Arbeitsmedizin: Eine Disziplin zwischen medizinischer Wissenschaft, ärztlicher Heilkunst, betrieblichem Personalmanagement und Public Health. Eine Herausforderung für die Universität? Rainer Müller, Joachim Larisch, Antonius Kerkhoff, Reinhard Jäger In: Österreichisches Forum Arbeitsmedizin, 01/15, S.8-15 Arbeitsmedizin: Verschiedene Verständnisse oder Konsens über Fach und berufliche Tätigkeit? Die Definition der Arbeitsmedizin/Betriebsmedizin und die Abgrenzung von anderen medizinischen Fachgebieten sollte einer in Österreich und Deutschland sowie in anderen industrialisierten Ländern seit Jahrzehnten eingeführten und auch rechtlich abgesicherten Disziplin eigentlich nicht schwer fallen. Dennoch scheint beides, vor allem die Abgrenzung, nicht ganz einfach zu sein. Es scheint nicht einmal in der Fachgemeinde ein Konsens über den Kern des Faches und seine Abgrenzung zu anderen Gebieten zu geben. So verweist die Deutsche Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin e.V. (DGAUM) schlicht auf die Wechselbeziehungen zwischen Arbeits- und Lebenswelten einerseits und Gesundheit und Krankheiten andererseits, ohne jedoch –soweit erkennbar – die spezifische medizinisch -ärztliche Kompetenz in diesem Zusammenhang darzulegen. Immerhin ist es ja nicht ganz von der Hand zu weisen, dass dieser Zusammenhang auch in anderen medizinischen Fachgebieten von Bedeutung ist. Ferner wird dort festgestellt: „Arbeitsmedizin handelt auf der Grundlage eines wissenschaftlich begründeten medizinischen Methodeninventars und nutzt auch Erkenntnisse und Methoden anderer Wissenschaftsdisziplinen.“1 Andere europäische Fachgesellschaften bestimmen die Arbeitsmedizin als Teil der klinischen Medizin, der sich mit der Gesundheit am Arbeitsplatz beschäftigt2, oder stellen die präventive Ausrichtung der Disziplin in den Vordergrund.3 Die deutsche Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin charakterisiert in ihrem Glossareintrag die Arbeitsmedizin wie folgt: „Die Fachbezeichnung Arbeitsmedizin gibt es seit 1929. Siehe http://www.dgaum.de/arbeitsmedizin-betriebsmedizin/ (Zugriff: 27.11.2014) So die Society of Occupational Medicine (UK), siehe https://www.som.org.uk/occupationalmedicine/what-is-occupational-medicine/ (Zugriff: 27.11.2014). 3 „La médecine du travail est une médecine exclusivement préventive.” (http://www.inrs.fr/accueil/demarche/role/medecin.html; Zugriff: 27.11.2014) 1 2 1 Arbeitsmedizin ist danach die Lehre von den Wechselbeziehungen zwischen Arbeit und Beruf sowie dem Menschen, seiner Gesundheit und seinen Erkrankungen. Die Arbeitsmedizin beruht auf den Untersuchungen möglicher physischer und psychischer Auswirkungen auf den Menschen bezogen auf seine Arbeit.“4 In der angelsächsischen Diskussion finden sich weitere, zum Teil divergierende Definitionen. So stellt Bulat in der Encyclopedia of Public Health fest: „Occupational health is a discipline devoted to the prevention and management of occupational injury, illness, and disability; and promotion of health and productivity of workers, their families, and communities.” (2008: 1015)5 Die Stellung der Arbeitsmedizin innerhalb der spezialisierten medizinischen Fachgebiete, in Bezug auf die ärztliche Praxis, das betriebliche Feld und innerhalb von Public Health (Müller, Ganten, Larisch 2014) scheint also daher keineswegs eindeutig bestimmt zu sein. Für eine gefestigte Positionierung eines medizinischen Faches innerhalb der Medizin und seiner gesellschaftlichen Aufgabenstellung ist es jedoch von hohem Rang, welchen Konsens die Fachvertreter haben, wie die Repräsentanten der anderen medizinischen Fächer Arbeitsmedizin wahrnehmen, bewerten und erwarten. Dem gesellschaftlichen Auftrag kann ein medizinisches Fach jedoch nur dann angemessen nachkommen, wenn seine Adressaten- hier vor allem Arbeitgeber und