Bis zum Faschismus war Deutschland eine Klassengesellschaft wie

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FernUniversität in Hagen
Die Arbeit im Rahmen des Abschlusses „Master of Arts“ im Masterstudiengang
„Soziologie: Individualisierung und Sozialstruktur“
Prüfer: Prof. Dr. Frank Hillebrandt
Deutschland, eine Klassengesellschaft?
As|M
Sofija Celike
Bahnstrift 44, 30179 Hannover
E-Mail: [email protected]
Matrikelnummer: 8606935
Abgabetermin: 18.06.2015
Inhaltsverzeichnis
1.Einleitung
1
2.1 Die soziale Ungleichheit: Erläuterung verschiedener Konzepte
3
2.2 Zusammenfassung und Bewertung der Konzepte zur sozialen Ungleichheit
12
3.1 Die soziokulturelle Gesellschaftstheorie nach Bourdieu
15
3.2 Die Klassentheorie nach Marx
19
3.3 Vergleich der Theorien: Marx und Bourdieu
22
3.4 Bourdieus Beitrag: Stärken und Schwächen aus einer marxistischen Perspektive
29
4.1 Klassentheorie am Ende der Klassengesellschaft?
33
4.2 Das angebliche Ende von Stand und Klasse in Deutschland
36
5.1 Ein Exkurs: Soziale Selbstorganisationen – Gegenbewegungen im Kapitalismus
38
5.2 Pierre Bourdieus Sozialkapital
48
6. Schlussfolgerung
51
7. Literaturverzeichnis
55
0
1. Einleitung
„Wenn die gegebene Gesellschaftsform das oberste Bezugssystem für Theorie
und Praxis ist und bleibt, dann ist an dieser Art Soziologie und Psychologie
nichts falsch. (…) Aber die Rationalität dieser Art von Sozialwissenschaft
erscheint dabei in einem andern Licht, wenn die gegebene Gesellschaft, die
dabei das Bezugssystem bildet, zum Gegenstand einer kritischen Theorie wird,
die gerade auf die Struktur dieser Gesellschaft abzielt, die in allen besonderen
Tatsachen und Bedingungen präsent ist und deren Ort und Funktion bestimmt.
Dann wird ihr ideologischer und politischer Charakter offenkundig, und die
Ausarbeitung angemessener Begriffe der Erkenntnis macht es erforderlich,
über die trügerische Konkretheit des positivistischen Empirismus
hinauszugehen“
Herbert
Marcuse,
1976
Als eine der auffälligsten Äußerungsformen des gesellschaftlichen Wandels im
modernen Europa wird das Verwischen einer früher offenkundigeren
Klassenstrukturierung angesehen. Mittlerweile sieht eine immer mehr
wachsende Zahl von Sozialwissenschaftlern die Gesellschaft jenseits von
Klasse, Stand oder Schicht. Ihrer Behauptung zufolge, ist das Konzept der
Schichtung oder das der Klassenstruktur nicht geeignet, um die soziale
Strukturierung der gegenwärtigen Gesellschaft darzulegen. Die moderne
Gesellschaft ist durch den anhaltenden Prozess der Individualisierung von
Lebenslagen und Lebenschancen gekennzeichnet. Und anstatt an den
historischen Klassenantagonismus zwischen Arbeit und Kapital weiter fest
zuhalten, ist es viel versprechender die Klassenanalyse durch eine Soziologie
der multidimensionalen Ungleichheit zu betrachten. (vgl. Bischoff/Herkommer
„Von der Klassentheorie zur Ungleichheitsforschung“, 1990).
In der gegenwärtigen Gesellschaft gibt es zwar keinen Klassenkampf, wie
Marx und Engels ihn prognostizierten, aber andere Kriterien des
Klassenbegriffs scheinen erfüllt zu sein: eine soziale Lage, die kein
Einzelschicksal darstellt und die meistens an die Kinder weitergegeben wird,
wie es die Analysen über die sogenannten bildungsfernen Schichten belegen.
Gibt es dann eine Wiederkehr der Klassengesellschaft?
Die Sozialstrukturforschung befindet sich seit ungefähr Mitte der 80er Jahre in
einer heftigen Auseinandersetzung um die Relevanz von traditionellen vertikal
und neueren horizontal orientierten Theorien. Vor allem die neueren Modelle
üben radikale Kritik an Marx Klassentheorie. Die Hauptargumente lauten: die
Pluralisierung von sozialen Milieus hat dazu geführt, dass soziostrukturelle
Großgruppen sich aufgelöst haben und dass es in einem Prozess der
Individualisierung zur autonomen Verselbständigung von Individuen
1
gekommen ist. Dies bedeutet: das Bewusstsein von Individuen wird nicht mehr
aus ihrer objektiven Lage heraus geleitet. Der Ausgangspunkt dieser Theorien
hat mit der Bourdieuschen kulturellen Klassentheorie gemeinsam, dass die
kultursoziologische Milieu- und Lebensstilforschung in allen Entwürfen im
Zentrum steht, wobei Bourdieu an der Vorstellung einer klassenstrukturierten
Gesellschaft festhält. Er hatte bereits in den 80er Jahre mit seinem Werk „Die
feinen Unterschiede“ eine Neudiskussion angestoßen, in der Bourdieu
behauptet, dass neben den ökonomischen auch kulturelle Faktoren eine
wichtige Rolle spielen. Kultur sei nämlich auch ein Merkmal, in dem eine
soziale Gruppe qua Lebensstil, Mode und Habitus sich von den anderen
abgrenzen würde. Die Erkenntnis, dass Ungleichheit nicht nur durch
ökonomische Umstände, sondern auch sehr stark durch kulturelle Merkmale
reproduziert wird, ist somit eine bedeutende Entwicklung in der
Ungleichheitsforschung. Erst Bourdieu hat diesen Gedanken zum Leben
erweckt und stark gemacht. Das bedeutet: will man den Klassenbegriff weiter
verwenden, so musst man neben den ökonomischen Aspekten auch andere
Ebene berücksichtigen.
Für die Sozialwissenschaft ist die Klassenstruktur nicht mehr die dominante
Struktur moderner Gesellschaften, sie ist stattdessen bestenfalls eine unter
mehreren. Die frühere Vorstellung, dass die deutsche Gesellschaft einmal eine
„Klassengesellschaft“, eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ gewesen sei,
oder die heutige Bezeichnung als „Risikogesellschaft“ oder als
„Informationsgesellschaft“ – allen Benennungen gemeinsam ist die Gefahr der
Übervereinfachung und falschen Konkretisierung des Begriffs. Man kann
lediglich von der Prämisse ausgehen, dass vertikale Strukturen nicht ohne
weiteres als das dominante Strukturmerkmal moderner Gesellschaften
interpretiert werden können. Heute treten konkurrierende Strukturprinzipien
auf, wie funktionale Differenzierung, internationale Segmentierung,
Individualisierung. Demzufolge ist ein eindeutiges Primat der Klassen- oder
Schichtstruktur nicht mehr vertretbar. Das bedeutet auch, dass der
Klassenkonflikt nicht per se den Schlüsselkonflikt für das Konflikttheoretische
Verständnis moderner gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt.
In der Theorie der begleitenden Soziologie nehmen soziale Klassen immer
noch einen wichtigen Stellenwert ein, aber Klassen- und Schichtungstheorien
sind in den letzten Jahren immer weiter in den Hintergrund getreten. Vor allem
deshalb, weil sie ihren Stellenwert nicht mit anderen Theorien, wie zum
Beispiel der „neuen sozialen Ungleichheiten“, teilen wollten. Einzige
Ausnahme bildet gegenwärtig wohl die von Pierre Bourdieu (1979) inspirierte
kultursoziologische Erneuerung der Klassentheorie als „Theorie der sozialen
Distinktion“.
Marx und seine Klassentheorie werden in diese Arbeit einbezogen, um das
Verständnis von Bourdieus Klassenkonzept zu befördern. Die beiden Modelle
sind der Gegenstand des theoretischen Richtungsstreits. Die anderen Konzepte
werden nur in ihren Grundzügen vorgestellt, damit der rote Faden dieser Arbeit
– das Bourdieuschen Konzept - nicht verloren geht. Das Ziel dieser Arbeit liegt
2
darin, genauer darzulegen, warum die Klassensemantik auch heute noch für die
Ungleichheitsforschung unverzichtbar ist.
2.1 Die soziale Ungleichheit: Erläuterung verschiedener Konzepte
Die Gesellschaft in der wir leben befindet sich heute in einem dauerhaften
Krisenzustand: ökonomische und ökologische Krisen, Verschärfung der
globalen Probleme, Massenarbeitslosigkeit. Die Kluft zwischen Arm und Reich
nimmt zu, Armut wird vererbt, von Bildung profitiert meist die Oberschicht.
Vor einiger Zeit demonstrierten Menschen in Frankreich auf der Straße gegen
die sich immer weiter ausweitende soziale Kluft. Wie weit ist Deutschland
davon entfernt? Leben wir in einer Klassen-, oder klassenlosen Gesellschaft?
Würden wir beispielsweise in den USA leben, könnten wir tatsächlich von
einer Klassengesellschaft sprechen: working-class und upper – class sind dort
akzeptierte Begriffe. In Deutschland wird der Begriff „Arbeiterklasse“ kaum
noch gebraucht und das Wort „Kapitalismus“ nicht im Zusammenhang mit
einer Klassengesellschaft verwendet.
Dafür stehen Begriffe wie die
Individualisierung, Differenzierung und Globalisierung als gängige Stichworte
der modernen sozialen Ungleichheit.
Bis zum Faschismus war Deutschland eine Klassengesellschaft wie die anderen
in Europa. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde ein großer Teil der
Eliten vertrieben und der verbleibende Teil diskreditiert. Parallel etablierten
sich durch die Partei völlig neue Aufstiegsmechanismen. In den 50er Jahren hat
der Soziologe Helmut Schelsky die These aufgestellt, dass es keine typische
Klassengesellschaft mehr gibt. Es gebe nur noch eine Art nivellierte
Mittelstandsgesellschaft, da durch die soziale Mobilität und dem allgemeinen
Wohlstand typische Klassen nach und nach verschwinden. Die bürgerliche
Mitte ist demnach aufgrund ihres materiellen Wohlstands weder reich, noch
weist sie Tendenzen zum Proletariat auf. Da es durch diese These gar keine
Klassen mehr gibt spricht man auch von einer “Anti-Klassentheorie“. Ansehen
zu speziellen Berufen/Berufsgruppen sieht Schelsky als Relikt vergangener
Zeiten, das keinen Platz in einer Mittelstandsgesellschaft hätte.
Während sich in Westdeutschland das entwickelte, was Schelsky die
„nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ nannte, versuchte sich die DDR an der
klassenlosen Gesellschaft. In der Utopie der DDR waren alle Menschen
Arbeiter und Bauern. Die Utopie der Bundesrepublik kannte nur die
Mittelschicht. Die meisten Deutschen sind also nur mit einem geringen
Bewusstsein für Standesunterschiede aufgewachsen.
Aus heutiger Sicht wird das Konzept der nivellierten Mittelstandsgesellschaft
von Helmut Schelskys eher kritisch betrachtet. So gibt es tendenziell wieder
größere Einkommensunterschiede. Zudem herrscht insbesondere im deutschen
Bildungssystem eine soziale Auslese vor, die bei einer Mittelstandsgesellschaft
aufgrund der Nivellierung nicht existieren sollte. Weiterhin: dass die Armut in
Deutschland seit den siebziger Jahre kontinuierlich zunimmt, ist vielfach
belegt. Besonders ausgeprägt ist der Trend zur Verarmung in den östlichen
Bundesländern. Dort passen sich die Ausmaße der Ungleichheit zwischen ganz
3
unten und ganz oben allmählich jenen im Westen des Landes an. Über 75
Prozent der dauerhaft Armen gehören heute zur Arbeiterschichten.
Insbesondere Arbeiterfamilien mit mehreren Kindern sowie ausländische
ArbeiterInnen gehören zu den Kerngruppen der Armut in Deutschland. Doch
auch die von der Politik massiv beworbene Dienstleistungsgesellschaft
entpuppte sich schon lange als reine Wohlstands-Illusion. Die Entstehung eines
neuen Dienstleistungsproletariats steht, offensichtlich, im Vormarsch.
Die daraus entstehenden Folgen sind dramatisch und treffen in erster Linie die
Bildungschancen der neuen Armen: wer nur mit Hilfe des Staates über die
Runden kommt, kann nur sehr wenig in die Ausbildung seiner Kinder
investieren. Die Pisa-Studien der letzten Jahre haben bewiesen, dass die
Niedriglöhne dazu beitragen, dass immer mehr gering qualifizierte Arbeiter in
Armut abrutschen. Somit ist die Arbeiterklasse vom Umbau des
Wohlfahrtsstaates am schlimmsten betroffen.
Seit Beginn der 80er Jahre werden zunehmend die Ungleichheitsrelationen
berücksichtig, die bis dato nur in einem geringen Ausmaß von Klassen- und
Schichtmodellen einbezogen worden sind. Die klassischen Schicht- und
Klassenmodellen werden scharf kritisiert, weil sie die „neuen“ sozialen
Ungleichheiten nicht beachten wollen. Neben Privateigentum, Einkommen,
Bildung oder Berufsprestige wird auf weitere Faktoren hingewiesen:
Geschlecht,
regionale
Disparitäten,
ethnische
Herkunft,
Kohortenzugehörigkeit, staatliche Transferzahlungen. Im Folgenden werden
die „neuen“ Dimensionen kurz vorgestellt.
Regionale Disparitäten: es bestehen erheblichen Unterschiede zwischen Stadt
und Land bezüglich weiterführenden Bildung. Zudem ist die Disparität im
vereinigten Deutschland deutlich spürbar.
Ethnische Herkunft: Sie steht im Zusammenhang mit sozialer Benachteiligung.
Beispielsweise verdienen ausländische Arbeitnehmer in der Regel weniger als
ihre deutschen Kollegen, zudem konzentrieren sie sich auf die Berufe mit
geringem Sozialprestige. Nicht zuletzt ist die Arbeitslosigkeit unter Ausländer
sehr verbreitet (geht aus dem Migrationsbericht des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung hervor, 2013).
Geschlecht:
Die
verschiedenen
sozialen
Studien
zeigen,
dass
Geschlechtsungleichheiten in vielen Lebensbereichen herrschen: im
Bildungssystem, in der Arbeitswelt, in der Politik und in der Familie. Überall
verdienen Frauen deutlich weniger als Männer, auch wenn sie ähnlichen
Positionen wie ihre männlichen Arbeitskollegen besetzen. Auf der beruflichen
Elitenebene dominieren ausschließlich Männer, Frauen stellen eher dort eine
Ausnahme dar.
Alter: Die Ungleichheit im Alter beruht auf den Schwankungen der zur
Verfügung stehenden Ressourcen in der Nacherwerbsphase. Zusätzlich dazu
kommt der Verlust von Status/Prestige.
4
Kohortenzugehörigkeit: Die Kohortenzugehörigkeit wirkt auf individuelle
Lebenschancen ein, zum Beispiel: Ein radikaler gesellschaftlicher Wandel,
insbesondere auch in Bezug auf die Situation am Arbeitsmarkt, wie er sich in
Ostdeutschland vollzogen hat, trifft Angehörige unterschiedlicher
Geburtskohorten in verschieden Phasen ihres Lebens. Denn Knappheit oder
Überfluss an Arbeitskräften behindert oder fördert soziale Mobilität und
beeinflussen Lebensbedingungen.
Staatliche Transferzahlungen: Mit dem Ausbau des Sozialstaates in den 70er
Jahren wurden staatliche Transferleistungen zu einem wichtigen Faktor für die
gesamte Bevölkerung. Lebensphasen, wie die der Ausbildung oder des
Ruhestands, beruhen auf der staatlichen Alimentierung. Der Anteil der
Familien, der einen Teil ihres Einkommens aus Unterstützungsleistungen
erhält, hat in den letzten Jahrzehnten merklich zugenommen. Indem der Staat
alle wichtigen gesellschaftlichen Institutionen reguliert, wie beispielsweise das
Bildungssystem oder die Infrastruktur, nimmt er Einfluss auf gesellschaftliche
Entwicklungen und individuelle Lebensumstände. Nicht selten trägt der Staat
die Verantwortung, dass bestimmten Bevölkerungsgruppen der Zugang zu
verschiedenen Ressourcen erschwert wird. (vgl. Hradil 1987, 39 - 47f.).
Für die Neuorientierung der deutschen Sozialstrukturanalyse ist Ulrich Becks
These der Individualisierung sehr bedeutsam. Mit der Formulierung „Jenseits
von Klasse und Schicht“ verfestigte Ulrich Beck Mitte der 80er Jahre seine
strukturellen Betrachtungen zur sozialen Ungleichheit. Einerseits konstatiert er,
dass die soziale Ungleichheit in allen entwickelten Ländern sich etabliert hat,
anderseits, dass sich ungeachtet der sozialpolitischen Reformen, die
Ungleichheitsrelationen zwischen den sozialen Großgruppen kaum verändert
haben. Gleichzeitig betont Beck, diese Ungleichheiten seien nicht mehr
zentraler gesellschaftlicher Konfliktgegenstand. Darauf konstatiert er einen
„Fahrstuhleffekt“ – die „Klassengesellschaft“ sei insgesamt eine Etage höher
gefahren, was bedeutet: bei allen sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen
Ungleichheiten gibt es ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung,
Massenkonsum usw. Darauffolgend werden subkulturellen Klassenidentitäten
und –Bindungen aufgelöst. Ein Prozess der Individualisierung und
Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen wird im Gang gesetzt, was
das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten in „seinem
Wirklichkeitsgehalt in Frage stellt“ (Beck 1986). Zudem erweitert Beck seine
These, indem er die Individualisierungstheorie als einen Paradigmenwechsel
sozialer Ungleichheit dastellt. Individualisierung bei Beck meint eine
Enttraditionalisierung, einen Verlust von als selbstverständlich erlebten und
gesicherten Lebensformen und Überzeugungen: Die Welt verliert an
Eindeutigkeit und Klarheit. Traditionelle Institutionen wie z.B. berufliche
Arbeit (was man gelernt hat, das wird ein Leben lang auch ausgeübt) - Familie
und Geschlechtsrollenidentität (z.B. klare Rollenverteilung) aber auch die
Identität sozialer Klassen und Milieus werden brüchig und verlieren an
Orientierungskraft. Das bedeutet nicht gleichzeitig, dass sich die Strukturen
von sozialer Ungleichheit, von Eigentumsverhältnissen, geändert haben; aber
diese sozialen Ungleichheiten werden nicht mehr im großen Schicht- oder
5
Klassenzusammenhang
umdefiniert:
erlebt,
sondern
eher
in
persönliche
Risiken
"Einerseits trifft das Risiko, arbeitslos zu werden und zu bleiben, mit voller
Härte sowieso schon benachteiligte Gruppen (erwerbstätige Mütter, Personen
ohne berufliche Ausbildung, Kranke, Ältere und Ausländer sowie gering
qualifizierte Jugendliche). (...) Diesen Risikofaktoren - so nachhaltig sich in
ihnen auch das Merkmal sozialer Herkunft ausdrückt - entsprechen jedoch
keine sozialen Lebenszusammenhänge, oft auch keine „Kultur der Armut“.
Hier trifft also mehr und mehr Arbeitslosigkeit (und in der Folge ihrer Dauer:
Armut) mit klassenzusammenhangloser Individualisierung zusammen. (...) Die
Kehrseite des Vorübergehenden, mit der die Arbeitslosigkeit eintritt, ist die
Verwandlung von Außenursachen in Eigenschuld, von Systemproblemen in
persönliches Versagen" (Beck 1986, S. 146, S. 150).
Individuelles Leistungsdenken gewinnt an Bedeutung, denn die Anforderungen
an die Subjekte sind gewachsen: Wenn die Einzelnen keine Grundlage mehr in
stabilen sozial-moralischen Milieus haben, müssen sie mehr denn je ihre
Biographie, ihre Lebensorganisation selbst herstellen. An der Stelle der
institutionellen Struktur der Standardlebensläufe tritt Individualität als
entscheidende, die Biographie steuernde Institution. Lebensläufe werden mit
der Individualisierung vielfältiger, gegensätzlicher, brüchiger, unsicherer und
auch für katastrophale Einbrüche anfälliger. Sie werden aber auch, Erfolg
verheißender, umfassender, widersprüchlicher und gleichzeitig abhängiger von
Institutionen wie Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Systemen sozialer Sicherung,
die neue Formen von Normierungen des Lebens erhalten. Die Institutionen
gewinnen an Definitionsmacht, so dass es eine institutionalisierte
Individualisierung entsteht.
Die
gesellschaftliche
Modernisierung mit
den
dazugehörigen
Differenzierungsprozessen,
der
Pluralisierung
von
Werten,
der
Enttraditionalisierung usw. - hat sehr komplexe Auswirkungen auf die
Individuen: Es haben sich neue Standards entwickelt, was vom Leben erwartet
wird. Weidacher (1995) spricht von einer Angleichung schichtspezifischer
Vorstellungen über das Streben nach Glück "hier und jetzt", trotz aller
Verunsicherungen, Tendenzen des Sozialabbaus und dem gewachsenen Risiko
von
Arbeitslosigkeit.
Die
Erwartungen
hängen
mit
Ideen,
Deutungsmustern und Vorstellungen zusammen, die von Klaus Wahl (1989)
als "Mythos der Moderne" bezeichnet werden: Erstens mit der Vorstellung
eines neuen Menschenbildes (im Sinne eines autonomen, selbstbestimmten, mit
Menschenwürde ausgestattetem Subjekts); zweitens mit der Vorstellung eines
sich ständig weiterentwickelnden, allgemeinen Fortschritts in Wissenschaft,
Technik, Wirtschaft und Gesellschaft; drittens mit einem neuen
Familienmodell, das auf die Liebesehe gegründet ist und als Maßstab für den
Sinn des Zusammenlebens das gemeinsame Familienglück bestimmt.
Individuen laufen Gefahr, in eine Falle zu geraten zwischen den
verinnerlichten Verheißungen einerseits - von selbstbewusster Autonomie,
Familienglück und gesellschaftlichem Fortschritt - und ihren eigenen
Erfahrungen andererseits, die ihnen gezeigt haben, dass sie nur sehr bedingt am
6
gesellschaftlichen Reichtum partizipieren können, dass ihnen gesellschaftliche
Anerkennung verweigert wird, und dass Familienglück und Liebesehe höchst
zerbrechlich sind. Sie erfahren, dass hier eine große Diskrepanz zwischen dem
Mythos der Moderne und ihrer Realität besteht. Das Scheitern wird jedoch nur
als individuelles Versagen, als "beschädigtes Selbstbewusstsein" erlebt (Wahl
1990), wobei gerade die diversen gesellschaftlichen Institutionen der
Anerkennung der individuellen Person eher im Wege stehen (Wahl 1990: 160 165).
