Ernst - Elmar Bergmann, Richter am Amtsgericht / PD Dr.Günter Rexilius, Dipl.Psych. Das Rheydter Modell - ein aktueller Ansatz in der familienrechtlichen Zusammenarbeit zwischen Richter und psychologischem Sachverständigen Wenn wir von Rheydter Modell sprechen, sind wir eine Erklärung schuldig. Die inzwischen größere Zahl von Modellen gerade in der richterlichen oder sachverständigen Arbeit im Familienrechtsverfahren hat uns bewogen, dieses Etikett aufzugreifen, in der Gewißheit, daß unsere Arbeit nicht exklusiv ist, sondern daß es inzwischen eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen gibt, die ähnlich arbeiten und auch eine ähnliche Zusammenarbeit zwischen rechtlicher und psychologischer Ebene pflegen. Wir können und wollen auf dieses Konzept der familienrechtlichen Kooperation keinen Urheberschutz anmelden, sondern darstellen, in welcher Weise wir uns seit vielen Jahren auf den Weg einer Veränderung unserer Verstehens- und Handlungsmuster begeben haben. Das Etikett “Modell” läßt sich dennoch rechtfertigen: Wir versuchen, die bisherigen Erfahrungen und Erkenntnisse über die familienrechtliche Kooperation diametral entgegengesetzt der “(un)heiligen Allianz zwischen Richter und Sachverständigem”1 zu einer Form zu verdichten, die wir nicht unbedingt als exemplarisch für andere KollegInnen betrachten, aber doch als Anregung für Diskussion und Weiterarbeit. Wir werden zunächst die theoretischen und methodischen Grundlagen unserer Modellskizze und dann diese selbst darstellen. I. Erwartungen des Richters an die Zusammenarbeit mit dem psychologischen Sachverständigen in familiengerichtlichen Verfahren In Sorgerechts- und Umgangsregelungssachen geht es nicht um Tatsachen, über die normalerweise bei Gericht durch Sachverständigengutachten Beweis erhoben wird, also z. B. ob ein PKW mangelhaft repariert wurde, ob ein Bauwerk fehlerhaft gebaut ist oder nicht. In den familiengerichtlichen Verfahren geht es um die Ausfüllung eines zentralen und auch eines abstrakten Begriffes, nämlich den des Kindeswohls. Die Tätigkeit des Familienrichters ist dem Kindeswohl in überwiegendem Maße verpflichtet und ist herzuleiten aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, nämlich dem Wächteramt des Staates über das Grundrecht und die Pflicht der Eltern zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Daß in den familienrechtlichen Verfahren häufiger der psychologische Sachverständige auftaucht, ist eigentlich zur begrüßen. Die Frage des Kindeswohls ist nämlich nicht grundsätzlich zunächst 1 Jopt 1988 2 eine Frage der Juristen, sondern eine Frage der familiären Beziehungen. Welches ist für dieses spezielle Kind in diesem speziellen Fall mit diesen speziellen Eltern die Lösungsmöglichkeit , die dem Interesse und dem Wohl dieses Kindes am ehesten gerecht wird, diese Frage steht zur Diskussion. In sehr vielen Fällen wird zur Beantwortung dieser Frage das Jugendamt eine Schlüsselrolle einnehmen, es ist vom Gesetzgeber auch als Schlüsselbehörde angesehen worden. Das ergibt sich insbesondere aus den §§ 17, 18 SGB VIII. Das Gericht hat in jedem streitigen Fall eine Stellungnahme des Jugendamt einzuholen( §§ 49, 50 FGG ), welches seinerseits die Eltern zu beraten und zwischen ihnen zu vermitteln hat. In vielen Fällen sind die Fronten jedoch so verhärtet, daß ein Sozialarbeiter dieses nicht zu leisten vermag. Er ist überfordert, auch angesichts der bekannten schweren Arbeitsbelastung der Jugendamtsmitarbeiter, eine entsprechende einvernehmliche Lösung mit den Eltern zu erarbeiten. In dem Wissen, daß eine fremdbestimmte Regelung von Menschen nicht besonders gut angenommen wird, sondern daß es wichtig ist, eine eigenverantwortliche Regelung zu erarbeiten, ist der Richter gehalten, auf eine gütliche Regelung hinzuzuarbeiten. Dies ergibt sich schon aus § 279 ZPO. Häufig ist auch der Richter mit einer solchen Vermittlungsarbeit überfordert, insbesondere, da er keine systematische Ausbildung für diese Tätigkeit hat.Dafür wird die Mithilfe des psychologischen Sachverständigen benötigt. Der psychologische Sachverständige wird allerdings nicht dafür gebraucht, um dem Richter die Entscheidung leichter zu machen. Die Entscheidung soll für den Richter durchaus schwer sein, er soll sie sich auch schwer machen. Der Gesichtspunkt der Beschwerdesicherheit einer Entscheidung darf für den Richter keine wesentliche Rolle spielen, obwohl zuzugeben ist, daß auch dieses u. U. ein Kriterium ist, welches zur Befriedung der Eltern beitragen kann. Der psychologische Sachverständige soll vielmehr dazu beitragen, und das sind die Erwartungen, die an den Psychologen zu stellen sind, zunächst mit den Parteien zu versuchen, unter Einsatz seines Sachverstandes eine Regelung zu finden, in Anwendung des § 279 ZPO. Dieses kann allerdings nicht gesehen werden unter dem Gesichtspunkt einer Therapie. Menschen zu therapieren kann und darf nicht Aufgabe eines gerichtlich bestellten Sachverständigen sein Zu berücksichtigen ist, daß der psychologische Sachverständige zweierlei haben muß, er muß zum einen eine integrative Fähigkeit haben und zum anderen muß er, falls eine einvernehmliche Lösung nicht vorliegt, so vorgehen, daß das Gericht seine Entscheidung auf seiner Tätigkeit aufbauen kann. Das muß den Parteien auch stets genau vermittelt werden, es handelt sich also nicht um unverbindliche Plaudereien mit dem Sachverständigen, sondern die Tätigkeit des Sachverständigen muß zielorientiert sein. II. Die Tätigkeit des Sachverständigen In der familienrechtlichen Begutachtung hat sich in den letzten zwanzig Jahren allmählich und vorsichtig, aber kontinuierlich und praktisch wirksam, ein Paradigmenwechsel vollzogen. Obwohl 3 dieser Begriff inzwischen inflationär verwendet wird, läßt er sich in Bezug auf forensische psychologische Tätigkeit zu Recht verwenden, weil die paradigmatischen Veränderungen sich aus der inhaltlichen und methodischen Orientierung an einem idiografischen Wissenschaftsmodell ergeben und - die der Wissenschaftssystematik entsprechende andere Seite “der Medaille” - eine Verabschiedung von der Anbindung an ein nomothetisches Wissenschaftsverständnis bedeuten. Dieser Griff zum Paradigma einer historisch, subjektiv und hermeneutisch begründeten Wissenschaft - im Gegensatz zu einem dem Status quo verpflichteten, objektiv und experimentell fundierten - führt zu einem grundlegend veränderten Verständnis der gutachterlichen Aufgaben, der Tätigkeit eines psychologischen Sachverständigen und der Ziele, die er erreichen will und kann. Die theoretischen und methodischen Grundlagen der sachverständigen Arbeit, wie ich sie darstellen und erläutern werde, stützen sich auf neuere theoretische und methodische, aber auch rechtliche und rechtspolitische Erkenntnisse und empirische Ergebnisse.2 Wer als Psychologe3 heute zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt wird, könnte und dürfte, befände er sich auf der Höhe der Zeit seiner eigenen Wissenschaft und der juristischen Forschung und Praxis, nicht anders als zeitgemäß im Sinne des neuen Paradigmas arbeiten. Im Konjunktiv liegt die Wahrheit: Überwiegend wird auch heute psychologische Arbeit im Familienrecht - wie in Vormundschaftsund Pflegesachen - konservativ betrieben, als wäre die Zeit vor dreißig Jahren für viele psychologische Gutachter stehengeblieben. Die Tatsachen, daß ihre Hochschulausbildung ihnen kein anderes Wissen vermittelt und daß die meisten Familien- und Vormundschaftsrichter ausschließlich an dieser wissenschaftlich überholten, aber ihnen geläufigen sachverständigen Zuarbeit interessiert sind, erklärt diesen Anachronismus nur unzulänglich, weil die wissenschaftliche Literatur wie die Diskussionen auf Kongressen und Tagungen in den letzten Jahren hinreichend Möglichkeit geboten haben, auf- und nachzuholen. Weil die konservative gutachterliche Tätigkeit nach wie vor den familien- und vormundschaftsrechtlichen Alltag beherrscht, soll versucht werden, den ausweisbaren Kontrast zwischen beiden zur vergleichenden Veranschaulichung einer zeitgemäßen sachverständigen Tätigkeit zu nutzen. Es wird deshalb zunächst anhand von sieben Kriterien das alte, anschließend anhand derselben Kriterien das neue Paradigma dargestellt und bewertet.4 2 Dieser Hinweis ist verweist darauf, daß nicht nur die Juristen von den Psychologen, sondern auch umgekehrt diese von juristischen Fortschritten gelernt haben: Das BVG-Urteil von 1982 zum Sorgerecht, die UNO-Kinderrechtskonvention von 1986, das KJHG von 1996 und die Debatten um das neue Kindschaftsrecht haben das psychologische Denken und Handeln im forensischen Umfeld befruchtet und beflügelt. 3 Im Singular werde ich, um der Leserlichkeit willen, die männliche Form verwenden, meine aber selbstverständlich die Kolleginnen und weiblichen Fachleute immer mit. Im Plural werde ich das große “I” als Lösung für die Geschlechterfrage in der Formulierung verwenden. 4 Der Unterschied zwischen gutachterlicher und sachverständiger Tätigkeit ist der zwischen den beiden Modellen. Die klassische Begutachtung, wie sie der klassische Gutachter vornimmt, heißt so, weil hier ein menschlicher Gegenstand nicht anders als ein materieller begutachtet wird. Die methodenzentrierte Vorgehensweise verlangt eine Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Gutachter und Klient: Subjekt, also handelnder, selbstbewußter, aktiver Mensch, ist der Gutachter, der Klient bleibt für ihn ein Gegenstand, an den er seine diagnostischen Instrumente, die eine “objektive” Distanz - der alles Menschliche fremd ist - zwischen ihm und den Untersuchten herstellen, legt, ähnlich wie der Zahnarzt seine Zange und der Maurer seine Kelle als Instrumente verwenden. Sachverständige Tätigkeit verliert diesen instrumentellen Charakter, ihre Methodik verlangt die Annäherung an die Klienten, die nicht mehr Objekte, sondern gleichberechtigte Subjekte sind. Der Sachverstand des zeitgemäß arbeitenden Psychologen verbietet eine Begutachtung von Menschen. Die weiteren Ausführungen werden die Unterschiede im einzelnen erläutern. 4 1. Gutachterliche Tätigkeit: klassisches, methodenzentriertes, nomothetisches Modell 5 Klassisch wird die gutachterliche Tätigkeit genannt, die sich an einem nomothetischen Wissenschaftsverständnis orientiert und eine Begutachtung von Menschen zur Folge hat. Sie orientiert sich im Prinzip an den Regeln objektiver wissenschaftlicher Arbeit, von denen eine besondere Bedeutung die methodischen Grundlagen - zumeist in Gestalt psychodiagnostischer Verfahren - und die Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Untersucher und Untersuchten - klare Definition der Rolle des Untersuchers als neutral, objektiv und die Verfahrensregeln bestimmend haben. 