Arbeitnehmer- Bedarfe gegenüber dem Fach und seinen beruflichen Vertretern artikulieren und realistische Verständnisse über die Leistungen des Faches haben. Sind die Selbst – und Fremdverständnisse bei der Allgemeinmedizin, Gynäkologie oder Orthopädie offensichtlich, so zeigt sich bei der Arbeitsmedizin ein nicht so eindeutiges Bild. Diese Schwierigkeiten haben zweifelsohne nicht zuletzt damit zu tun, dass klassische medizinische Fächer mit ihren beruflichen Handlungsmustern sich historisch aus der Medizin entwickelt haben, während die Arbeitsmedizin sich zwar auch innerhalb der Medizin entwickelt hat, aber vornehmlich über staatliche rechtliche Regelungen in Position gebracht wurde (Milles 2014). In den genannten Definitionen von Arbeitsmedizin werden folgende Bezüge genannt: - Klinische Medizin - Präventivmedizin - Andere wissenschaftliche Disziplinen Siehe http://www.baua.de/de/Informationen-fuer-die-Praxis/Handlungshilfen-undPraxisbeispiele/Toolbox/Glossar/A/Arbeitsmedizin.html (Zugriff: 27.11.2014). 5 Auf die historische Entwicklung kann hier nicht weiter eingegangen werden, vgl. nur Milles 2014. 4 2 - Public Health - Krankheit (Pathogenese) und Gesundheit (Salutogenese) - Ärztliches Handeln im Betrieb - Arbeitswelt. Die Punkte müssten nun im Einzelnen und in ihren Verbindungen untereinander diskutiert und auf die betriebsärztliche Tätigkeit hin bezogen werden. Im Detail kann dies hier nicht geschehen. Eingeschränkt soll gefragt werden, was die gesellschaftlichen und staatlichen Anforderungen sind, in welche Richtung das Fach sich zu entwickeln hat und welche Relevanz für die Weiterentwicklung der Einbettung in die Universität bzw. dort in die Medizinische Fakultät als Ort von Forschung und Lehre zukommt. Dieser Beitrag soll zur Diskussion über das Medizinische und Ärztliche in der Arbeitsmedizin anregen. In dieser beschränkten Fragestellung ist es nicht unerheblich der Frage nachzugehen, worin die staatlichen rechtlichen Vorgaben bestehen und welche Konsequenzen sich daraus für das Fach in Richtung Öffnung zu anderen nichtmedizinischen Disziplinen und für das professionelle Handeln der Betriebsärzte ergeben. Zu klären wäre die inhaltliche Ausgestaltung von Interdisziplinarität in Theorie und Praxis sowie die Neubestimmung von Aus- und Weiterbildung einschließlich der Frage, ob die Universität dafür der richtige Ort ist. Rechtliche Regulierung betriebsärztlicher Tätigkeit Die staatlichen Regulierungen in Deutschland und in Österreich für den Arbeitsschutz und damit für die betriebsärztliche Tätigkeit leiten sich wie für alle Staaten der Europäischen Union aus der EU- Rahmenrichtlinie (89/391/EWG) „Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit“ ab. Auf der EU-Ebene ist allerdings dazu bisher keine Spezifizierung der Anforderungen an die Arbeitsmedizin erkennbar.6 Kempa (2012) hat für das European Trade Union Institute einen Vorschlag für eine EU-Richtlinie zu Minimalanforderungen für Präventionsdienste publiziert, in dem die Betriebsmedizin wie folgt definiert wird: „Occupational medicine: the medical specialty dealing with the assessment of workers’ health, linking working conditions and processes to workers’ health, assisting in managing the health, skills and working capacity of the entire working population and managing individual cases in the context of working ability and So behandelt die Europäische Agentur für Arbeitsschutz auf ihrer Internet-Seite die Arbeitsmediziner als Teil der „Occupational Health Professionals, für die gegenwärtig keine Standards formuliert werden (https://www.osha.gov/SLTC/healthprofessional/index.html; Zugriff: 1.12.2014). Einen älteren Überblick geben Fedotov/Rantanen 2011. 