Die gutachterliche Bewertung von Wirbelsäulenverletzungen nach Verkehrsunfällen – zwischen Dogmatismus und Aufklärung Dr. Rainer Hepp, Orthopädische Gutachtenpraxis, Königstrasse 26, 70173 Stuttgart www.Gutachtenseminar.com, [email protected], Tel.: 0160 90 30 11 23 Zusammenfassung: Die gutachterliche Bewertung von Unfallschäden ist in mehrfacher Hinsicht schwierig: Auf der einen Seite muß retrospektiv ein Ereignis in der Vergangenheit analysiert werden. Eine unmittelbare Betrachtung ist dabei nicht möglich. Als Gutachter ist man auf Fremdbericht angewiesen. Solche Fremdberichte unterliegen gewissen Irrtumswahrscheinlichkeiten. Auf der anderen Seite erfordert die Bewertung eines möglichen Unfallschadens eine intensive Auseinandersetzung mit der tatsächlich oder vermeintlich verletzten Person, die natürlich in einem Rechtsstreit in der Regel nicht neutral agiert. Dogmatische Behauptungen, wonach ein Unfallereignis einen behaupteten Schaden nicht ausgelöst haben könnte, da es dazu nicht „geeignet“ gewesen sei, helfen üblicherweise nicht weiter! Schlüsselwörter: Biomechanische Belastung, biologische Belastbarkeit, technische Analyse, Wirbelsäulenverletzung Einleitung A zu B: ”Es gibt nur sieben Planeten!” B zu A: ”Dem widersprechen aber die Tatsachen.” A zu B: ”Umso schlimmer für die Tatsachen!” (Hegelscher Dialog) Die medizinische Begutachtung im Zusammenhang mit Unfällen im Allgemeinen und Verkehrsunfällen im Besonderen berührt nicht nur medizinische Probleme im engeren Sinne, sondern auch juristische und philosophische Fragen. 1. Medizinische Probleme Wenn ein Unfallereignis zu einem Strukturschaden im Bereich der Weichteile oder des Seite2 Hepp: Bewertung von Wirbelsäulenverletzungen– zwischen Dogmatismus und Aufklärung Knochengewebes geführt hat, ist die Beurteilung des Unfallschadens in der Regel einfach, da die moderne Technik zwischenzeitlich hervorragende Möglichkeiten bietet, die strukturelle Integrität eines Unfallopfers mit unterschiedlichen Methoden nachzuweisen bzw. strukturelle Verletzungen aufzuzeigen. Die unterschiedlichen physikalischen Grundlagen dieser bildgebenden Untersuchungen (Ultraschall, Röntgenstrahlen, Magnetfelder etc.) führen zu unterschiedlichen Stärken und Schwächen der einzelnen Methoden. In der Zusammenführung mehrerer Methoden lassen sich die Vorteile kombinieren und Schwächen kompensieren. Die Auflösungsfähigkeit liegt bei vielen modernen Verfahren im Millimeterbereich. Gutachterliche Probleme im Zusammenhang mit einer tatsächlichen oder vermeintlichen unfallbedingten Körperschädigung entstehen dann, wenn 1. der Strukturschaden unterhalb der Nachweisgrenze liegt, 2. oder wenn die Suche nach einem Körperschaden auf die Struktur begrenzt bleibt und ein funktioneller Körperschaden gar nicht in Betracht gezogen wird, wenn also nur die „Hardware“ untersucht wird, nicht aber die „Software“, 3. oder wenn aus grundsätzlichen philosophischen Erwägungen heraus nicht nach einem solchen Strukturschaden gesucht wird. Ob strukturelle Schäden, die unterhalb der Nachweisschwelle liegen, überhaupt von klinischer Bedeutung sind, ist unklar und aus methodischen Gründen derzeit medizinisch auch nicht eindeutig zu klären. Die Rolle der „Softwarestörung“ als Unfallfolge ist bislang wenig erforscht. Bezüglich allgemeiner Anmerkungen dazu verweise ich auf einen früheren Aufsatz (3). Problematischer ist, wenn gar nicht erst nach einem Unfallschaden gesucht wird, da der Unfall „nicht geeignet“ erscheint, einen Unfallschaden auszulösen. 