1.1 Theoretische Basis Theoretisch stützt sich die klassische Gutachtertätigkeit auf psychologische Ansätze, die ein reifes Alter erreicht haben - was grundsätzlich nicht gegen sie spricht - und in die keine neuen Ideen und Ansätze integriert worden sind. Bezüglich der Trennungs- und Scheidungsfolgen für Kinder beziehen sich viele psychologische GutachterInnen nach wie vor auf den Klassiker der einschlägigen Literatur von Goldstein, Freud & Solnit (1974), für die - zugespitzt auf ein besonders praxiswirksames Argument der Autoren - nach der Trennung eines Paares die Kinder bei einem Elternteil leben und bis in ihr Erwachsenenalter hinein zu dem anderen den Kontakt möglichst abbrechen sollen. Diese Position, so virulent sie noch ist, hat ihre Berechtigung, von Einzelfällen abgesehen, längst verloren, weil das psychologische Wissen sie überholt hat. Andere Standardwerke der Gutachtertätigkeit - vor allem der familienrechtlichen - wurden vor Jahrzehnten etwa von Lempp (1974, 1984) verfaßt oder von Arntzen (1980, 1988) u.a.. Neuere Arbeiten wie etwa die von Westhoff & Kluck (1994), die den Anspruch erheben, der Gutachtertätigkeit eine solide wissenschaftliche Basis zu geben, entbehren jeder theoretischen Substanz und machen aus der Arbeit der psychologischen GutachterInnen ein formalisiertes Abschreiten vorgegebener methodischer Schritte ohne gegenstandsangemessenen inhaltlichen Anker. In Bezug auf allgemeinere persönlichkeitspsychologisches theoretische Grundlagen Standardwissen über dominiert ein entwicklungs- Persönlichkeitsstruktur u. und Entwicklungsquotient, über Intelligenzquotient und Einstellungsmuster, dem eine inhaltliche Nähe zu den Fragestellungen einer familienrechtlichen Begutachtung weitgehend fehlt. Ein für das Verständnis von Trennungsprozessen zentrales familienpsychologisches Verständnis ist nicht erkennbar, getragen werden die Gutachten von einem so klassischen wie antiquierten Rollenteilungsmodell, in dem der Vater arbeitet und das Geld verdient und die Mutter auch noch Hausfrau und gute Ehefrau sein soll, aber sonst keine Ansprüche haben darf. An die Stelle von ausgereifter und gegenstandsbezogener Theorie tritt sehr häufig eine implizite, oft genug aber 5 Die folgenden Ausführungen zum konservativ-klassischen Modell gutachterlicher Tätigkeit stützen sich, neben der Kenntnis der GutachterInnenausbildung während des Studiums und den Erfahrungen aus vielen Diskussionen, auf etwa einhundert Gutachten, die der Verfasser in den letzten Jahren gelesen und zu denen er teilweise Expertisen angefertigt hat. 5 auch nicht mehr verklausulierte konservative Familienideologie, deren Konsequenz die gutachterliche Abstrafung von Müttern ist, wenn sie eigene Ansprüche an Leben und Karriere haben. Wo psychoanalytische Wissenselemente zu finden sind, beschränken sie sich auf isolierte Teile der Freudschen Struktur- oder Neurosentheorie, angereichert gelegentlich durch das entwicklungspsychologische Phasenmodell und den “Ödipuskomplex”, ohne eine auch nur grob detailgenaue Vorstellung von der ödipalen Dynamik und ihren Folgen für Persönlichkeit und Lebensgeschichte. Von Paardynamik und -entwicklung, dem wichtigsten Wissen, über das GutachterInnen verfügen müßten, wenn sie sich mit getrennten Familien befassen, finden sich mit ganz wenigen Ausnahmen - keine Kenntnisse. In Bezug auf die theoretischen Grundlagen klassischer Gutachtertätigkeit im familien- und vormundschaftsrechtlichen Bereich fällt das Fazit bedenklich aus: Es gibt kein - dem psychologischen Wissensstand angemessenes - spezifisches theoretisches Konzept, das gutachterlicher Tätigkeit eine notwendige wissenschaftliche Basis geben könnte. Theoretische Bezüge in psychologischen Gutachten bleiben beliebig, folgen subjektiven Vorlieben oder Interessen der Gutachter oder fehlen völlig; ihre inhaltliche Angemessenheit für die spezifischen Fragestellungen im familien- und vormundschaftsrechtlichen Verfahren bleiben unausgewiesen, eine wissenschaftliche Vergleichbarkeit psychologischer Gutachten wird damit unmöglich.6 1.2 Bedeutung des Kindeswohls Das Kindeswohl, das nicht nur für die JuristInnen, sondern auch und vor allem für im Familienrechtsverfahren tätige PsychologInnen, laut Gesetz ihre Arbeit wie ein roter Faden durchziehen soll, in dessen Dienst sie sich stellen müßten, bleibt in der klassischen Gutachtenerstellung eine unbestimmte, fiktive Größe. Kindeswohl läßt sich aus einem konservativen Gutachten mit Mühe extrapolieren, aus Fragestellung und Empfehlungen deduzieren, aber es ist kein eigener Untersuchungsgegenstand, für es findet sich keine klare psychologische Definition. Diese Lücke ist um so verwunderlicher, als das Kindeswohl in der gutachterlichen wie in der juristischen Literatur, aber auch in der Praxis der Begutachtung und der Rechtsprechung, das am häufigsten gebrauchte Wort ist. Die Feststellung von Coester aus dem Jahre 1983, daß über das, was Kindeswohl ist, vor allem Unklarheit herrscht, kann heute ohne Einschränkung wiederholt werden. Versuche wie die von Jopt (1992), auf diese Absurdität, daß der zentrale Begriff fachlichen Handelns im familien- und 6 So pauschal sie klingt, so zutreffend ist diese Bewertung der theoretischen Grundlagen klassischer Gutachtenerstellung. Nicht nur die dem Verfasser vorliegenden Gutachten, sondern auch viele andere, die von KollegInnen gelesen worden sind, oft mit der Bitte verzweifelter Eltern, sie auf ihre wissenschaftlichen Grundlagen hin zu überprüfen, bestätigen die Einschätzung. Sicher finden sich wohltuende Ausnahmen; aber vor allem Familien- und Vormundschaftsrichter sollten sich klarmachen, daß sie in aller Regel mit einem Gutachten ein wissenschaftlich nicht fundiertes, nicht ausgewiesenes und deshalb genau genommen für eine gerichtliche Entscheidung unbrauchbares Produkt in Händen halten. 6 vormundschaftsrechtlichen Raum diffus und schillernd geblieben ist, nicht nur hinzuweisen, sondern Vorschläge zu Diskussion und Begriffsklärung zu machen, sind ohne hörbare Resonanz geblieben. Klassische Begutachtung, also der Regelfall vor deutschen Familiengerichten, weiß nach wie vor nicht, was sie genau tut, weil sie nicht weiß, was denn eigentlich ihr Gegenstand ist. So scheint es nicht übertrieben zu resümieren, daß so viele Vorstellungen von Kindeswohl sich in der Begutachtungsszenerie tummeln, wie es GutachterInnen gibt. 1.3 Aufgabenstellung für den Gutachter Für eine konservative Auffassung von gutachterlicher Arbeit wird die Aufgabenstellung, die der Gutachter übernimmt, von der gerichtlichen Fragestellung vorgegeben. Familienrechtliche GutachterInnen sehen ihre Aufgaben denn auch darin, sich mit der Sorgerechtsaufteilung zwischen den getrennten Eltern zu befassen, sich Gedanken zu machen und dem Gericht Empfehlungen zu geben über das Umgangsrecht für den Elternteil, bei dem die Kinder nicht leben, die Erziehungsfähigkeit der Eltern zu untersuchen und - wenn der Gutachter tatsächlich einmal in psychologische Überlegungen eintaucht - den Einfluß der Eltern auf die Entwicklung ihrer Kinder zu hinterfragen. Die Aufgabe, die der Gutachter zu lösen hat, orientiert sich rhetorisch oder förmlich am Kindeswohl, er befaßt sich allenfalls am Rande und ohne substantiellen Bezug zur Fragestellung, die er zu beantworten hat, mit Neben- und Einzelfragen der Trennungs- und Scheidungsdynamik. Die wesentlichen Themen eines Trennungsprozesses finden nur in seltenen Fällen Eingang in ein klassisches Gutachten. 1.4 Definition der Gutachter-Rolle Der klassische Gutachter ist Gehilfe für den Richter. Die rechtlichen Voraussetzungen, die seine Funktion aus juristischer Sicht eindeutig definieren, bestimmen sein Selbstverständnis. Die Aufgabe psychologischer GutachterInnen erschöpft sich darin, ErfüllungsgehilfInnen für den beauftragenden Richter zu sein, den Status juristischer Hilfskräfte zu bekleiden. Ihre gutachterliche Arbeit bleibt fixiert auf rechtliche Fragestellungen. Zwar wird in der einschlägigen psychologischen Literatur hervorgehoben, daß PsychologInnen ihr Fachwissen einbringen und sich an ethischen Richtlinien orientieren, die vom psychologischen Berufsverband formuliert worden sind; allein die Tatsache, daß in den meisten Gutachten die entscheidenden Äußerungen und Empfehlungen sich mit dem Sorgerecht und dem Umgangsrecht befassen, demonstriert, daß die Definition der Gutachterrolle den rechtlichen Rahmen nicht verläßt.7 7 Diese Definitionsfrage ist keineswegs trivial. Im strafrechtlichen Bereich - Glaubwürdigkeit, Schuldfähigkeit - stehen den juristischen immer auch psychologische Begriffe gegenüber, denen eigenständige psychologische Definitionen und theoretische Begründungen zugrunde liegen, unabhängig davon, wie überzeugend oder verbindlich oder wissenschaftlich aktuell sie immer sein mögen. Im familien- und vormundschaftsrechtlichen Umfeld hingegen machen klassische GutachterInnen sich eine fachfremde Begrifflichkeit zu eigen, sie argumentieren und begründen in rechtlichen Kategorien, reduzieren sich selbst also auf Hilfsrichter. In welchem Ausmaß PsychologInnen diese Hilfsrichterrolle übernehmen und in ihren 7 1.5 Methodik Konservative gutachterliche Methodik fußt auf dem klassischen Methodenkanon der Persönlichkeits-, Intelligenz- und Entwicklungsdiagnostik. Es handelt sich - viel mehr gibt das klassische Methodeninventar nicht her - häufig um Tests, ja ganze Testbatterien, mit deren Hilfe ein Ist-Zustand der Personen und ihres Verhaltens, ihrer Persönlichkeit, ihres Entwicklungsstandes festgestellt wird. Mithilfe dieser diagnostischen Verfahren sollen Personen beschrieben, klassifiziert, ihr Verhalten und ihre Fähigkeiten sollen erklärt werden. Diese Statusdiagnostik mißt intra- und interindividuelle Unterschiede, sie erfaßt Eigenschaften oder traits oder Einstellungen der Personen - Eltern, Kinder oder andere -. Sie stellt eine instrumentelle Beschränkung auf umfangreiche objektive Diagnostik und damit eine methodische Reduktion dar, die vor allem dann deutlich wird, wenn, vom festgestellten Status quo ausgehend, eine Prognose über zukünftiges Verhalten, zukünftige Einstellungen usw. abgegeben werden. Dieser Prognosebegriff ist in fataler Weise reduktionistisch, weil er Entwicklungsmöglichkeiten, -potentiale und -chancen ausklammert. (S. zur Kritik der Psychodiagnostik Grubitzsch/Rexilius, 1978) Ein Ist-Zustand wird festgestellt, zementiert und in die Zukunft verlängert. Das wichtigste Kriterium für die Qualität psychologischer Diagnostik ist nach wie vor ihre Objektivität, der gemäß UntersucherInnen - PsychologInnen also, die als GutachterInnen tätig sind - auf die Rolle von BeobachterInnen, von RegistratorInnen beschränkt bleiben müssen, Distanz zu den Untersuchten ist ihr Credo. Sie haben sich jeder Intervention, jeder nicht methodisch eindeutig definierten Annäherung zu enthalten. Klassische Methodik oder Psychodiagnostik orientiert sich an vorgegebenen Normen in doppelter Weise: An gesellschaftlichen Normen, um inhaltlich repräsentativ und statistisch im Rahmen normalverteilter Ergebnisse zu bleiben; und an statistischen Normen, die kaum noch einen inhaltlichen oder gegenständlichen, also wirklichkeitsnahen Bezug haben. Wo sie doch theoretisch wird, stützt sie sich auf Begriffe, deren Definition vage ist, wie etwa Erziehungsfähigkeit, die aber eine Klassifizierung oder Bewertung von menschlichem Verhalten zu ermöglichen scheinen. Dieses methodische Konzept verfehlt das den GutachterInnen vorgegebene Thema: Trennungsund Scheidungsprozesse sind nicht normierbar, für ihr Verständnis und ihre fachliche Untersuchung und Beurteilung genügt kein vorformulierter methodischer Rahmen, sie entziehen sich jedem normalverteilten statistischen Parameter und jedem Versuch, sie zu standardisieren. 1.6 Die Beziehung zu den Klienten Untersuchungen, Schlußfolgerungen und Empfehlungen verurteilen, aburteilen, über Lebensschicksale entscheiden, ist in der gutachtenkritischen Literatur hinreichend beschrieben. Polemisch gewendet könnte man sagen, daß die fachlichen Defizite, von denen die klassisches Gutachten geprägt sind, durch das fachfremde Gebaren kompensiert werden sollen. 