo appliziert. 104 Patienten erhielten Placebo und 102
Patienten Edaravone. Die Verschlechterung im ALSFRS-R Score betrug im
Rahmen der 24-wöchigen Behandlungsphase 6,35 ± 0,84 in der PlaceboGruppe und 5,70 ± 0,85 in der Edaravone-Gruppe, was keine Signifikanz
aufwies. Nebenwirkungen traten in 88,5 % der Placebo-Gruppe und 89,2 % der
Edaravone-Gruppe auf. Somit waren die Nebenwirkungen ähnlich verteilt und
im Gegensatz zur Vorstudie konnte in dieser Studie für Edaravone kein
positiver Effekt nachgewiesen werden. Die Forschergruppe möchte trotz
dieses Ergebnisses in einer Phase III Studie nunmehr Patienten rekrutieren,
die eine sehr rasche Krankheitsprogredienz aufweisen, da sie glauben, bei
diesen Patienten eventuell einen positiven Effekt erzielen zu können.
Kommentar: Ein weiterer Radikalenfänger, Edaravone, ist leider daran
gescheitert, bei Patienten mit ALS einen positiven Effekt zu zeigen.
Rekombiniertes menschliches Erythropoietin in ALS-Patienten (83)
Es konnte bereits gezeigt werden, dass Erythropoietin in Tiermodellen in
neurodegenerativen Erkrankungen inklusive der amyotrophen Lateralsklerose,
neuroprotektive Wirksamkeit aufweist. In dieser Studie sollte somit die
Sicherheit und Effektivität von repetitiven Hochdosis-Applikationen
rekombinanten humanen Erythropoietins bei ALS-Patienten untersucht
werden. Dazu wurden zwei konsekutive Studien aufgelegt. In der ersten
wurden 26 Patienten für eine initiale einarmige Sicherheitsstufe rekrutiert. Nach
drei Monaten, die dazu dienten, die Krankheitsprogression für jeden einzelnen
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
Patienten zu studieren, wurden 35.000 Einheiten an rekombinanten
menschlichem Erythropoietin einmal pro Monat, drei Monate lang, appliziert
und die Patienten dann noch weitere drei Monate danach weiter studiert. In der
ALSFRS-R sollte die klinische Effektivität dieser Therapie geprüft werden.
Dieser erste Studienarm zeigte eine hohe Sicherheit von Erythropoietin, so
dass in einer zweiten Stufe 60 Patienten rekrutiert wurden (Erythropoietin bzw.
Placebo), die insgesamt sechs Infusionen erneut einmal pro Monat über einen
Zeitraum von einem halben Jahr erhielten. Insgesamt traten in dieser Studie
keine nennenswerten Nebenwirkungen im ersten Studienarm auf. Während der
ersten drei Therapiemonate war die Verschlechterung der ALSFRS-R Scala
bei Verum-Therapierten langsamer, was sich drei Monate später aber wieder
relativiert hatte. In der zweiten Studie war die Verschlechterung der ALSFRS-R
Skala signifikant geringer bei Arythropoietin-therapierten, als in der
Kontrollgruppe.
Kommentar: Im Gegensatz zu den vielen anderen dargestellten Studien
scheint Erythropoietin einen positiven Effekt bei Patienten mit amyotropher
Lateralsklerose zu besitzen, so dass sicherlich von Seiten der Autoren eine
größere Studie angestoßen werden wird.
Körperliche Betätigung bei ALS (84)
In Voruntersuchungen konnte gezeigt werden, dass übertriebene körperliche
Betätigung für Patienten mit ALS negative Implikationen hat. Übertriebene
körperliche Betätigung könnte sehr wohl zu oxidativem Stress und
glutamaterger Exizitotoxizität führen, zwei Situationen, die bei ALS-Patienten
bereits vorliegen. Somit wollte diese Studiengruppe aus Europa prüfen, ob
körperliche Betätigung als Risikofaktor für die ALS anzusehen ist. Dazu wurde
von 2008 bis 2012 652 Patienten mit ALS in Frankreich, Irland, Italien, UK,
Serbien und 1.166 Kontrollen, die bezüglich Alter, Geschlecht und Wohnort
sorgfältig angeglichen wurden, analysiert. Durch Interviews wurden der
berufliche Hintergrund sowie das Ausmaß an Sport- und Freizeitaktivitäten,
körperlicher Betätigung und Sportunfälle dokumentiert. Als körperliche
Betätigung wurden solche Aktivitäten deklariert, die zu starken Atem führte und
mindestens einmal pro Monat bei den Befragten vorkommen sollte. Für die
sport- und arbeitsbedingten körperlichen Betätigungen wurden metabolische
Äquivalente errechnet. Insgesamt wurde körperliche Betätigung mit einer
reduzierten Wahrscheinlichkeit ALS zu haben assoziiert. Eine inverse
Korrelation wurde zwischen ALS, der Länge der körperlichen Betätigung und
des kumulativen metabolischen Äquivalenz-Scores beschrieben. Eine inverse
Korrelation zwischen ALS und Sport zeigte sich insbesondere bei Frauen, aber
nicht in Männern und bei solchen Patienten mit wiederholten
Sportverletzungen.