6 3 production. It deals with primary, secondary and tertiary prevention of ill health in the workforce, with a potential influence on the health of the population as a whole. It is one of the fundamental disciplines in a multidisciplinary occupational health team.” (Art. 3f) Der Vorschlag enthält weitere Spezifizierungen für die arbeitsmedizinischen Kompetenzen, geht aber nicht weiter auf die erforderliche multidisziplinäre Kooperation mit anderen Professionen ein. Im Übereinkommen 161 über die betriebsärztlichen Dienste der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1985, welches von Deutschland 1994 ratifiziert wurde,7 wird der betriebsärztliche Dienst als im wesentlichen vorbeugende Tätigkeit zur Beratung der Arbeitgeber, Arbeitnehmer und ihrer Vertreter über die Schaffung und Erhaltung einer sicheren und gesunden Arbeitsumwelt sowie die Anpassung der Arbeit an die Fähigkeiten der Arbeitnehmer charakterisiert (Artikel 1). In Deutschland wird die betriebsärztliche Tätigkeit reguliert durch Gesetze und rechtliche Regelungen wie das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG), die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) von 2013 sowie Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Hier ist besonders relevant die Unfallverhütungsvorschrift (DGUV Vorschrift 2) „Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit“ vom 1. Januar 2011. DGUV hat „Leitfäden für Betriebsärzte“ zu verschiedenen relevanten Themen herausgegeben, so z.B. zu „Aufgaben und Nutzen betriebsärztlicher Tätigkeit“, zu „Psychischen Belastungen und den Folgen in der Arbeitswelt“ oder zu „Arbeitsmedizinischen Untersuchungen“. In Österreich sind die wichtigsten Rechtsvorschriften für das Handeln von Betriebsärzten das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) von 1995 und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit und Soziales über die Gesundheitsüberwachung am Arbeitsplatz 2008 (VGÜ 2008). Für das Handeln im Arbeitsschutz sind die „Beurteilung der Arbeitsbedingungen“(§ 5 ArbSchG) bzw. die „Gefahrenermittlung und Maßnahmenfestlegung“/“Evaluierung“ (§ 4 ASchG) grundlegend. Aufgaben und Inhalte der betriebsärztlichen Betreuung in Deutschland ergeben sich aus dem Arbeitssicherheitsgesetz(ASiG) in Verbindung mit der DGUV Vorschrift 2. (DGUV 2014: 9) Daraus ergeben sich für Betriebsärzte zwei zentrale Aufgabenfelder: Regelbetreuung und arbeitsmedizinische Vorsorge. Eine Ratifizierung durch Österreich ist – soweit erkennbar – nicht erfolgt, vgl. http://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:11310:0::NO:11310:P11310_INSTRUMENT_ID: 312306:NO (Zugriff: 30.11.2014). 7 4 Regelbetreuung Das zentrale Konzept der DGUV Vorschrift 2 „Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit“ ist die Regelbetreuung bei Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten. Sie umfasst die Grundbetreuung mit vorgegebenen Einsatzzeiten und anlassbezogene Betreuungen. Die Grundbetreuung beinhaltet die Unterstützung bei der Erstellung bzw. Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung (§ 5 und § 6 ArbSchG). Die Grundbetreuung stellt auf neun Aufgabenfelder mit insgesamt 37 Unterpunkten ab: - Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung (Beurteilung der Arbeitsbedingungen) - Unterstützung bei grundlegenden Maßnahmen der Arbeitsgestaltung – Verhältnisprävention - Unterstützung bei grundlegenden Maßnahmen der Arbeitsgestaltung Verhaltensprävention - Unterstützung bei der Schaffung einer geeigneten Organisation und Integration in die Führungstätigkeit - Untersuchung nach Ereignissen - Allgemeine Beratung von Arbeitgebern und Führungskräften, betrieblichen Interessenvertretungen, Beschäftigten - Erstellung von Dokumenten, Erfüllung von Meldepflichten - Mitwirkung in betrieblichen Besprechungen - Selbstorganisation. Bereits ein schneller Überblick macht deutlich, dass sich aus diesen Anforderungen eine Reformulierung der Arbeitsmedizin konstruieren