Die Individualisierungsthese hat sich ohne großen Widerstand als
einflussreiche Diagnose der modernen Gesellschaft durchgesetzt. Auch heute
unterstützen viele verschieden Autoren (Renn, Lindemann, Hahn 1999),
ungeachtet des Korrekturbedarfs, die These der Differenzierung im Alltag und
dadurch geleitetes Verhalten der Individuen. Ihnen zufolge erfasst das
Individualisierungstheorem den Zeitgeist.
Unter Berufung auf das Individualisierungstheorem, auf die „neuen“
Ungleichheiten, kam es ab den 80er Jahren zur einen regelrechten Popularität
der Milieu-Lebensstilforschung. Die Grundlage für die Milieu- und
Lebensstilkonzepte bildete die Argumentation, dass der Anstieg des
Wohlstands, die Bildungsexpansion und die Veränderung von Arbeit, eine
Enttraditionalisierung und gleichzeitige Pluralisierung von Lebenslagen und
Lebensstilen nach sich zog, so dass die Klassen- und Schichtmodelle dem
Zeitgeist nicht mehr entsprechen würden.
In Stefan Hradils Buch (1987)
„Sozialstrukturanalyse in einer
fortgeschrittenen Gesellschaft“ werden die wichtigsten Argumente für diese
Neuorientierung zusammengefasst. Hradil zufolge, erwachsen in den
„postindustriellen“ Gesellschaften Vor- und Nachteilen für die Individuen
aufgrund des Geschlechts, Alters, ihrer Wohnregion oder ethnischen
Zugehörigkeiten. So können bestimmte Bevölkerungsgruppen beispielsweise
hinsichtlich der Variablen wie Bildung, Einkommen oder Berufsprestige
übereinstimmen, hinsichtlich aber weiterer Dimensionen sozialer Ungleichheit,
wie Arbeitsplatzsicherheit oder soziale Integration – sich deutlich
unterscheiden: gleiche soziale Schicht aber unterschiedliche soziale Lage. Die
neuere Milieu- und Lebensstilforschung wollte das Verständnis vermitteln,
dass Lebensweisen heute weit weniger von äußeren Lebensbedingungen wie
Klassen- oder Schichtzugehörigkeit abhängig sind.
So kamen Zapf et al. auf 25 sogenannte Lebensformen, die vor allem auf den
Familien- und Haushaltsstrukturen und dem Alter basieren (vgl. Zapf et al.
1987:32). Hradil wiederum unterscheidet sieben soziale Makromilieus für die
Bundesrepublik (Hradil 1987: 169). Gerhard Schulze hat mit seiner Studie
„Die
Erlebnisgesellschaft“
einen
umfassenden
Beitrag
zur
gesamtgesellschaftlichen Milieustruktur vorgelegt. Aus seiner Sicht bilden sich
soziale Milieus durch die Beziehungswahl und die Wahl eines persönlichen
Stils, der soziale Zugehörigkeit oder Abgrenzung mit sich zum Vorschein
bringt.
7
„Milieus werden den Menschen in einer gesellschaftlichen Situation, wie sie
für Nationen mit einem hohen Lebensstandard charakteristisch ist, nicht
einfach vom Schicksal verordnet. Man kann wählen, mehr noch: Man muss
wählen, wenn man überhaupt noch irgendwo dazugehören möchte“ (Schulze
1992:177).
Die Präferenzstrukturen ästhetischer Beziehungswahlen erfolgen im Rahmen
des Alters, der Bildung und dem alltagästhetischem Stil der Menschen:
„Genau hier sind wir am Übergang von einer Theorie gegenwärtiger
Alltagsästhetik zu einer Theorie der gegenwärtigen Großgruppenstruktur
angelangt. Bildung und Lebensalter disponieren psychisch und physisch für
bestimmte Positionen in der fundamentalen Semantik und damit auch im
dimensionalen Raum der Alltagsästhetik. Zusammen mit dem Stiltypus (…)
verbinden sich Bildung und Alter zu einer signifikanten und evidenten
Zeichenkonfiguration, an der sich die Menschen bei der Konstitution sozialer
Milieus orientieren“ (Schulze 1992:166).
Schulze präsentiert in seiner Studie ein alltagsästhetisches Schema, das
insgesamt fünf soziale Milieus für die Bundesrepublik erfasst, und die durch
eine Alters- und eine Bildungsgrenze strukturiert sind. Dabei werden:
Harmonie-,
Integrations-,
Niveau-,
Unterhaltungsund
Selbstverwirklichungsmilieus unterschieden. Hradil argumentiert, dass die
Vielgestaltigkeit der Milieus die Vielgestaltigkeit der Realität wiederspiegelt
und somit die These von der Pluralität der Milieus und Lebensstile bestätige.
Im Zentrum der Argumentation von Schulz steht nicht- wie bei Bourdieu – die
Verknüpfung von Struktur und Praxis, sondern eine individualisierte
Perspektive, die soziale Milieus als gewählte Wissens- und Zeichensysteme
zusammenfasst. Zwar existieren soziale Milieus als Großgruppen weiterhin, die
Mitgliedschaftsregeln von einer Beziehungsvorgabe zu einer Beziehungswahl
haben sich jedoch verändert. Somit bleibt die Frage nach einer Verknüpfung
von Lebensstil und soziale Ungleichheit offen. Anders gesagt: die Milieu- und
Lebensstilforschung zeigt das Bild der bunten und dynamischen Vielfalt der
Lebensbedingungen. Der gesellschaftskritische Gehalt ist hier verloren
gegangen.
Aus Bourdieuscher Sicht ist diese Grundsatzdebatte falsch, denn es geht um
Stellenwert und Vorrang des „Objektiven“ oder des „Subjektiven“. Einerseits
wird behauptet, dass Einkommen, Bildung und andere Ressourcen für die
Lebensbedingungen der Menschen viel wichtiger wären als kulturelle
Phänomene wie Einstellungen, Meinungen, Verhaltensformen. Anderseits wird
immer mehr die Meinung vertreten, dass soziokulturelle Phänomene in den
modernen Gesellschaften zunehmend bedeutsamer werden. Mit der ständigen
Verbesserung von Lebensbedingungen können Individuen ihr Leben in immer
höherem Maße eigenständig wahrnehmen, interpretieren und gestalten.
Letztendlich geht es in diese Auseinandersetzung um die Frage nach Grad und
Art der Differenziertheit moderner Gesellschaften und deren strukturbildenden
Prinzipien.
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Die Milieu- und Lebensstilkonzepte sind mit der Frage nach einem
gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu konfrontieren. Nicht nur, dass die
verschiedenen Modelle wenig Anknüpfungspunkte zueinander aufweisen. Die
von verschiedenen Autoren diagnostizierten Lebensstile und Milieus können in
einzelnen Konzepten nicht miteinander vergleichbar gemacht werden. Wenn
der Vorwurf gegenüber den Klassen- und Schichtkonzepten ihre Fixierung auf
objektive Dimensionen lautet, so ist es bei der Lebensstilforschung ihr
Hervorheben subjektiver Handlungsdimensionen. Die reine Deskription der
Erscheinungsformen von Lebensstilen und die Vernachlässigung von
materiellen-strukturellen Ursachen erhebt keinen Anspruch daran soziale
Ungleichheiten und deren Reproduktion zu erklären. Zudem bemüht sich eine
große Zahl der Lebensstilkonzepte mehr um Plausibilitäten als um theoretische
Herleitung und Begründung auf ihrer Ebene. Es verlangt aber eine
gesellschaftstheoretische Begründung, wenn sich der Lebensstilansatz in der
sozialen Ungleichheitsforschung behaupten will. An diesem Punkt drängen
sich die Vorzüge von Bourdieu auf.
Die Grundannahme Bourdieus lautet, dass Lebensstile sich als Optimierung
von Handlungsressourcen ökonomischer, kultureller und sozialer Art mit dem
Ziel eines symbolischen Distinktionsgewinns darstellen lassen. In seiner
Analyse geht es im Prinzip um die Darstellung spezifischer Lebensstile in
Bezug auf einzelne Kapitalfraktionen und ihre Homologie zu Umfang und
Struktur der verfügbaren Kapitalformen. Das Wichtigste ist: Lebensstile
werden nicht nur in ihren unterschiedlichen vielfältigen Erscheinungen
beschrieben, sondern nach ihrer Funktion bezüglich vertikaler oder
horizontaler Abgrenzung strukturiert.
Moderne soziale Ungleichheit ist vor allem wirtschaftliche Ungleichheit.
Dieser Ausgangpunkt wird über Karl Marx, Max Weber, Theodor Geiger bis in
heutige Arbeiten überliefert. Die Differenzierungstheorie eröffnet eine andere
Traditionslinie. Niklas Luhmann ist einer der wichtigsten Referenzautoren.
Luhmann (1986) zufolge, gliedert sich die Moderne in etwa ein Dutzend
funktional spezialisierte Teilsysteme, die jeweils selbstreferentiell geschlossene
Sinnzusammenhänge darstellen und als solche um einen jeweils eigenen
binären Code wie z. B. »zahlen/nicht zahlen« in der Wirtschaft oder
„Recht/Unrecht“ im Rechtssystem zentriert sind. Die funktionale
Differenzierung der modernen Gesellschaft ist somit kulturell konstituiert,
beruht auf evaluativen Deutungsstrukturen, die einem Akteur sagen, was in
einer Situation erstrebenswert ist. Die binären Codes der Teilsysteme bzw.
Leitwerte der „Wertsphären“ stellen Maßstäbe dafür dar, was in einem
teilsystemischen Handlungszusammenhang etwas »zählt«, worum sich das
handelnde Zusammenwirken der involvierten Akteure dreht. Pierre Bourdieu
(1999: 360–365) nennt dies in seiner differenzierungstheoretisch angelegten
Theorie sozialer Felder treffend die feldspezifische »illusio«.
Luhmann diagnostiziert in der Entwicklung moderner Gesellschaften einen
Wandel im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, der sich mit dem
Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung vollzieht: das
9
Individuum kann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch
Exklusion definiert werden. Das, was das Individuum ausmacht, lässt sich
nicht mehr durch eine Analyse gesellschaftlicher Normen und Institutionen,
d.h. sozialer Erwartungsstrukturen herausfinden. Mit steigender Komplexität
der gesellschaftlichen Strukturen erhöht sich die Autonomie der Individuen, ihr
Handel ist nicht mehr weitgehend durch den sozialen Zusammenhang
determiniert. Luhmann bringt dabei die typischen Entfremdungsphänomene der
Moderne auf eine systemtheoretische Formel, die sich auf die Inklusions„Bedürftigkeit“ des Individuums bezieht. Seinem Modell zufolge findet sich
das Individuum in einer funktional strukturierten Gesellschaft zunächst
außerhalb der Gesellschaft wieder und muss sich in die relevanten
Teilbereichen erst einschreiben. Auf dieser Weise können die Individuen nun
theoretisch an allen Funktionssystemen teilnehmen, sind selbst aber aus der
Gesellschaft in ihre Umwelt verbannt. Damit wird ihre konkrete Platzierung
zum Problem: Individuen müssen sich an allen Kommunikationen beteiligen
können und wechseln entsprechend ihre Kopplungen mit Funktionssystemen
von Moment zu Moment. Die Gesellschaft bietet ihnen folglich keinen sozialen
Status mehr, der zugleich das definiert, was der Einzelne nach Herkunft und
Qualität
„ist“.
Sie
macht
Inklusion
von
hochdifferenzierten
Kommunikationschancen abhängig, die untereinander nicht mehr sicher und
vor allem nicht mehr zeitbeständig koordiniert werden können.
Luhmann spricht von einer „Mischexistenz“: niemand mehr kann eine
ausschließliche juristische, familiäre oder religiöse Existenz führen, sondern
muss jederzeit Zugang zu den verschiedenen Teilsystemen haben, ohne auch
nur einem dieser Systeme jemals anzugehören. Diesen Tatbestand bezeichnet
Luhmann mit dem Begriff Inklusion. Mit dieser Bestimmung von Inklusion ist
gleichsam das Minimalprogramm formuliert, dass es dem einzelnen
ermöglichen soll, an den Leistungen der ausdifferenzierten Funktionssysteme
partizipieren zu könne. Nimmt der Einzelne keines der Angebote in Anspruch,
muss er dies individuell verantworten. So drängt das Inklusionsangebot
gewissermaßen mit sanfter Gewalt auf Inanspruchnahme. Aus diesem Konzept
werden bereits hier entscheidende Folgen erkennbar: zum einen leistet eine
funktional differenzierte Gesellschaft, nach Luhmann, die potentiell universelle
Inklusion in die Teilsysteme. Damit bedient die Idealisierung der möglichen
Vollinklusion des Menschen und treibt politische Partizipationskonzepte voran.
Zum anderen ergeben sich aber Schwierigkeiten für das Individuum, dessen
Identität durch die ständig wechselnden Partialinklusionen zersplittert scheint
(vgl. Luhmann 1997: 707–865).
„Die Differenzierungstheorie, sei es in der systemtheoretischen oder der
handlungstheoretischen Variante, stellt eine Herausforderung für die soziale
Ungleichheitsforschung dar, weil sie ein umfassenderes Verständnis der
Moderne gibt – gegenüber der Ökonomielastigkeit der Ungleichheitstradition.
Diese war und ist starkem Maße in eine Theorie der Kapitalismus eingebettet,
an deren Stelle heute eine differenzierte Beschreibung der modernen
Gesellschaft getreten ist. Ihr Kennzeichnen ist nicht nur die Verselbständigung
der kapitalistischen Ökonomie, sondern der weiteren primären Bereiche (wie
10
Politik, Recht, Wissenschaft, Kunst, Familie, Religion) sowie zusätzlicher
sekundärer Bereiche (Gesundheit, Sport, Medizin, Erziehung, Medien), deren
Ordnungs- oder Teilsystemstatus noch nicht zufriedenstellend geklärt ist“
(Schwinn 2015: 8).
Das heutige Verteilungs- und Ungleichheitsverhältnis, das die Lebenschancen
von Menschen von mehreren verschiedenen Institutionen abhängig macht, übt
eine ernstzunehmende Kritik an die rein klassentheoretische Erfassung von
sozialer Ungleichheit: das Beharren auf dem Ansatz der Klassenanalyse
erschwere nur, so die Kritik, die Erfassung von neuen Formen sozialer
Ungleichheit, während die horizontalen Disparitäten bereits in zunehmendem
Ausmaß an die Stelle vertikal bestimmter ökonomischer Ungleichheit treten
oder diese zumindest ergänzen. Bezogen auf die Differenzierungstheorie
bedeutet dies, dass Individuen je nach Lebenslage in unterschiedlichen sowohl
privilegierten als auch defizitären Situationen versetzt werden können.
Zusätzlich lässt die Individualisierungstheorie von Ulrich Beck neue plurale
Formen sozialer Ungleichheit ins Blickfeld treten.
Zusammenfassend könnte man die Differenzierungstheorie mit der folgenden
These abschließen: soziale Ungleichheit ist das Ergebnis institutionalisierter
Laufbahnen, die Lebenslagen differenzieren und schichtspezifisch selektiv
gewählt werden. Erklärungsbedürftig bleibt aber die Frage: „wieso sind
Positionen und Leistungen unterschiedlich mit Privilegien ausgestattet, obwohl
diese differenziellen Gratifikationen nicht zwingend aus horizontalfunktionalen Sachgesetzlichkeiten abgeleitet werden können?“ (Schwinn 2015:
35). Denn: ein Schlosser mag in seinem Beruf extrem begabt sein, aber er wird
nicht über jene Privilegien verfügen können, mit denen die anderen, mehr
angesehenen Berufe ausgestattet sind. Das heißt: der institutionell vorgegebene
Positionsrahmen verteilt Vor- und Nachteile – und kann auch durch
individuelle Leistungen nicht in einer Art kumulativen Dynamik durchbrochen
werden.
Luhmann stellt fest (1985:145), dass die Entlohnung der beruflichen
Leistungen nicht nach funktionalen Kriterien, sondern über den Umweg
sozialer Ungleichheit geschieht. Denn es gibt keinen universellen Maßstab,
über den der Wert der einzelnen differenzierten Leistungen im direkten
Vergleich zu den anderen Leistungen übersetzbar oder vergleichbar wäre.
Unter dem Aspekt des Entlohnungskriteriums, gilt das Angebots-NachfrageVerhältnis auf dem Arbeitsmarkt als entscheidendes Element. In vielen
Tätigkeitsbereichen sind die Entlohnungskriterien fest geregelt: wie etwa im
öffentlichen Dienst oder für Sozialhilfeempfänger. In beiden Fällen orientiert
man sich an „eine adäquate Entlohnung im Sinne einer bestimmten
Lebenshaltung sowie des angemessenen Lebensstandards“. Für Top Manager,
dagegen gibt es keine Grenzen für die finanzielle „Steigerung nach oben“.
Georg Simmel (1977) stellt auch fest, dass es eine Inkommensurabilität
vorliegt, die jede angemessene Bezahlung für eine bestimmte Tätigkeit oder
einen bestimmten Beruf illusorisch macht: „Die Bedeutung der Bezahlung
kann hier nur sein, dass man das Entsprechende beiträgt, um dem Leistenden
11
die angemessene Lebenshaltung zu ermöglichen, nicht aber, dass sie und die
Leistung sich sächlich entsprächen“ (ebd. 368 f.). Die ökonomische
Entlohnung erfolgt somit über einen Umweg – über die für die Reproduktion
der Arbeitskraft nötigen Mittel. Anders gesagt: durch die Vergleiche der
Gruppen innerhalb der sozialen Ungleichheitsverhältnisse. Somit verteilt der
institutionell vorgegebene Positionsrahmen Vor- und Nachteile, die man allein
durch individuelle Bemühungen, nicht durchbrechen kann. Aus dieser
Perspektive ist die soziale Ungleichheit ein bloß durch die Institutionen
gesteuertes Ergebnis, das sich im Effekt zu differenziellen Lebenschancen
kumuliert. (Vgl. Kapitel Schwinn 2015, 32-38).
2.2 Zusammenfassung und Bewertung der Konzepte zur sozialen
Ungleichheit
Der Begriff „Klassengesellschaft“, so wie Marx ihn zu seiner Zeit verstanden
hatte, wird ohne große Einwände auf die industrielle Gesellschaft des 19.
Jahrhunderts übertragen. Die besondere Angemessenheit des Begriffs für die
frühen Entwicklungsstadien der Industriegesellschaft bedeutet nicht, dass dies
auch für die heutigen Gesellschaften gilt. Vester (1998) ist beispielsweise der
Meinung, dass die industrielle Klassengesellschaft zu Marx Zeiten lediglich
einen historischen Sonderfall darstellt und für die heutigen Verhältnisse keinen
Anspruch erheben kann. Seine Aussage beruht auf der „Entzauberung“ des
Klassenbegriffs in der Moderne, wo Arbeit und Kapital keine
konflikthervorrufenden Antagonismen mehr sind.
Sinnvoll ist es den Klassenbegriff zu benutzen, wenn man die ökonomischen
Reproduktionsbedingungen für die Erforschung vertikaler Ungleichheit
berücksichtigen will. Zum Beispiel wenn das Angebot an Arbeit deutlich hinter
der Nachfrage zurückbleibt, wenn es eine große Anzahl an Arbeitslosen gibt,
dann ist die Gefahr zur Ausbeutung besonders groß. Es muss aber auch
konstatiert werden, dass der Einfluss des Verhältnisses von Kapital und Arbeit
nicht in allen Bereichen gegenwärtiger Gesellschaften gleiche Wirkungen
aufweisen, da neben der Kapitalakkumulation im Arbeitsprozess noch andere
Reproduktionsformen der modernen Gesellschaften auftreten. Darunter sind
auch die neuen sozialen Ungleichheiten anzusiedeln. Im Bourdieuschen
Kontext würde man dann den distinktiven Charakter des Geschmacks
erwähnen. Das heißt: die Klassen werden durch die Art des Konsums
reproduziert.
Die Klassenstruktur ist Alltagsbeobachtungen immer weniger zugänglich.
Wenn man das Ende der Klassengesellschaft an dem Fehlen einer
Arbeiterklasse mit dem entsprechenden Lebensstil verweist, so übersieht man
die Klassenformierung am Ende der Statusgliederung. Das Bourdieu-Konzept
soll dabei die Klassenhypothese vor dem Ausschluss bewahren und
verdeutlichen, dass Klassen unter der lebensweltlichen Oberfläche weiter
existieren. Auch wenn die lange fungierenden Klassen- und Schichttheorien
heute nahezu als unbrauchbar angesehen werden, wird mit Bourdieu deutlich,
dass die ungleichen sozialen Gruppen nicht verschwunden sind.
12
Die
neueren
Ansätze
zur
Sozialstrukturanalyse
deuten
den
Perspektivenwechsel an: Individualisierung, Pluralisierung von Milieus,
Entkoppelung sind die zentralen Kernpunkte. Bourdieu – als
Lebensstiltheoretiker gelingt hier eine interessante Gegenüberstellung, weil er,
ungeachtet seiner Milieu- und Lebensstilkonzepten, gleichzeitig an einem
Klassenmodell festhält. Der Schwerpunkt seiner Gegenüberstellung liegt darin,
dass Bourdieu dem radikalen Perspektivenwechsel nicht ausnahmslos
zustimmt, sondern sich um ein Zusammenwirken von vertikalen (Macht,
Bildung, Einkommen, Berufsprestige) und horizontalen (Geschlecht,
infrastrukturelle Anbindung) Strukturen bemüht. Die Fragen der Macht und
Herrschaft haben bei ihm einen erheblichen Stellenwert, was auf einen Hang
zur traditionellen Sozialstrukturanalyse hindeutet.
Dass Bourdieu die
Gegenwartsgesellschaft überhaupt als eine Klassengesellschaft sieht ist
keineswegs für den gegenwärtigen Stand der soziologischen Diskussion
selbstverständlich:
„Leugnet man die Existenz der Klassen, (…), leugnet man letzten Endes die
Existenz von Unterschieden und Unterscheidungsprinzipien überhaupt“
(Bourdieu 1998:25).
Die Vertreter einer neueren, ausschließlich horizontal orientierten
Sozialstrukturanalyse argumentieren, dass die Soziallagen und damit
Lebensformen vielfältiger geworden sind, die Menschen sich aus sozialen und
kulturellen Bindungen herausgelöst haben. Dabei bleibt die Frage, im Rahmen
des Entstehens von neuen Freiheiten, nach dem qualitativen Ausmaß dieser
Freiheiten, ungeklärt. Die von neueren Sozialstrukturtheorien diagnostizierten
Pluralisierungstendenzen der Gesellschaft überschatten im Endeffekt eine
Enttstrukturierungstendenz, die eine Ungleichheitsforschung zu einer
Vielfaltsforschung verkommen lässt.
„Mit der unkritischen Fokussierung auf die dynamische Vielfalt der Lagen,
Milieus und Lebensstile wird der kritische Blick für weiterhin bestehende
vertikale Ungleichheitsstrukturen getrübt. Es besteht die Tendenz, dass
vertikale Strukturen wegdifferenziert, wegpluralisiert, wegindividualisiert und
wegdynamisiert werden. Sie werden mit einem Schleier von Prozessen der
Individualisierung, Pluralisierung, Differenzierung und Dynamisierung verhüllt
und unkenntlich gemacht“ (Geißler 1996:323).