Kommentar: Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass
körperliche Betätigung entsprechend dieser Studie kein Risikofaktor für ALS
darstellt und sogar protektiv gegen diese Erkrankung zu sein scheint.
Frustrane Ergebnisse bei Studien verschiedenster Medikamente für
Patienten mit ALS (85,86)
In den letzten Jahren wurden mehr als 50 randomisierte, kontrollierte,
doppelblinde Studien bei ALS-Patienten durchgeführt, die allesamt negativ
verliefen. In all diesen Studien, wie z. B. mit Lithium, wurden Medikamente
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
oder Substanzen verwandt, die in der Zellkultur oder im Tiermodell eine
positive Beeinflussung der ALS nahe gelegt hatten. In zwei hervorragenden
Artikeln (85,86) wurde dargestellt, dass diese negativen Ergebnisse auf
verschiedensten Grundlagen beruhen können. So könnten durchaus sehr
inhomogene Patientenpopulationen studiert worden sein, die präklinischen
Studien könnten falsch interpretiert worden sein, die pharmakologischen
Überlegungen und auch das Studiendesign und die Methodik könnten mit
Ursache für die negativen Studienergebnisse gewesen sein. Andererseits ist
fast zu befürchten, dass die umfangreichen Analysen eine wirklich
überzeugende Effektivität einer der studierten Substanzen nicht übersehen
haben dürften.
Bestrahlung der Speicheldrüsen bei Hypersalivation (87)
Viele Patienten mit ALS leiden an einer Hypersalivation. Gründe für die
Sialorrhoe sind die Gesichtsmuskelschwäche und die Beeinträchtigung des
Schluckens bei Patienten mit amyotropher Lateralsklerose. Nachdem die
Sialorrhoe ein sehr stigmatisierendes Symptom darstellt und auch zu
unangenehmer Erstickungsangst bei ALS-Patienten führen kann lag es nahe,
bei Patienten, die mit einer medikamentösen Therapie nicht ausreichend
gebessert waren, an andere Therapiewege zu denken. In dieser Arbeit sollte
bei 50 ALS-Patienten studiert werden, ob Patienten, deren Sialorrhoe mit
Medikamente nicht ausreichend gut therapiert werden konnte, durch eine
Bestrahlung eine zufriedenstellende Besserung der Sialorrhoe erreichen
könnten. Die Patienten waren im Mittel 70 Jahre alt und 66 % der Patienten
wiesen Bulbärsymptome auf. In 60 % der Patienten wurden zweimal 5 Gy am
Tag 1 und 3 bzw. in 40 % der Patienten 4 x 5 Gy an den Tagen 1, 3, 8 und 10
im Bestrahlungsfeld der Glandula submantibularis und beider Parotiden
appliziert. Die Glandula sublingualis und der obere Anteil der Parotis wurden
ausgespart, um eine Xerostomie und Mukositis zu vereiden. Am Ende der
Bestrahlungstherapie hatten sich sämtliche Patienten verbessert. 46, d.h. 92 %
aller Patienten hatten eine komplette Antwort mit Sistieren der Sialorrhoe und
vier Patienten hatten ebenfalls eine recht zufriedenstellende Verbesserung
erzielt. In der Beobachtungsphase von sechs Monaten nach der Radiotherapie
waren immer noch signifikant gute Ergebnisse zu registrieren. Die meisten
Nebenwirkungen traten während der Bestrahlung auf. Somit kann
geschlussfolgert werden, dass eine Bestrahlung mit 20 Gy in vier Fraktionen
eine sehr effiziente und sichere Behandlung von Patienten mit amyotropher
Lateralsklerose und Sialorrhoe ist. Bei Patienten die in einem schlechten
klinischen Zustand sind, wäre die kürzere Version, d.h. lediglich 2 x 5 Gy
Bestrahlungen eine attraktive Alternative.
Kommentar: Aus eigener Sicht würde ich die Applikation von Botulinumtoxin
der Radiatio vorziehen und eine Bestrahlung der Speicheldrüsen lediglich dann
empfehlen, wenn die Botulinumtoxin-Therapie versagt hat.