8 Die Beziehung GutachterInnen und KlientInnen sind per definitionem eine Subjekt-ObjektBeziehung. Die methodische Forderung nach Objektivität verlangt, daß die Beziehung von Neutralität und Distanz beherrscht sein soll. Da keine Interaktion möglich ist, ohne Einfluß auszuüben und auf Situationen und Personen verändernd zu wirken, muß auch der konservative Gutachter eine wie immer geartete Beziehung zu den KlientInnen - also den Personen, mit denen er im Rahmen seiner Begutachtung zu tun hat haben. Die scheinbare, ja fiktive Neutralität und Distanz prägen die Beziehung konservativer GutachterInnen zu ihren KlientInnen auf eine paradoxe Weise, seine methodischen Ansprüche führen den Gutachter in ein Beziehungs-Dilemma: Nicht nur die sozialpsychologischen und methodenkritischen Untersuchungen zu Versuchsleitereinflüssen, sondern jede praktische Erfahrung macht deutlich, daß der Anspruch der Objektivität, der Distanz, nicht einzuhalten ist, daß jede Interaktion auch Intervention ist. Weil der konservative Gutachter diese Tatsache aber nicht wahrhaben will, interveniert und beeinflußt er, ohne eine Kontrolle über die Wirkungen zu haben, die er ausübt. Hinter dem gutachterlichen Rücken setzt sich die Realität durch: GutachterInnen sind verstrickt in das soziale System, mit dem sie qua Auftrag zu tun haben; sie beeinflussen es und bewirken Veränderungen. Wenn die notwendige selbstgewisse oder selbstreflexive Kontrolle fehlt, entstehen notwendig Vorurteile, parteiische Bewertungen, voreingenommene Empfehlungen. Auf dieser Basis muß jedes Ergebnis der gutachterlichen Untersuchungen fragwürdig, wenn nicht falsch sein. 1.7 Ergebnisse für die Beteiligten Entscheidend für die Einschätzung eines psychologisches Gutachtens, Grundlage für die Beurteilung seines fachlichen Wertes, sind die Ergebnisse, die seine Untersuchungsergebnisse, seine Argumentationsmuster, seine Schlußfolgerungen und seine Empfehlungen an das Gericht Beantwortung der gerichtlichen Fragestellung - für die Verfahrensbeteiligten haben. Genau genommen können diese Ergebnisse als subjektive Gütekriterien für die Bewertung gutachterlicher Tätigkeit betrachtet werden. Deshalb kommt ihnen innerhalb des Vergleichs des klassischen mit dem lösungsorientierten Modell besondere Bedeutung zu. GutachterInnen sind mit dem Ergebnis ihrer Arbeit zufrieden, wenn es ihnen gelungen ist, ein präzises Persönlichkeitsbild der KlientInnen zu zeichnen, wenn sie ihre Charakterstruktur treffend beschrieben, Verhaltenssequenzen gründlich analysiert und Einstellungsmuster differenziert erfaßt haben. Sie bescheinigen ihrer eigenen Arbeit eine gute Qualität, wenn ihnen die Klassifizierung, 9 die Bewertung des Verhaltens der KlientInnen möglichst widerspruchsfrei gelungen ist. Der wichtigste Erfolg für sie ist eine klare Empfehlung an das Gericht im Duktus der gerichtlichen Fragestellung, als Grundlage für eine gerichtliche Entscheidung, wenn sie also dem Richter vorschlagen können, wie Sorge- oder/und Umgangsrecht zukünftig geregelt werden sollen. Für den Familien- oder Vormundschaftsrichter hat das konservative Gutachten in der Regel dann ein gutes Ergebnis, wenn er sich darauf beschränken kann, die letzte Seite mit den Empfehlungen des Gutachters zu lesen, wenn dort seine juristischen Bedürfnisse befriedigt werden. Diese Feststellung ist keine Polemik, sondern die überwiegende Realität des Umgangs von FamilienrichterInnen mit psychologischen Gutachten - ihnen genügt die Plausibilität der gutachterlichen Überlegungen, sie ersparen sich ein gründlicheres Nachdenken oder gar eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den gutachterlichen Ausführungen. Wenn das Gutachten ermöglicht, eine psychologische Vorentscheidung in juristische Form zu bringen, sind die meisten RichterInnen zufrieden, ja beeindruckt. Für die Eltern stellt die Ergebnisfrage sich differenzierter. Eine gute Qualität hat das Gutachten nur für den Elternteil, für den der Tag der gerichtlichen Entscheidung ein Feiertag ist, weil der Gutachter ihn zum Gewinner gemacht, indem er ihm das Sorgerecht zugesprochen oder den Umgang auf seinen Wunsch hin eingeschränkt oder erweitert hat. Für den anderen Elternteil erweist sich das konservative Gutachten als Debakel, als existentieller Einbruch. Er wird vom Gutachter zum Verlierer gestempelt und landet oft in der Resignation: Fünfzig Prozent der Elternteile, die nicht am Sorgerecht beteiligt werden oder deren Umgangsrecht rigoros eingeschränkt wird, brechen den Kontakt zu ihren Kindern völlig ab (Napp-Peters, 1985). Das Ergebnis des konservativen Gutachtens für die Kinder ist zwiespältig. Jedes Ergebnis auf dieser Basis hat für sie eine qualitative Ambivalenz: Sie wünschen sich einerseits Ruhe, Klarheit, weniger Angst und Streß durch die Trennung ihrer Eltern, was jede Lösung, die der Gutachter vorschlägt und die das Gericht beschließt, auch in gewisser Weise bewirkt. Auf der anderen Seite bleibt der seelische Druck, ja er wächst in der Regel noch, wenn der Verlust eines Elternteils droht oder gar besiegelt ist und die Hoffnung darauf, beide Elternteile zu behalten, schwindet. Die Darstellung des klassischen Modells der Gutachtenerstellung wird an manchen Stellen bei LeserInnen Zustimmung hervorgerufen haben, “ja, so soll es doch auch sein, so muß es sein”, werden sie gedacht und Fragwürdiges gar nicht entdeckt haben. Erst der Kontrast zu einer anderen Auffassung von psychologischer Tätigkeit im familien- und vormundschaftsrechtlichen Umfeld, zu dem, was das neue Paradigma sachverständiger Tätigkeit an Möglichkeiten, an Entlastungen, an Hoffnungen für alle am Verfahren Beteiligten birgt, könnte aus dem Kopfnicken zumindest ein fragendes Wiegen des Kopfes machen. 10 8 2. Sachverständigentätigkeit: idiografisches, handlungs- und lösungsorientiertes Modell 9 2.1 Theoretische Basis Meine Ausführungen zur paradigmatischen Alternative konservativer Gutachtentätigkeit können sich auf eine umfangreiche und differenzierte theoretische Literatur stützen und sind empirisch gut abgesichert, nicht in einem statistischen, sondern im praktischen Sinne. Ihren theoretischen Fundus beziehen sie aus kommunikations- und interaktionstheoretischen Ansätzen, aus systemischer Theorie, aus der systemisch-strukturellen Familientherapie, aber auch aus psychologischen Theorien, die zur Dynamik sozialer Interaktion und seelischer Prozesse etwas beizutragen haben, etwa der Psychoanalyse. Es sind vor allem methodenkritische Ansätze, die sich hier versammeln, solche also, die in einer naturwissenschaftlich orientierten psychologischen Wissenschaft nicht den alleinigen, sondern einen eng begrenzten Zugang zum Verständnis und zur Veränderung menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns sehen. Empirisch-praktisch kann auf die Arbeit von vielen KollegInnen verwiesen werden, die in den letzten zehn Jahren zunehmend zu der Überzeugung gelangt sind, daß ein neuer Ansatz nötig ist, um dem Thema Trennung und Scheidung bzw. den Problemen und Aufgaben, vor denen die betroffenen Menschen wie die Sachverständigen stehen, gerecht zu werden. Aufgrund der Tatsache, daß zunehmend auch Familien- und Vormundschaftsrichter erkennen, daß sie von diesem neuen Vorgehen der von ihnen bestellten Sachverständigen profitieren, und daß sie bereit sind, von angestammten, ritualisierten Verhandlungs- und Entscheidungsformen Abschied zu nehmen, entsteht eine neue Begutachtungskultur, die sich nur langsam, aber doch stetig durchsetzt. (S. etwa Jopt, aaO.; Schade & Friedrich, aaO.; Fthenakis et al., 1993, 1996; Figdor, 1997) Diese grundsätzlichen Veränderungen machen eine neue Sprachregelung nötig, die das Selbstverständnis, den theoretischen Hintergrund und die praktische Arbeit nach dem neuen Paradigma zum Ausdruck bringen kann. Zeitgemäße Begutachtung ist keine Be-Gutachtung mehr, 8 Zunächst hatte ich das neue Modell als “problemorientiert” etikettiert, um deutlich zu machen, daß für einen Sachverständigen, im Gegensatz zu einem Gutachter, nicht eine Bewertung und Beurteilung von Verhalten und Einstellungen seiner Klienten Aufgabe sind, sondern der Versuch, die Probleme zu analysieren und ihre Lösung zum Gegenstand seiner sachverständigen Arbeit zu machen, die eine Zusammenarbeit der Eltern nach der Trennung zur Sicherung des Kindeswohls verhindern. In den Diskussionen in Bad Boll stellte sich dann heraus, daß das Attribut “lösungsorientiert” überzeugender und treffender benennt, was Kern des sachverständigen Handelns ist. Ich habe mich entschlossen, “handlungsorientiert” zu ergänzen, weil das aktive Handeln, der unmittelbare Eingriff in das Familiensystem, eigentlich den noch wichtigeren Aspekt der sachverständigen Tätigkeit benennt. Insofern haben Schade & Friedrich (1998) mit ihrer Bezeichnung “interventionsdiagnostisch” den richtigen Akzent gesetzt; der diagnostische Schlenker nimmt aber wieder zurück, was die Intervention zielsicher bezeichnet, denn für den “neuen” Sachverständigen spielt die Psychodiagnostik nur am Rande eine Rolle. 9 Der Unterschied zwischen einem klassischen gutachterlichen und einem zeitgemäßen sachverständigen Vorgehen läßt sich anhand der aktuellen Literatur zur Gutachtenstellung eindrücklich veranschaulichen. Westhoff & Kluck (1994) sprechen in ihrer Arbeit zur Erstellung psychologischer Gutachten, die Herr Westhoff in Bad Boll noch einmal dargestellt und aktualisiert hat mit dem Anspruch, einen Standard für gutachterliche Tätigkeit zu formulieren, von “entscheidungsorientiertem psychologisch-diagnostischem Handeln”. Ihr Buch stellt dann auch bis ins kleinste Detail die Schritte dar, die der Gutachter zu gehen hat, um entscheidungsorientiert zu arbeiten. Der Unterschied ist selbsterklärend: Der Gutachter soll an der “Vorbereitung und Unterstützung von wichtigen Entscheidungen” (S. 5) mitwirken. Der Sachverständige aber will problemmindernd, lösungsorientiert handeln, um Entscheidungen, die immer einen Eingriff in die Souveränität, in die Autonomie von Menschen darstellen, nach Möglichkeit überflüssig zu machen. Diese Art der sachverständigen Tätigkeit läßt sich nur bedingt auf andere Bereiche - Arbeitsunfähigkeitsrente, Schulformwahl usw. - übertragen; für den familien- und vormundschaftsrechtlichen Bereich mit seiner besonderen sozialen Thematik aber stellt er, am heutigem psychologischen Wissen und der verfügbaren Methodik gemessen, den Königsweg dar. 11 wie die folgenden Überlegungen zeigen werden, sie verabschiedet sich von der Vorstellung, es könnte die Aufgabe von PsychologInnen sein, über Menschen Gutachten anzufertigen wie andere Experten über Autos oder über Häuser. Handlungs- und lösungsorientierte GutachterInnen verstehen sich als Fachmann oder Fachfrau, die ihr Wissen zur Lösung eines komplexen und komplizierten Problems beitragen. Ihr Sachverstand wird angefragt, wo das des Juristen nicht ausreicht. Sie fungieren folglich als Sachverständige, die keine Gutachten schreiben, sondern Stellungnahmen über Zusammenhänge und Prozesse abgeben, in denen Menschen sich bewegen oder die sie bewegen, über ihre Geschichte und ihre Gegenwart. Zur Zukunft enthält der weise Sachverständige sich entweder einer Meinung, oder er versucht, wie ich gleich zeigen werde, sie mit den Beteiligten zu gestalten - dann hat er Grundlagen, sich über sie zu äußern, nicht in Form einer Prognose, sondern als von den beteiligten Personen getragenes und erarbeitetes Modell ihres zukünftigen Lebens als getrennte Familie. Die Ausführungen zur theoretischen Basis sind etwas umfangreicher, weil das theoretische Wissen die Stärke des Sachverständigen ist; diese Akzentverschiebung von der Methodik zur Theorie ist bedeutend, weil sie die Voraussetzungen schafft für einen hermeneutischen methodischen Ansatz, der das systematische Verstehen von menschlichen Besonderheiten, von inneren seelischen Vorgängen und äußeren sozialen Prozessen, wichtiger nimmt als die Erhebung von teststatistischen, mathematisch faßbaren Parametern. Einige der wichtigsten theoretischen Versatzstücke sollen kurz angerissen werden, als theoretische Basis, die sich auf drei Pfeiler stützt, die kurz dargestellt werden sollen. 