2. Philosophie/Erkenntnistheorie: Viele medizinische Gutachter wären überrascht, wenn man sie nach ihrer philosophischen Grundüberzeugung fragen würde. Die Vorstellung, dass medizinische Begutachtung irgendetwas mit Philosophie zu tun haben könnte, klingt sonderbar. Dabei ist gerade die Beurteilung von unfallbedingten Wirbelsäulenverletzungen hochgradig philosophisch geprägt. Die meisten medizinischen Gutachter gehen stillschweigend oder Seite3 Hepp: Bewertung von Wirbelsäulenverletzungen– zwischen Dogmatismus und Aufklärung expressis verbis davon aus, dass ein somatischer Unfallschaden nur dann auftreten kann, wenn die biomechanische Belastung durch das Unfallereignis höher ist als die biologische Belastbarkeit der Fahrzeuginsassen. Sie stellen sich also zunächst die Frage, welcher unfallbedingten Belastung ein Anspruchsteller durch das Unfallereignis ausgesetzt war. Hier stützen sie sich häufig auf technische Zusatzgutachten, in denen das Unfallereignis bezüglich Anstoßkonfiguration, Stoßzeit, Geschwindigkeitsdifferenz zwischen anstoßendem und angestoßenen Fahrzeug, kollisionsbedingter Geschwindigkeitsänderung delta v und mittlerer Beschleunigungen näher analysiert wird. Diese technischen Vorgaben werden dann in aller Regel ungeprüft (die wenigsten Mediziner wären in der Lage, ein technisches Gutachten sachverständig zu überprüfen) als ”unfallbedingte Belastung” unterstellt. (Was es bedeutet, wenn eine Sachverständigenaussage zur Hälfte auf Informationen beruht, für die der Sachverständige gar nicht sachverständig ist, muss juristisch bewertet werden.) Diesen Belastungen stellen sie dann Ergebnisse von wissenschaftlichen Kollisionsuntersuchungen gegenüber, in denen die durchschnittliche Belastbarkeit bei - in der Regel gesunden jüngeren - Probanden ermittelt wurde. Lag die unfallbedingte Belastung in einem Bereich, der bei freiwilligen Probanden keine Beschwerden ausgelöst hat, so wird ein Unfallschaden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit verneint – es sei denn, es lägen außergewöhnliche Umstände vor, die die tatsächlich oder vermeintlich verletzte Person so verletzlich erscheinen lassen, dass sie mit der durchschnittlichen Belastbarkeit freiwilliger Probanden nicht verglichen werden kann. Nach bisheriger eigener Erfahrung sind solche ungewöhnlichen Umstände ”ungewöhnlich“. In der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle, in denen solche ungewöhnlichen Umstände nicht nachweisbar sind, wird die Frage nach einem Unfallschaden verneint, wenn die unfallbedingte Belastung niedriger lag als die biologische Belastbarkeit. Diese philosophische Grundüberzeugung kann durchaus als Dogmatismus, die konkrete Überzeugung als „Dogma der äußeren Überlastung“ bezeichnet werden. Der Duden umschreibt das Wort Dogmatismus als „starres, unkritisches Festhalten an Anschauungen, Lehrmeinungen oder Ähnlichem“ (4). Wenn man an göttliche Offenbarungen an die Menschheit glaubt, ist Dogmatismus im religiösen Bereich akzeptabel. Seite4 Hepp: Bewertung von Wirbelsäulenverletzungen– zwischen Dogmatismus und Aufklärung Im natur-wissenschaftlichen Bereich gab es aber schon in der Antike Vorbehalte gegen den Dogmatismus. Berühmt ist der Spruch des offenbar am 08. Dezember 65 vor Christus in Venusia geborenen und am 27. November 8 vor Christus gestorbenen Quintus Horatius Flaccus: „Sapere aude“ (5). In Deutschland wurde das Zeitalter des Dogmatismus spätestens durch die Aufklärung im 18. Jahrhundert zu Grabe getragen. In seiner „Kritik der reinen Vernunft“ hat Kant 2 wesentliche Säulen menschlicher Erkenntnis charakterisiert: Die „transzendentale Ästhetik“ die sich mit der Theorie der sinnlichen Wahrnehmung beschäftigt und die „transzendentale Logik“ als Theorie des Denkens. Dogmatismus kann vor diesem Hintergrund allenfalls als kleine unbedeutende Sackgasse der transzendentalen Logik interpretiert werden. Wer höhere Ansprüche hat, muss diese Sackgasse verlassen und einerseits andere Formen des theoretischen Denkens, vor allen Dingen aber auch zusätzliche Einflüsse der unvoreingenommenen sinnlichen Wahrnehmung