ließe, jedoch die oben genannten Definitionen nicht ohne weiteres hilfreich sind. Nicht zu übersehen ist z.B., dass die rechtlich definierten Aufgaben mit klinischen Wissen und Methodologie nur sehr begrenzt zu bewältigen sind. Auch was Präventivmedizin hier zu bieten hat, muss eher kritisch gewürdigt werden. Über die „Kernkompetenz Arzt“ (Scheuch, Letzel 2008) in diesem Feld ist ebenso unter Festhalten an der Arztrolle zu diskutieren. Notwendig ist sicher eine Öffnung in Richtung anderer Disziplinen und Berufe in Erinnerung an die Traditionslinien von Public Health (Milles, Kerkhoff 2010). Dennoch darf festgestellt werden, dass die rechtlichen Anforderungen große Aufmerksamkeit und mehr als ein oberflächliches Interesse verdienen, denn sie geben die Richtung für die Neudefinition von Arbeitsmedizin vor. 5 Arbeitsmedizinische Vorsorge Bei der rechtlichen Regulierung springt ins Auge, dass der arbeitsmedizinischen Vorsorge eine besondere Funktion beigemessen wird. „Arbeitsmedizinische Vorsorge dient der Beurteilung der individuellen Wechselwirkungen von Arbeit und physischer sowie psychischer Gesundheit, der Früherkennung arbeitsbedingter Gesundheitsstörungen und der Feststellung, ob bei Ausübung einer bestimmten Tätigkeit eine erhöhte gesundheitliche Gefährdung besteht“ (DGUV 2014: 17). Arbeitsmedizinische Vorsorge wird als „ein in der Arbeitsschutzrahmenrichtlinie der Europäischen Union festgeschriebenes Recht der Beschäftigten“ und als „eine individuelle Arbeitsschutzmaßnahme“ angesehen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014: 3, 6) und ist von daher ein wichtiger Bereich betriebsärztlichen Handelns. Im Betrieb treten dem Arzt allerdings in der arbeitsmedizinischen Pflicht-, Angebotsbzw. Wunschvorsorge (ArbMedVV 2013, VGÜ 2008) Beschäftigte nicht als Patienten entgegen. Die anderen Adressaten seiner innerbetrieblichen Kommunikation wie Arbeitgebervertreter, Betriebsrat und Fachkraft für Arbeitssicherheit sind selbstverständlich ebenso nicht mit den Interaktionsmustern, wie sie in der klinischen und ambulanten Medizin üblich sind, zu bezeichnen. Die betriebsärztliche Tätigkeit ist vielmehr ausdrücklich auf eine Beratungsleistung beschränkt, welche keine Behandlungsleistung umfasst. Beschäftigte haben sich der arbeitsmedizinischen Pflichtvorsorge vor Tätigkeitsaufnahme zu unterziehen, können aber der körperlichen oder klinischen Untersuchung widersprechen. Biomonitoring, Impfungen, körperliche oder klinische Untersuchungen sind Bestandteile der Vorsorge. Ziel ist die Erkennung einer erhöhten gesundheitlichen Gefährdung der Beschäftigten, keinesfalls aber die Feststellung der Eignung des Beschäftigten für die Arbeitstätigkeit.8 Durch die arbeitsmedizinische Vorsorge soll „die sprechende und hörende Medizin“ gestärkt werden. Sie trage „ zu einem vertrauensvollen und zeitgemäßen ArztBeschäftigten-Verhältnis bei“ (Bundesminister für Arbeit und Soziales 2014: 4, 7). Die umfangreiche Literatur zur Arzt-Patienten –Beziehung (Siegrist 2005: 250- 273) bzw. zum Arzt-Patient-Gespräch (Beiträge in Adler u.a. 2011) bietet gute Hinweise für Betriebsärzte. Für das Arzt- Beschäftigten – Verhältnis haben selbstverständlich die organisatorisch- institutionellen Rahmenbedingungen, in der sehr großen Spannbreite Eignungsuntersuchungen können auf Grund gesonderter Vereinbarung mit dem Arbeitgeber durch Arbeitsmediziner durchgeführt werden. Zu arbeitsmedizinischen Untersuchungen in ausgewählten EUStaaten vgl. Nolting et al. 2007. 