2.1.1 Notwendige theoretische Bausteine sachverständigen Wissens Zu den wichtigsten theoretischen Baustein psychologischer Sachverständigentätigkeit im Familienund Vormundschaftsrecht gehört ein profundes Wissen um Familie und Paar als System, in dem Kommunikation und Interaktion zwischen den zum System gehörigen Personen das Mit- und Gegeneinander der beteiligten Personen, vor allem der Eltern - aber auch dritter Personen, die in das System eingreifen bzw. zu ihm gehören, etwa Großeltern und andere Verwandte -, wesentlich bestimmen. In der Familie - auch der Trennungsfamilie - sind die Struktur der Interaktionen, die Formen der Kommunikation und der Prozeß ihrer Veränderung von entscheidender Bedeutung. Damit ist ein zweiter, mit dem ersten eng zusammengehöriger theoretischer Baustein benannt, das Verständnis von menschlicher Entwicklung als qualitative Veränderung, als produktiver Prozeß. Jeder Mensch - ohne Ausnahme - entwickelt sich bis ins hohe Alter hinein, und jedes soziale System ist mit der Veränderung der zu ihm gehörigen Menschen ebenfalls einer ständigen Entwicklung unterworfen. Familiäre Trennung erscheint in dieser Perspektive einerseits als Auseinanderdriften individueller Entwicklungsprozesse, die sich nicht länger miteinander vertragen, andererseits wird die Phase des Auseinandergehens als Chance für neue Entwicklungsschritte 12 des einzelnen wie des familiären Systems erkennbar, die in anderer Weise und mit anderen Ergebnissen verlaufen werden, als bis dahin, aber grundsätzlich dem Trennungsvorgang immanent sind. Für das Verstehen familiärer Trennungsprozesse sind weiterhin - der dritte theoretische Baustein gründliche Kenntnisse der Psychodynamik der kindlichen Entwicklung ein weiterer wesentlicher Baustein. Diese Notwendigkeit ergibt sich zwangsläufig aus der Tatsache, daß die Kinder von der Trennung aus verschiedenen Gründen am härtesten betroffen sind, und daß die differenzierte Kenntnis von Ausmaß, Intensität und Formen ihres Leidens Voraussetzung einer psychologischen sachverständigen Tätigkeit ist. Ein häufig vernachlässigter vierter theoretischer Baustein, der aber viele “Knoten”, ja dramatische Phasen eines Trennungsprozesses erst verständlich machen kann, ist der dynamische Zusammenhang zwischen den materiellen Lebensgrundlagen der beteiligten Personen und ihren Gefühlen, Vorstellungen, ihrem Verhalten. Auch wenn PsychologInnen vordergründig mit den Geldangelegenheiten und materiellen Werten ihrer KlientInnen nichts zu schaffen haben, bestimmen sie allzu oft - Unterhalt, Versorgungsausgleich, Hausrat, gemeinsame Anschaffungen - die Trennungsdynamik und damit auch den Umgang der Erwachsenen mit den Kindern in der Trennungsphase nachhaltig. Schließlich sind klare, pädagogisch und psychologisch begründete und dem Kenntnisstand psychologischer Wissenschaft angemessene Kenntnisse über elterliche Erziehungsstile, ihr Erziehungsverhalten und ihre Erziehungseinstellungen nötig, um sachverständig tätig sein zu können, also die Folgen der Trennung für Kinder einschätzen und im Sinne ihres Wohlergehens intervenieren zu können. Welches Ausmaß an kindlichem Leiden durch autoritäre Erziehung, die durchsetzt ist mit einer lockeren Beziehung zur körperlichen Züchtigung - dem berüchtigten “Klaps auf den Po” -, durch den Mißbrauch des Fernsehen als Babysitter oder die seelische Vernachlässigung von Kindern entsteht, kann jeder Sachverständige, der genau hinsieht, oft genug feststellen. Diese Kenntnisse über Erziehung dürfen nicht, wie in Gutachten häufig zu entdecken, verwechselt werden mit der Vorstellung, es sei Aufgabe von psychologischen oder pädagogischen Fachleuten, Agenten eines “corriger la fortune” in Bezug auf das soziale Umfeld der Kinder zu sein. Wichtig für die Zukunft von Kindern, für ihre Entwicklungschancen, sind sicherlich die materiellen Bedingungen, unter denen sie groß werden; sie sind es aber häufig nicht per se, sondern weil sie es den Eltern schwer machen, sich in einer Weise und in einem Ausmaß um ihre Kinder zu kümmern, die notwendig wäre. So wie materieller Überfluß keine Garantie für eine Erziehung im Sinne des Kindeswohls ist, also die Entwicklung einer autonomen, selbstbewußten, offenen und kritischen Persönlichkeit, so sind schlechte materielle Bedingungen ihr nicht an sich hinderlich. Entscheidend ist, den Eltern zu vermitteln, welche Bedingungen für eine möglichst optimale Entwicklung von Kindern nötig sind, und daß die materiellen nicht die entscheidenden sind. Ein “schweres” Leben ist auch eines, das Lebensklugheit und soziale Intelligenz vermitteln kann. 13 2.1.2 Trennungsdynamik Sachverständige haben mit Menschen zu tun, die sich in einer der schwierigsten Krisensituationen befinden, die es für Menschen geben kann. Trennungen sind ein kritisches Lebensereignis mit all den Folgen für das eigene Fühlen und Handeln, die mit solchen Erfahrungen verbunden sind. Um zu verstehen, welche Bedingungen er vorfindet, muß der Sachverständige um den Trennungsprozeß wissen, er muß einen geschulten und wissenden Einblick in ihn haben. Es gibt wenig psychologische Literatur zum Thema Trennung, die über populärwissenschaftliche Einlassungen hinausreicht. Aus der psychoanalytischen Literatur ragt die Arbeit von Caruso hervor (1974). Um mit der Trennungssituation, mit den sich Trennenden, in einer Weise umgehen zu können, die über bestehende Konflikte zwischen ihnen und ihre zugehörigen Gefühle nicht hinwegsieht, sondern sie als einen wesentlichen Bestandteil der Situation betrachtet, in die Sachverständige sich begeben müssen, benötigen sie von den Eltern Informationen über die Scheidungsvorgeschichte. Sie bekommen auf diesem Wege einen Einblick in die bestehende Konfliktlage und ihre Entstehung - manchmal über viele Jahre hinweg - und in die Kommunikationsstile, die das Mit- oder Gegeneinander der Partner bestimmen. Weil sie die verschiedenen Konfliktebenen und ihr Zusammenspiel kennen müssen, weil sie wissen müssen, in welchem Ausmaß die vergangenen Erfahrungen miteinander die gegenwärtigen Auseinandersetzung im Zuge der Trennung beeinflussen und beeinträchtigen, muß ihnen bekannt sein, daß Trennung der Verlust von Hoffnungen ist, die die Partner anfangs ineinander gesetzt haben, von Lebenserwartungen und existentiellen Wünschen, die enttäuscht worden sind. Trennung ist Abschied von einer geplanten Zukunft, an die viele Gefühle, viele Erwartungen gekoppelt waren, was ihn so schwer macht. Partner in Trennung sind oft von einer seelischen Blindheit erfaßt, die nichts mit vordergründiger Aggressivität zu tun hat, sondern mit der Tiefe ihrer enttäuschten Gefühle. In der Komplexität dieser Trennungsdynamik können Sachverständige sich nur zurechtfinden, wenn sie einen gründlichen Einblick in die seelische Dynamik der sich Trennenden haben, wenn sie um die Grenzen wissen, die Verletztheiten, Schmerzen und erlittene Kränkungen ihrer Einsichtsfähigkeit und ihrem Handlungsraum setzen, aber auch um die Möglichkeiten der Veränderung, der Reflexion, der Verarbeitung, die neue Einsichten und neue Handlungsräume öffnen können. Wenn der Sachverständige weiß, daß die Beendigung einer Partnerschaft zwangsläufig zu seelischen Irritationen, zu Spannungen zwischen den Eltern, zu aggressiven Auseinandersetzungen führt, für die Streitereien um Unterhalt und materielle Güter oft Anlaß sind, sie zum Ausdruck zu bringen und sie zu verschärfen, und wenn ihm die seelischen Hintergründe dieser oft feindseligen Attacken gegeneinander verständlich und nachvollziehbar sind, kann er sie in seine Arbeit einbinden und bei seinen sachverständigen Bemühungen berücksichtigen. 14 Vor allem die Auswirkungen der partnerschaftlichen Konflikte für die Elternschaft sind für die sachverständige Tätigkeit von hervorragender Bedeutung, weil sie im Trennungsprozeß zu Vorbehalten auch gegen den anderen Elternteil führen. Die Aggressivität, die ein Partner gegen den anderen hegt, führt zu Mißtrauen, Abwertung, Abwehr gegenüber demjenigen, der in seiner Rolle als Vater oder Mutter für die kindliche Entwicklung nicht weniger wichtig ist, als er selbst. Hinter den Streitereien um die Kinder verbergen sich - in mehr oder weniger großem Ausmaß - die partnerschaftlichen Differenzen. Um sie auszutragen, werden die Kinder als Kampfmittel gegen den anderen Elternteil benutzt, sie werden - mehr oder weniger massiv oder subtil - gegen ihn beeinflußt und als Verbündete für die eigene Position mißbraucht. Oft genug reicht der Mißbrauch weiter: Kinder müssen in Trennungsstreitigkeiten als Partnerersatz fungieren, mit dem jeder anwaltliche oder gerichtliche Schriftverkehr besprochen, dem alle Sorgen und Nöte aufgebürdet, der zu Rate gezogen wird für Überlegungen zum Vorgehen gegen den anderen Elternteil. Nur Kenntnisse über diese - und viele andere -Bestandteile der Trennungsdynamik, über ihre Komplexität und ihre vielfältigen Facetten, über die Phasen ihres Verlaufs und über ihre Auswirkungen auf die Kinder, machen es dem Sachverständigen möglich, sich ihr fachlich kompetent zu stellen, von ihr nicht überrollt oder verwirrt oder gefangengenommen zu werden und sie als von ihm handhabbares Mittel seiner psychologischen Untersuchungen zu nutzen. 2.1.3 Folgen für die Kinder Last not least die Kinder - eine detaillierte Kenntnis ihrer Position im Trennungsgeschehen und der Folgen für sie ist als theoretische Basis für lösungs- und handlungsorientierte Sachverständige unverzichtbar. In konfliktreichen familiären Trennungssituationen sind in aller Regel die Kinder die eigentlich Leidtragenden, in doppelter Weise. Zum einen bricht mit der Trennung ihrer Eltern für sie ein Lebensrahmen zusammen, der für sie lebenswichtig ist und dessen Verlust sie nie wirklich überwinden; da vor allem kleinere Kinder nicht verstehen, was vor sich geht, ihre Eltern ihnen in den meisten Fällen auch keine Erklärungen oder sehr unvollständige oder einseitige oder für Kinder unverständliche geben, sie keine Worte für das Unbegreifliche haben, weder für die Trennung noch für ihre eigenen Gefühle, ist ihr Leidensprozeß besonders intensiv und weitreichend. Über die Situation von Kindern bei familiärer Trennung ist viel geschrieben worden, jeder Psychologe, auch jeder Richter, könnte detaillierte und differenzierte Kenntnis ihrer Lage und ihrer Befindlichkeit haben. Bedauerlicherweise finden sich in vielen Gutachten weder Hinweise auf das kindliche Erleben und die kindliche Psychodynamit in der Trennungssituation, noch werden sie in der sachverständigen Untersuchungsarbeit berücksichtigt oder gar zum ihrem vorrangigen Thema gemacht. Nicht weniger bedenklich erscheint die Tatsache, daß auch langjährig tätige Richter oft den Eindruck vermitteln, als hörten sie in irgendeiner Verhandlung erstmals über kindliches Leiden 15 durch die Trennungserfahrungen. Deshalb soll der Einblick in das kindliche Erleben, um das der Sachverständige wissen muß, in seinen wichtigsten Anteilen noch einmal skizziert werden. Kinder geraten durch die Trennung ihrer Eltern, wenn sie denn strittig verläuft, in unerträgliche Loyalitätskonflikte, weil sie beide Eltern lieben und sich nicht auf eine Seite schlagen wollen und können. Nur unter Druck oder Angst “entscheiden” sie sich, was Druck und Angst verstärkt. Ein Standardsatz von Trennungskindern lautet “ich kann mich doch nicht in der Mitte durchteilen”, der Wunsch und Verzweiflung zugleich ausdrückt: Den Wunsch, beide Eltern zu haben und beiden gerecht zu werden, und die Verzweiflung darüber, daß letztlich, wenn ein Elternteil nicht nachgibt oder beide ihren Streit nicht beilegen, eine Entscheidung für einen oft die seelisch erträglichere Lösung ist. Die Ängste vor dem endgültigen Verlust der Eltern sind so stark, daß es für Kinder oft leichter ist, auf einen zu verzichten, um den anderen ganz zu haben, als die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern zu ertragen. Wer solche Verhaltensweisen oder Äußerungen von Kindern wie Zeugenaussagen behandelt, ihnen “Wahrheitsgehalt” zuerkennt, hat ihre verzweifelte und den eigentlichen kindlichen Wünschen zuwiderlaufende