Inspirationsquellen Kersten Reich: „Beziehungsdidaktik ist für mich immer und zuerst eine Wertschätzung gegenüber dem anderen und sich selbst. Wertschätzung gegen sich selbst erscheint im Selbstwert. Virginia Satir hat eindrucksvoll gezeigt, wie der „Selbstwerttopf“ bestimmend für die Konstruktionen von Wirklichkeiten und von anderen ist. Und als Lerner haben wir viele Lehrende kennen gelernt, die wir von ihrem Selbstwert her auch für die Wertschätzung, die sie geben können, einschätzen: Der Selbstwert entscheidet sehr oft, ob Beziehungen gelingen und wie dann auch die inhaltliche Kommunikation vonstatten geht. Habe ich ein hohes Selbstwertgefühl, dann fällt es mir leichter, Kritik zu ertragen, Niederlagen zu verstehen, nicht mit jedermann Freund werden zu müssen, nein sagen zu können, wenn ich wirklich nein meine, Grenzen zu setzen, auch wenn ich anschließend nicht mehr von allen geliebt werde, Beziehungen mit einem Satz möglichst offen und doch immer wertschätzend und klar gestalten zu können. Für die Seite des anderen bedeutet dies dann, dass ich ein Gefühl für den anderen entwickle, nicht immer erst im Nachhinein erfahre, was ich alles falsch gemacht und wo ich andere verletzt habe, sondern auch schon im Voraus Gefühle eines anderen antizipieren lerne. Wertschätzung fällt uns immer dann leicht, wenn wir unsere eigenen Sichtweisen in anderen spiegeln können: 'So »sind« wir und das ist gut so'. Zur Wertschätzung gehört aber auch, dass ich fremde, zerstörerisch erscheinende, schädigende oder mich störende oder gar verletzende Handlungen zu verstehen suche, ohne sie teilen zu müssen. Wertschätzung auf der Beziehungsseite bedeutet, andere verstehen zu wollen, indem ich ihr Anderssein nachempfinde und beachte. Dazu muss ich das wertschätzen, was »ist«, was mir aber zugleich erlaubt, eine Distanz aufzunehmen und nach der Wertschätzung (= dem Eingeständnis, wie es auch zu mir negativ erscheinenden Handlungen gekommen ist) mit den Beteiligten eine Veränderung des Bestehenden anzustreben. Die Wertschätzung kann also nicht bedeuten, nur sich und seine eigenen Ziele und Vorstellungen zu schätzen. Und dies, so denke ich, ist ein wesentlicher Einstieg in die Beziehungsdidaktik. Und es ist eine Grundvoraussetzung für alle die, die in irgendeiner Form Lehrer/in sein wollen.“ (Kommentar in „Simons Systemischer Kehrwoche“ vom 25.11.2005) Reinhold Miller: Miller (2003) geht davon aus, dass „Beziehungsdidaktik“ „notwendig ist, um die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Schule nicht (nur) der Spontaneität und der Beliebigkeit zu überlassen, sondern um sie bewusst zu machen und zu reflektieren, sie einer kritischen Prüfung zu unterziehen und um vor allem „Übungsfelder“ einzurichten, in denen Beziehungslernen (als Beziehungsarbeit) für Lehrer/innen ebenso wie für Schüler/innen möglich ist.“ Soziale Beziehungen haben immer auch eine Dimension von Nähe und Distanz, und eine andere von Zuneigung und Ablehnung. Dahinter steht immer die Absicht, eine positive Wertschätzung für das eigene Selbst zu schaffen. Um den An- und Herausforderungen des Alltagsleben gewachsen zu sein („life skills“), bedarf es der Mithilfe von Erwachsenen. Sie sind mitverantwortlich für die Entwicklung und Schicksale ihrer Kinder. Orientierung und Kooperation gelingt über Bindung, nicht über Wertung und Disziplin. Kinder und Jugendliche orientieren sich an Bezugspersonen und deren Verhalten, an der Reaktion der Erwachsenen auf ihre Aktion, an der Zuverlässigkeit des Verhaltens der Bezugsperson. Zusammenfassend braucht Beziehung,laut Miller (2005) folgende Voraussetzungen (und das gilt für den familiären ebenso wie für den schulischen Begegnungsraum): kritisches Denken) Rotraud Perner: Ausgeglichene Lehrer/innen schaffen eine entspannte Atmosphäre, in der Kinder und Jugendliche ein Gegenmodell zur (verbalen) Gewaltbereitschaft erhalten. Sie erleben eine Beziehungsform, bei der sie „anerkannt werden, sich selbst als jemand, der das Recht hat zu fragen und eine Antwort zu bekommen und dabei respektiert zu werden (...) und möglicherweise erfährt man sich als jemand, der geachtet, ja geliebt wird, weil er oder sie die andere Person aufzunehmen bereit ist. Das wirkt für die Zukunft.