Bourdieu hingegen schafft es, vertikale und horizontale Strukturen in seinem
Konzept zu berücksichtigen. Er vermischt nicht die ressourcenbezogene Ebene
mit der Verschiedenartigkeit. Da Bourdieu Lebensstilanalyse mit
Klassenanalyse verknüpft, bleibt er der klassischen Tradition der
Sozialstrukturanalyse treu. Der Vorzug dabei ist, dass die Lebensstile sich als
Optimierung von Handlungsressourcen sozialer, ökonomischer und kultureller
Art mit einem symbolischen Distinktionsgewinn darstellen lassen. Sie werden
von Bourdieu nicht nur in ihrer unterschiedlichen Erscheinung beschrieben,
sondern auch nach ihrer Funktion bezüglich vertikaler oder horizontaler
Abgrenzung strukturiert.
13
Es könnte der Eindruck erweckt werden, dass die fortschreitende
Individualisierung der Gesellschaft und damit Erweiterung der
Handlungsoptionen des Einzelnen zur möglichen Reduzierung von
Ausschlussmechanismen führt. Nun ist zu konstatieren, dass die neuen
Freiheiten vertikale Ungleichheiten für das Individuum reproduzieren und
verfestigen. Trotz individueller Handlungsspielräume erklärt Bourdieu
vertikale Ungleichheiten durch den klassenspezifischen Habitus, der in jeder
Generation vorhanden ist. Gleichzeitig wirft Bourdieu die Frage nach
Verankerung vom klassenspezifischen Denken und Handeln der Menschen auf.
Da die Klassenstruktur den Alltagsbeobachtungen immer weniger zugänglich
ist, bewahrt das Bourdieusche Konzept die völlige Ausschließung von
Klassenhypothese. Bourdieu
stellt auch klar, dass in der modernen
Sozialstruktur Klassen keine sozialen Gruppierungen mit klaren Grenzen sind.
Lebensstile und Lebenschancen können dem Habitus entsprechend untypisch
sein, was klare Klassengrenzen verschwimmen lässt. In diesem Sinne versucht
Bourdieu die Klassen nicht als „Realtypen“ aufzufassen, sondern als
heuristische Instrumente. Seine Konzepte des sozialen Raums oder des Habitus
bieten eine wertvolle Grundlage zum besseren Verständnis der gegenwärtigen
Gesellschaft. Schließlich zeigt Bourdieu die Perspektive, wie ein Schritt in die
Richtung der sozialen Ungleichheit-Analyse gemacht wird, welche die soziale
Lage und Lebensstil auf einer fruchtbaren Weise miteinander verknüpft.
Bedeutsam für die heutige Sozialstrukturanalyse sind auch Bourdieus
theoretische und konzeptionelle Zugänge zur Untersuchung der Phänomene
sozialer Ausgrenzung- und Unterscheidungsmechanismen. Erwähnt werden
müssen auch Bourdieus objektive wie subjektive Aspekte einbeziehender
Lebensstilbegriff und sein Konzept der Darstellung und Anerkennung
ökonomischer, sozialer und kultureller Ressourcen und Praktiken als
symbolisches Kapital. Zudem hat Bourdieu gezeigt, dass nicht die Auflösung
der Klassen und Schichten das Ergebnis des Modernisierungsprozesses ist,
sondern die Herausbildung einer dynamischen und pluraleren Klassenstruktur.
Bourdieus Ansatz stellt eine der größten kultursoziologischen
Herausforderungen in der gesellschaftstheoretischen Diskussion da und führt
zu einer Reorientierung in der Ungleichheitsforschung:
„Im Bereich der Klassen-, Schichtungs- und Mobilitätsforschung gibt es kaum
ein Pendant zu seinen Untersuchungen, die ebenso theoretisch diszipliniert,
methodisch kontrolliert und empirisch kreativ in Form von Global- und
Detailanalysen dem Zusammenhang von „Klasse“ und „Stand“ und damit der
Bedeutung der sozialen Ungleichheit in fortgeschritten Konsumgesellschaften
nachgehen. Bourdieus Ansatz ist daher in besonderer Weise zur theoretischen
Reorientierung der Ungleichheitsforschung geeignet“ (Müller 1992:365).
Abschließend lässt sich die Schlussfolgerung daraus ziehen, dass der richtige
Weg zur angemessen Analyse der gegenwärtigen Sozialstruktur nicht in der
vollständigen Ablehnung von der Marxschen Klassentheorie erfolgen kann.
14
Dabei ist zu beachten, dass es der Ergänzung seiner Theorie mit den „neuen“
Sozialen Ungleichheiten der Gegenwart bedarf. Es muss der Mittelweg
zwischen den beiden extremen Gesellschaftsinterpretationen gefunden werden:
zwischen der These von dem unverminderten Fortbestehen einer
Klassengesellschaft und der These einer hochdifferenzierten und
individualisierten Gesellschaft. Bourdieus soziokulturelle Klassentheorie stellt
einen möglichen Mittelweg zwischen den vorgestellten Extrempositionen da.
(vgl. Kapitel: Bourdieu 1998: 18-25; Geißler 1996: 320-323; Müller 1992:
360-365).
3.1 Die soziokulturelle Gesellschaftstheorie nach Bourdieu
Kultur ist für Bourdieu das entscheidende Medium zur Reproduktion von
Klassenstrukturen. Die zentrale These dabei lautet, dass Klassenzugehörigkeit
am deutlichsten in differenziellen Lebensstilen zum Ausdruck kommt. Seine
Gesellschaftstheorie erfasst die Beziehungen zwischen Klassenzugehörigkeit,
kultureller Praxis, Bildungspartizipation und Lebensstilen. Als das Kernstück
der Bourdieuschen Theorie kann die Analyse der Zusammenhänge zwischen
Sozialstruktur und Kultur angesehen werden. Die Auseinandersetzung mit
Herrschaft bzw. Reproduktion von Herrschaft stellt den Hintergrund für seine
Untersuchung dar.
Die Theorie der Klassen ist bei Bourdieu in seine soziokulturellen
Gesellschaftsstudien eingebettet. Eine separate Klassentheorie hat Bourdieu
nicht entwickelt. Um zu verstehen, was er unter Klassen meint, muss dem
inhaltlichen Zusammenhängen gefolgt werden: so ist der Begriff Klasse eng
mit den Begriffen sozialer Raum, Feld und Habitus verbunden.
Der soziale Raum bei Bourdieu ist der Rahmen, in dem die gesellschaftlichen
Positionen der Individuen und ihre Lebensstilen verortet werden. Dabei nutzt
Bourdieu für die Konstruktion des sozialen Raumes zwei Kapitalarten: das
ökonomische und das kulturelle Kapital. Der soziale Raum zeichnet sich durch
seine Dreidimensionalität aus: die vertikale Dimension umfasst das
Gesamtvolumen an kulturellem und ökonomischem Kapital. In der
horizontalen Dimension wird eine Differenzierung nach Zusammensetzung des
Kapitals und in einer dritten die zeitliche Differenzierung vorgenommen. Die
quantitative wie qualitative Kapitalbestimmung lassen die Positionen der
Individuen im sozialen Raum bestimmen. Dabei ist der Raum der Positionen
gleich dem Raum der Lebensstilen: „Der soziale Raum und die in ihm sich
spontan abzeichnenden Differenzen funktionieren auf der symbolischen Ebene
als Raum von Lebensstilen“ (Bourdieu 1985:21). Die Lebensstile versteht
Bourdieu als strukturierte Zeichensysteme, die eine soziale Kategorisierung
durch Klassifikation erlauben:
15
„Das Wesentliche aber ist, dass diese unterschiedlichen Praktiken, Besitztümer,
Meinungsäußerungen, sobald sie mit Hilfe der entsprechenden sozialen
Wahrnehmungskategorien, Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien
wahrgenommen werden, zu symbolischen Unterschieden werden und eine
regelrechte Sprache bilden“ (Bourdieu 1998:21f.).
Bourdieu verwendet einen relationalen Klassenbegriff, der in seiner
Unterscheidung in Klassenstellung und Klassenlage zum Ausdruck kommt.
Die Klassenlageergibt sich Bourdieu zufolge aus einer Reihen
sozioökonomischer Faktoren. Die entsprechende Klasse steht in diesem Sinn
für sich. Die Stellung einer Klasse gibt wieder, wie diese in Relation zu
anderen Klassen innerhalb einer gesellschaftlichen Totalität dasteht.
Bourdieus Klassentheorie, die auf den Zusammenhang zwischen Klasse und
Klassifikation gerichtet ist, erhält folgende Kernelemente: das Volumen des
Kapitals; die Struktur des Kapitals; die soziale Konstruktion von Klassen durch
symbolische Auseinandersetzungen zwischen Subjekten und Gruppen. Der
letzte Punkt des Klassenkonzepts berücksichtigt die Laufbahneffekte, die in der
zeitlichen Dimension des sozialen Raums verankert sind. Als Ausdruck
kollektiver Laufbahnen sind wiederum die Positionen der Individuen, die
tendenziell den Aufstieg oder Abstieg sozialer Karrieren aufzeigen. Bourdieus
Vorstellung von Klassen wird jedoch erst deutlich, wenn der Habitus- Begriff
in das Konzept der Klasse eingeführt wird.
Zum empirischen Ausdruck kommen die Klassen nach Bourdieu aber
hauptsächlich im Raum der Lebensstile, der sich homolog zum Raum der
sozialen Positionen, aufgrund differenzierter Praktiken der Lebensführung,
bildet. Und so „bietet sich der Geschmack als bevorzugtes Merkmal von
„Klasse“ an“ (Bourdieu 1982:18). Geschmack ist dabei keine zufällige
Kategorie, sondern resultiert aus der Sozialstruktur der Individuen. Die
Verknüpfung zwischen Struktur- und Handlungsebene erfolgt, wie schon
bereits erwähnt, über das Konzept des Habitus.
Der Habitus ist die Grundhaltung eines Menschen zu sich selbst und zur Welt.
Der Begriff umfasst Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkkategorien,
Verhaltensstrukturen
und
Möglichkeiten
des
Individuums.
Die
unterschiedlichen Habitus zeigen sich in unterschiedlichen Arten sich zu
kleiden, essen, amüsieren, aber auch in unterschiedlicher Lebensführung- und
Zielen, Weltsichten und Einstellungen der Menschen.
Bourdieu nennt den Habitus auch „strukturierte Struktur“ in dem Sinne, dass
der durch Erfahrungen geprägt wird. In ihm ist die soziale Ordnung
inkorporiert. Anderseits ist Habitus auch „strukturierende Struktur“ – er
generiert das Handeln eines Menschen, so dass die Geschichte und die
Umwelt, in der er lebt, bis zu einem gewissen Grad von ihm strukturiert wird.
In der Bourdieuschen Theorie stellt der Habitus die Vermittlungsinstanz
zwischen Struktur und Praxis dar: zum einen werden die mit dem Habitus
vermittelten (Geschmacks-)Vorstellungen von dem Individuum in seiner
16
psychischen Struktur internalisiert, zum anderen geht der Habitus auch in die
physische Struktur des einzelnen ein.
Der Habitus basiert auf der Klassenzugehörigkeit und der damit verbundenen
kollektiven Geschichte. Die Frage nach Zusammenschlüssen gesellschaftlicher
Gruppen wird bei Bourdieu so erklärt: eine Klasse kann als eine „Klasse auf
dem Papier“ durch die Nähe der Positionen im sozialen Raum objektivistisch
betrachtet werden, zu einer wahren wird sie jedoch erst durch die
klassifikatorische Praxis der Subjekte. Die Praxisformen der Individuen
können distinktive oder integrative Segmente zum Vorschein bringen. Im
Bourdieus Sinne sind dann die Lebensstile als Kampfinstrumente aufzufassen.
Denn es wird nicht nur um Verteilung von Gütern und Dienstleistungen
konkurriert, sondern auch um die legitimen Standards und die distinktiven
Lebensstile. Die durch soziale Positionen bedingten Unterschiede führen somit
zu symbolischen Auseinandersetzungen. Praktisch alle Lebensäußerungen der
Individuen erhalten von dieser Situation des niemals anzusetzenden Kampfes
um die soziale Position ihre soziale Bedeutung, ihren objektiven Sinn.
Bourdieu unterscheidet drei stilistische Einheitlichkeiten als verbindendes
Element innerhalb der Klassen: den legitimen Geschmack, den mittleren
Geschmack,
den
populären
Geschmack.
Die
drei
großen
Geschmacksdimensionen leiten sich aus der Differenz ab, die zwischen den
drei großen Klassen im sozialen Raum bestehen. Der „legitime“ Geschmack ist
bei den Menschen mit großem Kapitalbestand, mit hohem ökonomischem und
kulturellem Kapital, zu finden. Diese Klasse, die Bourdieu der herrschenden
zuordnet, zeichnet sich durch einen Sinn der Distinktion aus.
Der „mittlere“ Geschmack resultiert als Geschmacksform der Mittelklasse, die
Geschmacksnormen der herrschenden Klasse zu kopieren versucht. Wenn die
herrschende Klasse sich durch Selbstbewusstsein, Natürlichkeit im Umgang
mit den selbst definierten Normen auszeichnet, so haftet das Kleinbürgertum
die Schwerfälligkeit und das permanente Gefühl die Vertreter des „legitimen“
Geschmacks nachahmen zu müssen.
An der untersten Stufe der drei Dimensionen befindet sich der „populäre“
Geschmack, der von Bourdieu auch als „Notwendigkeitsgeschmack“ genannt
wird: es wird sich nur das gewünscht, was man auch erfüllen kann. Bedürfnis
und Möglichkeit sind hier miteinander verwoben. Im Unterschied zu den
beiden anderen Geschmacksrichtungen, ist diese am häufigsten in unteren
Schichten mit niedrigem Bildungskapital zu finden. Insgesamt sollen diese drei
großen Klassen nur als Grobgliederung betrachtet werden, sie stellen keine
Bestimmung der einzelnen homogenen gesellschaftlichen Gruppen da.
Bourdieu war sich wohl bewusst, dass die Klassen differenzierter sind und dass
auch innerhalb der Klassenfraktionen Machtverhältnisse und Kämpfe und die
Positionen existieren. Daraufhin entwickelte Bourdieu das Konzept des
sozialen Feldes.
Bourdieu geht davon aus, dass die internen Habitus Strukturen nur eine Seite
der Praxis ausmachen, die andere sind die externen, objektiven Strukturen der
17
sozialen Felder. Ihm zufolge sind Felder, strukturierte Räume, in denen die
Praxis vom Habitus stattfindet. Ein Feld ist dabei eine Art Spielraum, in dessen
Autonomie nach gewissen Regeln gespielt wird. Die Regeln des Feldes legen
fest, was im Rahmen des Spieles möglich und unmöglich ist, beispielsweise:
ein ausdifferenziertes ökonomisches Feld in kapitalistischer Gesellschaft, in
dem nach den Regeln einer positiven Kosten-Nutzen-Bilanz gespielt wird.
Diese Feldspezifischen Regeln stellen einen Zwang da, dem sich die Akteure
dieses Feldes nicht entziehen können, ohne das Spiel zu verlassen. Ein weiterer
Zwang ergibt sich aus der Knappheit der Ressourcen, die in diesem Feld zur
Verfügung stehen. Gleichzeitig bestimmt die Verfügbarkeit der entsprechenden
Sorte von Kapital die Handlungs- und Profitchancen der Akteure. Das Feld ist
demnach die „Kampfarena“, in der die Spielteilnehmer durch Einsatz ihrer
Kapitalarten um günstige Positionen kämpfen.
Es ist festzuhalten, dass die Akzeptanz bzw. Internalisierung der feldbezogenen
Normen als Grundvoraussetzung für die Position des Individuums in einem
Feld gilt. Der Glaube an eine Feldzugehörigkeit ist wie der Habitus
inkorporiert. Für das Individuum ist das Feld natürlich kein Spiel, sondern
etwas Selbstverständliches, das zur eigenen Identität gehört.
Mit dem Konzept des Habitus hat Bourdieu das Eingehen des Sozialen in das
Individuum aufgezeigt, mit dem Konzept des Feldes wird dieser Gedanke
ausgedehnt. Bourdieu möchte damit sagen, dass die soziale Welt nicht nur im
Habitus existiert, sondern auch in Form des Feldes, in physischen Objekten:
„Die soziale Welt existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den
Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der
Akteure“ (Bourdieu 1996:161). Die Individuen werden zwar durch
verschiedensten gesellschaftliche Institutionen geprägt, doch auch sie selbst
verändern und prägen die Strukturen. Daher ist es angebracht, von einem
Doppelverhältnis zwischen dem Habitus und dem Feld zu sprechen.
Aus den Konstruktionsleistungen der Individuen bei Bourdieu ergeben sich
wichtige Ausgangspunkte für die Sozialstrukturanalyse. Nach Bourdieu sind es
objektive Strukturen der ungleichen Verteilung der verschiedenen Kapitalarten,
die eine Klassenkonstitution reproduzieren, sprich: ausgehend von den daraus
resultierenden ungleichen Positionen der Individuen im sozialen Raum lassen
sich Klassen konstruieren. Anderseits: die Klassen sind nicht allein aus der
objektiven Situation heraus zu analysieren, sondern sie sind zu einem
wichtigen Teil erst durch Klassifizierungen geschaffen worden, welche die
Individuen, die eine Klasse bilden, selbst vornahmen. Nicht zuletzt tragen ihre
„Kämpfe“ um Rangordnungen und Klassifikationen zum Bestand der Klassen
bei.
„Eine soziale Klasse lässt sich niemals allein aus ihrer Lage und Stellung
innerhalb einer gesellschaftlichen Struktur, d.h. aus den Beziehungen
bestimmen, die sie objektiv zu anderen Klassen der Gesellschaft unterhält. Eine
Reihe ihrer Eigenschaften verdankt sie nämlich dem Umstand, dass die
Individuen, die diese Klasse bilden, absichtlich oder ohne es zu merken in
symbolische Beziehungen zueinander treten“ (Bourdieu 1970:57).
18
Streng genommen sind diese Klassen für Bourdieu nur ein Produkt der
Theorie. Vielmehr geht es ihm um den analytischen Status des Begriffs, darum,
ein „Modell“ sozialer Realität hervorzubringen. Und das Klassenverhältnis
wird dementsprechend durch die klassifikatorische Praxis der Individuen oder
Gruppen bestimmt. Zum Vergleich: wenn Bourdieu die Auseinandersetzungen
um Klassifikations- und Ordnungssysteme als „symbolische Kämpfe“
bezeichnet, so spricht Marx vom ideologischen Klassenkampf. Indem
ökonomische Ausbeutung und soziale/kulturelle Unterdrückung bei ihm in
einen Topf geworfen werden, kommt als Ergebnis immer ein Verteilungskampf
um Ressourcen heraus.
(vgl. Kapitel: Bourdieu 1985, 11-21; Bourdieu 1998, 13-21f; Bourdieu 1982,
15-20; Bourdieu 1996, 145- 167; Bourdieu 1970, 46-60).
3.2 Die Klassentheorie nach Marx
Bis heute hat der klassische Klassenbegriff von Marx in der Diskussion um die
Klassengesellschaft eine prägende Kraft.
Der marxistischen Theorie zufolge waren die menschlichen Urgesellschaften in
ihrer primitiven Form klassenlos. Mit dem Übergang zu Ackerbau und
Viehzucht wurde es zum ersten Mal möglich ein Mehrprodukt zu produzieren,
also mehr, als jeder Einzelne zum Leben brauchte. Dem Marxismus zufolge
ermöglichte dies die Klassengesellschaft, da das Mehrprodukt dazu dienen
konnte, eine herrschende Klasse, die selbst am unmittelbaren
Produktionsprozess nicht beteiligt war, zu ernähren. Das Wachstum der
ursprünglichen Gesellschaft führte zur Arbeitsteilung und Spezialisierung der
Produktionsschritte, was wiederum zu Produktivitätssteigerungen führte. Durch
erheblichen Zugewinn entstand das Privateigentum – der private Besitz an
Produktionsmitteln. Dies ermöglichte, dass sich eine kleine Klasse der
Besitzenden und eine große – die der Besitzlosen - bildeten. Eigentum wird
dann zur Trennlinie zwischen dem Proletariat und der Bourgeoise, die den von
der Arbeiterklasse erzeugten Mehrwert zur Maximierung ihres Profits nutzt.
Indessen ist das Proletariat gezwungen seine Arbeitskraft als Ware zu
verkaufen und immer mehr zu verelenden. Beide Klassen stellten somit
komplementäre Seiten eines Produktionsverhältnisses dar, welches den
Reichtum der Wenigen auf Kosten der Mehrheit erzeugte.
Der Ausgangpunkt von Marx Klassentheorie ist ein ununterbrochener Konflikt
innerhalb der und zwischen den Klassen, welcher entsteht, weil die
Bourgeoisie das Proletariat ausbeutet. Marx Interesse richtet sich vor allem auf
die moderne kapitalistische Gesellschaft, die mit der industriellen Revolution
im Entstehen war. Ungeachtet dessen, dass er die Differenziertheit der
modernen Gesellschaft durchaus erkennt, gliedert er die Gesellschaft in
19
ökonomischer Hinsicht in zwei Großklassen: die Kapitalisten und die
Arbeiterklasse. Die Kapitalisten üben eine Kommandogewalt über die Arbeiter
aus, können also bestimmen, wie gearbeitet wird oder welche Produkte
hergestellt werden. Die Grundbeziehung zwischen diesen beiden Klassen
basiert auf dem Gegensatz von Arbeit und Kapital. Die Machtkonstellation in
dieser Beziehung sieht so aus, dass die Besitzer des Kapitals den Arbeitern
Löhne für eine vereinbarte Zahl von Arbeitsstunden zahlen, nicht für die
erstellten Produkte selbst. Die Arbeitsprodukte landen im Besitz der
Kapitalisten. Das heißt: die Arbeiterklasse erschafft den Wert, vermehrt das
fremde Eigentum, hat aber gleichzeitig keine Kontrolle über Ziele und
Methoden oder die Entlohnung des Arbeitsprozesses (vgl. Marx 1973, Herz
1983: 20 f.)
Zentral für Marx Klassentheorie ist die Tatsache, dass die Arbeiter in der
Produktion einen Wert schaffen, der ihren Lohn übersteigt – den Mehrwert.
Die Bedeutung für die Klassenanalyse erhält das Mehrprodukt aufgrund seiner
ungleichen Verteilung: die Kapitalisten zahlen nur existenzerhaltende Löhne
und akkumulieren den Mehrwert. Das Mehrprodukt wird wiederum der
unterdrückten Klasse vom Arbeitsergebnis abgezogen. Privilegierte Aneignung
und Verwendung des Mehrprodukts wird somit über Macht- und
Herrschaftsverhältnisse abgesichert.