zulassen. Dies bedeutet nicht automatisch, dass die oben skizzierte dogmatische Vorgehensweise prinzipiell immer falsch ist. Sie muss allerdings kritisch analysiert und modifiziert werden, um wenigstens Bruchteile davon für ein neues Konzept verwenden zu können. So sind die technischen Erkenntnisse bei kritischer Betrachtung nicht wirklich göttlich. Fallenberg hat in einer Doktorarbeit, die 2001 veröffentlich wurde, die Qualität von technischen Gutachten näher analysiert. Die Ergebnisse waren ernüchternd: Die Angaben über die aus identischen Daten errechneten Werte zur kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung delta v schwankten zum Teil um den Faktor 10 und mehr (2). Das stabile Fundament der technischen Analyse erschien in dieser Untersuchung eher als tückischer Treibsand. Natürlich gab es zum Teil berechtigte Kritik an dieser Studie. Nach eigenem Kenntnisstand wurde bislang aber keine besser konzipierte Studie durchgeführt, die den erschütterten Glauben an die Aussagekraft der technischen Analyse wieder hergestellt hätte. Bis zum heutigen Tag gibt es keine unabhängigen Qualitätskontrollen. Ich möchte aber keinesfalls den Eindruck vermitteln, als wenn ich als Mediziner durch Kritik an technischen Gutachtern von medizinischen Problemen ablenken wollte. Auch die medizinischen Grundlagen der dogmatischen Begutachtung sind äußerst fragil. Die Hepp: Bewertung von Wirbelsäulenverletzungen– zwischen Dogmatismus und Aufklärung Seite5 Untersuchungen stützen sich oft auf Versuche mit 10, 20 oder 50 freiwilligen Probanden im mittleren Alter ohne gravierende gesundheitliche Probleme. Um auch relativ seltene Nebenwirkungen bei der Einführung neuer Medikamente mit größtmöglicher Sicherheit auszuschließen, werden bei pharmazeutischen Untersuchungen in der Regel mind. 50-100.000 Patienten oder mehr untersucht. Darüber hinaus wird in der Versuchsplanung darauf geachtet, Selektionseffekte soweit möglich auszuschalten. Kollisionsversuche können prinzipiell aus unterschiedlichen Gründen nur an freiwilligen Probanden durchgeführt werden. Dies führt automatisch zu einer Selektion – die Probanden umfassen in der Regel eine Altersgruppe zwischen 20 und 50 Jahren und sind prinzipiell gesund und belastbar. Menschen, die sich selbst aus unterschiedlichen Gründen für besonders verletzungsanfällig halten oder in der Vergangenheit so wahrgenommen haben, nehmen an solchen Studien prinzipiell nicht teil. Wenn aus irgendwelchen Gründen in der deutschen Gesamtbevölkerung 1% besonders verletzungsanfällig im Zusammenhang mit unfallbedingten Wirbelsäulenschäden wäre, so läge die Wahrscheinlichkeit, diese besondere Verletzungsanfälligkeit durch Kollisionsuntersuchungen mit 10 freiwilligen Probanden herauszufinden, ohne Berücksichtigung von Selektionseffekten bei 10%. Dabei würde also diese besondere Verletzungsmöglichkeit mit 90%iger Sicherheit übersehen werden. Wenn zusätzliche Selektionseffekte, die in hochwertigeren Untersuchungen sogar wissenschaftlich nachgewiesen worden sind - persönliche Mitteilung von Prof. Dr. Castro bzgl. der „Nullstudie“ (1) – ist die Irrtumswahrscheinlichkeit einer solchen Studie noch einmal deutlich höher. Dass es sich hier nicht einfach um in der Praxis bedeutungslose theoretische Überlegungen handelt, soll an 2 konkreten Fallbeispielen aus der eigenen Praxis dokumentiert werden: Fall 1: Eine zum Unfallzeitpunkt knapp 61 Jahre alte Dame kollidierte auf einer Bundesstraße schräg frontal mit einem von rechts auf die Bundesstraße einbiegendem Fahrzeug. Die Klägerin saß zum Unfallzeitpunkt in normaler Körperhaltung angeschnallt auf dem Fahrersitz. Sie stand nicht unter Einfluss von Medikamenten oder Genussmitteln. Sie erlitt keine Anstoßverletzung. Einige Stunden nach dem Unfall entwickelte sie zunächst leichte Kopfschmerzen