Psychologik nicht verstanden. Die innere Zerrissenheit, die das Hin- und Hergerissensein zwischen den Eltern bewirkt, führt bei vielen Trennungskindern zu einem auffälligen Selbstwertverlust, der dadurch zu erklären ist, daß sie einen Teil ihrer Identität verloren haben, gleich in dreifacher Weise: Die Familie, über die sie sich zum Teil definiert, ist verlorengegangen, die Eltern als Paar, deren Gemeinsamkeiten und Widersprüche die kindliche Identität prägen, stehen nicht mehr zur Verfügung, und schließlich geht mit einem Elternteil, zu dem der Kontakt entweder erheblich reduziert ist oder ganz verlorengeht, ein entscheidendes Identifizierungsobjekt verlustig. Erschwerend für den Selbstwert und die kindliche Identität wirkt sich aus, daß Kinder sich an den Trennungsereignissen schuldig fühlen, weil sie spüren und zumeist wissen, daß es Streit um sie gibt, was sie - vor allem, wenn ihre Realitätswahrnehmung geprägt ist von ihrem magischen Denken im Kleinkindalter, vom “Primärprinzip”, wie Freud sagt -, darauf zurückführen, daß sie selbst etwas falsch machen müssen. Diese Ahnung oder Befürchtung, worin denn das eigene Fehlverhalten oder Versagen bestehen könnte, läßt Kinder an sich selbst zweifeln und das Vertrauen in sich selbst verlieren. Die Trennung der Eltern bedeutet für ihre Kinder, daß die frühesten Objektbindungserfahrungen, die für die Entwicklung von Selbstbewußtsein, Vertrauen in die Umwelt und die Sicherheit sozialer Beziehungen wichtig sind, beeinträchtigt werden. In der psychotherapeutischen Arbeit wird bei Erwachsenen Jahrzehnte später ein gestörtes Urvertrauen erkennbar, eine ausgeprägte Liebesverlust- und Trennungsangst, die in der Trennungserfahrung in der Kindheit ihre Wurzeln hat. Sachverständige müssen wissen, diese Gewißheit muß an ihrer Arbeit mit der Trennungsfamilie 16 wie ein Magnet haften, daß Kinder gerade in der Trennungssituation vertraute Gesprächspartner, mit denen sie über ihre Ängste und Zwiespälte reden können, also eigentlich besonders aufmerksame und interessierte Eltern, benötigen. Fehlen diese ihnen, haben sie nicht ausreichende Gelegenheit, über ihre seelischen Nöte zu reden, ist niemand da, der sie zu verstehen versucht, bleibt nur die unbewußte Konfliktverarbeitung. Die Irritation der seelischen Dynamik, die durch sie hervorgerufen wird, setzt sich oft schon im Kindesalter, häufig in späteren Lebensphasen, in neurotischen Symptomen fest, die der therapeutischen Intervention deshalb so schwer zugänglich sind und ihr so viel Widerstand entgegensetzen, weil der frühe Zeitpunkt ihrer Entstehung zu einer fast perfekten Verdrängung geführt hat. Erkennbar wird der Zusammenbruch der seelischen Abwehr für den aufmerksamen Beobachter daran, daß die Kinder, trotz fortbestehender Spannungen und Konflikte zwischen den Eltern, äußerlich ruhig werden, scheinbar reaktionslos die Auseinandersetzungen über sich ergehen lassen und den Eindruck vermitteln, nun hätten sie sich innerlich gegen die Auswirkungen der elterlichen Feindseligkeiten gewappnet, nun könnten sie ihnen nichts mehr anhaben: “Mein Kind zeigt solche Reaktionen nicht”, ist denn auch oft genug von Eltern zu hören. Sie übersehen, daß der äußerlichen Gelassenheit oder Desinteressiertheit ein innerlicher Schrei nach Hilfe korrespondiert, der, wenn nicht erhört, nur noch dadurch vom Kind selbst beantwortet werden kann, daß es seine Gefühle zu verleugnen beginnt, weil die Hoffnung, daß sie von den Eltern erhört werden, sich zerschlagen hat. Die äußere Gleichgültigkeit ist Ausdruck eines inneren Kontaktabbruchs meistens zu einem Elternteil, manchmal zu beiden. Auf diese Weise entsteht eine oft scheinbar unerklärliche Parteinahme für einen Elternteil, hinter der das ganze Ausmaß von kindlicher Angst, von Hilflosigkeit gegenüber den Eltern, von Enttäuschung über ihr Verhalten sich verbirgt. Die Ohnmachtsgefühle, die sich im kindlichen Empfinden ausbreiten, münden in eine Lethargie, die nach außen als unbeeindrucktes Reagieren wirkt, die sich häufig zu Resignation verdichtet bis hin zu Hospitalisierungserscheinungen, wie sie von Erikson (1959) beschrieben worden sind. Dieser Gefühlskomplex ist die eine Seite des kindlichen Erlebens unter den Bedingungen einer Trennung, bei der die Eltern vergessen haben, welchen Beistand sie ihren Kindern leisten müßten. Die Ambivalenz der seelischen Dynamik läßt genügend Raum - sie verlangt ihn aus Gründen der Überlebensnotwendigkeit, für die das Kind selbst sorgen muß -, für eine ganz andere Seite des seelischen Geschehens. Den Rückzug in die innere Einsamkeit begleitet eine unstillbare Sehnsucht nach Familie, nach ihrer Wiederbelebung, die in den Kindern fortlebt, oft bis ins hohe Erwachsenenalter. Der Wunsch, beide Eltern zu behalten, trotz Trennung einen möglichst intensiven, beständigen Kontakt zu beiden zu haben, bleibt, wie immer Besuchsregelungen aussehen, in ihnen bestehen. Kinder wollen, nicht zuletzt, um ihre Wünsche erfüllt zu bekommen oder wenigstens Gelegenheit zu haben, sie zu äußern, in der Trennungssituation ernstgenommen, in den Prozeß der Trennung einbezogen werden, sie wollen beteiligt sein an dem, was mit ihnen 17 geschieht. Die äußerlich signifikanten Reaktionen von Kindern auf die Trennungserfahrung sind hinreichend bekannt: Diverse Verhaltensaufälligkeiten als Demonstration der inneren Verwirrtheit und Vernachlässigung, psychische Angepaßtheit als Folge von Angst und elterlichem Druck, Nachlasen von Schulleistungen, weil die inneren Räume durch die innere Trennungsdynamik besetzt oder verstellt sind, Störung der sozialen Beziehung später, aber auch schon in der peergroup wegen Selbstwertproblemen oder sozialer Lernprozesse am Beispiel der Eltern, die es Kindern schwer machen, soziale Regeln zu akzeptieren. Abweichendes und delinquentes Verhalten sind nicht selten. Auch wenn diese Auffälligkeiten nicht trennungsspezifisch sind - es gibt kaum kindliche Reaktionen, die sich eindeutig auf ganz bestimmte Erfahrungen beziehen lassen -, so lassen sie sich doch in der Untersuchung der Geschichte und des Verlaufs einer familiären Trennung auf die in ihr vorherrschenden Bedingungen zurückführen. In einem jüngst erschienenen Sammelreferat zu den Auswirkungen von Trennung und Scheidung auf die betroffenen Kinder wird zusammenfassend festgehalten, daß die ausgewerteten Klinischen Studien gravierendere Folgen aufführen als die soziologischen. Dieses Ergebnis unterstreicht die Stärke der kindlichen Reaktionen in Abhängigkeit von der Stärke der elterlichen Konflikte, denn die besonders gravierenden Trennungs- und Scheidungsfolgen bei Kindern werden klinisch bekannt und demonstrieren, in welcher Intensität Kinder unter ihren Eltern leiden, wenn diese nicht in der Lage sind, ihren konflikthaften Umgang gegeneinander im Interesse ihrer Kinder beizulegen (RiehlEmde, 1992). In der wissenschaftlichen Literatur ist auch von positiven Auswirkungen der Trennung der Eltern auf die Kinder die Rede (Riehl-Emde, aaO.; Figdor, 1998). Nicht neu ist die Erfahrung, daß Kinder, wenn ihre Eltern sich entschließen können, gemeinsame Elternverantwortung zu übernehmen, und neue Partner in das Leben der Elternteile treten, die Kinder diese als eine Bereicherung ihres Lebens betrachten, jedenfalls wenn die neuen Bezugspersonen nicht als neue Eltern die alten verdrängen wollen, sondern sich als Freunde den Kindern anbieten. Gewarnt werden muß aber vor einem Schlenker in der Deutung kindlicher Reaktionen derart, daß alles doch nicht so schlimm sei: Genießen und profitieren können Kinder, wenn es sich eine von vornherein belastungsarme Trennung handelt oder wenn sie, auf welche Weise immer, so geworden ist. 2.2 Kindeswohl Als Fazit dieses Wissens um Trennungsprozeß, Trennungsdynamik und ihre Folgen für jeden einzelnen beteiligten Menschen, läßt sich für einen handlungs- und lösungsorientierten arbeitenden Sachverständigen das Kindeswohl als zentraler Anker seiner fachlichen Bemühungen bestimmen. Die Vorstellung von dem, was Kindeswohl ist, löst sich aus der lange Zeit 18 vorherrschenden Diffusität. Mit ernüchternder Klarheit ergibt sich aus dem theoretischen Wissen, daß die Eltern durch ihre Trennung zwar seelisch, sozial und materiell belastet, daß aber ihre Kinder die Opfer des Trennungsgeschehens sind, seine eigentlichen Verlierer. Sie sind ohne Macht - also im Wortsinne ohnmächtig -, ohne Rechte10, sie en für ihre Eltern im Scheidungsverfahren vor allem als ökonomischer Faktor. Sie sind Objekte eines Szenarios, das von Erwachsenen, von ihren Eltern wie den beteiligten Fachleuten, beherrscht wird; als eigenständige Subjekte mit eigenen Gefühlen, Wünschen, Interessen, Meinungen werden so gut wie nicht wahrgenommen.11 Das Kindeswohl ist auf der Landkarte des Trennungsprozesses ein weißer Fleck. Es ist von ihm aber nicht zu lösen, sondern sein integraler Bestandteil. Kindeswohl ist auf dem Hintergrund der theoretischen Grundlagen sachverständiger Tätigkeit nicht als Eigenschaft von Personen oder ihres Verhaltens - der Eltern oder der Kinder oder aller zusammen - zu verstehen, sondern ist zu definieren als Element ihrer Beziehungen. Damit aber ist das Kindeswohl in allererster Linie abhängig von der Qualität, von der Struktur und von der Entwicklung der familiären Bindungen, des familiären Systems. Es ist eine Eigenschaft des Familienprozesses, seiner Geschichte und seiner Zukunft, es ist folglich nicht eine Zustandsqualität, sondern eine System- und Prozeßqualität.12 2.3 Aufgabenstellung für den Sachverständigen Die definitorische Präzisierung des Kindeswohls verweist auf die Wichtigkeit, auf die Exklusivität der familiären Bindungen, des familiären Systems auch nach der Trennung der Familie. Das Kindeswohl ist dann gesichert, wenn die Eltern bereit sind, auch in der Trennungsphase ihre Paarkonflikte und ihre Verantwortung als Eltern nicht zu vermischen; wenn das familiäre System in 10 Auch wenn nach dem neuen Kindschaftsrecht die Kinder ein Recht auf den Umgang mit beiden Elternteilen haben und ihnen zur Durchsetzung dieses Rechts sogar ein eigener “Anwalt des Kindes” an die Seite gestellt werden kann, bleibt ihre Rechtlosigkeit faktisch erhalten: Es gibt keine Hoffnung, daß langfristig Kinder von der überwiegenden Zahl psychologischer Gutachter, Anwälte und Familien- oder Vormundschaftsrichter s als Subjekte so ernst genommen werden, daß sie nicht mehr als macht- und rechtlose Opfer der Trennung ihrer Eltern erscheinen. Die Erfahrungen mit dem KJHG, das heute noch - “Papier ist geduldig” - bei der Jugendhilfe und den FamilienrichterInnen nicht wirklich angekommen zu sein scheint, macht wenig Mut. 11 In der Abschlußdiskussion der Tagung in Bad Boll empörte Herrn Willutzki sich, daß ich nicht bei jedem Sachverständigenauftrag in einer Familiensache die Kinder “anhöre”. Ich erwiderte, daß ich kein Richter sei und deshalb auch keine “Anhörungen” von Kindern durchführe, sondern versuche, ihre Lebenssituation zu untersuchen, mich in ihr Erleben einzufühlen und sie ernstzunehmen mit ihren Wünschen und Interessen. Ergänzen möchte ich, daß ich nicht der Meinung bin, daß ein formaler Gestus der “Kindesanhörung” als Prinzip den kindlichen Interessen wirklich gerecht wird. Für die Kinder ist letztlich entscheidend, ob es gelingt, ihnen beide Elternteile zu erhalten. Nach den Erfahrungen mit ihren Eltern und JugendamtsmitarbeiterInnen, vielleicht mit Anwälten und Richtern, erspart jeder Erwachsene, der ihnen nicht zu nahe rückt, ihnen weitere belastende Erfahrungen. Wenn es gelingt, mit ihren Eltern eine Lösung zu erarbeiten, von der sie profitieren, sind die kindlichen Interessen auch ohne ihren Kontakt zum Sachverständigen bestens gewahrt und indirekt in den Prozeß einbezogen, nicht zuletzt indem die Eltern die Aufgabe übernehmen, ihnen die erarbeitete gemeinsame Lösung zu vermitteln und in ihrem Sinne zu handeln. Sie werden nicht ignoriert, sondern ihnen wird demonstriert, was sie spüren: Es ist die Aufgabe, ja die Pflicht der Eltern, sich der eigenen Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Kinder endlich bewußt zu werden, ohne sie oder einen Teil von ihr auf die kindlichen Schultern zu laden, was der Sachverständige - oder Richter -, der sie einbezieht, ein Stück weit tut. Allerdings sind die Fälle, in denen nach wenigen Gesprächen mit den Eltern diese ihren Kindern eine entspannende Lösung präsentieren können, die Ausnahmen, in den übrigen Fällen werden die Kinder als Subjekte in den Prozeß der sachverständigen Untersuchungen einbezogen. 