Während auf der Seite der Kapitalisten sich der Reichtum kontinuierlich
vermehrt, entsteht auf der Seite der Arbeiter Leistungsdruck, Arbeitshetze,
Existenzunsicherheit. Die Besitzlosigkeit zwingt die Arbeiterklasse ihre
Arbeitskraft als Ware lebenslänglich zu verkaufen, wobei keine Garantie weder
für angemessenen Lohn, noch für einen sicheren Arbeitsplatz besteht. Marx
weist auf den Interessengegensatz hin: Die Kapitalbesitzer sind daran
interessiert, die bestehende Lage aufrechtzuhalten, während das Proletariat auf
die Auflösung der Misere zielt. Dies ist der Moment, wo das revolutionäre
Interesse des Proletariats die Entwicklung des Klassenbewusstseins andeutet.
Indem Menschen ihre gemeinsame Lage erkennen und ein „Wir-Gefühl“
entwickeln, wird Marx zufolge aus einer „Klasse an sich“ eine „Klasse für
sich“. Mit Klassenbildung ist die Organisation des Klasseninteresses auf der
politischen Ebene verbunden.
Als Voraussetzung für eine klassenlose Gesellschaft wird im Marxismus die
Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und des
Privateigentums an Produktionsmitteln angesehen. Im revolutionären
Klassenkampf solle die „historische Mission“ des Kapitals vollzogen werden:
Privatbesitz an Produktionsmitteln gibt es nicht mehr, die Produktionsmittel
sind ausschließlich das Eigentum der Gesellschaft. Nach Marx Vorstellung soll
die Gesellschaft als genossenschaftlicher Zusammenschluss freier Produzenten
organisiert werden, die gleichzeitig ihre eigene Angestellten und Besitzer der
Produktionsmittel sind. Der Staat als Instrument der Klassenherrschaft wird
überflüssig, denn alles wird auf basisdemokratischer Ebene entschieden und
geregelt. Nach der proletarischen Revolution, würde die Wirtschaft nicht mehr
zu Fehlentwicklungen und Krisen tendieren, da kaum noch etwas vom
kapitalistischen Konkurrenzgeist übrig bliebe. Es würde gelingen den
20
bestehenden Mangel zu beseitigen – jeder Mensch könnte nach seinen
vernünftigen Bedürfnissen und in Würde leben. Einen wichtigen Punkt sieht
Marx darin, dass die Arbeit nicht mehr entfremdet, sondern Ausdruck der
Persönlichkeit wäre und das Entscheidende dabei: Menschen würden den
Produktionsprozess mitgestalten können. Die Klassenunterschiede zwischen
Arbeitern, Bauern, Intelligenz und anderen Schichten verschwinden, gleiche
Rechte und Pflichten werden gesetzlich geschafft, eine klassenlose
Gesellschaft entsteht. Als Voraussetzung dafür sieht Marx die Diktatur des
Proletariats überall auf der Welt und die Enteignung der Kapitalisten. (vgl.
Marx/Engels 1972).
Marx kritisiert das Ziel der kapitalistischen Produktionsweise scharf:
Geldbesitzer kaufen die Quelle des Wertes, nämlich lebendige Arbeit,
organisieren die Mehrwertproduktion und vermehren dadurch ihr Eigentum.
Die Vermehrung vom privaten Reichtum ist Inhalt und Zweck des ganzen
wirtschaftlichen Prozesses, die Herstellung von Gebrauchswerten spielt dabei
nur die Rolle eines Mittels. Zudem stellen die wiederkehrenden ökonomischen
und politischen Krisen im Kapitalismus eine wichtige Bedingung für eine
organisierte, bewusste Arbeiterklasse, die im revolutionären Klassenkampf die
kapitalistischen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft überwinden würde.
„Denn die Produktionsverhältnisse, die auf einer bestimmten Stufe die
Entwicklung der Produktivkräfte fesseln, sind auch die Fesseln der Arbeiter.
Folglich werden mit der Selbstbefreiung der Arbeiter aus der Unterdrückung
gleichzeitig die Produktionsverhältnisse umgewälzt“ (vgl. Korsch 1967:137).
Die Diktatur des Proletariats markiert im Verlauf der historischen Entwicklung
nach Marx nur eine Übergangsphase. Das eigentliche Ziel ist die Überführung
der Produktionsmittel in die Hände der unmittelbaren Produzenten. In der
Praxis der „kommunistischen Staaten“ war die ausgebliebene Weltrevolution
nicht überflüssig geworden, sondern sie wurde das Ziel der klassenlosen
Gesellschaft als anzustrebendes Ideal beibehalten.
Ungeachtet der herausragenden Bedeutung der Marxschen Klassentheorie in
der klassischen sozialen Ungleichheitsforschung, wird die gesellschaftliche
Klassenanalyse von Marx in vielen Punkten scharf kritisiert.
Ein großer Teil der Kritik wird in der Aussagegruppe begründet, dass bei Marx
die soziale Ungleichheit in der modernen Gesellschaft durch und durch
klassenförmig
ist.
Als
Erklärungsziel
nimmt
Marx
den
gesamtgesellschaftlichen sozialen Wandel. Die notwendige Bedingung für den
gesamtgesellschaftlichen Wandel sieht er in den die Gesellschaft
kennzeichnenden Konflikt zwischen Arbeit und Kapital. Während die
Kapitalisten an der Aufrechthaltung der bestehenden Verhältnisse interessiert
sind, gelten die Arbeiter als die Träger des sozialen Wandels, da sie um
Veränderung kämpfen. Darauf gründet Marx die Annahme, dass die gleiche
Klassenlage von Menschen zu gemeinsamen Klassenhandeln führt. Aus der
Klassenkampf-Perspektive heißt es: das Proletariat, im gemeinsamen Kampf
mit den Leidensbrüdern, überwindet die Bourgeoisie und bekämpft gleichzeitig
den ausbeuterischen Kapitalismus. Die geschichtliche Entwicklung konnte dies
21
jedoch nicht bewahrheiten: Klassenlagen haben sich nicht vereinheitlicht, der
Klassengegensatz hat sich nicht vertieft. Im Gegenteil: die Klassenstruktur ist
pluraler geworden, die wirtschaftlichen Lagen der Klassen haben sich mit der
Zeit angeglichen, („insgesamt sind alle eine Etage höher gefahren“ (Beck)).
Auch Dahrendorf sah die Annahme der Marxschen Auffassung, dass Eigentum
als grundlegender Faktor der Klassenbildung fungiere, als viel zu einseitig
dasan. Darauf aufbauend zweifelt er auch daran, dass die
Herrschaftsverhältnisse ausschließlich aus dem Besitz von Privateigentum
hervorgehen. Dass die Herrschaft auch ohne Besitz an Produktionsmitteln
ausgeübt werden kann, zeigt ein simples Beispiel: ein hochqualifizierter
Lohnempfänger kann zwar durch die Besitzer von Kapital ausgebeutet werden,
er kann aber gleichzeitig durch den Rückgriff auf seine große
Qualifikationsressource andere Lohnabhängige ausbeuten (vgl. Dahrendorf
1957: 234f).
Die Zentralität der Eigentumsverhältnisse in der Marxschen Theorie tritt der
heutigen Überlegung gegenüber, dass die Produktionsweisen und somit
Gesellschaft in
Zeiten der Entwicklung von Informations- und
Kommunikationstechnologien im Vergleich zur Marxschen Zeit sich verändert
haben. Das Primat der Ökonomie und des Privateigentums wurde durch das
Primat des Wissens ersetzt. Die Ausdehnung des Angestelltensektors bei
gleichzeitiger Schrumpfung des traditionellen Arbeitersektors stellt die Frage
nach der Veränderung von Arbeit in der Diskussion um die
Klassengesellschaft. Die Frage lautet, ob durch diese gesellschaftliche
Entwicklung der Antagonismus von Arbeit und Kapital tatsächlich aufgehoben
und durch ein neues Prinzip des Wissens ersetzt wurde, oder ob der Gegensatz
Wissen – Nichtwissen neben den Antagonismus von Arbeit und Kapital
hinzugetreten ist und somit das Klassenverhältnis zusätzlich verkompliziert.
Anschließend an die Kritikpunkte zu Marx Klassentheorie, lassen sich folgende
Aussagen treffen: die gegenwärtigen Gesellschaften sind weit davon entfernt
durch den Einfluss von Klassenzugehörigkeit neutralisiert zu werden. Auch
wenn der große Zusammenbruch des Kapitalismus, wie Marx ihn prophezeite,
nicht stattgefunden hat, so muss man anerkennen, dass Marx die Entwicklungsund Konfliktpotentiale, die Gefahren, ökonomischen Tendenzen und sozialen
Folgen der kapitalistischen Produktionsweise analysiert und belegt hat. Auch
wenn seine Theorie des Untergangs des Kapitalismus weniger fruchtbar ist,
sind seine ökonomischen Analysen des Kapitals bis heute von größter
Relevanz für das Verständnis einer kapitalistischen Gesellschaft (vgl. Kapitel:
Marx, Karl (1849) 1973: Lohnarbeit und Kapital. In: Marx/Engels Werke Bd.
6. Berlin: Dietz).
3.3 Vergleich der Theorien: Marx und Bourdieu
22
„Es ist nur möglich, der Struktur und dem Funktionieren der gesellschaftlichen
Realität gerecht zu werden, wenn man den Begriff des Kapitals in allen seinen
Erscheinungsformen einführt, nicht nur in der aus der Wirtschaftstheorie
bekannten Form“ (Bourdieu 1983:1984).
Das Verhältnis zwischen Marx Klassentheorie und Bourdieuschen
soziokulturellen Gesellschaftstheorie ergibt ein sehr indifferentes Bild. Dies
beginnt schon bei der Konstruktion von theoretischen Klassen: Bourdieu
zufolge ergeben sich gesellschaftliche Klassen zum einen durch ihren nahezu
identischen Besitz an kulturellem und ökonomischen Kapital und zum anderen
durch die klassifikatorische Praxis der Individuen während bei Marx der Besitz
von Produktionsmitteln das Entscheidende für die Konstitution von Klassen ist
und gleichzeitig ein Versuch zur Erklärung von sozialer Ungleichheit. Ähnlich
ist es bei dem für die Marxsche Analyse so wichtigen Begriff der Ausbeutung.
Bourdieu identifiziert zwar vereinzelt die Klassenverhältnisse als
Ausbeutungsverhältnisse, ohne diesen Gedanke jedoch konsequent
aufzuschlüsseln. Es wird offensichtlich, dass seine Theorie nicht auf einer
eingehenden Kapitalismusanalyse basiert. Nichtsdestotrotz beschäftigt sich
Bourdieu durchaus mit der Frage des Klassenkampfs. Er hat jedoch ein
anderes Verständnis von Klassenkampf als Marx. Die Konflikttheorie bei
Bourdieu ist auf den ständigen Kampf der Individuen um die Positionen im
Feld ausgerichtet: Menschen setzten sich immer wieder neu mit dem Status
quo auseinander. Das entscheidende dabei ist, dass die Kämpfe im sozialen
Raum nicht ausschließlich auf ökonomische Vorteile zu beziehen sind. Neben
dem Kampf um Verteilung von Gütern, entstehen Auseinandersetzungen um
die Wertigkeit der einzelnen Kapitalarten, die ihren Ausdruck in symbolischen
Kämpfen und Lebensstile finden.
Die Ausdehnung des Bereichs der Ökonomie auf nicht ökonomische Bereiche
im Rahmen der symbolischen Kämpfe bildet die Grundlage des Begriffs
„Kapital“ bei Bourdieu. Denn Kapital, sowie Profit, haben bei Bourdieu
verschiedene Erscheinungsformen: nicht nur Geld, sondern Kompetenzen,
Fähigkeiten, Fertigkeiten, die man in Bildungs- und Erziehungsprozessen
erwerben kann. In der Bourdieuschen Theorie wird dies im Weiteren in das
ökonomische, kulturelle, soziale und symbolische Kapital unterschieden.
Kapital wird von Bourdieu somit als Wirkung gesellschaftlicher
Beziehungsstrukturen verstanden, die er mit dem Konzept der „Macht“ gleich
setzt.
Es muss vorab betont werden, dass allein aus Bourdieus nicht-ökonomischen
Kapitalarten noch keine Herrschaftsbeziehungen entstehen. Erst in der
Verbindung zum ökonomischen Kapital entfaltet sie ihre Kraft und es können
Herrschaftsbeziehungen impliziert werden. Somit unterscheiden sich die
Machtmittel, die sich aus ökonomischem Kapital ergeben, von den
Machtmitteln der anderen Kapitalarten.
Bourdieu zufolge, unterschätzt die Betrachtung der Gesellschaft aus rein
ökonomischer Sicht die „symbolische Logik der Distinktion und die Effekte
des kulturellen Kapitals“, die den Besitzern eines ausgeprägten Kulturkapitals
23
aufgrund dessen Seltenheitswerts erhebliche Profite, wie etwa schulische
Bildungserfolge, bringen können:
„D.h., derjenige Teil des Profits, der in unserer Gesellschaft aus dem
Seltenheitswert bestimmter Formen von kulturellem Kapital erwächst, ist
letzten Endes darauf zurückzuführen, dass nicht alle Individuen über
ökonomischen und kulturellen Mittel verfügen, die es ihnen ermöglichen, die
Bildung ihrer Kinder über das Minimum hinaus zu verlängern, das zu einem
gegebenen Zeitpunkt für die Reproduktion der Arbeitskraft mit dem geringsten
Marktwert erforderlich ist“ (Bourdieu 1983:188).
Anhand des kulturellen Kapitals wird bereits deutlich, dass die Kapitalarten
gesellschaftlich ungleich verteilt sind, wobei deren Verteilungsstruktur der
innenwohnenden Struktur der Gesellschaft entspricht. Mit anderen Worten: die
Verknüpfung und Korrelation der verschiedenen Kapitalarten bedeutet Vorund Nachteilen in den verschiedenen sozialen Klassen.
Das kulturelle Kapital bei Bourdieu besteht aus drei verschiedenen Formen:
dem inkorporierten, dem objektivierten und dem institutionalisierten
Kulturkapital. Das inkorporierte Kapital meint Fähigkeiten, die zwar gelernt,
jedoch zum großen Teil nicht institutionalisiert werden: es können
Sprachkompetenzen Tischmanieren oder die Fähigkeit ein Musikinstrument zu
spielen sein. Diese Art von Kulturkapital wird meistens von den Eltern an ihre
Kinder weitergegeben als mögliches Erbe, jedes Individuum muss es sich aber
selbst aneignen.
Objektiviertes Kulturkapital kann beispielsweise ein Musikinstrument sein, das
durch seine materielle Form viel leichter übertragen werden kann als das
Inkorporierte. Einen besonderen Wert erhält er allerdings erst in der
Kombination mit dem inkorporierten Kulturkapital. Denn: das
Musikinstrument kann nicht ohne dazu nötige Fähigkeit gespielt werden.
Gleichzeitig heißt es auch: ohne das Musikinstrument ist die Fähigkeit des
Musikers nutzlos. Demzufolge besteht zwischen den beiden Kapitalarten eine
ambivalente Beziehung.
Institutionalisiertes kulturelles Kapital wird in Bildungsinstitutionen erworben
und kann aus verschiedenen Abschlüssen bestehen. Es ist somit eine Art
Vergegenständlichung von inkorporiertem Kulturkapital. Bourdieu schreibt in
diesem Zusammenhang der Schule eine zentrale Bedeutung zu. Ihm zufolge
besitzt sie eine „Gatekeeperfunktion“ durch die Sanktionierung des sozial
vererbten kulturellen Kapitals. Das heißt: durch die Institutionalisierung des
kulturellen Kapitals bekommt das inkorporierte kulturelle Kapital einen
institutionalisierten, vergleichbaren Wert, wie den Bildungstitel, der mit
anderen Bildungstiteln vergleichbar ist. Dieser Wert kann wiederum am
Arbeitsmarkt in das ökonomische Kapital umgewandelt werden.
„Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die
mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger
institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens
verbunden sind“ (Bourdieu 1983:190).
24
Bourdieu betont, dass die Reproduktion des sozialen Kapitals unaufhörliche
Beziehungsarbeit erfordert, durch die die gegenseitige Anerkennung immer
wieder neu bestätigt wird. Die Größe des Sozialkapitals hängt von der Größe,
Art sowie des Kapitalvolumens des sozialen Netzes ab. Für die Weitergabe des
kulturellen Kapitals in der Familie oder Gruppe spielt das Sozialkapital im
Vergleich zu den anderen Kapitalarten die entscheidende Rolle. Der Nachteil
dabei ist, dass soziales Kapital ein relativ hohes Maß an Fragilität besitzt, nicht
direkt in Geld transformierbar ist, der Pflege bedarf und nicht juristisch
abgesichert werden kann.
An verschiedenen Stellen erwähnt Bourdieu immer wieder die vierte
Kapitalsorte – das symbolische Kapital. Das symbolische Kapital beschreibt
die soziale Wertschätzung oder in Webers Worten „das Prestige“, welches
durch andere Akteure zugerechnet wird. Die durch das symbolische Kapital
erzielten sozialen Anerkennungen und Wertschätzungen können sich in den
verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen realisieren. Die symbolische Macht
zeigt sich hier in der Verwendung von Statussymbolen und
Distinktionsmerkmalen. Nicht selten ist das symbolische Kapital eng mit den
anderen Kapitalarten verknüpft.
„Die symbolische Macht ist eine Macht, die in dem Maße existiert, wie es ihr
gelingt, sich anerkennen zu lassen, sich Anerkennung zu verschaffen; d.h. eine
(ökonomische, politische, kulturelle oder andere) Macht, die die Macht hat,
sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür verkennen zu lassen“
(Bourdieu 1990:82).
Bei den kapitalreichen Akteuren und Gruppen bekommt das symbolische
Kapital eine wichtige gesellschaftliche Funktion: aus der Anerkennung dieser
Akteure und Gruppen folgt die Anerkennung und Legitimation der
gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse. Denn die symbolische Macht
schafft es, Beeindruckung und Einschüchterung zu erzeugen. Bourdieu stellt
somit den symbolischen Klassenkampf dem ökonomischen Klassenkampf
gegenüber.
Zusammengefasst: die einzelnen Felder sind durch Machtmechanismen
miteinander verbunden, gleichzeitig aber voneinander abgegrenzt. Diese
wechselseitigen Verknüpfungen der Felder sowie die hohe Transformierbarkeit
des Kapitals erklärt die besondere Stellung des Kapitals in Bourdieus Theorie.
Vor allem auch warum dem ökonomischen Kapital so ein großer symbolische
Wert verliehen wird. Gleichzeitig erklärt es die überragende Dominanz des
ökonomischen Kapitals in fast allen anderen sozialen Feldern. Nichtsdestotrotz,
beschränkt sich Bourdieu nicht auf die Wichtigkeit des ökonomischen Feldes,
sondern expandiert das Kapital in die Bereiche der öffentlichen Meinung und
des individuellen Bewusstseins.
Das von Bourdieu entwickelte Modell des sozialen Raumes verbindet
Fragmente der Theorien von Karl Marx und Max Weber. Er erweitert das
Schichtungsmodell von Weber, mit der Übertragung der Sichtweise Marx auf
die Bereiche, die von ihm unberücksichtigt blieben. Dabei entsteht ein
25
mehrdimensionaler sozialer Raum, in dem die Individuen ihren Platz dort, je
nach ihrem Gesamtkapitalvolumen und nach der Zusammensetzung der
Kapitalstruktur, erhalten. Über die vertikale Position und die Zugehörigkeit zu
einer bestimmten Klasse (obere, mittlere, untere Klasse) entscheidet das
Gesamtkapitalvolumen. Horizontal ist der soziale Raum in verschiedene
Klassenfraktionen unterteilt.
Der soziale Raum befindet sich in einer ständigen Bewegung, die Grenzen
verändern sich mit der Zeit. Während die einzelnen Klassen innerhalb dieses
Systems versuchen ihren Status zu verbessern oder zu verteidigen, sind die
herrschenden Klassen in der Lage ihre Machtposition zu verteidigen, indem sie
beispielsweise bestimmte Kulturkapitalien auf- oder abwerten. Die Möglichkeit
der Anerkennung, die symbolisches Kapital schafft, ist eine andere als die
Möglichkeit einer ökonomisch basierten Repression. Metaphorisch betrachtet:
Bei einer Angleichung der kulturellen an eine ökonomische Sphäre stößt man
beim kulturellen Kapital, welches z.B. Fähigkeiten beim Umgang mit
Informationen oder ästhetischen Genüssen beinhaltet, schon allein bei der
Frage nach der quantitativen Messbarkeit auf Probleme (vgl. Honneth
1984:153).
Die Beharrlichkeit des sozialen Status der Individuen erklärt Bourdieu durch
das Zusammenspiel von Habitus, Kapital und Feld, und bezieht sowohl
gesellschaftliche Bedingungen als auch individuelle Dispositionen ein. Dem
ökonomischen Kapital bleibt zwar in Bourdieus Theorie seine zentrale
Bedeutung, er betont aber immer wieder, dass die gesellschaftlichen
Machtverhältnisse im Großen und Ganzen über die „feinen Unterschiede“
reproduziert werden. Da der Habitus so viele Bereiche des gesellschaftlichen
Lebens beeinflusst, hat er auch prägende Auswirkung auf den individuellen
„Geschmack“. Durch den Geschmack ist es möglich eine Person einer Klasse
zuzuordnen, die aufgrund der bestimmten Vorlieben einen bestimmten
klassenspezifischen Lebensstil pflegt.
Bourdieu beschreibt die Lebensstile immer im direkten Zusammenhang mit
den drei Kapitalarten. Die Menschen mit ähnlichem Geschmack, gehören nach
seiner Auffassung, zu einer sozialen Klassen. Die Hierarchisierung der
Geschmäcke veranlasst die vertikale Positionierung verschiedener Lebensstile.
Denn die Geschmäcke sowie die Lebensstile unterliegen einer
gesellschaftlichen Bewertung. Zum Beispiel: die obere Klasse hat die Vorliebe
für klassische Musik und exklusives essen, während der Unterschicht
volkstümliche Musik und Fastfood bevorzugt.
So bestehen nach Bourdieus Lebensstillmodel zwar nicht mehr nur zwei
antagonistischen Klassen – die Bourgeoisie und das Proletariat, dennoch
erfolgt über „die feinen Unterschiede“ eine Spaltung der Gesellschaft. Über die
Lebensstile geschieht fast wie von selbst eine Vereinheitlichung der sozialen
Praxis – eine Angleichung im Handeln und Denken an die bestimmte Klasse,
auch wenn die Distinktionsmechanismen verschleiert wirken. So hat das
verdeckt wirkende inkorporierte Kapital zusammen mit dem Habitus einen
26
großen Einfluss auf die Reproduktion der Gesellschaftsstruktur (vgl. Bourdieu
1992, 31-47).
Im Vergleich der marxschen- und Bourdieus Kapitaltheorie ergeben sich
entscheidenden Differenzen: Bourdieus Versuch, Marx ökonomischen
Kapitalbegriff auf der sozialen Ebene auszudehnen, ist nachvollziehbar, seine
objektivierte Machtausübung eher fraglich. Aus diesem Hintergrund geht hier
das Spezifikum des Marxschen Kapitalbegriffs verloren, nämlich der
Zusammenhang von Akkumulation, Mehrwertproduktion und Ausbeutung. Mit
dem Bourdieuschen Konzept verliert zum einen der Kapitalbegriff seine
ökonomische Schlüsselstellung, zum anderen wird die Marxsche Werttheorie
revidiert. Anderseits zeigt Bourdieu somit auf, dass die soziale Anerkennung
eines Lebensstils nicht auf dieselben Wege wie ein ökonomisches Gut zu
erwerben ist. Nicht zuletzt deshalb, weil die herrschaftsgenerierenden
Mechanismen von ökonomischen und kulturellen Kapital schwer miteinander
vergleichbar sind.