Nogo-A monoklonaler Antikörper zur Behandlung der amyotrophen
Lateralsklerose (88)
Sowohl bei der Querschnittslähmung als auch bei der amyotrophen
Lateralsklerose war im Vorfeld gezeigt worden, dass der NeuritenWachstumsinhibitor, Nogo-A, im Skelettmuskel bzw. im Rückenmark dieser
Patienten überexprimiert ist. Somit ist Nogo-A sowohl ein potentieller
Biomarker als auch ein mögliches therapeutisches Ziel. Diese Arbeit studierte
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
doppelblind in einer Dosiseskalationsstudie Patienten mit ALS und untersuchte
Sicherheit, Pharmakokinetik und funktionelle Effektivität von Ozanezumab,
einem monoklonalen Antikörper gegen Nogo-A. Zunächst wurden 40 Patienten
mit ALS in einer Ratio von 3:1 entweder mit einer einzelnen Dosis intravenöses
Ozanezumab (0.01, 0.1, 1.5 oder 15 mg pro kg Körpergewicht) bzw. Placebo
therapiert. Im zweiten Teil der Studie wurden 36 Patienten 3:1 randomisiert
und erhielten entweder 2 x intravenöses Ozanezumab (0,5; 2.5; 2; oder 15 mg
pro kg Körpergewicht) bzw. Placebo mit etwa vierwöchigem Intervallen. Die
primären Studienziele waren Sicherheit und Tolerabilität (analysiert wurden
Nebenwirkungen, Vitalzeichen, Elektrokardiogramm und klinische Labortests).
Als sekundäre Endpunkte wurden die Pharmakokinetik, Immunogenizität,
funktionelle Endpunkte (klinisch und elektrophysiologisch) sowie einzelne
Biomarker herangezogen. Insgesamt war Ozanezumab in Dosierungen von
0.01 bis 15 mg pro kg Körpergewicht gut tolerabel. Bei wiederholter
Anwendung von 2,5 und 15 mg pro kg Körpergewicht wurden in der
Ozanezumab-Gruppe etwas mehr Nebenwirkungen als in der Placebo-Gruppe
und der Verum-Gruppe mit 0,5 mg pro kg Körpergewicht Ozanezumab
festgestellt.
Die
Mehrzahl
der
Nebenwirkungen
wurde
als
nichtstudienassoziiert eingestuft. Im EKG oder Labor sowie in den Vitalzeichen
wurde ebenfalls keine studienabhängige Ozanezumab-Nebenwirkung
festgestellt. Ein Patient mit 15 mg pro kg Ozanezumab zeigte eine schwache
positive Antikörperproduktion. Leider wurden weder für Muskelbiomarker noch
für die funktionellen Tests positive Effekte unter Ozanezumab festgestellt.
Kommentar: Somit konnte zusammenfassend zwar gezeigt werden, dass
Ozanezumab in den studierten Dosen gut tolerabel ist und auch zum Muskel
fand, aber in den bisherigen Studien keine nennenswerte Effektivität aufwies.
Trotz dessen gehen die Untersucher davon aus, dass aufgrund gewisser
Signale in den funktionellen Endpunkten eine größere Studie, nämlich eine
Phase II Studie, die bereits begonnen wurde, Sinn macht.
Therapie der Zukunft der ALS (89-91)
Wie oben ausgeführt, wurden auch im vergangenen Jahr mehrere
hervorragend durchgeführte Studien in der Hoffnung durchgeführt, neben
Riluzol noch neue überzeugende Therapiealternativen für Patienten mit ALS zu
etablieren. Leider war die überragende Zahl dieser Studien frustran, so dass
ich auf die oben genannten drei Publikationen hinweisen möchte, in denen
diskutiert wird, ob z.B. mesenchymale Stammzellen, neurotrophe Faktoren
oder doch Substanzen, die die glutamaterge Exizitotoxizität (vergleiche Riluzol)
den oxidativen Stress, die mitochondriale Dysfunktion, die Proteinaggregation,
die SOD1-Akkumulation oder den neuronalen Zelltod adressieren für ALSPatienten eine hoffnungsfrohe Option darstellen könnten. Der 2013 vergebene
Nobelpreis für induzierbare pluripotente Stammzellen könnte auch hier seinen
Niederschlag finden, da ALS-Patienten z.B. Fibroplasten entnommen werden
könnten, die dann zu Neurone, Astrozyten, Oligodendrozyten oder
Mikrogliazellen konvertiert und intraspinal appliziert werden könnten. Hierzu
gibt es einige Untersuchungsansätze und publizierte Vorstudien, die ich in den
vergangenen Jahren auch schilderte, ohne dass bereits eine gesicherte
Evidenz für das Funktionieren dieser Therapieansätze vorhanden ist. Positiv zu
bemerken ist, dass für die ALS-Patienten unentwegt neue Studien aufgelegt
werden. Negativ ist zu betonen, dass derzeit von keiner dieser Studien ein
starkes Signal einer Wirksamkeit generiert werden konnte.
Neuro Update 2015 – Handbuch NEUROLOGIE 2015
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Neuromuskuläre Erkrankungen, H. Reichmann
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