12 Ein Überblick über die - psychologische wie juristische - Literatur zu Trennung und Scheidung in den letzten sechs Jahren führt zu einer überraschenden Erkenntnis: Die Tatsache, daß Kollege Jopt im Jahre 1992 - vielleicht nicht erstmals, aber erstmals in dieser Weise pointiert - eine Definition des Kindeswohls als Qualität des Familiensystems, der elterlichen Beziehungen publizierte, ist folgenlos geblieben, obwohl das Dilemma der Antwort auf die Frage nach dem Kindeswohl mit seinem Vorschlag erstmals einer Lösung zustrebte. Was immer zu dieser Ignoranz geführt hat, sie ist bedauerlich und macht den Hinweis nötig, daß alleine diese Definition, wie sie hier noch einmal, ergänzt und präzisiert, einen Kindeswohlbegriff zur Verfügung stellt, die für Psychologen wie Juristen nicht nur nachvollziehbare weil theoretisch gut begründete, sondern die auch in der Praxis handhabbare ist und Kriterien für die Einschätzung des Verhaltens von Eltern, aber auch von Jugendämtern, AnwältInnen, RichterInnen und Sachverständigen, und für die eventuell notwendigen Veränderungen und Interventionen liefert. 19 einen neuen “Aggregatzustand” übergeht, statt zu zerbrechen; wenn den Kindern das erhalten bleibt, was sie für ihre möglichst unbelastete Entwicklung trotz der Trennung der Familie am dringendsten benötigen, die Beziehung zu ihren Eltern. Die Aufgabenstellung des Sachverständigen muß sich folglich auf das Familiensystem zubewegen, er muß seine Untersuchungen so gestalten, daß er dazu beiträgt, die Bedingungen zu schaffen, die das Kindeswohl sichern können. Seine Aufgabe ist so komplex wie der Trennungs- und Scheidungsprozeß selbst. Um sie zu strukturieren und ihr Konturen zu geben, soll sie auf fünf Ebene der sachverständigen Tätigkeit betrachtet werden. 2.3.1 Allgemeine Aufgabenbestimmung Zentrale Aufgabenbestimmung für den Sachverständigen ist die Sicherung des Kindeswohls. Er gibt ihr einen Inhalt, der der Trennungssituation in konsequenter Weise Rechnung trägt: Den des Kindesschutzes, des Schutzes der kindlichen Bedürfnisse, Interessen, Lebens- und Entwicklungsnotwendigkeiten. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, muß er sich in das familiäre System begeben, an ihm teilhaben, und zwar als Dramaturg, der nicht als Mitspieler, nicht als Souffleur, nicht als Regisseur, nicht als Drehbuch- oder Stückeschreiber beteiligt ist, sondern als jemand, der vorübergehend die Fäden des “Systemspiels”, der Trennungsdynamik, in die Hand nimmt. Er wird für den Zeitraum seiner Tätigkeit als Sachverständiger Moderator eines Gesprächsund Handlungskreises, zu dem die Eltern, ihre Kinder, die AnwältInnen, die JugendamtsmitarbeiterInnen, möglicherweise neue Partner, Großeltern und andere Verwandte gehören. In dieser Rolle oder Funktion ist er zugleich in das System eingebunden und hinreichend distanziert zu den Interaktions- und Kommunikationsprozessen der übrigen Beteiligten, daß er zu Veränderung beitragen kann, ohne selbst Mitspieler zu sein. 2.3.2 Gegenstand der sachverständigen Tätigkeit Der Gegenstand, an und mit dem der Sachverständige Arbeit, ist die Nachscheidungs- oder Trennungsfamilie. Ihr Zustand und ihre Entwicklungsmöglichkeiten sind abhängig vom Zustand der elterlichen Beziehung nach der Trennung bzw. Scheidung. Der für das Kindeswohl notwendige Umgang der Eltern miteinander stellt sich bei strittigen Trennungen nicht unmittelbar und ohne Unterstützung von außen ein. Die Chancen des sachverständigen Eintritts in den Trennungsprozeß besteht darin, diese Hilfestellung zu leisten, also mit den Eltern gemeinsam eine Neudefinition des Eltern- und - wenn möglich und/oder notwendig, gemeinsam mit den Kindern des Familiensystems. Der Sachverständige ermuntert die Eltern, ein Trennungsprojekt zu gestalten und trägt seine Erfahrungen und seine Fachkompetenz zu dessen Aufbau bei, nutzt sein Wissen um Trennungs- und Psychodynamik, um die Konstruktion des Projekts möglichst stabil und 20 sicher werden zu lassen. 2.3.3 Praktische Arbeitsinhalte Um die Unterstützungsarbeit leisten zu können, die er mit seiner Beauftragung übernimmt, muß der Sachverständige praktisch in seiner Dramaturgen- oder Moderatorenrolle im System der Trennungsfamilie tätig werden. Seine konkreten Bemühungen richten sich darauf, die Eltern zu befähigen, mit den Trennungsfolgen einschließlich ihre eigenen seelischen Belastungen weniger destruktiv umzugehen, ihre soziale und psychische Kompetenz zu erweitern. Mit einem historischen Schlenker läßt sich sein praktisches Eingreifen als “empowerment” bezeichnen, einem für die soziale Arbeit klassischen methodischen Ansatz. Zu Beginn der sachverständigen Tätigkeit dominiert - wie in jeder problematischen beraterischen oder therapeutischen Situation - die Krisenintervention im Vordergrund, um eine Basis zu schaffen, auf der die Eltern überhaupt miteinander reden und sich austauschen können. Während seiner Arbeit mit der Trennungsfamilie bleibt ein beherrschendes Thema das Konfliktmanagement, das nötig ist, um den vorhandenen Komplex an Meinungsverschiedenheiten, Mißverständnissen und Streitanlässen wenigsten so weit aufarbeiten zu können, daß sich Perspektiven für eine konstruktive Zusammenarbeit der Eltern ergeben können. Für diese muß er versuchen, die Ressourcen, die alle Eltern, wie schwierig die Trennungserfahrung für sie immer ist und wie konflikthaft ihr Umgang miteinander, immer noch zur Verfügung haben; wenn sie sich vielleicht in einem Dämmerzustand oder einem vorübergehenden Schlummer befinden, versucht er, sie zu aktivieren und Blockaden, die ihre Nutzung verhindern, zu lösen. Zu seinen Bemühungen, die Kooperationsfähigkeit der Eltern zu fördern, gehört das Thema Akzeptanz. Der Sachverständige macht den Eltern klar, daß sie beide Eltern sind, gleichberechtigt und gleichwertig, daß sie beide gleich wichtig für das Wohlergehen und die Entwicklung ihrer Kinder sind. Er erklärt ihnen, daß ihre unterschiedlichen Vorstellungen von Erziehung und Umgang mit kindlicher Entwicklung kein Grund für Streit oder gegenseitige Abwertung sind, sondern Ausdruck ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten, ihrer je eigenen Lebensgeschichte, und daß sie keinen Nachteil für ihre Kinder darstellen, sondern eine Bereicherung, daß die kindliche Entwicklung von der Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit der elterlichen Anregungen profitiert. Der Sachverständige ermuntert die Eltern nicht nur, sich gegenseitig als Eltern in ihrer jeweiligen individuellen Besonderheit zu respektieren, sondern weist sie zugleich auf die Notwendigkeit hin, gemeinsam bestimmte Regeln, die für die Erziehung der Kinder und ihr Wohlergehen aus fachlicher Sicht unerläßlich sind, zu formulieren und einzuhalten. Dieses 21 Regelwerk ist notwendig, um den Kindern in einer schwierigen Lebenssituation eine klare Orientierung zu ermöglichen, um ihnen noch mehr Verwirrung in ihren Gefühlen und Gedanken zu ersparen, und um zu verhindern, daß sie beginnen, die Eltern gegeneinander auszuspielen. Diese letzte Möglichkeit wird von Kindern gerne genutzt, wenn die Eltern im Streit miteinander liegen, und aus ihrer Sicht liegt in ihr einerseits eine sinnvolle Logik, weil das Ausspielen der Eltern gegeneinander einer der wenigen Lichtblicke für Kinder im Trennungsprozeß sein kann; andererseits signalisiert ein solches Verhalten, daß Kindern klare, für ihren sozialen Lernprozeß notwendige Koordinaten fehlen, was ihrem Wohlergehen nicht förderlich ist. Ganz praktisch wird der Sachverständige auch dann, wenn er den Eltern nahelegt, unabhängig von ihren je eigenen Gründen für ihr Auseinandergehen, sich auf eine gemeinsame Version der Trennung zu verständigen. Ihre Kinder werden mit der Entscheidung der Eltern, nicht länger zusammenleben zu wollen, konfrontiert, ohne eine auch nur annähernde Klarheit über die Beweggründe der Eltern zu haben. Die wenigen Worte, die Eltern in der Regel ihren Kindern gegenüber zu diesem Thema fallen lassen, stiften mehr Verwirrung und Unruhe, als daß sie durchschaubar machen, was geschehen ist. Erst wenn es den Eltern gelingt, in einem gemeinsamen Gespräch mit ihren Kindern - und schon Vorschulkinder haben nicht nur Wunsch, mehr zu erfahren, sondern verstehen auch, wenn sie ihren Verständnismöglichkeiten angemessene Worte hören - zur erläutern, daß sie nicht mehr zusammenleben wollen und können, weil sie sich nicht mehr lieben, weil sie sich nicht immer nur streiten wollen, weil sie festgestellt haben, daß sie lieber ohne den anderen leben oder ähnliches; daß sie aber ihren Kindern Eltern bleiben werden, weiterhin für sie Verantwortung tragen und sich gemeinsam um sie kümmern wollen. Ein solches Gespräch kann viel seelischen Ballast von den Kinder nehmen, ihnen ein Gefühl der Befreiung vermitteln. Schließlich gehört zur praktischen Tätigkeit des Sachverständigen, daß er den Eltern Mut macht und es als legitim und für einen psychohygienischen Umgang mit sich selbst notwendig erläutert, wenn sie, bei allem Bemühen um eine gemeinsame Elternschaft, sich auch Raum für ihren eigenen Schmerz lassen, sich Phasen des Rückzugs und der Abgrenzung gestatten, in denen sie mit sich selbst und ihre eigenen Gedanken und Gefühlen beschäftigt sein können. Hier ist nicht von Wochen oder Monaten die Rede, sondern von innerhalb des Zeitrahmens einer sachverständigen Tätigkeit überschaubaren Zeiträumen, in denen die Eltern die Möglichkeit haben müssen, das zu verarbeiten und für sich zu klären, was durch das sachverständige Eingreifen aufgewühlt wird, aufbricht. Ähnlich sollte der Sachverständige die Eltern darauf hinweisen, daß sie Zeit und Raum zur Verfügung stellen sollten für die regressiven Verarbeitungsmechanismen ihrer Kinder, die in einer Trennungsphase mit Sicherheit auftreten und von den Eltern viel Aufmerksamkeit, Zuwendung und Unterstützung verlangen. 22 2.3.4 Politische Arbeitsinhalte In die sachverständige Arbeit fließen Arbeitsinhalte ein, die über die spezifische Problematik der jeweils betroffenen Familie und über ein fachlich, also theoretisch und methodisch, fundiertes Agieren, hinausreichen. Sie heißen hier politisch, weil sie den sich trennenden Eltern - direkt oder mittelbar, je nach konkreter Situation - Einsichten und Verhaltensmöglichkeiten vermitteln, die nicht nur für den Umgang mit dem anderen Elternteil und den eigenen Kindern, sondern für soziales Verhalten überhaupt von Bedeutung sind. Der Sachverständige betreibt Aufklärung im besten, bereichernden Sinne, indem er sein Fachwissen, seine methodischen Kenntnisse und seiner Erfahrungen nutzt, um Erkenntnisse und Wissen der Eltern zu fördern. Er befähigt sie auf diese Weise, zukünftig mit sich selbst und ihrer Umwelt eventuell anders als bisher umzugehen: besser zuzuhören, Gefühle zu äußern, aber sie auch zu kontrollieren, Lösungen zu suchen statt Konflikte zu schüren, Mitmenschen ernst zu nehmen und in ihrer Eigenart zu akzeptieren usw.13 Aufklärend stellt der Sachverständige sein Wissen um die kindlichen Reaktionen auf Trennung und Scheidung und ihre Dynamik genauso zur Verfügung wie das über die elterlichen Gefühle im Zusammenhang mit dem Auseinandergehen zweier Partner und die Verarbeitungsmechanismen und -möglichkeiten, um deren Nützlichkeit in Krisensituationen er weiß. Er bietet aus seinem methodischen Repertoire Formen des Umgangs miteinander in Konfliktsituationen an und weist auf Wege zur Selbsthilfe und institutionelle Hilfeangebote hin, die ihnen zur Verfügung stehen, auf Unterstützungs- und Beratungsangebote. Schließlich versucht er mit den Eltern die soziale Dimension ihres Verhaltens in Bezug auf kindliche Lernprozesse auszuloten und zu verändern: Ihr Umgang mit einer prekären Konfliktsituation ist modellhaft für das soziale Lernen ihrer Kinder, ihre Eltern demonstrieren ihnen, ob Konflikte zu Eskalation der feindseligen Auseinandersetzungen führen müssen oder dazu dienen können, neue Wege der Konfliktregulierung und der Vereinbarung zu finden. Aufgeklärte Eltern können den sozialen Lernprozeß ihrer Kinder unterstützen und müssen ihn nicht behindern. 