8 6 betrieblicher Wirklichkeiten bei der Arbeitsmedizinischen Vorsorge einen gewichtigen Einfluss auf die Qualität von Information und Kommunikation zwischen Betriebsarzt und Beschäftigten. In § 6 der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV 2013) werden Pflichten des Arztes oder der Ärztin geregelt. Die „dem Stand der Arbeitsmedizin entsprechenden Regeln und Erkenntnisse (sind) zu berücksichtigen“. Vorher „muss er oder sie sich die notwendigen Kenntnisse über die Arbeitsplatzverhältnisse verschaffen“. Es besteht gegenüber den Beschäftigten Aufklärungspflicht entsprechend dem ärztlichen Standesrecht. Kennzeichnend für diesen Bereich betriebsärztlicher Tätigkeit sind die Abgrenzung der arbeitsmedizinischen Beratung von der Feststellung der Eignung und der Verzicht auf den Untersuchungszwang. Ob es tatsächlich zu einer höheren Inanspruchnahme der Wunschvorsorge kommt und die präventiven Ziele (Beschäftigungsfähigkeit) der novellierten Verordnung erreicht werden, mag zweifelhaft sein (Stranzinger u.a. 2014). Zur arbeitsmedizinischen Vorsorge gehören nicht immer körperliche oder klinische Untersuchungen. Die DGUV Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen sind keine verbindliche Rechtsgrundlage, sie gelten als allgemein anerkannte Regeln der Arbeitsmedizin und betreffen physikalische und chemische Belastungen. Der Betriebsarzt muss im Einzelfall prüfen, „welche Untersuchung für eine gute individuelle Aufklärung und Beratung des Beschäftigten angezeigt sind. Die Prüfung umfasst auch die diagnostische Aussagekraft und die Bewertung von Nutzen und Risiken der Untersuchung“ (Bundesministerium 2014: 7,9). Multidisziplinäre Ausrichtung der Arbeitsmedizin Gemäß Artikel 9 der ILO Übereinkunft 161 werden eine multidisziplinäre Ausrichtung sowie die Kooperation mit anderen betrieblichen Einrichtungen sowie mit Institutionen des Gesundheitswesens gefordert. Allerdings ist mit diesen Festlegungen und rechtlichen Anforderungen noch keine Aussage über die spezifisch medizinischen Kompetenzen verbunden, die für die betriebsärztlichen Dienste gefordert werden müssen. Bei einem (engen) klinisch-medizinischen Verständnis wäre davon auszugehen, dass in Abgrenzung etwa zu arbeits- und ingenieurwissenschaftlichen oder arbeitspsychologischen Expertisen die aufgeführten Aufgaben betriebsärztlicher Dienste aus diesem medizinischen Verständnis heraus zu bewältigen wären. Die Handlungsempfehlungen und Leitlinien der DGAUM etwa zur Arbeit unter Einwirkung 7 von Blei und seinen Verbindungen u.a. legen einen solchen Ansatz nahe ( Rieger/Stoll 2014). Die Beratung der Arbeitgeber und Beschäftigten über die Arbeitsorganisation, Arbeitsplatzgestaltung und die bei der Arbeit verwendeten Stoffe wäre bei einem solchen Verständnis betriebsärztlicher Aufgaben allerdings sehr auf toxikologische Fragen begrenzt. Allerdings sind toxikologische Problemlagen, obwohl weiterhin relevant, in Arbeitswelten mit einem sehr hohen Anteil von Dienstleistungsarbeit eher nachrangig. Denn in den modernen Lebenswelten der Erwerbsarbeit sind in den Perspektiven von Gesundheitsrisiko und menschen- bzw. gesundheitsgerechter Gestaltung von Arbeit biopsychosoziale Konzeptionen von Gesundheit /Krankheit angebracht mit den daraus sich ergebenen ärztlichen Handlungs- und Beratungsmustern im Sinne einer „sprechenden und hörenden Medizin“. Für die Reformulierung der Rolle und Funktion des Betriebsarztes wird es notwendig sein, soziologisch zu fragen, ob Betriebsarzt analog zum Arzt als Profession anzusehen ist. Dem Ärztestand ist es historisch gelungen, in Eigenregie eine adäquate universitäre Ausbildung mit spezifischen Fachwissen und Handlungsformen zu entwickeln. Über verbandliche Selbstorganisation haben sie Autonomie gegenüber Laien und Staat erworben. Das von ihnen generierte Berufsbild mit behaupteter Gemeinwohlorientierung und eigener Ethik ist öffentlich präsent. Sie genießen hohes gesellschaftliches Ansehen(Siepmann/Groneberg 2011). Aus den angesprochenen Punkten zu den zwei zentralen Aufgabenfelder „Regelbetreuung“ und „Arbeitsmedizinische Vorsorge“ lässt sich ein modernes Verständnis von Arbeitsmedizin und Betriebsarzt