“ (Perner, 2007, S. 170) Rotraud A. Perner entwickelte die PROvokativpädagogik: Sie versteht darunter „Mutig zu sein und Kinder und Jugendliche zu ermutigen, sich selbst in ihrer Person und im Lebensweg zu erkennen und zu führen lernen… PROvokativpädagogik erfordert nach Jahrhunderten eines Bildungssystems, in dem das Unterrichten und Trainieren von Persönlichkeitseigenschaften wie Anpassung und Gehorsam im Vordergrund standen, einen radikalen Paradigmenwechsel zu vollziehen, der vergleichbar mit der Kopernikanischen Wende steht – die Sonne ist der Mittelpunkt unseres Systems – unsere Sonne ist die Persönlichkeit des Kindes und des Jugendlichen.“ Joachim Bauer: Er weist darauf hin, dass die Entfaltung der neurobiologischen Grundausstattung des Menschen nur im Rahmen von zwischenmenschlichen Beziehungen möglich ist, Beziehungen, die aus dem persönlichen und sozialen Umfeld an das Kind herangetragen werden. Ein Kind ohne konsistente und stabile Beziehungen, kann sich selbst nicht konsistent und stabil entwickeln. Daher ist die wichtigste Kompetenz, die wir in unserem Leben brauchen dieBeziehungskompetenz. Denn sie ist auch das Fundament, auf dem Lernen aufgebaut wird. Henri Julius: „Die Herstellung einer guten Beziehung zum Lehrer bzw. der Lehrerin wird im optimalen Fall nicht allein eventuelle Bindungsdefizite zur primären Bezugsperson zu kompensieren vermögen, sondern auch Neugier und Lernbereitschaft steigern. Man kann sich vorstellen, dass die Kenntnis bindungstheoretischer Konzepte Pädagogen helfen könnte, sowohl Interaktionsprozesse zwischen ihnen und einzelnen Schülern als auch innerhalb einer ganzen Gruppe besser zu verstehen.“ (Julius et al, 2009) Kurt Singer: Lehrpersonen sind aufgefordert, mit ihren Schüler/innen in Beziehung zu treten, welche Kinder und Jugendliche so dringend benötigen. Sie wollen wahrgenommen und ernst genommen werden, sie wollen in Kontakt treten, sie wollen gehört werden. Gesprächsbereitschaft beinhaltet Offenheit für das, was das Gegenüber mitteilen möchte – auch wenn es noch so kontrovers und von der eigenen Meinung weit entfernt ist. Singer (o.J.) spricht vom „Pädagogischen Takt“ und meint damit, dass sich Kinder bei taktvollem Lehrerverhalten „sicher sein können, nie bloßgestellt, ausgelacht, nicht unvorhergesehen aufgerufen und ausgefragt oder an die Tafel geschickt zu werden. (vgl. http://www.prof-kurt-singer.de/leitgedanken-konflikte.pdf, S.3) Schüler werden nicht beschämt, Zensuren und Fehler nicht öffentlich bekannt gegeben; Korrekturen erfolgen behutsam, um Schülerarbeiten nicht zu entwerten. Taktvolle Lehrer vermeiden es, Schwächen von Jugendlichen aufzuzeigen, sie durch Ironie oder Spott zu beleidigen. Freundlichkeit ist nicht nur eine Frage des pädagogischen Taktes, sondern ein didaktisches Prinzip: Aus Fehlern lernen, statt die Lernenden damit zu verurteilen. Durch den pädagogischen Takt der Lehrer lernen auch die Kinder, wie man mit Mitschülern und Lehrern achtungsvoll umgeht.“ (ebd., S. 3) Horst Siebert: Ein wesentlicher Punkt, der für alle Konstruktivisten unumgänglich ist, ist die Bedeutung der Emotionalität. Daher schreibt auch Siebert ausgiebig über die emotionale Konstruktion der Wirklichkeit. „Emotionen sind nicht nur die Grundlage für Lernmotive und Lernwiderstände, sondern unsere Wirklichkeitskonstruktionen sind selber emotional veranlasst und gefärbt.“ Emotionen sind Handlungsantriebe, Emotionen steuern unsere Handlungen, Emotionen beeinflussen aber auch unsere sensorischen Wahrnehmungen, unsere Gedanken und Erinnerungen. Gefühlslagen, Stimmungen wirken sich auf die Intensität von Lernprozessen aus – auch unabhängig von der emotionalen Einstellung zum Thema“. (S.53) Rolf Arnold: Der Wandel der Lernkulturen wird jedoch nicht gelingen, wenn wir uns nicht darauf einlassen, die Emotionalität unserer eigenen Weltsicht zu erkennen und zu hinterfragen. Denn Lernkulturwandel setzt den reflexiven Umgang mit sich selbst voraus.