2.3.5 Zielbestimmung Das vom Sachverständigen in seiner Tätigkeit für das Familiengericht und die Trennungsfamilie verfolgte Ziel ergibt sich aus den bisherigen Überlegungen zu seiner Aufgabenstellung zwingend: Er will erreichen, daß die künftige Sorge für die Kinder nach einer Trennung der Familie - also das Sorgerecht, in juristischer Terminologie - nicht im Korsett eines rechtlichen Konzepts erstickt, sondern von allen beteiligten Personen - Fachleuten wie Eltern - als gemeinsame elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder über die Trennungsphase hinaus verstanden und 13 Was Freud mit seiner Laienanalyse und Wilhelm Reich mit seinen Sexualberatungsstellen, was Fachleute aus dem Gesundheitswesen mit den Gesundheitsläden, die es in vielen Städten immer noch gibt, und Wissenschaftler mit der Eröffnung von Wissenschaftsläden erreichen wollen, liegt auf der Ebene des hier vertretenen Aufklärungsbegriffs, wie übrigens auch das engagierte Bemühen von “Hackern”, den Dschungel der Informationsgesellschaft zu lichten. 23 entsprechend behandelt wird. Sein inhaltliches Ziel, ein einvernehmliches Konzept der elterlichen Verantwortung als Ergebnis seiner sachverständigen Arbeit zu erreichen, ist gekoppelt an das strukturelle Ziel, Richter, Anwälte und Jugendamt davon zu überzeugen, daß es für das Kindeswohl am sinnvollsten und notwendig ist, sich seinem Arbeitskonzept anzuschließen. Wenn er sein zweites Ziel erreichen kann, tragen alle gemeinsam zur Sicherstellung der Beziehung der Kinder zu beiden Elternteilen durch das Entstehen einer Nachscheidungsfamilie. 2.4 Definition der Sachverständigenrolle Die Sachverständigenrolle läßt sich von seinen Aufgaben her definieren. Im Vordergrund steht seine Souveränität, die seiner sachverständigen Arbeit. Er wird vom Familien- oder Vormundschaftsgericht als Experte angefragt, als psychologischer Fachmann. Aus dieser Position ergibt sich seine Gleichberechtigung im Verfahren zu den anderen Fachleuten, dem Richter, den Anwälten, den Vertretern der Jugendhilfe. Er ist ihr fachlicher Partner und beantwortet ihnen Fachfragen, wie ein Bausachverständiger Fragen zu seinem Fachgebiet beantwortet. Der Beweisbeschluß, der seiner Arbeit zugrundeliegt, setzt ihn nicht als “heimlichen” Richter, sondern als psychologische Fachkraft in Gang. Er weist seine fachliche Arbeit zunächst dadurch aus, daß er psychologische Fragestellungen formuliert, die sich, wenn er ein Arbeitskonzept entwickelt, aus der gerichtlichen Fragestellung notwendig ergeben. Nach Aktenlage und Erstgesprächen ist er in der Lage, seine psychologischen Fragen zu formulieren und sie, nach Abschluß seiner Tätigkeit, zu beantworten. Diese Definition seiner Rolle verlangt, daß er die gerichtliche Fragestellung, auch wenn der Richter nach Vorschlägen für das Sorge- oder das Umgangsrecht fragt, psychologisch beantwortet, also Umgangsregelungen vorschlägt und sich zur elterlichen Verantwortung äußert. 2.5 Methodik Das methodische Vorgehen eines Sachverständigen unterscheidet sich von dem eines Gutachters grundlegend. Weniger bedeutend ist, was er nicht tut: Verzicht auf Testbatterien, möglichst auf einzelne psychodiagnostische Tests, auf Objektivität im testtheoretischen und methodologischen Sinne, auf Be-Gutachtung von Menschen. Der wesentliche Unterschied liegt in indem was er im Vergleich zum Gutachter tut: Eine lösungsorientierte Situations-, Problem- u. Entwicklungsanalyse. Für diese Analyse benötigt er eine gründliche, themenbezogene Anamnese der Beteiligten, eine Exploration, die möglichst vollständige Einblicke in die bestehende Situation, ihre Bedingungen und ihre Dynamik, ermöglicht, und ergänzende Interviews zu Einzelfragen, eventuell auch mit Dritten, soweit sie zum Verständnis und zur Veränderung der Situation beitragen können. Wenn er im engeren Sinne Psychodiagnostik betreibt, greift der Sachverständige auf die 24 Möglichkeiten einer Systemischen Diagnostik zurück, 14 die das menschliche Miteinander als strukturelle Koppelung zwischen verschiedenen Systemen und Subsystemen ansieht. Der Interaktionsprozeß verläuft über verschiedene Phasen, die es herauszuarbeiten gilt, wie seine Inhalte und die vorherrschenden Kommunikationsmuster. Von Bedeutung für die sachverständigen Untersuchungen sind die Kommunikation und Interaktion zwischen den Subsysteme - etwa den Eltern, Eltern und Kindern, den Kindern usw. -, ihre Regeln, die gegenseitigen Erwartungen, die stattgefundenen und möglichen Veränderungen, Chancen der Koevaluation einzelner Subsysteme. Weiter läßt sich eine Reihe anderer Charakteristika sozialer Systeme in die sachverständige Untersuchungs- und Interventionsarbeit integrieren, etwa ihre Vernetztheit, die Komplexität, Anzahl und Art ihrer Relationen, ihre Eigendynamik, ihre mangelnde Prognostizierbarkeit und die Tatsache, daß in ihnen immer ein offener Zielzustand herrscht, eine Polytelie. Schließlich zeichnet die sachverständige Tätigkeit eine methodische Variante aus, die sich als seine vielleicht größte Stärke bezeichnen läßt: Seine Involviertheit in das familiäre System, seine zeitweilige Zugehörigkeit. Als Bestandteil des Systems hat er die Möglichkeit, gewissermaßen aus der “Binnenperspektive” die Trennungsdynamik kennenzulernen und von innen her an ihrer Veränderung mitzuwirken, als Dramaturg oder Moderator, wie oben beschrieben, also aus einer dennoch notwendigen und von ihm definierten Distanz. Sachverständige Tätigkeit ist methodisch also, zusammengefaßt betrachtet, eine Kombination aus Diagnostik, Beratung und Intervention mit dem Ziel der Veränderung von Personen und ihrer Beziehungen, des gestaltenden Eingriffs in die Trennungsdynamik. Das Arbeitskonzept sachverständiger Tätigkeit unterscheidet sich nicht von dem einer qualifizierten Beratungsarbeit: Es werden zunächst Einzelgespräche mit den Eltern geführt, dann gemeinsame Elterngespräche, bei Bedarf werden Gespräche mit den Kindern eingebunden, die in zwischenzeitlichen oder abschließenden Familiengesprächen münden können.15 Wenn schließlich gemeinsame Ergebnisse erreicht worden sind oder sich herausstellt, daß sich nicht erreichbar sind, wird ein Vorschlag an das Gericht formuliert, der mit den Eltern - und eventuell mit den Kindern besprochen wird, so daß sie in den Verlauf der Erarbeitung der psychologischen Stellungnahme an das Gericht bis zum Schluß eingebunden sind. Dieses methodische Konzept ist nicht-normativ, es ist als entwicklungs- und wachstumsorientiert zu qualifizieren und unterscheidet sich damit substantiell von dem, das einem konservativen Gutachten zugrunde liegt. 14 Bei Schiepek (1986) finden sich nicht nur theoretische Erläuterungen, sondern auch praktische Hinweise für den Einsatz einer systemischen Diagnostik. Darüber hinaus bieten sich eine Reihe diagnostischer Hilfsmittel zur Arbeit mit Familien an wie das Genogramm, das Familienbrett, die Kommunikationsstile nach Satir (1975) und andere. 15 Dieses Vorgehen stellt eine Möglichkeit dar, andere KollegInnen beginnen sofort mit gemeinsamen Gesprächen oder mit Kontakt zu den Kindern. Welche Reihenfolge der Gespräche gewählt wird, welche geführt und welche unterlassen werden, hängt von den konkreten Bedingungen der jeweiligen Trennungsfamilie ab. 25 2.6 Beziehung zu den Klienten Sowohl aus den inhaltlichen Grundlagen als auch aus dem methodischen Konzept einer handlungs- und lösungsorientierten sachverständigen Tätigkeit ergeben sich definitive Grundsätze für den Umgang Sachverständiger mit ihren KlientInnen. Zunächst einmal, als “goldene Regel”, müssen sie ernstgenommen werden, in ihrer persönlichen Eigenart, mit ihrem spezifischen Leiden, mit ihrer Vorstellung von Umgang mit ihren Kindern, mit ihrer subjektiven Wahrheit über die Trennung und ihre Vorgeschichte. Eltern haben ein Recht auf ihre Gefühle, auch auf die negativen gegenüber dem anderen Partner, und auf ihre subjektive Wahrheit über die Trennungsgeschichte und die Gründe für das partnerschaftliche Scheitern, auch wenn sie wie eine eigene Welt, wie ein negativer Abdruck der Wahrheit des anderen erscheinen. Der abgegriffene Satz aus der psychotherapeutischen Arbeit, daß es wichtig ist, einen Patienten dort abzuholen, wo er gerade steht, gilt für den fachlichen Eingriff in den Trennungs- und Scheidungsprozeß in besonderer Weise: Nur wenn es dem Sachverständigen gelingt, die seelisch und interaktiv vorherrschenden Bedingungen zu erfassen und zur Basis seines Handelns, seiner Untersuchung, zu machen, wird er sich selbst die Chance erarbeiten, die Eltern mit seinen Überlegungen und Vorschlägen zu erreichen und zum Mitmachen zu bewegen. Ziel dieses behutsamen Aufbaus einer kommunikativen Basis zu den Eltern ist es, durch das eigene Beispiel im Umgang mit den Eltern ihnen zu demonstrieren, in welcher Weise und in welchem Ausmaß gegenseitige Achtung sich zu einer fruchtbaren Basis für ein konfliktarmes Miteinander verdichten kann. Sie werden so ermuntert, sich gegenseitig als Eltern zu akzeptieren. Zugleich wird es auf diesem Wege möglich, ihre Selbstachtung aufzubauen oder zu schützen: Auf der Basis von gegenseitiger Akzeptanz läßt sich vermitteln, wie groß der Schritt von der Hinnahme, der Erduldung einer autoritären Gerichtsentscheidung ist, die notwendig wird, weil zwei erwachsene Eltern nicht in der Lage sind, sich über das Wohlergehen ihrer Kinder zu verständigen, hin zu einer selbstbewußten gemeinsamen Lösung ist, die sie dem Gericht präsentieren können und die der Familienrichter in einer abschließenden Gerichtsverhandlung nur noch “absegnen” muß. Nicht weniger bedeutsam für den fachlichen Eingriff in die Trennungsdynamik ist eine andere, eine fordernde Seite der Beziehung zu den KlientInnen. Als Psychologe/Psychologin, die intervenieren und beraten, haben Sachverständige nicht zuletzt die Aufgabe, Ansprüche an die erwachsenen Menschen, die Eltern, zu stellen. Zu diesen Ansprüchen gehört etwa die Forderung, Reste an Kränkungen und Verletzungen aus der Partnerschaft, Leidensprozesse, die nicht beendet sind, sondern immer wieder in die aktuellen Versuche der elterlichen Kooperation eindringen oder sie gar verhindern, aktiv anzugehen, also sich eventuell auch fachliche Hilfe - Beratung, Psychotherapie - zu holen, statt mit ihnen die Beziehung zum anderen Elternteil und damit indirekt 26 die Kinder zu belasten. Dieser Anspruch ist nicht nur legitim, er ist notwendig, weil er die Eltern als Erwachsene ernst nimmt, die andere Ressourcen und Unterstützungssysteme zur Verfügung haben als ihre Kinder, und ihnen verdeutlicht, daß unter den Voraussetzungen einer flächendeckenden Beratungsstruktur kein Mensch mit seinen Problemen oder inneren Konflikten alleine bleiben muß; er ist schließlich auch wichtig, weil er verhindern hilft, daß letztlich die Kinder als Partnerersatz für Gespräche, die sie überfordern, mißbraucht werden, oder unter dem Leidensprozeß der Eltern auch selbst leiden, weil ihnen die notwendige Aufmerksamkeit, die nötige Zuwendung eines Vaters oder einer Mutter, die von ihren eigenen Problemen vereinnahmt werden und deren Wahrnehmung für die Bedürfnisse ihrer Kinder zwangsläufig getrübt ist, verloren gehen. Ernstnehmen bedeutet also nicht Verzicht auf Kritik oder Vorschläge zur Veränderung von Verhalten und Einstellungen, sondern ist ihre Grundlage, weil es den Beteiligten deutlich macht, daß sie akzeptiert und nicht oberlehrerhaft belehrt werden sollen, sondern daß sie zwar einen legitimen Anspruch auf die Besonderheit ihrer Person haben, aber keinen auf eine Überschreitung von Grenzen gegenüber anderen Menschen oder von Erziehungsmethoden, die aus fachlicher Sicht der Entwicklung von Kindern nicht förderlich sind. Zum Angebot der Unterstützung im Trennungsprozeß und bei der Suche nach einer dem Kindeswohl angemessenen einvernehmlichen Lösung gehört es, den Eltern Grenzen aufzuzeigen, wenn sie gegenüber anderen Menschen - dem anderen Elternteil, den Kindern, selbstverständlich auch dem Sachverständigen - übergriffig oder verletzend, abwertend oder respektlos oder gar gewalttätig werden, körperlich oder seelisch. 