Das Primat der Ökonomie ist nicht nur das Markenzeichen der marxistischen
Klassentheorie, sondern hat zentrale Bedeutung für die Freiheit und
Entwicklung des Individuums. Marx stützt seine Theorie auf die Annahme,
dass die Art und Weise, wie die Menschen ihre materielle Produktion
organisieren, die Grundlage der gesellschaftlichen Beziehungen bildet. Dabei
kann der einzelne sich lediglich als „Klassenindividuum“ entfalten. Das heißt,
die Entwicklung des Individuums ist auf die Grenzen seiner Klasse beschränkt:
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen
bestimmte notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein,
Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer
materiellen
Produktivkräfte
entsprechen.
Die
Gesamtheit
dieser
Produktionsverhältnisse bilden die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die
reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und
welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entspricht. Die
Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und
geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der
Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr
Bewusstsein bestimmt“ (Marx 1964, MEW 13:8f).
Bourdieu grenzt sich immer wieder von Marx strengen Ökonomismus ab. Ihm
zufolge reproduzieren die konkreten Lebensäußerungen der Menschen noch
keine gesellschaftliche Struktur, erst mit den alltagsweltlichen Praxen wird die
Struktur zum Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und
dadurch verändert. Auch für die Verlagerung der Verfügungsgewalt über
Produktionsmittel sieht Marx streng die historisch notwendige Umwälzung der
bestehenden Produktionsverhältnisse. In der Marxschen Geschichtsauffassung
muss die notwendige Entwicklung der Ökonomie zum Aufbrechen der an
Produktionsprozess gebundenen Klassendichotomie von Kapitalist und
Arbeiter, führen:
27
„Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre
Produktionsweise und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art,
ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen
Verhältnisse“ (Marx/Engels 1972, MEW 4:130).
Bourdieu bezeichnet einen solchen Übergang als „salto mortale“. Er verweist
auf die grundlegende Problematik der Marxschen Theorie: Der Übergang von
der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ ist trotzt Marx Prophezeiungen, im
Rahmen der Entwicklung des Kapitalismus, nicht zustande gekommen.
Bourdieu bezieht sich dabei auf die These, dass ein Klassenbewusstsein nicht
mechanisch mit der Existenz von Klassen verbunden, sondern erst herzustellen
sei. Die Marxsche Klassenanalyse wiederum bindet das Verhältnis der
Reproduktion an die Konstitution eines Klassenbewusstseins. Bourdieus
Gegenargument darauf lautet: Klassenbewusstsein kann nicht allein durch eine
ökonomischen Konstellation entstehen, er müsste durch soziale Praxis der
Individuen generiert werden. Der Habitus, der klassenspezifischen Charakter
besitzt, lagert das Klassenverhältnis direkt in das Individuum ein. Durch die
Generierung eines „Klassenkörpers“ wird der Habitus zur Pseudonatur des
Individuums. Der eigene Habitus erscheint als Selbstverständigkeit, wird nicht
reflektiert. Wenn aber der eigene Lebensstil sich der Reflexion entzieht, wird
dieser als natürlich angenommen, dann bleibt die eigene Klassenzugehörigkeit
im Dunkeln. Damit will Bourdieu sagen, dass der Habitus eher ein kollektives
Klassen-Unbewusstsein ist, als eine bewusste Entscheidung über das
Klassendasein. Und weiter: dass das Klassenverhältnis nicht nur außerhalb
(wie Marx behauptet), sondern auch innerhalb des Individuums besteht.
Bourdieu sieht insgesamt die Chancen einer revolutionären Umwälzung eher
pessimistisch. Er verdeutlicht dies in der Allegorie des Spiels::
„Gibt es Leute, die daran Interesse haben, den Tisch umzuwerfen und damit
dem Spiel ein Ende zu machen? (…) In meinen Augen sind viele Revolutionen
innerhalb der herrschenden Klasse, d.h., in jenen Kreisen, die Chips besitzen
und die auch mal auf die Barrikaden steigen, damit ihre Chips an Wert
gewinnen“ (Bourdieu 1982:38).
Die Wahrscheinlichkeit einer Revolution, wenn überhaupt, sieht Bourdieu in
dem Zusammentreffen eines kritischen Diskurs und einer objektiven Krise.
Denn er geht davon aus, dass die Stabilität der Ordnung im Grunde durch die
Überstimmungen zwischen den Strukturen der sozialen Welt und den
Dispositionen der Akteure abhängt. Diesem Gedanken zufolge, können die
daraus folgenden Reproduktionsmechanismen durch eine Beeinträchtigung
dieser Übereinstimmung infolge einer objektiven strukturellen Krise
durchbrochen werden (vgl. Bourdieu 1990:104).
Dass das Klassenverhältnis schon immer ein integraler Bestandteil der
bürgerlichen Gesellschaft gewesen ist, bestreitet auch Bourdieu nicht.
Vielmehr geht es um die Frage, wie ein Klassenbewusstsein in der
gegenwertigen
historischen
Situation
entstehen
soll. War
das
Ausbeutungsverhältnis im Feudalismus noch in einem direkten persönlichen
28
Verhältnis eingebettet, so ist das Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus in
den Produktionsprozess eingelagert. Das Erkennen eines Klassengegensatzes
wird somit erschwert, es fehlt ein greifbarer Gegner. Ein großer Teil der
Arbeiter sieht sich nicht als Proletariat, und in den Unternehmer, für den sie
arbeiten, nicht als blanke Verkörperung der Kapitalinteressen. Die
Arbeiterklasse fühlt sich als weitgehend in die gesellschaftlichen Prozesse
integriert. Noch mehr: Die Arbeiter identifizieren sich mit ihrem Arbeitgeber,
orientieren sich an ihnen. Es wird die Überzeugung gepflegt, dass es jeder
„oben schaffen“ kann. Die Mitglieder der herrschenden Klasse samt ihren
Vorlieben werden gesellschaftliche Vorbilder. Nicht umsonst nennt Bourdieu
den Geschmack der herrschenden Klasse den „legitimen Geschmack“.
Aus dem fehlenden Klassenbewusstsein sollte nicht voreilig der Schluss
gezogen werden, dass ein Klassenantagonismus nicht existiere oder dass Marx
nicht mehr relevant sei:
„Das von einem proletarischen Klassenbewusstsein in den maßgebenden
kapitalistischen Ländern nicht gesprochen werden kann, widerlegt nicht an
sich, im Gegensatz zur communis opinio, die Existenz von Klassen: Klasse war
durch die Stellung zu den Produktionsmitteln bestimmt, nicht durchs
Bewusstsein ihrer Angehörigen“ (Adorno 1997b: 358).
Außerdem: wenn ein Mensch sich nicht ausgebeutet fühlt, bedeutet das noch
nicht,
dass
er
nicht
ausgebeutet
wird.
Krankenversicherung,
Unfallversicherung- und Alterssicherung lassen die sozialen Verhältnisse der
Arbeitnehmer als spürbar verbessert empfinden. Dabei sollen die Arbeiter als
Objekt sozialsstaatlicher Fürsorge durch die Hilfe von oben stärker an den
Staat gebunden werden. Paradox ist hier: die Sozialpolitik wirkt im Prinzip
gegen die kapitalistische Ordnung, ist gleichzeitig notwendig für die Erhaltung
dieser.
„Die herrschende Klasse wird so gründlich von fremder Arbeit ernährt, dass sie
ihr Schicksal, die Arbeiter ernähren zu müssen, entschlossen zur eigenen Sache
macht und dem „Sklaven die Existenz innerhalb seiner Sklaverei“ sichert, um
die eigene zu befestigen“ (Adorno 1997a:386).
Es wäre nicht unangebracht zu behaupten, dass Bourdieus Klassenverständnis
zu einem großen Teil auf der Grundlage von Marx entstanden ist. Bourdieu
betont zwar immer wieder, dass er für seine Theorie mit einer Reihe von
Marxschen Theorie brechen musste, gleichzeitig weist er viele
Gemeinsamkeiten damit auf. Eine der wichtigsten davon ist, dass beide
Autoren die Gesellschaft nicht als Reich der Freiheit betrachten, sondern den
Zusammenhang von objektiver Lage und Lebenschancen hervorheben.
Außerdem sind in beiden Konzepten die Klassen relativ kurz geschlossen.
Allerdings beginnen die Unterschiede schon bei der Konstruktion von
Klassen. Bourdieus Klassentheorie ist eng mit Kultursoziologie verbunden,
was bei Marx kaum Beachtung findet. Bourdieu geht über einen Ökonomismus
hinaus, der den sozialen Raum im Prinzip auf ökonomische
Produktionsverhältnisse reduziert und die Sozialstruktur der Gesellschaft an
29
ihrer Wirtschaft bannt. Er erweitert den Ökonomismus, indem er viele andere
Kapitalbegriffe zufügt. Somit finden sich die objektiven Kapitalausstattungen
der Individuen in einer Nebenrolle. Es zeigt sich auch in dem Beispiel, dass
Bourdieu die herrschende Klasse nicht ausschließlich über Privateigentum an
Produktionsmitteln definiert, eher ganz oft in Verbindung von hohem
kulturellem und relativ geringem ökonomischem Kapital sieht. Bourdieus
Klassentheorie ist somit auch eine Klassifizierungstheorie.
3.4 Bourdieus Beitrag: Stärken und Schwächen aus einer marxistischen
Perspektive
„Man muss von dem akademischen Gegensatz zwischen Beharrung und
Veränderung Abschied nehmen um zu begreifen, dass Reproduktion der
Klassenstruktur nicht heißen muss: Verewigung der jeweils empirisch
beobachtbaren sozialen Klassen als konkrete, durch die Gesamtheit ihrer
substantiellen Eigenschaften definierten Gruppen. Bei der Sozialstruktur geht
es darum, wie die (…) Kapitalarten zwischen (…) Klassen verteilt sind, die
sich in vielen Merkmalen (…) ändern können, ohne dass das etwas an ihrer
herrschenden oder beherrschten Position (…) ändert. Deshalb kann die
Reproduktion der Sozialstruktur durchaus die Form der Strukturverlängerung
annehmen“.
Pierre Bourdieu et al. (1981:71)
Pierre Bourdieu hat immer behauptet, dass die „Klassenherrschaft“ i„ein Ding
feiner Unterschiede“ ist. Anders als Marx, der Klassenherrschaft im Rahmen
der Ausbeutung und Unterdrückung behandelt hat, sieht Bourdieu hier vor
allem eine Sache der Distanzierung und Unterscheidung zwischen den Klassen.
Das ist auch der Grund, warum bei Bourdieu die Feststellung der
antikapitalistischen Tendenz im Kampf der Klassen fehlt, während Marx in
seiner dialektischen Gesellschaftstheorie wenigstens die Perspektiven der
Überwindung von Kapitalismus und Klassengesellschaft ermöglicht.
Bourdieu ist kein antikapitalistischer Theoretiker, denn „Kapital“ und
„Klasse“ werden bei ihm ganz weit aufgefasst. Im Grunde genommen ist
„Kapital“ bei Bourdieu eine Ansammlung von sozialen Beziehungen,
Fähigkeiten und materiellem Besitz. Das „ökonomische Kapital“ bekommt hier
einen ganz anderen Stellenwert im Vergleich zu Marx. Aus Bourdieus
Verständnis, stellt diese Kapitalsorte eine gesellschaftliche Beziehung dar, die
die konkrete Stellung eines Menschen und Klassen in der Gesellschaft
definiert. Bei Marx wiederum ist das ökonomische Kapital eine Form
zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich in Form von Ware, Geld, Profit
verselbständigt. Das wichtigste dabei ist, dass das Kapital das Bewusstsein der
Menschen prägt. Hierbei spricht Marx von „Entfremdung“ und „Fetisch“,
30
einer übermächtigen Macht, die über die Menschen bestimmt: Die für die
kapitalistische Verhältnisse charakteristische Trennung von Arbeitsprodukt und
Arbeit selbst, steht dementsprechend der Trennung von menschlicher
Subjektivität und Objektivität im Rahmen des Produktionsprozesses
gegenüber. Noch bevor der Arbeiter in den Produktionsprozess eintritt, ist ihm
seine Arbeit bereits entfremdet, aufgrund der Einverleibung der Arbeit durch
das Kapital und der Aneignung des Mehrwerts durch Kapitalisten. Auch wegen
des Warencharakters der Arbeit ist der Produktionsprozess immer ein
Konsumptionsprozess der Arbeitskraft durch den Kapitalisten: das
Arbeitsprodukt durchläuft eine permanente Transformation in Ware, Wert,
Kapital, Produktionsmittel.
Dem Kapitalbegriff bei Bourdieu ist der Unterschied zwischen den
verschiedenen Formen der Warenwirtshaft fremd: Tauschwaren, Arbeiterlohn,
Geld als Zahlungsmittel – alles wird hier gleichgesetzt. Somit wird das
kritische Potenzial des Kapitalbegriffs entwertet und verliert somit die große
Bedeutung, die ihm bei Marx zukommt.
Gerade die Konzentration auf den Produktionsprozess ist ein großer Vorzug
der marxistischen Klassentheorie. Ohne Marx Grundidee, dass die Art und
Weise der Produktion und das Eigentum an der Produktion, die
gesellschaftlichen Beziehungen und Klassenverhältnisse prägen, würde die
gesamte marxistische Gesellschaftstheorie zu Bruch gehen. Für Bourdieu
wiederum sind alle Gesellschaften immer zugleich kapitalproduziereden
Klassengesellschaften. Eine praktische Orientierung für proletarische
Sozialisten in Verbindung mit anderen unterdrückten Klassen bietet seine
Theorie jedoch nicht. Denn aus Bourdieus Sicht können gut bezahlte Arbeiter
genauso zu den Herrschenden gezählt werden wie Lehrer, Professoren,
Handelsunternehmer usw. Das heißt: wer entweder sehr viel ökonomisches-,
soziales oder kulturelles Kapital besitzt, kommt in die Gruppe der
„Herrschenden“. Dieser von Bourdieu zu weit gefasster Klassenbegriff führt zu
vielen Unverständnissen und sorgt teilweise zur Verwirrung. Und solche
„Schwammigkeit“ führt zum unklaren Verständnis der kritischen Bedeutung
von Klassengegensätzen und der revolutionären Praxis.
Wenn bei Marx der Klassenkampf im Kapitalismus identisch ist mit dem Sieg
der revolutionären Bewegung, so sind bei Bourdieu Revolutionen mehr oder
weniger glückliche Zufälle oder Verschwörungen. Und nach Marx sind die
herrschenden Klassen diejenigen Klassen, die gerade den Produktionsprozess
und die Staatsmacht dominieren, während Bourdieu arme Intellektuelle, die
über viel „kulturelles Kapital“ verfügen, für mehr oder weniger Herrschende
hält. Demzufolge gilt nach Bourdieus Verständnis: wenn jeder „Kapital“ hat,
dann kann „dieser jeder“ im Grunde als „Kapitalist“ gelten.
In einer unpraktischen soziologischen Theorie stellt Bourdieus These von den
herrschenden arbeitslosen Intellektuellen oder Lehrern kein großes Problem
dar. Für die marxistische Theorie ist es nicht akzeptabel, da sie als
Handlungsanleitung für Revolutionäre praktisch sein muss. Aus Bourdieus
kulturwissenschaftlichem, postmodernen Ansatz mit der bürgerlichen
31
Ökonomie ergibt sich eine bürgerlich-ökonomistische Gesellschaftstheorie, die
nicht über Kapitalismus und Klassengesellschaft hinausweist. Im Ganzen fehlt
bei Bourdieu die antikapitalistische Tendenz im Kampf der Klassen. Er
unterstreicht zwar, dass die „unteren Schichten“ gegen die Herrschenden
kämpfen, aber dieser Kampf sei, politisch gesehen, für eine Revolution
gleichgültig.
Es kann allerdings nicht behauptet werden, dass es bei Bourdieu keine
Unterscheidung der Gesellschaftsformationen gibt; vielmehr ist es so, dass
Bourdieu nicht interessiert ist an der die Erklärung eines
Entwicklungsprozesses, sondern eher an den immer und überall anzutreffenden
Strukturen als „Relationssystem“ (vgl. Bourdieu 1974:7ff.). Auch nach der
Ausweitung des Kapitalbegriffs über den Bereich der Ökonomie hinaus, fallen
die Produktion und die unmittelbare Sphäre der Arbeit aus seiner Analyse
komplett heraus. Anders gesagt: indem Bourdieu das Kapital nur als Ressource
von Macht oder als Verfügbarkeit über bestimmte knappe Mittel betrachtet,
schneidet er aus seiner Theorie die Möglichkeit heraus, das Kapital als
gesellschaftliches Verhältnis zu sehen, das auf der Ausbeutung und Aneignung
fremder Arbeit beruht. Daraus folgt, dass Bourdieu die objektive Struktur als
Gesamtheit der Felder des sozialen Raumes über die „Praxis“ zu vermitteln
vermag, er geht aber nicht von der Totalität der ökonomischen Verhältnisse
(Produktionsweise) aus, die, nach Auffassung von Marx, einen spezifischen
historischen Stellenwert einnehmen.
Weiterhin problematisch erscheint, dass Bourdieu sich zu sehr auf soziale
Relationen konzentriert, anstatt sein Augenmerk auf die Inhalte, wie
Wohlfahrtzu richten. Aus diesem Grund entgeht Bourdieu der geschichtliche
Zugewinn in der Ästhetisierung des Alltagslebens. Hier ist an das Beispiel mit
dem „Fahrstuhleffekt“ von Hradil zu erinnern (1989:122): „Mit dem ihm
fahren alle eine Etage nach oben“ zusammen mit dem Rest der Gesellschaft,
konnten die Arbeiter sich einen Anteil an den wachsenden gesellschaftlichen
Reichtum erkämpfen, ohne das die sozialen Unterschiede und soziale
Ungleichheiten kleiner geworden wären. Indem Bourdieu den
Arbeitergeschmack als rein barbarisch, als einen Notwendigkeitsgeschmack,
bezeichnet, geringschätzt er ihren Kampfes um legitime Kultur, die Perspektive
der gesellschaftlichen und individuellen Risiken und Kosten scheinen in
Bourdieus strukturalistischer Theorie der Homologie von Räumen
verschwunden zu sein. So ist auch das Verhältnis vom Habitus und dem
Bewusstsein bei Bourdieu widersprüchlich: aus seiner Sicht liegen die beiden
unverbunden nebeneinander – das Habituelle neben dem Reflexive. Das lässt
eine systematische Bestimmung gesellschaftlichen Bewusstseins jedoch nicht
zu.
Nun sollen auch die positiven Leistungen von Bourdieu zur Klassen- und
Ungleichheitsforschung zusammengefasst werden. Bourdieu reflektiert die
Bedeutung der symbolischen Dimension von sozialer Ungleichheit und
Klassenauseinandersetzung. Dabei werden Kultur und Bildung als Systeme
eigener Logik und eigener Qualität betrachtet, die eng in Bezug zu
ökonomischen Grundverhältnissen und den Strukturen der Machtverteilung
32
stehen. Bourdieus Theorie zeigt außerdem, dass im Kampf um das „Surplus
Produkt“ e nicht nur ökonomischen Faktoren entscheidend sind: Mit den
Kategorien des Habitus und des ästhetischen Geschmacks werden objektiven
Klassenlagen und Klassenstrukturen sowie weitere Determinanten sozialen
Handelns und Bewusstseins mit den Lebensstilen bzw. der kulturellen Praxis
vermittelt. Damit will Bourdieu zeigen, dass sich das Individuum ein breites
Spektrum der gesellschaftlichen Verhältnisse aneignet, das über die
ökonomischen Strukturen hinausgeht. Eine große Bedeutung hat Bourdieus
These, dass Lebensstile zur Reproduktion der Klassengesellschaft beitragen
und dass soziale Ungleichheit in der symbolischen Dimension legitimiert wird.
Mit seinem Habituskonzept konnte Bourdieu zeigen, dass Lebensstile
systematische Produkte einer Klassenstruktur und dazu „homolog“ sind
bezogen auf die objektiven Struktur des klassenstrukturierten Raums der
Positionen. Durch die Übernahme des Klassenhabitus, auf dem Weg der
Sozialisation, macht sich das Individuum die allgemeinen Erfahrungen seiner
Klasse zu eigenen und damit auch das gesellschaftlich anerkannte Bild seiner
Klasse. Das Gerangel um die Ressourcen und Positionen, der reale
Klassenkampf, ist deshalb immer begleitet von symbolischen
Auseinandersetzungen, er drückt sich immer als symbolischer Kampf aus.
Dabei ist die Auseinandersetzung um den „legitimen“ Geschmack
insbesondere geeignet, die sozialen Unterschiede zu legitimieren:
„Kunst und Kunstkonsum eignen sich – ganz unabhängig vom Willen und
Wissen der Beteiligten – glänzend zur Erfüllung einer gesellschaftlichen
Funktion der Legitimierung sozialer Unterschiede“ (Bourdieu 1982:27).
„Bedeutsam ist deshalb auch die mit dem Ansatz von Bourdieu verbundene
Möglichkeit, die Ideologietheorie weiterzuentwickeln. Bemerkenswert ist die
Hervorhebung des Vorreflexiven in der verzerrten Wahrnehmungsweise, die
Verdeckung der realen Strukturen, ohne dass deshalb die altherwürdige
Priestertrugtheorie zu bemühen wäre oder die platte Manipulationsvermutung.
Im „amor fati“, der Liebe und Ergebenheit, in das Schicksal der eigenen
subalternen Lage, ist das eingefangen, was auch Gramsci für moderne
westliche Gesellschaft als so entscheidend hervorgehoben hat: das
konsensuelle Moment in der Klassenherrschaft, das insbesondere die kulturelle
Hegemonie ermöglicht und damit zugleich die politisch-ökonomische festigt
(vgl. Bourdieu 1982:378). Damit ist ein weiterer Verdienst schon benannt:
einerseits die Bedingungen der Stabilität des Habitus aus der Notwendigkeit
von Alltagshandeln (…) in versachlichten Verhältnissen herzuleiten, anderseits
aber auch das „odium fati“ und die Bedingungen von Erkenntnis. In der Krise
besteht die Möglichkeit, sich über die Bedingungen des eigenen Schicksals als
eines Klassenschicksals bewusst zu werden. Das kann zur veränderten
Praktiken führen, die das Moment der bewussten, in demokratischen Formen
sich vollziehenden Gestaltung des Gemeinwesens (in seinen ökonomischen,
politischen und kulturellen Institutionen) wesentlich einschließt“ (vgl. Kapitel:
www.rote-ruhr-uni.com).