konzipieren. Innerhalb der Medizin selbst zeigt sich zunehmend eine inter- bzw. transdisziplinäres Kooperation in Theorie und Praxis auch in Richtung der sozialwissenschaftliche bzw. psychologischen Disziplinen. In der ärztlichen Aus- und Weiterbildung werden vor diesem Hintergrund innovative Wege beschritten. So könnte eben auch für Arbeitsmedizin und in der Qualifizierung zur betriebsärztlichen Tätigkeit einem innovativen Impuls gefolgt werden. Außerhalb von Universität ist dies allerdings nicht vorstellbar. Präventionsauftrag der Arbeitsmedizin und betriebsärztliche Tätigkeit Wenn Arbeitsmedizin gesetzlich einen Präventionsauftrag hat, dann bleibt zu bestimmen, worin die diesbezügliche medizinisch-wissenschaftliche Fundierung besteht 8 und wie das präventive ärztliche Handeln in der Arbeitswelt bei Beachtung professioneller Standards und Sorgfaltsmaßstäbe konzeptionell und faktisch ausgestaltet wird. Betriebsärztliche Beratungstätigkeit beruht zum einen auf der medizinisch begründeten Beurteilungskompetenz gesundheitlicher Gefährdungen und grenzt sich dadurch von anderen Professionen ab. Obwohl betriebsärztliche Tätigkeit nicht individuell kurativ strukturiert ist, unterliegt sie gegenüber der Unternehmensleitung der Verschwiegenheitspflicht und konstituiert daher ein spezifisches Vertrauensverhältnis zu den Beschäftigten, welches in dieser Weise bei anderen Präventionsdiensten nicht gegeben ist. Gegenüber der sonstigen ärztlichen Tätigkeit erhält die betriebsärztliche Tätigkeit einen privilegierten Zugang zu dem ansonsten durch die Eigentumsregelungen geschützten betrieblichen Bereich, welcher es ihr ermöglicht, über die Beratung gestaltend auf die Arbeitsbedingungen einzuwirken. Als ärztliche Tätigkeit ist dies unter weitgehender Wahrung der Unabhängigkeit und Autonomie möglich. Es ist allerdings zu fragen, ob diese spezifischen Anforderungen in der medizinischen Lehre und Forschung adäquat aufgegriffen werden oder ob dies im Hinblick auf die enormen Anstrengungen und Fortschritte der klinischen Medizin überhaupt möglich ist, die sich auf die Verbesserung der therapeutischen Möglichkeiten beziehen. Möglicherweise ist es erforderlich, betriebsärztliches Handeln auf der Basis einer klinisch-therapeutischen Ausbildung viel stärker auf die multidisziplinäre Interaktion mit anderen Akteuren im Bereich der betrieblichen Prävention auszurichten (Hamacher u.a. 2013, Barth u.a. 2014). Die medizinische Expertise wäre in diesem Zusammenhang nur eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für betriebsärztliches Handeln (vgl. Franco 2006). Erforderlich wäre die Entwicklung einer Interaktions- und Beratungskompetenz, welche die medizinische Qualifikation als Bestandteil von Public Health begreift und in diesem Kontext den Betrieb als soziologisches Feld bestimmt, in dem gesundheitliche Prävention gegenüber produktivitätsorientierter technischer Optimierung und betriebswirtschaftlicher Steuerung zu etablieren ist. Betriebsärzte bringen aus ihrem Studium, ihrer Ausbildung und Weiterbildung sowie ihrer Sozialisation in Klinik und ambulanter Medizin, geprägt durch die Arzt- PatientBeziehung, Wissen für die Tätigkeit als Arbeitsmediziner /Betriebsarzt mit. Die Umsetzung dieses klinisch geprägten medizinischen Handlungswissens verlangt eine nicht leichte spezifische betriebsärztliche Wendung. Die Berücksichtigung 9 arbeitsmedizinischer Themen in der Aus- und Weiterbildung ist in den EU-Staaten sehr unterschiedlich geregelt, so dass man z.B. selbst für die Allgemeinmediziner nicht von einem arbeitsmedizinischen Basiswissen ausgehen kann (Gehanno et al. 2014). Arbeitsund betriebsmedizinische Kompetenz ist in der Diagnostik, Therapie und Rehabilitation bei arbeitsbedingten Erkrankungen und Berufskrankheiten im Hinblick auf die individuelle Behandlung und