im Stirnbereich und später leichte Schmerzen in der Lendenregion mit Ausstrahlung in das linke Bein. Diese Beschwerden nahmen in den folgenden 24 Stunden noch einmal deutlich zu. Daraufhin erfolgte Hepp: Bewertung von Wirbelsäulenverletzungen– zwischen Dogmatismus und Aufklärung Seite6 am Tag nach dem Unfall eine erste ärztliche Untersuchung. In diesem Zusammenhang wurden Röntgenaufnahmen der LWS angefertigt, auf denen sich ein frischer Stauchungsbruch des 2. Lendenwirbelkörpers mit Höhenminderung um etwa 20% in den vorderen 2/3 zeigte. Zusätzlich fanden sich diskrete bis mäßiggradige Verschleißzeichen in den unteren BWS- und oberen LWS-Segmenten. Zum Zeitpunkt der Begutachtung, etwa 1,5 Jahre nach dem Unfallgeschehen, hatte die Klägerin immer noch anhaltende Schmerzen in der Lendenregion mit Ausstrahlung in das linke Bein. Diese Beschwerden ließen sich vorübergehend mit Schmerzmitteln und Physiotherapie lindern. Im nachfolgenden Rechtstreit wurde auch eine verkehrstechnische Analyse durch ein renommiertes Institut in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Danach kam es durch den Unfall ohne Berücksichtigung einer Vollbremsung zu einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung im klägerischen Fahrzeug zwischen 5 und 9 km/h mit einer resultierenden mittleren Fahrgastzellenbeschleunigung von 14-24 m/s². Wenn eine Vollbremsung vor der eigentlichen Kollision unterstellt wurde, erhöhte sich die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung delta v in Fahrzeuglängsrichtung auf etwa 7-10 km/h mit einer daraus resultierenden mittleren Fahrgastzellenbeschleunigung zwischen 20 und 29 m/s². Diese technischerseits ermittelte biomechanische Belastung lag damit in einem Bereich, der als „harmlos“ in Bezug auf eine Wirbelsäulenverletzung eingestuft würde, da verletzungsträchtige Besonderheiten in der Person der Klägerin oder bzgl. des Unfallgeschehens, die die Verletzungsgefahr plausibel erhöht haben könnten, nicht nachweisbar waren. Die strukturelle Schädigung des 2. Lendenwirbelkörpers war aber eindeutig. Sie war aus medizinisch-radiologischer Sicht auch eindeutig „frisch“ (radiologische Nachuntersuchungen etwa ein halbes Jahr später zeigten dann zunehmende sekundäre Anpassungsvorgänge) und konkurrierende Ursachen für diese frische Stauchungsfraktur konnten nicht festgestellt werden. Fall 2: Eine zum Unfallzeitpunkt 56jährige Frau fuhr mit ihrem Pkw „in gemäßigtem Tempo“ bei Grün in einen Kreuzungsbereich ein. Ein entgegenkommendes Fahrzeug bog vor dem klägerischen Fahrzeug unter Missachtung der Vorfahrt links ab. Das klägerische Fahrzeug prallte schrägfrontal gegen den Unfallverursacher. Anfangs hatte die Klägerin keinerlei Beschwerden. Etwa 1,5-2 Stunden später entwickelte sie dann zunehmend massive Schmerzen zentral in der Brust in Verbindung mit einem subjektiven Gefühl von Luftnot. Sie wurde wenige Stunden nach dem Unfall ambulant in einem Krankenhaus Seite7 Hepp: Bewertung von Wirbelsäulenverletzungen– zwischen Dogmatismus und Aufklärung untersucht. Im Zusammenhang mit der ärztlichen Untersuchung Röntgenuntersuchung des Brustkorbs durchgeführt. Hier fanden sich wurde auch eine keine knöchernen Verletzungen. In den folgenden Stunden nahmen die Beschwerden permanent zu. Am Tag nach dem Unfall konnte sich die Klägerin kaum noch alleine aus dem Bett aufrichten. Sie ging trotzdem einige Stunden lang an ihren Arbeitsplatz in einem Büro. Dann brach sie die Arbeit vorzeitig ab und ließ sich von ihrem Hausarzt krankschreiben. Aufgrund weiter anhaltender Beschwerden erfolgte 1 Woche nach dem Unfall eine erneute ambulante Untersuchung in einem Krankenhaus. Diesmal wurde die radiologische Diagnostik auf die Lendenwirbelsäule ausgeweitet. Hier fand sich ein frischer Stauchungsbruch des 1. Lendenwirbelkörpers. Die