33
4.1 Klassentheorie am Ende der Klassengesellschaft?
Reinhard Kreckel fragt sich in seinem Aufsatz mit dem Titel „Klassentheorie
am Ende der Klassengesellschaft“, welche Bedeutung einer spezifisch
klassentheoretischen
Argumentation
innerhalb
des
allgemeinen
ungleichheitstheoretischen Diskurses heute noch zukommt und stellt fest, dass
die Klassensemantik auch heute noch für die Ungleichheitsforschung
unverzichtbar ist.
Kreckel kommt nicht an der Einsicht vorbei, dass das Konzept der sozialen
Klassenstrukturierung für die lebensweltliche Erfassung der sozialen
Ungleichheiten im heutigen Deutschland nicht ausreicht. In seiner früheren
Schrift (Kreckel 1991) hat er bereits die vier zentralen Organisationsprinzipien
von sozialer Ungleichheit in der heutigen westlich beherrschten
Weltgesellschaft identifiziert: Territorialität, Vertikalität, Geschlecht und Alter.
„Das heißt, die üblicherweise mit Klassen- oder Schichtbegriffen erfassten
vertikalen Strukturierungen interferieren mit territorial verankerten
internationalen Ungleichheitsstrukturen sowie mit den jeweils herrschenden
Formen ungleicher Geschlechter- und Altersstrukturierung, also: mit „nichtvertikalen“
Varianten
von
sozialer
Ungleichheit“
(in:
http://www.soziologie.uni-halle.de/emeriti/kreckel/docs/klassen-97.pdf).
Kreckel will damit sagen, dass für die Bestimmung der Stellung jedes
einzelnen Erdenbewohners innerhalb der Ungleichheitsordnung dessen Lage,
Geschlecht und Altersgruppenzugehörigkeit, sowie seine nationale, kulturelle
oder/und ethnische Zugehörigkeit innerhalb des vertikalen Gefüges und im
jeweiligen sozio-kulturellen Kontext berücksichtigt werden muss. Demzufolge
ist die immer noch aktuelle Konzentration auf jeweils nur einen der vier
Aspekte genauso unbefriedigend wie die Gleichstellung von vertikaler und
sozialer Ungleichheit. Indem man die theoretische Perspektive mit geforderten
Faktoren ausweitet, tut man ein Schritt in die Richtung zur These
„Klassentheorie am Ende der Klassengesellschaft“: die Klassenproblematik ist
der vertikalen Achse des vierdimensionalen ungleichheitstheoretischen Raumes
zuzurechnen. Was heißt: eine allgemeine Theorie der sozialen Ungleichheit
lässt sich nicht vom Klassenbegriff her aufbauen.
„Es wäre nämlich zu simple, wenn man nun alle theoretischen Anstrengungen,
die sich auf die Analyse der vertikalen Achse von soziale Ungleichheit
konzentrieren, einfach als „Klassentheorie“ titulieren würde. Ich habe deshalb
in meinem Buch „Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit“ den
Versuch unternommen, der Klassentheorie einen spezifischen Ort innerhalb der
Theorie der vertikalen Ungleichheit zuzuweisen. Dabei habe ich mich von der
auf Karl Marx zurückgehenden Theorietradition leiten lassen, der zufolge der
strukturelle Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital die Grundlage der
Klassenstrukturanalyse in modernen kapitalistischen Gesellschaften bildet. Das
34
heißt, ich vermeide das handlungstheoretische Konzept der „sozialen Klassen“,
(…) behalte ich aber den Begriff des „Klassenverhältnisses“ als
Strukturmerkmal marktwirtschaftlich geprägter Ungleichheitsordnungen bei“
(ebd.).
Seine Aussage stützt Kreckel auf die Bedeutung ökonomischer
Reproduktionsbedingungen:
viele
Autoren
der
so
genannten
„Lebensstiltheorien“ neigen die ästhetische, kognitive Faktoren der subjektiven
Konstruktion vor objektiven ökonomischen Bedingungen zu stellen. Auch
wenn diese Ansätze die „neuen“ Erscheinungs- und Ausdrucksformen von
sozialer Ungleichheit berücksichtigen, unterschätzen sie die fortdauernde
Wirkung ökonomischer Kräfte. Nichtsdestotrotz, wäre es zu gewagt, alle
empirisch auftretenden vertikalen Ungleichheiten als Klassenfragen zu
behandeln.
„Im Hinblick auf die heutigen modernen Staatsgesellschaften lässt sich
vielmehr zeigen, dass keineswegs alle vertikalen Ungleichheiten – geschweige
denn die internationalen, die geschlechtsspezifischen und die altersspezifischen
Ungleichheiten – auf die kapitalistische Grundstruktur der Trennung von
Lohnarbeit und Kapital zurückgeführt werden können. Das Kräftefeld, das
dabei ins Spiel kommt, ist weitaus vielfältiger und von großer historischer
Variabilität“ (ebd.).
Das Kräftefeld bei Kreckel ist das „korporatistische Dreieck“ zwischen
Kapital, Arbeit und Staat, das im Zentrum des Kräftefeldes ausgeht und
darüber hinaus das Wirken von Interessengruppen, sozialen Bewegungen und
dem praktischen Handeln der sozial strukturierten Bevölkerung berücksichtigt
(Kreckel 1992: 149-165).
Kreckel betont, dass in den heutigen, modernen Gesellschaften der Gegensatz
zwischen Kapital und Arbeit immer noch einen nachweisbaren Einfluss auf die
fortlaufende Reproduktion von vertikaler Ungleichheit hat. Etwa die Hälfte der
erwachsenen Bevölkerung ist in privaten und öffentlichen Betrieben oder
Behörden in einer abhängigen Erwerbstätigkeit beschäftigt. Sie alle sind auf
einen „Arbeitgeber“ angewiesen, um ein Einkommen erzielen zu können. Der
Verlust des Arbeitsplatzes stellt für sie eine reale Bedrohung da und die
Abhängigkeit vom Chef ist eine ständige Erfahrung. Demzufolge ist die
Vorstellung, dass der Arbeitnehmer mit dem Begriff „Ware - Arbeitskraft“,
deren Preis und Qualität verhandelt wird, nachvollzierbar. Die selbständige
Tätigkeit als Alternative zum Arbeitsmarkt ist jedoch unrealistisch, da der
Anteil der Selbständige in der Erwerbstätigenstatistik fortgeschrittener
westlicher Staatsgesellschaften unterhal b der 10%-Grenze liegt. Das zeigt,
dass für die Mehrzahl der Menschen die wirtschaftliche Selbständigkeit keine
Option ist. Sie bleiben somit in den Zwängen des privaten oder des
öffentlichen Arbeitsmarktes.
Die reale existentielle Angewiesenheit auf einen nach kapitalistischen
Prinzipien funktionierenden Warenmarkt erfolgt auch nicht zuletzt deshalb,
weil alle Menschen Konsumenten sind, die zur Selbstversorgung nicht in der
35
Lage und auf stetiges Geldeinkommen angewiesen sind. Die Gruppe dieser
„Abhängigen“ umfasst in fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften
etwa 90% der erwachsenen Bevölkerung. In der schwierigsten Lage befinden
sich die Arbeitslosen.
„Auch sie gehören nicht zu den „Arbeitsmarktparteien“, ihnen fehlt es an
Organisations- und Konfliktfähigkeit. Wenn sie innerhalb des
„korporatistischen Dreiecks“ von Kapital, Arbeit und Staat überhaupt auf
nachdrückliche Fürsprache hoffen können, so am ehesten von staatlicher Seite.
Auch das ergibt sich, per Umkehrschluss, aus der generalisierten
kapitalistischen Arbeitsmarktlogik“ (ebd.).
Kreckel zufolge ist die ungleichtheoretisch aufgestellte Aufschlüsselung des
korporaristischen Regulierungsmodelles von Arbeit, Kapital und Staat aus den
historischen Gegebenheiten der „alten“ Bundesrepublik erwachsen. Damit
meint Kreckel den Institutionentransfer von West nach Ost im Zuge der
deutschen Vereinigung, während dessen die marktwirtschaftlichen
Verhältnisse, korporative Interessenvertretungen und die föderalistische
parlamentarisch-demokratische Regierungsform in ganz Deutschland
umgesetzt wurden, allerdings nicht das DDR-spezifische „Recht auf Arbeit“. In
Ostdeutschland hat dies zu zahlreichen ungleichheitsrelevanten Folgen geführt:
hohe Arbeitslosigkeit, zahlreiche Karrierebrüche, Einkommens- und
Vermögensrückstände im Vergleich zum Westen Deutschlands. Diese
Sonderentwicklung lässt sich mit dem in ganz Deutschland ausgedehnten
ungleichheitsgenerierenden Kräftefeldes erklären, dass sich im Rahmen des
„korporatistischen Dreiecks“ bewegt.
„Diese wenigen Bemerkungen müssen hier genügen. Sie zeigen, auf welche
Weise das von der historischen Erfahrung der „alten“ bundesrepublikanischen
Gesellschaft herrührende idealtypische Modell des „korporatistischen
Dreiecks“ für eine theoretisch anspruchsvolle Ungleichheitsforschung nutzbar
gemacht werden kann, ohne zu unerträglichen Vereinfachungen führen zu
müssen“ (ebd.).
Kreckel betont, dass die vorgestellte Diskussion zum „korporatistischen
Dreieck“ eine eigentümlich deutsche Färbung enthält, weil das Wort „Klasse“
im deutschen Sprachraum besonders durchschlägt. Im deutschen Kontext
werden mit dem Begriff „Klasse“ unweigerlich politische Überzeugungen und
emphatische Definitionskämpfe verbunden. Dieser „deutsche Bezugsrahmen“
habe zum Ausgangspunkt die Institutionalisierung des Klassengegensatzes und
die ökonomische Ungleichheit in der Gesellschaft, die seit 1990 erkennbar an
Bedeutung zugenommen hat. (vgl. Kapitel: http://www.soziologie.unihalle.de/emeriti/kreckel/docs/klassen-97.pdf)
4.2 Das angebliche Ende von Stand und Klasse in Deutschland
Vor ungefähr dreißig Jahren löste Ulrich Beck (1983) mit seinem Aufsatz
„Jenseits von Stand und Klasse?“ eine kontroverse Debatte aus, deren
36
Ausgangpunkt war, dass sich subkulturelle Klassenidentitäten und ständisch
gekennzeichneten Klassenlagen im Zuge der Diversifizierung und
Individualisierung von Lebenswegen aufgelöst haben und seinen
Realitätsgehalt unterlaufen. Durch Bildungsexpansion, wirtschaftlichen
Aufschwung und der damit einhergehenden Niveauverschiebungen, erfolge ein
historisch spezifischer Prozess der Vergesellschaftung – die Freisetzung der
Menschen aus dem Kontext der Familie oder den klassenspezifischen Milieus.
Beck sagt dazu: “ Mit zunehmender Individualisierung schwinden die
Voraussetzungen, das Hierarchiemodell sozialer Ungleichheit lebensweltlich
zu interpretieren“ (Beck 1983:53). Zudem werden Klassenidentitäten
bedeutungslos, da infolge der Individualisierung, der Sozialcharakter der
Menschen aus den gesellschaftlich prägenden Kontexten wie Klasse und
Schicht herausgelöst würden.
Beck behauptet, dass vor allem der „Fahrstuhleffekt“ – die so von ihm
beschriebene kollektive Mobilität in der deutschen Nachkriegszeit, bei der alle
gesellschaftlichen Schichten eine „Etage höher gefahren“ sind, dazu geführt
hat, dass die sozialstrukturellen vertikalen Ungleichheiten im Rahmen des
individualisierten Sozialcharakters in den Hintergrund traten.
„Wir leben trotzt fortbestehender und neu entstehender Ungleichheiten heute in
der Bundesrepublik in Verhältnissen JENSEITS der Klassengesellschaft, in
denen das Bild der Klassengesellschaft nur noch mangels einer besseren
Alternative am Leben erhalten wird“ (Beck 1986:121).
Die Individualisierung nach Beck läuft im Sinne der Aufhebung der
lebensweltlichen Grundlage eines Denkens in traditionalen Kategorien – in
sozialen Klassen, Stände oder Schichten. Mit der Auflösung der
Klassenstruktur und der wachsenden sozialen Mobilität, solle die
gesellschaftliche Orientierung von Menschen nicht mehr klassen- bzw.
schichtenspezifisch sein. Es gäbe keine Kategorisierungen, wie: „Die da oben,
wir da unten“ usw.
Was die Bildungsexpansion betrifft, so führte dies zu Niveaueffekten bei der
Bildungsbeteiligung und dem Bildungsniveau in der Bevölkerung, aber nicht
zu Auflösung von struktureller sozialer Ungleichheit im Bildungsbereich. Auch
wenn
im
Zuge
der
Bildungsexpansion
die
traditionellen
Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft erheblich reduziert wurden, ist
der Bildungszugang weiterhin von beträchtlicher Chancenungleichheit geprägt.
Bis in die jüngste Vergangenheit lässt sich die Tatsache bestätigen, dass die
Kinder der oberen Dienstklasse immer noch eine 15-mal bessere Chancen
haben, das Abitur zu erwerben, als die Kinder aus der Arbeiter- oder
Mittelklasse.
„In der Zwischenzeit liegt eine Vielzahl von Studien vor, die erklären, warum
es trotzt Bildungsexpansion und sozialer Öffnung des Bildungssystems
dauerhafte Bildungsungleichheiten nach Klassenlage des Elternhaus bzw. nach
der Schichtzugehörigkeit der Kohortenmitglieder gibt (Boudon 1974;
Breen/Goldthorpe 1997; Becker 2006, 2007). An die Klassenlage gebundene
37
Ressourcen des Elternhauses, die für die Bildung und Ausbildung der Kinder
investiert werden können, sowie die Motivation, den bislang erreichten
Sozialstatus in der Generationenabfolge erhalten zu wollen, sind wichtige
Mechanismen für diese soziale Tatsache“ (Berger/Hitzler (Hrsg.) 2010:58).
Becker und Breen zeigen zudem, dass trotzt der erheblichen Steigerung von
Bildungsanstrengungen der Arbeiterklasse, die Bildungsungleichheiten
bestehen bleiben und erst dann abnehmen, wenn die Bildungsnachfrage der
sozial privilegierten Schichten gesättigt ist. Somit bestimmen die sozialen
Herkunftsrestriktionen, die von der Klassenlage und Positionierung des
Elternhauses hervorgehen, immer noch die Bildungschancen einer Klasse oder
eines Standes. Zitierend mit Worten von Max Weber (1988: 247-248) heißt es:
„Unterschiede der Bildung sind heute, gegenüber dem klassenbildenden
Element der Besitz- und ökonomischen Funktionsgliederung, zweifellos der
wichtigste eigentlich ständebildende Unterschied. (…) Unterschiede der
„Bildung“ sind – man mag das noch so sehr bedauern – eine der allerstärksten
rein innerlich wirkenden sozialen Schranken. Vor allem in Deutschland, wo
fast die sämtlichen privilegierten Stellungen innerhalb und außerhalb des
Staatdienstes nicht nur an eine Qualifikation von Fachwissen, sondern
außerdem von „allgemeiner Bildung“ geknüpft sind und das ganze Schul- und
Hochschulsystem in deren Dienst gestellt ist. Alle unsere Examensdiplome
verbriefen auch und vor allem diesen ständisch wichtigen Besitz“.
Im Zuge der fortschreitenden Individualisierung sollte die intergenerationale
Mobilität, Beck zufolge, immer weniger durch soziale Herkunft strukturiert
werden. Das bedeutet, dass nur noch individuelle Leistungsqualifikationen
entscheidend für den Erwerb ökonomischer Güter seien. In der Tat, im Zuge
des wirtschaftlichen Aufschwungs in der westdeutschen Nachkriegszeit
konnten immer mehr Personen in die obere Dienstklasse aufsteigen und auch
die Klassenschranken wurden deutlich niedriger. Aber bei der Realisierung des
Statuserhalts und beim intergenerationalen Aufstieg in den Arbeitsmarkt waren
und sind die Herkunftseffekte evident geblieben.
„Die Persistenz von Klassenstruktur, die Abhängigkeit der Bildungs- und
Mobilitätschancen von sozialer Herkunft sowie die durch die soziale Herkunft
erzeugte Kontingenz des individuellen Lebensverlaufs belegen trotz
gestiegener Optionen für individuelle Entscheidungen und restriktiver
institutioneller Handlungsvorgaben eher, dass der lange Schatten der sozialen
Herkunft auch die Mobilität möglicher Individualisierungsschübe im Sinne von
Beck (1983, 1986) unterläuft“ (Berger/Hitzler (Hrsg) 2010:63).
Angesichts
der
hier
vorgestellten
Gegenbeispiele
zu
Becks
„Individualisierungsthese“ kann kaum die Rede sein vom Ende von Stand und
Klasse in der deutschen Gesellschaft. Auch wenn mehr Bildung und Mobilität
sowie gestiegener Wohlstand Eindruck erwecken, dass es das Gegenteil ist.
Historisch gesehen gibt es zwar keine soziokulturell homogenen Großgruppen
mit Klassenkampfideologie und politischen Organisationen, aber die subjektive
38
Wahrnehmung der Bevölkerung und ihre Selbstidentifikation folgt immer noch
dem Verständnis einer Klassenstruktur und einer vertikaler Ungleichheit.
Niemand könnte den augenfälligen Wandel in der Klassenstruktur
Deutschlands ernsthaft bestreiten. Aber von der Ablösung von
Schichtunterschieden durch ausschließlich kulturelle Unterschiede oder von
einem „class dealignment“ kann auch heute nicht ausgegangen werden.
„Im Zuge der Entwicklung des modernen Wohlfahrtstaates sind Verelendung
und Entfremdung im Sinne von Marx (1921) überwunden, aber für eine
Gesellschaft jenseits von Stand und Klasse fehlen immer noch intersubjektiv
nachvollzieh- und überprüfbare Hinweise. (…) Der Zugang zu knappen Gütern
(Bildung) und Position (Klassenlage) hängt weiterhin zu einem großen Teil
von der sozialen Herkunft nach Klassenlage des Elternhauses ab und es gibt
folglich – bei einer relativen Öffnung in der Klassenstruktur – eine Persistenz
der intergenerationalen Transmission von Lebenschancen nach Klassenlage des
Elternhauses“ (Berger/Hitzler (Hrsg.) 2010: 68).
5.1 Ein Exkurs: Soziale Selbstorganisationen – Gegenbewegungen im
Kapitalismus
Moderne Gesellschaften werden heute zunehmend mit den neuen sozialen und
kulturellen Ungleichheiten konfrontiert: mit einer zunehmenden Kluft
zwischen arm und reich, mit wachsender Exklusion und Prekarisierung.
Gleichzeitig setzen die Protagonisten der „New Economy“ große Hoffnungen
in den technischen Fortschritt. Angesichts der Richtung der technischen und
gesellschaftlichen Entwicklung wird jedoch bezweifelt, dass sich eine
Humanisierung der Lebensverhältnisse unter den bestehenden Bedingungen
ergeben wird. Denn kritisches Denken ist heute nicht unbedingt in Mode,
obwohl oder gerade die soziale Situation der Menschen sich permanent
verschärft.
Dem gegenüber stehen das bürgerliche Engagement und die Bildung des
Sozialkapitals: hier werden die Ressourcen für soziale und politische
Integration praktiziert und eingeübt, das Vermögen gesellschaftlicher
Selbstorganisation gestärkt, die Sicherung sozialer Reformen über die
„Bürgergesellschaft“ definiertes Staatsverständnis. Die Theorie der
Selbstorganisation bietet nämlich eine Möglichkeit, gesellschaftliche
Entwicklungen dialektisch und nichtdeterministisch zu fassen.
„Die Welt darf (…) nicht bleiben, wie sie ist. Nur die Etablierung einer
qualitativ anderen Gesellschaft wäre die Basis für die Lösung der globalen
Probleme. Dazu bedarf es aber des aktiven gesellschaftstransformierenden und
emanzipatorischen Handelns des Menschen. (…) Ein kritisch-praktisch
Handelner muss wissen, worauf er sich bezieht, was er verändern will und
39
wogegen bzw. eine Aufhebungsbewegung stattfinden soll. Eine kritische
Theorie der Gesellschaft kann dabei die Rolle spielen, bestehende Verhältnisse
und die Möglichkeit zu deren Veränderung zu verdeutlichen. Was sie nicht
kann und nicht soll, ist den Menschen vorzugeben, wie ein alternativer
Gesellschaftsentwurf auszusehen hat. Denn eine Transformations- und
Aufhebungsbewegung in Richtung einer anderen Gesellschaft kann nur eine
von unten sein“ (Marcuse 1937:122).
Das aktive selbstorganisierte Handeln der Menschen ist also von
grundsätzlicher Bedeutung. Und hier kommt nun ein neues wissenschaftliches
Paradigma zum Vorschau: die Theorie der Selbstorganisation. Dieser
interdisziplinäre Ansatz kann emanzipatorisch die Möglichkeiten
gesellschaftskritischen Handelns näher analysieren sowie Grenzen und
Perspektiven verdeutlichen.
Christian Fuchs (2001), der Marx ideologische Einstellung zur Arbeit und
Kapital ziemlich genau übernommen hat, ist der Ansicht, dass heute, wie auch
in der Zeit von Marx, sich Kapital und Lohnarbeit in einem
Ausbeutungsverhältnis gegenüberstehen, da die Arbeitenden nach wie vor
unbezahlte Mehrarbeit leisten. Dieser Mehrwert wird von den Kapitalisten
angeeignet und ist die Basis der kapitalistischen Ökonomie. Eine immer kleiner
werdende Zahl der Kernarbeiter könne ihre Vollzeitarbeit nur dadurch
absichern, indem die Kapitalisten dafür sorgen, dass die Arbeitsverhältnisse
peripherer Arbeiter immer miserabler werden. Der Kapitalismus braucht
Milieus der Ausgebeuteten oder der Ausgeschlossenen damit die
Kapitalakkumulation funktionieren
und der Kapitalismus seine
Reproduktionsfähigkeit garantieren kann. Mit Ausbeutung ist gemeint, dass
patriarchale und rassistische Verhältnisse geschafft werden, um unter
deregulierten Arbeitsbedingungen und unter Minimierung des variablen
Kapitals ein Maximum an Mehrwert auszupressen und Surplusprofite zu
erzielen, so Fuchs.
Fuchs zufolge bestehe ein ökonomischer Antagonismus des Kapitalismus auch
darin, dass die Akkumulation von Reichtum auf der einen zur Akkumulation
von relativer Verarmung auf der anderen Seite führt.
Mit Marx Worten: „Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das Kapital und
die Energie seines Wachstum, desto größer ist die industrielle Reservearmee.
Und je größer diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee ist,
desto massenhafter sind die konsolidierte Überbevölkerung und deren
Verelendung“ (in Schwan 1983:160).
Wir sehen also, dass der Kapitalismus eine Form der Gesellschaft ist, die durch
Antagonismen geprägt wird. Doch welche Rolle spielt die Technik im
Kapitalismus? Nach Fuchs Verständnis erleichtert die Technik im Prinzip die
Arbeit aber im Kapitalismus wird sie zum Herrschaftsmittel über die
Arbeitenden, da der Kapitalismus die Anwendung und Entwicklung der
Technik als Mittel der kapitalistischen Herrschaft nutzt.