Rehabilitation des Beschäftigten als Patienten gefordert für seine Eingliederung in betriebliche Arbeitsprozesse. Für das betriebsärztliche Handeln gehen die entsprechenden rechtlichen Regelungen jedoch nicht von der Stellung des behandelnden Arztes aus und dessen Vertrauensverhältnis zum Patienten, sondern weisen der Arbeits- und Betriebsmedizin eine beratende Stellung gegenüber den Beschäftigten und der Unternehmensleitung zu. Die besondere Herausforderung besteht weiterhin in der ungenügend entfalteten wissenschaftlich begründeten Präventivmedizin. Kritische wissenschaftliche Argumentationen zu Früherkennung bzw. Screening und damit präventivmedizinische Handlungsweisen liegen vor (Mühlhauser 2014). Fragen nach Evidenz und Qualität der Arbeitsmedizin stellen sich jedenfalls auch weiterhin und bedürfen einer wissenschaftliche Analyse, wie es mittlerweile für die Medizin etabliert ist.9 Arbeitsmedizin als wissenschaftliche Teildisziplin in Forschung und Lehre an Medizinischen Fakultäten Innerhalb der Ärzteschaft ist die Arbeits- und Betriebsmedizin nicht nur quantitativ, also hinsichtlich der Zahl der Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner, sondern auch qualitativ in einem Dilemma, da sie aus klinisch-medizinischer Sicht nur beratend, nicht aber kurativ tätig wird und ihr spezifisch betrieblicher Zugang als „Public Health in Private Companies“ in Ausbildung und sonstiger medizinischer Praxis kaum Berücksichtigung findet. Aber auch innerhalb der Präventionsdienste befindet sich die Arbeitsmedizin in einem Dilemma, da sie ihre spezifische Kompetenz eigentlich nur im Rückzug auf medizinische Untersuchungen beweisen kann, gegenüber den betrieblichen Organisationsanforderungen und technischen Gestaltungsoptionen dagegen auf die Einbindung in ingenieurwissenschaftliche, soziologische und (sozial-)psychologische Ansätze angewiesen ist. Dies stellt selbstverständlich eine außerordentlich 9 Siehe: Das Deutsche Cochrane Zentrum, www.cochrane.de , http://osh.cochrane.org/ 10 herausfordernde Aufgabe dar, denn es sind Disziplingrenzen zu überschreiten. Ohne die wechselseitige Bereitschaft zur Kommunikation wird es nicht gelingen. Das Thema kann hier nicht weiter vertieft werden, aber Folgendes kann dazu bereits gesagt werden: Für die Entwicklung des Faches und die universitäre Ausbildung könnte der Blick auf verschiedene Ebenen nützlich sein. Dazu würde z.B. ein arbeitsmedizinisches Kompetenzprofil gehören, in dem a) medizinische Routineaufgaben (z.B. Vorsorge ohne bzw. mit Untersuchungen), b) komplexere medizinische Aufgaben (z.B. Arbeitszeitgestaltung oder betriebliche Rehabilitation), c) praxisorientierte wissenschaftliche Aufgaben (z.B. Kälteexposition oder psychosozialer Stress und daraus resultierende Gesundheitsgefahren) und d) arbeitswissenschaftliche Grundlagenforschung (z.B. toxikologische oder biopsychosoziale Forschung) unterschieden werden. In den vier genannten Feldern gibt es Wechselbeziehungen mit anderen Professionen innerhalb und außerhalb der Präventionsdienste, und es wäre angezeigt, in der arbeitsmedizinischen Ausbildung fall- und projektbezogene Lehrinhalte zu entwickeln. (Selbstverständlich wäre ein vergleichbares Vorgehen auch für die nicht-medizinischen Professionen wie z.B. Arbeitspsychologen, Sicherheitsingenieure usw. zu fordern). Möglicherweise ist die Diskussion über die Mindestanforderungen für die Präventionsdienste auf EU-Ebene ein Rahmen, diese Aspekte aufzugreifen und Schritte zur Umsetzung in einzelnen Mitgliedstaaten einzuleiten. Fortschritte als Präventivmedizin kann Arbeitsmedizin nur dann erzielen, wenn sie wie die anderen Disziplinen der Medizin mit ihren jeweiligen Facharztspezialitäten ebenso in die Lage versetzt wird, abstraktes Wissen und konkretes Handlungswissen zu erzeugen. Allein aus der