Diagnose wurde durch eine nachfolgende Computertomographie der Lendenwirbelsäule abgesichert. Daraufhin wurde die Klägerin an eine Universitätsklinik verlegt, wo sie operativ behandelt wurde. Der gebrochene 1. Lendenwirbelkörper wurde von vorne und von hinten stabilisiert. In den folgenden Wochen und Monaten kam es unter physiotherapeutischer Nachbehandlung zu einer langsamen Schmerzrückbildung. Etwa 3 Monate nach dem Unfall kehrte die Klägerin stufenweise an ihren Büroarbeitsplatz zurück. Ein halbes Jahr später war sie wieder vollschichtig arbeitsfähig trotz anhaltender Beschwerden. Zum Zeitpunkt der Begutachtung, etwa 4 Jahre nach dem Unfall, hatte sich die ursprüngliche Schmerzsymptomatik nach Angaben der Klägerin selbst um etwa 50% zurückgebildet. Die verkehrstechnische Analyse eines renommierten Ingenieurbüros aus Nordrhein-Westfalen ergab im vorliegenden Fall eine Geschwindigkeitsänderung in Längsrichtung zwischen 4 und 5 km/h, wenn von einem ungebremsten Anstoß ausgegangen wurde. Wurde zugunsten der Klägerseite ein Bremsvorgang unterstellt, so erhöhte sich dadurch die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung in Längsrichtung auf etwa 7-8 km/h. Zusätzlich kam es noch zu einer in Querrichtung bei stoßzugewandter Sitzposition einwirkenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung delta v in einer Größenordnung von 5-7 km/h. Anmerkung 1: Auf spezifische Nachfrage gab die Klägerin an, sich im Zusammenhang mit der Kollision keine Anstoßverletzung zugezogen zu haben. Hinweise auf einen bedeutsamen Anstoß des Kopfes oder der Gliedmaßen fanden sich auch in den nachfolgenden ärztlichen Untersuchungen nicht. Anmerkung 2: Im weiteren Verlauf wurde mehrfach die Knochendichte der Klägerin bestimmt – ohne Nachweis einer Osteoporose. Hepp: Bewertung von Wirbelsäulenverletzungen– zwischen Dogmatismus und Aufklärung Seite8 Diese beiden Fallbeispiele sollen exemplarisch zeigen, dass die kritischen Anmerkungen über die Wertigkeit von technischen Analysen als Maßstab der unfallbedingten biomechanischen Belastungen einerseits und medizinische Untersuchungen über biologische Belastbarkeit andererseits nicht nur theoretische Bedenken widerspiegeln, sondern durchaus einen realen Hintergrund haben. In den beiden ausgewählten Beispielen konnte ein Unfallschaden aufgrund der strukturellen Verletzung eindeutig nachgewiesen werden und die theoretische Diskussion über eine Verletzungswahrscheinlichkeit, die in beiden Fällen zu Ungunsten der Klägerseite ausgegangen wäre, wurde dadurch „überstimmt“. Es gibt aber keinen plausiblen Grund anzunehmen, dass prinzipiell auch funktionelle Unfallschäden (z.B. „HWS-Distorsion“, „Schleudertrauma der Halswirbelsäule“) möglich sind, selbst wenn aus dogmatischer Sicht ein unfallbedingter Körperschaden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist. Es ist daher sicherlich eine lohnende Aufgabe, an einer Optimierung der medizinischen Begutachtung nach Unfällen mit tatsächlichen oder vermeintlichen Wirbelsäulenverletzungen zu arbeiten. In einem anderen Artikel möchte ich dazu einen Vorschlag unterbreiten. Literatur: 1. Castro WHM, Meyer S, Becke M, Nentwig CG (†), Hein M, Ercan BI, Thomann S, Wessels U, Du Chesne AE: No stress – no whiplash? Int J of Legal Med (2001), 114: 316-322 2. Fallenberg,B., Castro WHM: Aussagekraft der verkehrstechnischen Analysen bei der Ermittlung der kollisionsbedingten Geschwindigkeiten bei PKW-PKW-Kollisionen. Verkehrsunfall u. Fahrzeugtechnik (2001) 12: 353-377 3. Hepp, R.: Medizinische Beurteilung eines unfallbedingten Körperschadens NZV, (2012) 6: 257 – 263 4. www.duden.de/rechtschreibung/dogmatismus - 25.05.2012 5. www.de.wikipedia.org/wike/Horaz - 25.05.2012 Hepp: Bewertung von Wirbelsäulenverletzungen– zwischen Dogmatismus und Aufklärung Seite9