40
„Es werden nicht mehr Zwecke identifiziert, zu deren Erreichen Technik ein
Hilfsmittel ist, sondern Technik wird zum Selbstzweck. (…) Technik dient
nicht mehr den Menschen zur Erleichterung ihres Daseins und ihrer
Auseinandersetzung mit der Natur, sondern der effektiven Ausbeutung der
Arbeitender durch das Kapital und der Produktion des Mehrwerts. (…)
Technik ist eine Form der relativen Mehrwertproduktion. Durch ihre
Entwicklung als Produktivkraft ist sie Mittel um die lebendige Arbeitskraft
effizienter zu gestalten. D.h., dass der permanente Fortschritt von Wissenschaft
und Technik dafür sorgt, dass die Mehrwertproduktion zeitlich immer mehr
komprimiert wird. Mit Hilfe immer neuer und besserer Maschinen kann immer
mehr Mehrwert in immer kürzerer Zeit hergestellt werden. Der
Ausbeutungsgrad der Arbeitenden steigt dadurch immer mehr an“ (Fuchs
2001:47).
Mit dem beschriebenen Widerspruch, also aufgrund der permanenten
Automatisierung der Arbeit, steigt die Arbeitslosigkeit langfristig relativ an.
Die Lohnarbeiter selber sind im Kapitalismus zum Anhängsel geworden: alle
Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft vollziehen sich
auf Kosten des einzelnen Arbeiters. Zudem werden Arbeiter dem geistigen
Prozess der Arbeit entfremdet, werden zu Bedienern der Maschinen und nicht
umgekehrt.
Die Rolle des Staates im Kapitalismus begründet Fuchs in folgenden Punkten:
1. Der Staat organisiert die Infrastruktur und die Rahmenbedingungen der
Kapitalakkumulation sowie der kapitalistischen Produktion und
Reproduktion: die Garantie der Verfügbarkeit von Lohnarbeit für das
Kapital, Subventionspolitik, Steuerpolitik, Reproduktion des
Arbeitenden usw. Außerdem: wenn der Reproduktionsprozess des
Kapitals versagt und unterbrochen wird, hat der Staat die Funktion, die
Bedingungen für die Selbstreproduktion des Kapitals herzustellen.
2. Der Staat hat die Funktion der repressiven Absicherung des
Kapitalverhältnisses durch Gesetzgebung, Justiz, Polizei und Militär.
Der Staat dient also der repressiven Niederhaltung der ausgebeuteten
Gesellschaftsgruppen.
3. Der Staat bemüht sich im Falle der Zusammenbruchtendenzen des
Kapitalismus auf eine schnellstmögliche Wiederherstellung des
Systems und um die Beseitigung der Elemente, die eine mögliche
gesellschaftliche Unruhe stiften könnten.
4. Der Staat hält die kapitalistische Gesellschaftsform zusammen, die
geprägt durch eine Vielzahl von Konflikten ist: das sind religiöse,
kulturelle, geschlechtliche Konflikte, nicht nur Konflikte zwischen
sozialen Klassen.
5. Der Staat agiert als ideologischer massenintegrativer Apparat: das soll
den Schein wecken, dass der Staat die Klassenverhältnisse durch
Sozialpartnerschaften, Gewerkschaften usw. reguliert (vgl. Fuchs
2001:50)
41
„ In der Tat gehört es zur Ideologie und zur Verschleierungstendenz des
heutigen
Kapitalismus,
Planungselemente,
Krisenmanagement
und
Systematisierung kollektiver Vorgänge als nicht mehr kapitalistische
auszugeben, sondern als (positive) Folgeerscheinung des Machtantritts
klassenenthobener, an Verwertungsinteressen nicht mehr gebundener und vom
Kapital daher nicht mehr gesteuerter oder steuerbarer Führungsgruppen“
(Agnoli 1995:62).
Bourdieu hat, genau wie Marx, wiederum keine systematische Analyse des
modernen Staates hinterlassen. Marx leitete den Staat aus den
ökonomischen Verhältnissen eines Gesellschaftstypus ab und äußerte
demzufolge verschiedene negative Einschätzungen zum Staat: Der Staat
war für ihn Teil des Systems der Klassenherrschaft, parasitäre Institution
oder ausführendes Organ der Bourgeoisie.
Bourdieu begreift den Staat als Ort von Kämpfen, auch wenn es sich hier
interessanterweise nicht um einen Klassenkonflikt handelt. Es geht
vielmehr um die Konkurrenz zwischen Ministerien und ihr
Durchsetzungsvermögen bei der Verfolgung eigener Ziele und Strategien.
Was das Verhältnis des Staates zu Ökonomie betrifft, so erweist sich
Bourdieus Analyse als eindimensional:
„So finden sich immer wieder (bei Bourdieu) Hinweise darauf, dass der
Staat schlicht der Handlanger des neoliberal durchorganisierten Kapitals
ist: sei es, indem sich jene Fraktionen der Staatsagenten durchsetzen, die
den Rückzug des Staates proklamieren; sei es, indem der Staat eben nicht
mehr als Wahrer der sozialen Rechte seiner Bürger auftritt, also als
Wohlfahrtsstaat, sondern regrediert zu einem Staatstypus, der gegen einen
Teil seiner Bürger mit Gewalt vorgeht und ein Strafregime durchsetzt“
(vgl. Western/Beckett 1998, in Florian/Hilldebrandt (Hrsg.) 2006:205).
Aus der zeitdiagnostischer Perspektive Bourdieus wirkt der Staat als
hilfloses Opfer der Globalisierung: er ist hilflos der Dynamik der Märkte
ausgeliefert und es bleibe nichts übrig, als den Rückzug anzutreten.
Bourdieu vertritt hier die These der Entstaatlichung, dass sich im Zuge der
totalen Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse das
amerikanische Modell des Wohlfahrtstaates durchsetzen wird. Das
bedeutet: eine grundlegende Transformation des Staates und den Verlust
seiner regulativen und umverteilenden Funktionen.
Betrachtet man die amerikanische Wirtschaftspolitik näher, so wird schnell
deutlich, dass Bourdieus Verständnis vom amerikanischen Staat nicht der
Realität entspricht. Er meint vielmehr die reine Ideologie des Staates.
„So rächt sich am Ende, dass sich Bourdieus Zeitdiagnose des „neuen“
Kapitalismus zu stark auf die Ideologie des Neoliberalismus und dabei
insbesondere auf Bewusstseinsphänomene konzentriert, statt durch eine
politisch-ökonomische Analyse das Verhältnis von Staat und Markt zu
klären und von hier aus die Rolle des Staates unter Bedingungen der
Globalisierung zu diskutieren. Bourdieu stimmt damit das Lied
42
umfassender und ideologisch abgesicherter Ökonomisierung an, statt auf
Brüche, Widersprüche und Gegenbewegungen dieses Prozesses
hinzuweisen“ (Florian/Hillebrandt (Hrsg.) 2006: 216).
Nach Fuchs ist es im kapitalistischen Weltsystem, aus der kulturellen und
ideologischen Hinsicht betrachtet, unmöglich, dass sämtliche Kulturen,
religiöseGemeinschaften in gemeinsamen Wohlstand und Frieden
miteinander leben. Denn Ausbeutung und Herrschaft im Kapitalismus
funktionieren nicht von selbst, sondern es wird immer eine ideologische
Legitimation bzw. Ideologie benötigt für die Konstruktion der
Unterscheidungskategorien. Eine solche typische Ideologie stellt der
Rassismus dar. Eine Dialektik von Gleichem und Verschiedenem kann
durch die Verknüpfung von Selbstorganisations- und Informationskonzept
erreicht werden.
Wissen ist heute zu einer wesentlichen Produktivkraft geworden. Es schafft
Bedingungen und Infrastrukturen der Kapitalakkumulation, ist
verantwortlich für die Entwicklung der geistigen Grundlagen des
konstanten Kapitals und der immer effektiver werdenden Methoden der
Produktivkraftentwicklung. Das heißt: die techno-wissenschaftliche Arbeit
ist für das Bestehen des kapitalistischen Weltsystems unerlässlich. Wenn
Marx zu seiner Zeit behauptete, dass die Wissenschaft kostet dem
Kapitalismus überhaupt nichts, dann war er nicht besonders
vorausschauend. Denn die Wissensarbeit, im als „Informationsgesellschaft“
titulierten Kapitalismus, wird immer bedeutender. Sie ist im Postfordismus
zu einer herausragenden Quelle des Profits in der Kapitalakkumulation
geworden. Von großer Bedeutung ist dabei die Softwareproduktion, da sie
eine wesentliche Antriebskraft der Verwertungsmaschine darstellt. Man
kann Software als eine Form kodierten Wissens betrachten, die nur einmal
hergestellt werden muss, aber dafür billig reproduziert und extrem teuer
verkauft werden kann. Die kapitalistischen Softwarefirmen versuchen mit
Patenten und Urheberrechten die exklusive Nutzung von diesem Wissen
einzuschränken, für die breite Masse schwer zugänglich zu machen und nur
denjenigen es zu verkaufen, die es sich leisten können. Der Wunschtraum
eines jeden Kapitalisten ist die Konvergenz des konstanten und variablen
Kapitals gegen Null. Wird dem Kapital nun neues Wissen quasi gratis zur
Verfügung gestellt, so entspricht es diesem Wunschtraum des Kapitalisten.
Im Rahmen von Klassenverhältnissen wird soziale Information produziert.
Dabei erfolgt die Information im Rahmen dieser antagonistischen
Verhältnisse nicht selbstorganisierend und exklusiv. Das totalitäre Element
der Marktwirtschaft verlangt, dass Zwang und Fremdbestimmung als
Selbstverständlichkeiten dargestellt werden. Die Kategorien sämtlicher
Lebensbereiche wie: Lohnarbeit, Tausch oder Konsumzwang sind eben
nicht selbstverständlich, sondern nur typisch für den Kapitalismus.
43
Die ganze westliche Welt, die durch Repräsentativdemokratie und den
Kapitalismus geprägt ist, beruht auf asymmetrische Machtbeziehungen, die
soziale Klassen in einflussreiche und einflusslose unterteilen. Die
einflussreichen haben uneingeschränkten privilegierten Zugang zu
Informationen, der den einflusslosen Klassen vorenthalten werden. Bei
dieser Art sozialer Informationen handelt es sich um soziale Exklusion. Die
benachteiligten sozialen Gruppen haben kaum oder gar keine Mitwirkung
beim Konstitutionsprozess sozialer Informationen. Ihre Mitbestimmung
reduziert sich auf Volksbefragungen und auf Wahlen, bei denen soziale
Exklusionen schon vorgegeben sind. Das heißt: die asymmetrische
Machtverteilung zeigt sich auch in ungleicher Verteilung der Verfügbarkeit
von Information in der Form von Wissen.
Zusammengefasst: bei sozialer Information kann es sich demnach um eine
soziale Inklusion oder um eine soziale Exklusion handeln. Hat jedes
beteiligte Individuum den gleichen Zugang zur Informationsstruktur und
die gleichen Möglichkeit, diese in seinem eigenen Sinn zu beeinflussen, so
ist die Rede von inklusiver sozialer Information.
„Diese Art der sozialen Information entsteht durch soziale Kooperation der
betroffenen Individuen. Sie wird als emergente Eigenschaft eines sozialen
Systems kollektiv von den beteiligten und betroffenen Individuen in einem
Selbstorganisationsprozess hervorgebracht. Selbstorganisation bedeutet
dabei, dass die von entstehenden Strukturen betroffenen Individuen
Eintreten, Form, Verlauf sowie das Ergebnis dieses Prozesses selbst
bestimmen und gestalten können und durch mikroskopische
Wechselwirkungen
untereinander
makroskopische
Strukturen
hervorbringen“ (Fuchs, 2001: 67).
Soziale Exklusion liegt vor, wenn soziale Information nicht kollektiv von
den Betroffenen, sondern von einem in einer sozialen Hierarchie stehendem
Teilsystem konstituiert wird. Sie entsteht durch soziale Konkurrenz, mit
dem Zweck Herrschaft und Macht über die anderen auszuüben, die Vorteile
auf Kosten anderer zu gewinnen. „Informationsmonopole sind
Machtmonopole. Sie sind zu brechen, wenn eine humane Gesellschaft
erreicht werden soll“ (Hörz 1993:122).
Es gibt wohl kaum ein Individuum, das mit sämtlichen Gesetzen und
politischen Entscheidungen in seinem Staat einverstanden wäre. Jeder
verfügt über eine eigene individuelle Informationsstruktur, auch wenn
individuell konstituierten Realitäten häufig die Widerspiegelung
herrschender exklusiver Normen, Regeln und Werte ist. Anders gesagt:
Menschen werden mit Desinformationen und Manipulation aus Politik,
Medien und Wirtschaft konfrontiert. Die mächtigen Klassen verfügen über
monopolisierte Kontrolle in der Information und in Wissensform.
Der Kampf für neue Verhältnisse sollte an zwei Fronten erfolgen: in
emanzipativen Bewegungen und in Netzwerken mit den anderen Menschen
in der Gesellschaft. Es gab und es gibt in der Realität Menschen auf
44
verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen, die sich organisieren, um
gemeinsam weitreichende emanzipative Ziele umzusetzen. Sie wollen eine
Gesellschaft, in der die Individuen ohne jegliche persönliche oder sachliche
Herrschaft eingeschränkt zu sein, selbstbestimmt handeln können. Wichtige
Kriterien für das Binnenverhältnis emanzipatorischer Bewegungen sind:
1. Bindung an individuell vertretene Ziele, keine Verselbständigung von
sich institutionalisierenden Teilen der Bewegung als Selbst-Zweck.
2. Verhinderung der Instrumentalisierung von Menschen für Zwecke
anderer, Schaffung von Strukturen für die Schaffung und
Aufrechterhaltung intersubjektiver Beziehungen.
Demgegenüber fordert Bergstedt (2000): „Mein Ziel ist, Verhältnisse zu
schaffen, die Gleichberechtigung schaffen, bei denen die Menschen auch
authentisch sein können und nicht in dieser beklemmenden Atmosphäre des
„Ich darf niemandem zu nahe treten“ agieren. Das ist zu erreichen u.a. durch:
-
Dezentralisierung weg vom Plenum
Offene, sich ständig veränderte Strukturen
Platz für Streit und kreative Prozesse
Autonomie für Menschen und Gruppen“.
Selbstorganisationen
bedeutet
eine
Ausweitung
individueller
Wirkungsmöglichkeiten auf Basis kollektiver Prozesse, die die individuelle
Reichweite weit übersteigt. Die Selbstentfaltung des Einzelnen im kollektiven
Rahmen ist die Voraussetzung für selbstorgansierte Prozesse. Dabei stellt sich
selbstverständlich die Frage, wie die Selbstorganisationen entfaltet und
koordiniert werden können, ohne wieder Herrschaftsformen auszubilden? Die
Antwort lautet: Selbstorganisationen beruhen vor allem auf der Kraft der von
den Einzelnen ausgehenden Aktivitäten unter Voraussetzung entsprechender
Rahmenbedingungen. Das bedeutet: keine Vorschriften für konkretes Tun, aber
Kriterien für das individuelle Handeln und Vernetzungen.
Heutzutage ist Herrschaft nicht mehr offensichtlich: sie versteckt sich in den
scheinbar normalen und natürlichen Alltagszwängen. Dies hat zu Folge, dass es
in den kapitalistischen Ländern, auch in Krisensituationen, bei steigender
Arbeitslosigkeit und Verelendung großer Teile der Bevölkerung, selten zu
spontanen Protestaktionen oder Befreiungsschlägen kommt. Außerdem:
politische Bewegungen werden schnell überheblich, im Sinne „für die anderen
denken und entscheiden zu wollen“. Man will die angebliche „Interesse der
Mehrheit“ durchsetzen, in Wirklichkeit handelt man nach partialen Interessen.
Gegen die bisherige Unterordnung unter herrschaftliche Vorgaben in Form des
Wert-Verwertungszwanges im Namen der „Rentabilität“ und gegen die
Instrumentalisierung von Menschen, ist die Eigenaktivität der verschiedenen
Individuen als Träger der Bewegungen und Umwälzungen notwendig. Wie
aber soll das konkret aussehen? Eine Möglichkeit ist der völlige oder teilweise
Ausstieg aus Verwertungszusammenhängen und die Etablierung neuer Regeln
des Austauschs. Es geht um die „Entkoppelung eines sozialen Raums
45
emanzipatorischer Kooperation von Warentausch,
abstrakter Leistungsverrechnung“ (Kurz 1997).
Geldbeziehung
und
Marx hat schon vor mehr als hundert Jahre das Problem der Mehrarbeit
deutlich beschrieben: „Der Diebstahl an fremder Lebenszeit, worauf der jetzige
Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte,
durch die große Industrie selbst geschaffene. Sobald die Arbeit in unmittelbarer
Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört auf und muss
aufhören, dass die Arbeitszeit sein Maß ist und daher der Tauschwert (das
Maß) des Gebrauchswerts. (…) Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört,
Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso
wie die Nichtarbeit der wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte
des menschlichen Kopfes. Damit bricht sie auf dem Tauschwert ruhende
Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozess
erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift“
(Marx 1983/1857, 601).
Hier nennt Marx die Möglichkeiten, die über 100 Jahre nach seiner Lebenszeit
schließlich vorhanden sind. Sie sind außerdem auch berechtigt, insoweit das
Bewusstsein der Menschen für diese neue historische Situation offen ist und
indem die Menschen bereit sind diese Befreiung von dem Arbeitszwang als
etwas Zukunftweisendes und Sinnvolles zu empfinden. Voraussetzung dabei
ist, dass die kapitalistische Wirtschaftsform nicht mehr als Grundlage
beibehaltet wird.
In der heutigen Situation zeigt die freie Software-Community wie es geht. Die
freie Softwareentwicklung ist eine Keimform personale-konkreter
Produktivkraftentwicklung im Rahmen der dominanten wertvermittelten
gesellschaftlichen Reproduktion. Das Beispiel von „Linux“ zeigt, dass ein
freies Computerbetriebssystem geschaffen werden kann, das ohne jegliches
Verwertungsinteresse und in weltweiter Kooperation von Tausenden von
Menschen, „aus eigenem Betrieb“ entwickelt werden konnte. Es wurde ein
Sonderraum geschaffen, wo die Menschen sich zusammenfanden, um die
Entfaltung der Software zu ermöglichen, die jedem Menschen zur Verfügung
steht. „Linux“ ist zudem ein gutes Beispiel, dass in verwertungsfreien
Sonderräumen die völlig neue Organisationsform, die auf Vertrauen und
anerkannter Leistung beruht, entwickeln kann. Das Prinzip der Community ist
dabei einfach: hier kann jeder ein neues Projekt gründen und die Mitstreiter
dafür werben. Es gibt keine Konkurrenz oder übergeordneten Mechanismus,
die irgendeine Regeln oder Ziele bestimmen. Das Wichtigste ist eher:
Selbstentfaltung, Anerkennung, Spaß und Berücksichtigung der Bedürfnissen
des Anderen. Diese personalen, konkreten Vermittlungsformen sind die
Voraussetzung für den Erfolg freier Software. Das Resultat ist bemerkenswert:
neue Produktivkraftentwicklung „am Rande der Gesellschaft“, anerkannt
überlegene Produktqualität und unendliche gegenseitige Hilfsbereitschaft in
der freien Software-Community. Geschaffen von freien Entwicklern und nur
über das Internet verbunden, stellt sie eine ernsthafte Bedrohung da für die
weltgrößten Softwarekonzerne.
46
Das beschriebene Beispiel zeigt, dass bereits heute Ansätze entstehen, die
fordern:





Sicherung der Grundsicherung über eine Nutzung der jeweils
notwendigen Lebensgrundlagen und Produktionsmittel
Abbau ökonomischer und anderer Zwänge, die sich nicht aus
menschlichen Bedürfnissen ergeben (Verschwendungsproduktion,
Profit, Rüstung usw.)
Gemeinsame Nutzung vieler Güter statt Privatbesitz
Entwicklung alternativer Ökonomieformen, die die Abschaffung der
Zwangsstrukturen einschließt, denen sie bisher aufgrund der
Wertvergesellschaftung unterworfen sind
Entwicklung dezentraler Politik- und direkter Demokratieformen
(konkrete Vorschläge in Bergstedt 1999a).
Zu betonen ist, dass diese neue Vergesellschaftung, auch wenn sie moderne
Technik als Grundlage benutzt, im Grunde intersubjektive Beziehungen
zwischen den Menschen voraussetzt. Dabei entstehen neue Regeln, die an der
Selbstentfaltung des Menschen und nicht an der Selbstverwertung des Wertes
orientiert sind.
Der Kampf gegen die kapitalistische Wirtschaft ist hart und die Repression
beträchtlich, aber der erste qualitative Schritt ist schon getan. Mit Linux,
sozialen Selbstorganisationen und emanzipativen Bewegungen insgesamt,
wurde die Grundlage für neue Kommunikations- und Lebensformen gelegt.
„Noch unter Bedingungen der subjektlosen Wert-Verwertungsmaschine und
der entfremdeten Produktivkraftentwicklung bilden sich Zentren neuer
Produktions- und Reproduktionsformen heraus. Diese etablieren sich außerhalb
der alten Zusammenhänge, aber unter voller Nutzung der besten materiellen
und ideellen Gebrauchswerte, die das alte System hervorgebracht hat. (…) Im
Binnenverhältnis setzten sich intersubjektive Beziehungen als Grundlage eines
vernünftigen Austausches der lebensnotwendigen Dinge durch – Qualität,
Inhalte und Kommunikation ersetzen die „unsichtbare Hand“ der abstrakten
Vermittlung über den Markt“ (kritische-informatik.de)
Bisher wurden relativ viele gut gemeinte „Utopien“ entwickelt – die Entwürfe
„neuer“ Gesellschaftsformen. Die konkrete Utopie intersubjektiver
Beziehungen beschreibt Iris Rudolph (1998:78):
„Ich möchte eine Welt, in der die Menschen sich nicht gegenseitig benötigen,
in der sie einfach durch das, was sie tun und alles lassen, für sich tun und
lassen, gleichzeitig auch das Beste für alle anderen tun“.
„Fähigkeiten und Bedürfnisse entwickeln sich permanent, das gilt auch für
intersubjektive Beziehungen. Die praktischen Erfahrungen in der Kooperation
mit anderen, bei der Aktion, beim Streik, bei der Blockade oder beim Flugblatt
schreiben bilden eine wichtige Grundlage. Widerstand ist deshalb auch
Subjektwerdung wie sie z. B. Peter Weiss im Jahrhundert-Roman „Ästhetik des
Widerstands“ (1983) ausführlich beschreibt. Hier haben auch so begrenzte
47
Formen wie Zukunftswerkstätten, das Konzept „New Work“ (nur das tun, was
ich wirklich, wirklich tun will) oder Tauschringe, die Fixierung auf Lohnarbeit
und Geld aufbrechen, ihren berechtigten Platz. „Soziale Erfindungen“ sind
unverzichtbar, doch die Inhalte dürfen dahinter nicht zurückbleiben“ (ebd.)