arbeitsmedizinischen Tätigkeit in den Betrieben kann kein präventivmedizinischer Fortschritt in Theorie und Praxis gewonnen werden. Dazu braucht es unbedingt eine wissenschaftliche Infrastruktur in medizinischen Fakultäten. Die Institutionalisierung der Arbeitsmedizin in medizinischen Fakultäten bietet die innovative Möglichkeit, innerhalb der Medizin die theoretischen Grundlagen und daraus abgeleiteten Handlungsmuster für präventive Gesundheitssicherung zu erarbeiten. Wie die Innere Medizin und auch andere Fächer sich den Erkenntnissen und Methoden der Psychologie und Sozialwissenschaft zur Entwicklung der Psychosomatischen Medizin (Adler u.a. 2011)bedient hat , hat die bislang eher naturwissenschaftlich-klinisch geprägte Arbeitsmedizin sich für Psychologie und Soziologie zu öffnen, wobei durchaus 11 mit modernen naturwissenschaftlichen Entwicklungen wie z. B. Epigenetik, Psychoneuroimmunologie, Chronobiologie, psychophysiologische Stressforschung, Entwicklungspsychophysiologie oder der Psychosomatischen Medizin kooperiert werden sollte. Dies kann in Forschung und Lehre nur innerhalb der Universität geschehen. Die neue deutsche Approbationsordnung von 2013 bietet hierzu die Möglichkeit, erst recht in einem Modellstudiengang.10 Junge Ärzte würden sich dann wesentlich leichter tun, wenn sie die vielen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für eine erfolgreiche und Nutzen stiftende Tätigkeit als Arzt im Betrieb unbedingt notwendig sind, sich nicht mühsam selber erwerben müssen, so wie manche der älteren Betriebsärzte dies im Laufe der Jahre gelernt und umgesetzt haben, sondern im Studium schon auf diesen spannenden umfassenden Beruf vorbereitet werden könnten, so die Feststellung einer erfahrenen Betriebsärztin aus Oberösterreich. 10 http://www.arbeitsmedizin.rwth-aachen.de/lehre/msg-10-semester/ Literatur Adler, R. H. u.a. (Hg.) 2011: Psychosomatische Medizin, München Barth, Ch., Hamacher, W., Eickholt, C. 2014: Arbeitsmedizinischer Betreuungsbedarf in Deutschland, herausgegeben von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund, Berlin, Dresden Bulat, P. 2008: Occupational and Environmental Health. In: Encyclopedia of Public Health, Springer, S. 1015-1023 Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014: Arbeitsschutz. Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV), Bonn DGUV 2014: Leitfaden für Betriebsärzte zu Aufgaben und Nutzen betriebsärztlicher Tätigkeit. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Berlin Fedotov, I. A., Rantanen, J. 2011: Standards, Principles and Approaches in Occupational Health Services. In: 16. Occupational Health Services, Fedotov, Igor A.,Rantanen, Jorma,Saux, Marianne, Editor, Encyclopedia of Occupational Health and Safety, Jeanne Mager Stellman, Editor-in-Chief. 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General Survey concerning the Occupational Safety and Health Convention, 1981 (No. 155), the Occupational Safety and Health Recommendation, 1981(No. 164), and the Protocol of 2002 to the Occupational Safety and Health Convention, 1981. Geneva: International Labour Office Kempa, V. 2012: Occupational Health Prevention – A missing piece of the EU legislation. (http://www.uemsoccupationalmedicine.org/sites/default/files/site_docs/meetings /april2012/proposal_of_directive_on_ohp.pdf; Zugriff: 1.12.2014) Milles, D. 2014: Geschichte der Arbeitsmedizin im 20. Jahrhundert. In: Letzel, St., Nowak, D. (Hg.): Handbuch der Arbeitsmedizin, 33. Erg. Lfg. 6/14 AI-1.2, S. 1-47, Heidelberg, München, Landsberg, Frechen, Hamburg Milles, D., Kerkhoff, A., 2010: Gesellschaft und Gesundheit. Historische Texte zu Konzeption und Entwicklung der modernen Public Health, Bremerhaven Mühlhauser, I. 2014: Zur Überschätzung des Nutzens von Prävention. 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