“ (S. 99) Tatsache aber ist, dass Schule einen wesentlichen Beitrag zur gesunden Sozialisation beitragen muss. Pädagog/innen bilden, ob sie wollen oder nicht, ein Bezugssystem, welches Werte und Haltungen vermittelt. Erziehung durch Beziehung heißt die neue Devise. Daher ist die Beziehungskompetenz der Erwachsenen eine Grundvoraussetzung dafür, dass Kinder und Jugendliche überhaupt Sozialkompetenz entwickeln und verinnerlichen können. Eleonore Höfner: Humor ist eines der wichtigsten Merkmale des Provokativen Stils. Durch Humor und das Lachen über sich selbst bekommt man eine Distanz zu seiner eigenen Verbohrtheit. „Wer lacht, hat keine Kampf- oder Fluchteinstellung mehr. Wer lacht, schaltet das Großhirn ein, stellt die ausgewogenere Perspektive wieder her und kann wieder relativieren.“ (Höfner/Schachtner, 2008, S.50) Wichtig ist, das Augenmerk auf das Veränderbare zu legen und das Unveränderliche gelassen zur Kenntnis zu nehmen. Andreas Helmke: „Ein vermeintlich uneffizienter Unterricht, der die verfügbare Zeit weniger für Stoffbehandlung, sondern z.B. für sozialpädagogische Maßnahmen, für private Interaktionen, für Entspannung u.a. nutzt, kann in einer ‚schwierigen’ Klasse (…) die einzige Möglichkeit sein, um überhaupt erst akzeptable Bedingungen für die Vermittlung des Lehrstoffs zu schaffen.“ (Helmke, 2007, S. 3) Elke Kraiger: Die Antwort auf die Irrwege der Pädagogik liefert gelingende Beziehungsarbeit. Beziehungangebote sind Förderung von Interesse, Nachfragen, Ansporn, Kritik, Anteilnahme, Zuwendung. Und: Spiegelung. Ist der/die Lehrende von etwas begeistert, springt der Funke auf den/die Lernende über. Neugier und Begeisterung ergeben wiederum Motivation. Eine Schule der Vielfalt leistet einen Beitrag zum Abbau von Vorurteilen. Es erfolgt ein Perspektivenwechsel von einem defizitorientierten Minderheitenansatz zu einem ressourcenorientierten Ansatz, der die Kompetenzen und Potenziale aller Schüler/innen zum Fundament des schulischen Zusammenlebens macht. In der Schule schaffen Anerkennung, Akzeptanz und Wärme ein positives Klassenklima, das Schülerängsten und Leistungsbeeinträchtigungenvorbeugt und die Arbeitszufriedenheit der Pädagog/innen erhöht. Literaturliste: Arnold, R. (2007). Ich lerne, also bin ich. Eine systemisch-konstruktivistische Didaktik. Heidelberg: Carl-Auer. Bauer J. (2006). Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg: Hoffmann und Campe Cohn, R. (2001). Lebendiges Lehrern und Lernen. TZI macht Schule (4. Auflage). Stuttgart: Klett-Cotta. Helmke, A. (2007): Einblick in die Lehr-Lern-Situation: Ein Bogen zur Unterrichtsbeobachtung. In: SchulleitungPlus: Grundsätze und Verfahrenwirksamer Führung. München: Oldenbourg. Julius, H., Gasteiger-Klipera, B., Kißgen, R. (2009). Bindung im Kindesalter. Diagnostik und Interventionen. Göttingen: Hogrefe. Juul, J. (2005). Vom Gehorsam zur Verantwortung. Für eine neue Erziehungskultur (2. Auflage). Weinheim und Basel: Beltz. Miller, R. (2003). Beziehungsdidaktik (4. Auflage). Weinheim und Basel: Beltz. Perner, R.A. (2010). PROvokativpädagogik . Das Konzept. Ein Skriptum.Matzen: Aaptos Perner, R.A., Pawlik, M. (2010). Provokativ Pädagogik. Wien: LIT Reich, K. (2006). Konstruktivistische Didaktik - ein Lehr- und Studienbuch inklusive Methodenpool auf CD (3. Auflage). Weinheim und Basel: Beltz. Schachtner, H.-U., Höfner, E. (2008). Das wäre doch gelacht! Humor und Provokation in der Therapie (6. Auflage). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Siebert, H. (2005). Pädagogischer Konstruktivismus: lernzentrierte Pädagogik in Schule und Erwachsenenbildung (3. Auflage). Weinheim und Basel: Beltz. Singer, K. (o.J.) Mit Schülern in achtsamer Beziehung sein – und mit sich selbstErmutigender Lehrer-Schüler-Kontakt – Lernbereitschaft der Jugendlichen – Berufszufriedenheit von Lehrerinnen und Lehrern. http://www.prof-kurtsinger.de/beziehung.pdf, (abgefragt am 11.2.2010)