Viele freier Software Kritiker behaupten, dass die freie Software taugt nicht
als ein Entwicklungsmodell für eine andere Gesellschaft. Ihre Begründung
lautet, dass die Linux-Community ist ein kleiner elitärer Kreis von vorwiegend
weißen Männern aus Europa und den USA. Außerdem, die tatsächlichen
Kämpfe würden sich nicht im virtuellen, sondern in der realen Welt stattfinden,
und deshalb könne Linux einfach nicht als Vorbild emanzipatorischer Kämpfe
agieren.
Verbreitung, Entwicklung, und Zugänglichkeit von technischen
Artefakten oder Medien wie Software, Internet oder Computer können im
Kapitalismus niemals frei sein. Schon der Zugang zum Internet, sei für sehr
viele Menschen auf dieser Welt verschlossen. Software und technische
Vernetzung können unter diesen Bedingungen niemals ein Inbegriff von
Freiheit sein, sondern sind Mittel zur Herrschaft sowie Medium und Resultat
der ökonomischen Globalisierung des Kapitalismus.
Meretz und Co. sprechen von der “freien” Softwareproduktion als Keimform
einer anderen Gesellschaft. Vor allem auch aus dem Grund, da sie in der Art
und Weise, wie hier produziert wird, eine Antizipation zukünftiger
Verhältnisse des Postkapitalismus sehen. Es handle sich um eine globale,
dezentralisierte, vernetzte, kollektive Form der Selbstbestimmung, bei der die
Prosumenten (gleichzeitig Produzenten und Konsumenten) auch noch Spaß an
ihrer Tätigkeit haben. (siehe z. B. Ribolits 1995, Fuchs 2000a, 2000b, 2001;
Parker/Slaughter 1988, Rifkin 1995). Letztendlich ist die Aufhebung der
bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse nur die Basis der Entwicklung
einer “neuen Richtung des technischen Fortschritts … [und] einer neuen
theoretischen und praktischen Idee der Vernunft” (Marcuse 1967, Der
eindimensionale Mensch). Die gesellschaftliche Basis des Postkapitalismus,
die sich aus einem historischen Bifurkationspunkt durch die politische
Selbstorganisation emanzipatorischer Subjekte als realisierte Alternative der
gesellschaftlichen Entwicklung ergibt, ist eben nur Basis und nicht fertige
Form.
Allerdings zeigen die Erhebungen (Gensicke/Picot 2006), dass das bürgerliche
Engagement überwiegend von Bürgern mit höherem Bildungsstand und
gesicherten Einkommen getragen wird. Es offenbart sich der Verdacht, dass die
gesellschaftliche Partizipation nicht allen sozialen Gruppen zugänglich ist. Die
zweite Vermutung wäre dann, dass soziale Beziehungen nicht für alle
Menschen einen tragenden Wert haben.
5.2 Pierre Bourdieus Sozialkapital
48
Pierre Bourdieu (1983) hatte ein kritisches Verständnis vom Sozialkapital, als
den Zugang zu Informationen und Netzwerken. Ihm zufolge, diene das
Sozialkapital vor allem der Selbstreproduktion gesellschaftlicher Milieus bzw.
Gruppen, also der Inklusion oder der Exklusion.
Er stellt Sozialkapital neben ökonomisches Kapital (Geld) und kulturelles
Kapital (Bildung). Bourdieu geht davon aus, dass letztlich alle drei Formen des
Kapitals in eine jeweils andere überführbar sind: wer Geld hat, hat besseren
Zugang zu Bildung und Netzwerken, Sozialkapital verhilft als „Vitamin B“ zu
mehr Geld, Engagement und Netzwerken, gebildete Menschen haben es
einfacher an Geld zu kommen und haben erweiterte Zugänge zu Netzwerken.
Das heißt: Die Verfügbarkeit und die Qualität des sozialen Kapitals ist von
sozialstrukturellen Ungleichheiten abhängig.
Das soziale Kapital steht im Zusammenhang mit derzeitigen und potentiellen
Ressourcen, die auf soziale Beziehungen zurückzuführen sind. Darunter sind
Anerkennung, Wissen und Verbindungen, die man im Rahmen von sozialen
Beziehungen erhalten kann. Das Kapital, über das Eltern verfügen, wird in der
Bildung ihrer Kinder und für den Aufbau von sozialen Beziehungen investiert.
So werden maßgeblich die Chancen erhöht, dass die Kinder ebenfalls einen
hohen sozioökonomischen Status in der Gesellschaft erlangen: „Kein
materielles Erbe, das nicht auch gleichzeitig kulturelles Erbe ist: die Funktion
des Familienbesitzes (…) trägt er praktisch zu deren moralisch-geistiger
Reproduktion bei, d.h. zur Weitergabe von Werten, Tugenden und
Kompetenzen, welche die legitime Zugehörigkeit zu den bürgerlichen
Dynastien begründen“ (Bourdieu 1993: Die feinen Unterschiede, 136, 137).
Anders gesagt: die Kapitalformen und die Klassenzugehörigkeit der Eltern sind
entscheidend für die Habitusentwicklung des Kindes. Durch den Habitus des
Heranwachsenden reproduziert sich die Sozialstruktur.
Die Klassengliederung ist Bourdieu zufolge in kapitalistischen Gesellschaften
auf das Kapitalvolumen und die beiden Kapitalformen – das ökonomische und
das kulturelle Kapital, zurückzuführen. Innerhalb der Klassenstruktur trifft man
auf zwei Fraktionen: auf die herrschenden Herrschenden, die ihre
Klassenpartizipation zumeist primär ökonomisch begründen, und die
beherrschten Herrschenden, deren Klassenpartizipation primär auf kulturellem
Kapital basiert. In der Mittelklasse ist ein ähnlicher Sachverhalt zu finden,
lediglich ist hier die Mobilität zwischen den Klassen höher. Bourdieu
untermauert die Starrheit des Habitus: ist der Klassenhabitus einmal gebildet,
so ist es schwer einen anderen herauszubilden, der anderen Klasse zugehören.
Meistens bleiben Individuen in den sozialen Milieus, in den sie sozialisiert
wurden. So determiniert die Klassenzugehörigkeit den Habitus und die
Reproduktion sozialer Ungleichheit in Gesellschaften.
49
In gegenwärtigen Problematisierungen der Bedeutung von Sozialkapital in
modernen Gesellschaften rückt die Bourdieus Theorietradition inzwischen
häufiger in den Blickpunkt. Denn die zeitdiagnostische Analyse der
Gegenwartsgesellschaft lautet: Spaltung, Ausschluss, Prekarität. Die
Versprechen auf Chancengleichheit, Wohlstand, gesellschaftliche und
politische Teilhabe, die die Nachkriegsgesellschaften prägten, sind längst
verflogen. Es scheint, dass das bürgerliche Engagement eher das Zauberwort
der Politik oder die Angelegenheit derjenigen ist, die ohnehin in kultureller und
ökonomischer Hinsicht privilegiert sind.
Exemplarisch dafür stehen Bourdieus Arbeiten über die Eliten Frankreichs in
den 60er Jahre: fast identische Königswege im Bildungssystem und eine
ähnliche soziale Herkunft, zumeist aus der Bourgeoisie, erhalten die
homogene, sich selbst reproduzierende Elite, die über politische Zugehörigkeit
hinaus hier einen Klassencharakter annehmen. Das soziale Kapital einer
solchen Elite manifestiert sich nicht nur im abgestimmten Ausschluss
Gruppenfremder, es trägt auch dazu bei, Transaktionskosten in Staat und
Wirtschaft zu senken. Zudem beschreibt Bourdieu in seinen Arbeiten den
zynischen Diskurs um die „Volksvertreter“:
„Insofern ist diese Studie auch eine fundamentale Kritik an jenen
gesellschaftlichen Gruppen, auf die sich Bourdieu seit seinen Studien der
sechziger Jahre besonders konzentrierte: die Eliten, die für ihn den eigentlichen
Schauplatz der sozialen und symbolischen Auseinandersetzungen darstellen.
Denn bei der heutigen Verfassung der Gesellschaftsordnungen läge es
prinzipiell in ihren Händen, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit
Verteilungsgerechtigkeit zu verbinden und in eine Kultur innen- und
außenpolitischer Konfliktführung zu integrieren. Stattdessen ginge man aber,
so Bourdieu, sukzessive „von einer staatlichen Politik, die auf eine
Beeinflussung der Verteilungsstrukturen aus ist, zu einer Politik über, die nur
noch eine Korrektur der Auswirkungen der ungleichen Ressourcenverteilung
an ökonomischem und kulturellem Kapital zum Ziel hat, das heißt eine
Staatswohltätigkeit für die würdigen Armen (deserving poors) wie zu den
guten alten Zeiten religiöser Philanthropie“ (vgl. www.bpb.de).
Orientiert man sich an Bourdieus Theorie, dann ist zu fragen, in welchem
Ausmaß die Mobilisierung der Kapitalsorten von der sozialstrukturellen
Position der Akteure abhängig ist. Dabei müssen die sozialräumlichen
Rahmenstrukturen zur Bildung von Kontakten berücksichtigt werden: für
welche Bevölkerungsgruppen ist die Mobilisierung welcher Ressourcen jeweils
einfacher oder schwerer; welche Rolle spielen sie beim Aufbau von
Netzwerken?
In der an Bourdieus Gesellschaftstheorie angelehnten Studie von Michael
Vester (1995) wird eine profunde Diskussion um die Perspektiven des
gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland geführt. Dort lassen sich
zwei Kernpunkte so zusammenfassen:
50
Erstens: Die sozialen Milieus in Deutschland haben sich nicht vollkommen
aufgelöst, im Gegenteil: ihre Anpassungsfähigkeit im Rahmen des sozialen
Wandels erwies sich als äußerst stabil, was die Klassenkultur weiterhin
aufrechterhält. Auffällig ist vor allem der Zusammenhang zwischen dem
gesellschaftlichen Verhalten der verschiedenen Milieus in ihrem
lebensweltlichen
Umfeld
und
ihren
gesellschaftspolitischen
Grundeinstellungen.
Zweitens: die Ergebnisse seiner Studie zeigen, dass sich die Herrschaft der
Parteien in ihren klassischen gesellschaftspolitischen Lagern zunehmend
verringert. So gesehen gibt es keine Veränderungen in den Milieus, sondern
Krisen der politischen Repräsentation, als Folge der wachsenden Distanz
zwischen Milieus und Eliten. Die politische Elite findet keinen Anschluss an
die Bevölkerung, sie bietet keine Lösung für soziale Desintegration, sondern
lediglich Sparkonzepte, die die sozial Benachteiligten nicht ausreichend
schützen und reintegrieren können. Das bedeutet: die Eliten sind nicht
imstande effektive Methoden für die Herstellung sozialer Gerechtigkeit zu
schaffen.
Die Ergebnisse dieser Studie zeigen ein ganz widersprüchliches Bild vom
sozialen Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft:
Neben
der
gängigen
Annahme,
dass
„in
der
Hitze
von
Individualisierungsprozessen das Soziale, der Konsens verdampft, avancieren
offensichtlich die wachsenden sozialen Ungleichheiten abermals zu einem
fundamentalen Problem der gesellschaftlichen Integration: von der
strukturellen Massenarbeitslosigkeit über die wachsende Gefährdung des
Lebensstandards der „Mittelschichten“ bis hin zur Konfliktverschärfung
zwischen „Einheimischen“ und „Zugewanderten“ oder verschiedenen
Klientelen des Wohlfahrtsstaates. Eine Vielzahl anderer, teilweise längst als
überwunden geglaubter Ungleichheiten ließen sich hinzufügen“ (Dahrendorf
1992:62). Die Auswirkungen dieses „modernen sozialen Konflikts“, der von
Dahrendorf beschrieben wurde, haften auf soziale, wirtschaftliche und
politische Beschränkungen bürgerlicher Teilnahme von Menschen an
gesellschaftlichem Leben.
Aus Bourdieus Sicht ist der Rückzug des Staates in der Zeit der Umverteilung
von vorhandenen Ressourcen eine fundamentale Bedrohung für den
gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es bleibt nur zu hoffen, dass der
wachsenden Ungleichheit im Bereich des Sozialkapitals mehr Aufmerksamkeit
in den Forschungen der sozialen Ungleichheit geschenkt wird.
6. Schlussfolgerung
51
Unsere Warengesellschaft tendiert totalitär zu werden: alles ist unter dem
Kapital subsumierbar. In der Zeit der ökonomischen Dauerkrise schreitet die
Durchkapitalisierung der Gesellschaft unaufhörlich voran. Das unersättliche
Kapital sucht nach weiteren Verwertungssphären. Als technische Daseinsform
innerhalb des Kapitalismus reproduzieren sich gesellschaftliche Dichotomien
und Herrschaftsverhältnisse in den technischen Artefakten. Im Netz spiegeln
sie sich in den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien wieder.
Der Zugang zu diesen Technologien steht im Zeitalter der globalen
Massenarmut und der globalen Massenarbeitslosigkeit nur in geringem
Ausmaß zur Verfügung. Das bedeutet, das Wissen, das sich in den Händen der
privilegierten Klassen befindet, wird nur zu einem hohen Preis zur Verfügung
gestellt.
Die in der Arbeit dargestellte freie Softwareproduktion und die beschriebenen
Selbstorganisationen und emanzipatorische Bewegungen stellen keine fertige
Form der gesellschaftlichen Alternative dar sondern nur die Basis theoretischer
Überlegungen zur postkapitalistischen Gesellschaft. Schon aus dem Grunde,
dass Technik und Wissenschaft nicht einfach in ihrer bestehenden Formen
übernommen werden können, sie bedürfen nämlich einer qualitativen
Veränderung. Was heute möglich ist, ist das Nachdenken und der Diskurs über
Alternativen und Formen einer anderen Gesellschaft auf Basis der Kritik des
Bestehenden.
„Ein alternativer Gesellschaftsentwurf ist dann wahr, wenn er mit den realen
Möglichkeiten übereinstimmt, die die bestehende Gesellschaft als Basis bietet
und wenn er die bestehende Totalität als falsch erweisen kann, indem er die
Aussicht bietet, die Errungenschaften der Zivilisation zu erhalten und zu
verbessern, das Wesen der bestehenden Gesellschaft erfasst und der
Verwirklichung einer Befriedung des Daseins größere Chance bietet. (…) Der
Kapitalismus ist als Ganzes falsch, da er nicht allen Menschen ein glückliches,
befriedetes Dasein auf der Basis einer Aufhebung der Entfremdung bietet,
sondern auf dichotomisierenden Klassenverhältnissen basiert und sich durch
die Existenz dieser reproduziert. (…) Wir können und sollen eine andere
Gesellschaft heute gar nicht planen, da es gilt, eine neue Elitenbildung im
Emanzipationsprozess zu verhindern. Eine andere Gesellschaft kann nur eine
sein, die durch emanzipatorische, soziale Selbstorganisation auf Basis eines
kritischen Bewusstseins entsteht, sonst wird sie nicht anders sein, sondern nur
eine neue Form des Alten. Der Diskurs über Alternativen macht heute
nichtsdestotrotz Sinn, um zu zeigen, dass der Kapitalismus nicht die einzige
historische Alternative darstellt“ (in „Streifzüge 1/2001: „Freie“
Softwareproduktion – Antizipation des Postkapitalismus“ von Christian
Fuchs“).
Ein funktionell grundierter Klassenbegriff stellt heute nach wie vor eine
analytische Schlüsselkategorie dar: die Soziologie soll soziale Differenzen und
Konflikte nicht nur beschreiben oder beklagen, sondern auch die
Möglichkeiten ihrer Veränderung zu erklären beanspruchen. Der
Klassenbegriff ermöglicht es, soziale Ungleichheitsverhältnisse mit den
gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen im weitesten Sinne, also unter der
52
Berücksichtigung der Verhältnisse der „Produktion der Produzenten“ oder der
verschiedener Modi kultureller und politischer Produktion, sie in einen
wechselseitigen Erklärungszusammenhang zu bringen.
Ungeachtet des in der jüngeren Soziologie aufgebauten Widerspruchs zwischen
Theorien funktionaler Differenzierung und Theorien sozialer Differenzierung
steht es fest, dass eben deshalb, weil die Klassentheorien von Marx und
Bourdieu gerade durch eine Verschränkung der Theorien funktionaler und
sozialer
Differenzierung
gekennzeichnet
sind,
die
Reproduktion
sozialstruktureller Ungleichheits- und Ausbeutungsbeziehungen über sachlichfunktionale Mechanismen vermittelt wird. Über die
ökonomischen
Zusammenhänge der dynamischen Reproduktion der Klassenstrukturen hinaus
konnten mit Bourdieus Beiträgen zu anderen kulturellen, sozialen und
politischen Feldern das Spektrum der Ungleichheitsrahmen ausgeweitert
werden. Schließlich hat Bourdieus Analyse der funktionalen Interdependenzen
zwischen Ökonomie und Bildungssystem einer utopischen Überwindung der
traditionellen Ungleichheitsbeziehungen in der „Wissensgesellschaft“ einen
Schlussstrich gezogen und gezeigt, dass die Bildungsexpansion unter
kapitalistischen Bedingungen nicht anders als eine Anpassung der
Klassenstruktur an veränderte Produktionserfordernisse ist. Die Steigerung und
Erweiterung der Bildung in allen gesellschaftlichen Schichten führt nicht
automatisch zur Veränderung der soziökonomischen Klassenverhältnisse.
Allerdings steigen mit dem Bildungsgrad die emanzipatorischen Möglichkeiten
und Entwicklungstendenzen, die Formierung sozialer Kräfte und soziale
Bewegungen implizieren, und sich gegen die Reproduktionstendenzen richten.
„Auch wenn bei all dem die mit Marx und Bourdieu herausgearbeiteten
grundlegenden Logiken dazu führen, dass kapitalistische Gesellschaften immer
wieder mit denselben Strukturparadoxien konfrontiert sind, ergeben sich in der
Frage, wie die entsprechenden Basisantagonismen und Paradoxien politisch
und sozial jeweils ausagiert werden, zahllose Varianzen und
Freiheitsspielräume
und
das
heißt
immer
auch:
politische
Gestaltungsmöglichkeiten. So erfüllt der von Marx analysierte
Staatsschuldmechanismus in jüngerer Zeit sehr zuverlässig seine auch von
Bourdieu verzeichneten Grundfunktionen zur Regulation sozialer und
politischer
Prozessdynamiken
und
zur
Begrenzung
politischer
Gestaltungsspielräume und die darauf beruhenden Prozessverläufe des
periodischen Aus- und Rückbaus der sozialen Teilhaberechte und der
politischen
Partizipationsmöglichkeiten
sowie
die
periodischen
Verschiebungen der Kräfteverhältnisse zwischen Ökonomie und Politik. (…)
In Differenz zur jüngeren politischen und soziologischen Sachzwangrhetorik,
in der eine konkrete Politik als vermeintlich alternativlose Reaktion auf
vermeintlich invariante und dem politischen Handeln entzogene Marktzwänge
präsentiert wird, entscheidet sich in dieser Perspektive immer erst in den
politischen, ökonomischen und sozialen Beziehungen und Kämpfen, wie das
politische, ökonomische und soziale Leben innerhalb des durch die
Gesellschaftsformation bestimmten Möglichkeitsraums ausgeformt wird
(…)oder ob neue Möglichkeitsräume jenseits der bestehenden
53
Produktionsverhältnisse eröffnet (…) werden“ (Heim 2013:612); (vgl. Kapitel:
Heim 2013, 587 – 613).
Nun muss noch die eingangs gestellte Frage beantwortet werden, ob
Deutschland eine Klassengesellschaft ist.
Noch bevor Bourdieus „feinen Unterschiede“ in der Fassung des
Klassenbegriffs berücksichtigt werden, kann nach den Materialien, die viele
Analytiker der Sozialstruktur (Hradil 1987, Erikson und Goldthorpe 1992, Noll
1993,) gesammelt und ausgewertet haben, der Schluss gezogen werden, dass
nach wie vor zwischen der Klassenlage der Einzelnen und ihren sozialen
Chancen ein zwingender Zusammenhang besteht. Die Korrelationen zwischen
der Position in der Klassenstruktur, der Einkommenshöhe, dem Bildungsgrad,
den Arbeitsbedingungen und den Wohn- und Lebensbedingungen, weisen
deutlich darauf. Die Autoren kommen zum Ergebnis, dass
„soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik nach wie vor vertikal strukturiert
ist. Wie die zwischen den hier unterschiedenen Klassenlagen zu beobachtenden
Wohlfahrtsdifferenzen dokumentieren, werden die Lebensbedingungen und die
Lebensqualität der Bundesbürger auch weiterhin im beachtlichen Maße von
ihrer eigenen oder der Stellung des Haushaltsvorstandes im Produktionsprozess
und damit verbundenen Belohnungen, Chancen, Risiken und Belastungen
bestimmt“ (Noll und Habich 1990:184 f.).
Gleichzeitig unterstreichen sie, dass die soziale Ungleichheit nicht nur durch
unterschiedliche Klassenlagen generiert ist, sondern es kommen andere,
horizontale Faktoren hinzu. Ihnen zufolge geht es weniger darum „ein altes
Konzept sozialer Ungleichheit durch ein neues zu ersetzen, sondern dass es
kommt darauf an, die Konzepte nicht nur weiterzuentwickeln, sondern vor
allem stärker zu integrieren und die Faktoren der vertikalen und der
horizontalen Ungleichheit detaillierter als bisher in ihrem Zusammenwirken zu
analysieren“ (ebd. 186 f.).
Das heißt: das Zufügen von „neuen sozialen Ungleichheiten“ bedeutet nicht
die „Entstrukturierung“ der Klassengesellschaft, sondern das Erkennen des
dynamischen Charakters der modernen Gesellschaft.
Marx und Bourdieus Klassentheorien, miteinander ergänzend verbunden,
stellen die theoretische Konzeption der modernen Gesellschaft als
Klassengesellschaft: das Festhalten am Klassengegensatz der kapitalistischen
Produktionsweise als strukturierendem gesellschaftlichen Verhältnis einerseits,
anderseits die Differenzierung homogene Klassenlagen nach der Stellung im
Arbeitsprozess und nach der Bildungsausstattung („kulturelles Kapital“), führt
zu einem gegliederten Modell, demzufolge die zwei entgegengesetzten,
ökonomisch bestimmten Klassen von Kapital und Arbeit auf der
„konjunkturellen“ Ebene der realen Kräfte- und Lebensverhältnisse
auszudifferenzieren sind in mehreren sozialen Klassen. Sie bilden die Ebene
der Gesellschaftsformation ab und können weiter differenziert werden nach
den nachgeordneten oder sekundären Faktoren (Bourdieu) wie Region,
Geschlecht und Ethnie. Ausgerüstet mit diesem relativ konkreten Modell, das
54
im Wesentlichen ein Model von Klassenlagen ist, können wir die
Schlussfolgerung ziehen, dass die Bundesrepublik nach wie vor eine
Klassengesellschaft ist.
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