2.7 Ergebnisse für die Beteiligten Die Ergebnisse, die der Sachverständige erreicht - erreichen kann, Erfolge wird er nicht garantieren - unterscheiden sich von denen, die der Gutachter erreichen kann oder wird, nicht nur oberflächlich, sondern grundsätzlich. Die zeitgemäße sachverständige Tätigkeit hat für den Sachverständigen dann eine gute Qualität, wenn er einen erfolgreichen Beitrag geleistet hat, die Mitglieder der Trennungsfamilie aus einer für alle belastenden, destruktiven, unfruchtbaren Konstellation zu befreien und am Aufbau eines gemeinsamen Nachscheidungsprojekts mitzuwirken. Dem Familien- oder Vormundschaftsrichter wird die qualitative Gewichtung der sachverständigen Arbeit leicht gemacht, denn er muß, statt ein Gerichtsurteil zu fällen und zu begründen, gemeinsam mit den Eltern und ihren Anwälten den elterlichen Vorschlag nur noch rechtlich fixieren. 27 Auch die Eltern werden die Qualität der Ergebnisse ihrer Anstrengungen spüren und zu schätzen lernen, wenn sie erfahren, daß sie sich von weiterem Gerichtsstreß befreit haben, daß der Beziehungsstreß wegfällt oder sich doch erheblich vermindert hat und daß sie in der Erziehung der Kinder und bei der Ausübung der Verantwortung für ihre Entwicklung Entlastung durch den anderen Elternteil erfahren. Die Kinder, am ärgsten betroffen von der Trennungsdynamik, profitieren auch am meisten von einem positiven Ergebnis der sachverständigen Arbeit: Sie erleben - oft erstmals seit Jahren Angstfreiheit, sie können innerlich entspannen, zu ihrer Fröhlichkeit zurückfinden. Das Lachen kehrt zurück - wer jemals ansehen konnte, wie es sich einstellt, wenn Kinder erstmals nach Monaten manchmal nach Jahren ihre Eltern in einem friedlichen Miteinander erleben, weiß, was sachverständige Tätigkeit, zeitgemäß verstanden und praktiziert, bewirken kann. III. Das Rheydter Modell Beim Amtsgericht Mönchengladbach - Rheydt wird in streitigen Sorge- und Umgangsregelungsverfahrenein Verfahren regelmäßig praktiziert, welches nachfolgend aufgezeigt werden soll : Die regelmäßige Vorgehensweise erfolgt in 5 Schritten: 1. Nach Eingang des Antrages wird dieser dem Jugendamt übermittelt. Dieses versucht, unter Einsatz des Sachverstandes des/der SozialarbeiterIn zwischen den Eltern zu vermitteln. Bei Gelingen wird entweder der Antrag zurückgenommen oder es erfolgt eine lediglich die Lösung bestätigende Gerichtsentscheidung. 2. Gelingt zunächst keine Lösung im Interesse der Kinder, so wird der psychologische Sachverständige eingeschaltet. Dieses geschieht durch einen Beweisbeschluß mit folgendem Wortlaut: Es soll Beweis erhoben werden über die Frage, ob im vorliegenden Fall aus psychologischen Gründen eine Ausnahme von der Regel gemacht werden muß, ( ) daß die Beibehaltung der gemeinsamen Sorge dem Kindeswohl am besten entspricht, ( ) daß der persönliche Umgang des Kindes mit beiden Elternteilen dem Kindeswohl am besten entspricht, durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Der Sachverständige wird gem § 404 a ZPO beauftragt, zunächst mit den Eltern und dem/n Kind/ern zu versuchen, unter Einsatz seines 28 Sachverstandes eine einvernehmliche Regelung zu finden. Für den Fall des Scheiterns dieses Versuches soll der Sachverständige ein schriftliches Gutachten vorlegen, aus dem sich auch ergibt, woran die einvernehmliche Regelung gescheitert ist, welche Maßnahmen möglicherweise vom Gericht getroffen werden können, um dem Kind beide Elternteile zu erhalten bzw. zurückzugeben. Der Sachverständige wird unter Einsatz seines Sachverstandes zunächst versuchen, eine am Kindeswohl orientierte Lösung zu erarbeiten. Gelingt dieses, wird ein Anhörungstermin anberaumt, in dem wie unter 1) beschrieben verfahren wird. Es ist hervorzuheben, daß die Erarbeitung einer einvernehmlichen Lösung in vielen Fällen dem Sachverständigen nicht deshalb gelingt, weil er etwa klüger ist als die/der SozialarbeiterIn. Vielmehr hat er andere Ansätze und kann auf der Vorarbeit des Jugendamtes und des Richters aufbauen. 3. Ist die Kooperationsbereitschaft der Eltern wenig ausgeprägt, so wird der Sachverständige seine Vermittlungsversuche unter Einbeziehung Dritter fortsetzen. Oft zeigen die Einbeziehungen von elterlichen Bezugspersonen, etwa Anwälten, Großeltern, neuen Partnern, Erfolge, weil Eltern deren Rat akzeptieren. Bei Erfolg wird nach dem Muster der 1.Stufe weiter verfahren. 4. Ist diese Stufe ebenfalls erfolglos gewesen, unterrichtet der Sachverständige mit einer psychologischen Stellungnahme das Gericht. Dieser beraumt einen Anhörungstermin an, an dem die Eltern, ihre Anwälte, das Jugendamt und der Sachverständige teilnehmen. Dieser Termin wird gestaltet als “ round - table - Gespräch “ , allerdings wird bewußt die Rolle des Richters als staatlich beauftragter Wächter über das Kindeswohl durch Nutzung des Sitzungsaales und der Robe herausgestellt. In diesem Gespräch können zunächst die Eltern ihre Positionen verdeutlichen, dann ggf. die Anwälte, dann der Sachverständige. In dieser Phase kann es drei Alternativen geben: a) Es kann eine Lösung erarbeitet werden. Dann wird wie unter 1 ) beschrieben verfahren. b) es kann noch keine Lösung erarbeitet werden. Die Eltern erkennen aber, daß eine Lösung möglicherweise noch nach weiterer Klärung herbeigeführt werden kann. Dann wird erörtert, ob die Moderation durch den/die SozialarbeiterIn oder durch den Sachverständigen erfolgen soll. Bei Erfolg wird in einem weiteren Termin wie in der Stufe 1 verfahren. 5. Ist die Stufe 4 erfolglos beendet und eine Kooperationsmöglichkeit und -Wille nicht vorhanden, so wird durch den Sachverständigen in Einzelgesprächen mit den Eltern und dem/n Kind/ern die kindliche Position festgestellt. Hier kommt die eigenständige Vertretung des Kindes, der Verfahrenspfleger nach § 50 FGG , ins Spiel. Er vermittelt dem Sachversändigen, dem Gericht und den übrigen Beteiligten die kindliche Position. Der Sachverständige erstellt sein Gutachten, in welchem er die Lösung skizziert, die aus seiner Sicht für das Kind die am wenigsten belastende ist. Aus seiner Darstellung des Herganges der Gespräche kann der Richter die 29 Persönlichkeit der Elternteile und deren gegenwärtige Defizite gut ablesen. Es ist also nicht erforderlich, daß der Sachverständige sich als der heimliche Richter aufspielt, er kann in seiner Rolle als Berater des Richters bleiben. In dieser Phase ist es von außerordentlicher Wichtigkeit, daß der Richter das Kind kennenlernt. Er hat die Eltern schon kennengelernt, ohne eigene Vorstellungen vom Kind dürfte für ihn eine Entscheidung nicht möglich sein. Die bisherigen Erkenntnisse über das Kind, seinen Willen, seine Neigungen, hat er bisher nur mittelbar durch die Eltern, das Jugendamt, den Verfahrenspfleger und den Sachverständigen gewonnen. Nun muß er auch unmittelbar sich ein Bild von der Persönlichkeit des Kindes machen. Daß diese Anhörung gesetzlich vorgeschrieben ist, sei nur am Rande erwähnt. Das gilt unabhängig vom Alter des Kindes, wobei man sich vorstellen kann, daß bei ganz kleinen Kindern aus deren Anhörung Erkenntnisse nicht gewonnen werden können. Bei einer kindgerechten Ausgestaltung der Anhörung, möglichst in der gewohnten Umgebung des Kindes, etwa im Kindergarten oder der Schule , wird diese von Kindern als wenig belastend empfunden, sondern eher als Gelegenheit, dem Richter etwas mitzuteilen. Nach einer fakultativen nochmaligen Anhörung ergeht die Entscheidung zum Sorgerecht bzw. zum Umgang. Auch aus Anlaß eines Umgangsregelungsvefahrens können von Amts wegen Sorgerechtsmaßnahmen erforderlich sein, die mit den Eltern vorher besprochen werden. Zu denken ist dabei an den Entzug der elterlichen Sorge, soweit es erforderlich ist, den Kontakt des Kindes mit dem anderen Elternteil sicherzustellen. IV. Resümee der Zusammenarbeit zwischen Richter und Sachverständigem Aus den vorstehenden juristischen und psychologischen Überlegungen ergibt sich als verbindendes und verbindliches Kriterium für eine Zusammenarbeit zwischen dem Familien- und Vormundschaftsrichter und dem Sachverständigen das Kindeswohl. Beide ergreifen, jeder auf seine Weise, mit seinen verfügbaren theoretischen und methodischen Instrumentarien, Partei für die Kinder, deren Eltern sich trennen, und für ihre Zukunft. Indem sie die Definition des Kindeswohls, wie sie der sachverständigen Arbeit zugrundeliegt, zur Basis auch ihrer gemeinsamen Bemühungen um eine Lösung für die Trennungsfamilie machen, sind sie parteilich auch für die Eltern: Das so verstandene Kindeswohl ist dann gesichert, wenn die Eltern sich auf eine Kooperation in Bezug auf die elterliche Verantwortung geeinigt haben, also den Trennungskrieg zwischen sich zumindest zu einem Waffenstillstand im beiderseitigen Interesse und natürlich in dem der Kinder - haben werden lassen. Richter und Sachverständiger sind sich weiter einig, daß die sachverständige Beratung der Eltern die öfter ergänzt wird durch eine Gerichtsverhandlung, die als Beratungstermin gemeinsam mit Anwälten und Jugendhilfe zu verstehen ist, wie in der Darstellung des Rheydter Modells skizziert das konkrete Ziel verfolgt, eine einvernehmliche Lösung zwischen den Eltern zu erreichen. Für den 30 Richter wird erfahrbar, daß ein solches Ergebnis der juristisch-psychologischen Liaison eine völlig andere Qualität für alle beteiligten Menschen hat, als eine richterliche Entscheidung, deren entmündigender, autoritärer Charakter den Eltern wie den Kindern erspart bleibt. Das Vehikel für die Sicherung dieser Qualität ist die Stärkung der elterlichen Entscheidungsautorität über die Stärkung ihres Selbstbewußtseins als Eltern und ihre elterliche Verantwortung, zu der Richter wie Sachverständiger beitragen. Beide verfolgen das Ziel, die letztlich gefundene Lösung, die identisch ist mit einer nach dem Gesetz notwendigen Entscheidung, für die Zukunft tragfähig zu machen; beide wissen, daß sie zukunftsfähig nur sein wird, wenn die Eltern sie selbstbestimmt entwickelt und geformt haben, wenn sie ihnen also nicht durch den Richter aufgezwungen worden ist. Einig sind sich der psychologische und der juristische Fachmann auch darin, daß - wenn im Rheydter Modell die vorletzte oder gar die letzte Stufe erreicht sind - es notwendig sein kann, einen psychischen Machtmißbrauch von Elternteilen zu benennen, die nicht bereit sind, ihre eigenen Interessen und Gefühle so weit zu kontrollieren und zu bearbeiten, daß es ihnen möglich wird, Kindeswohl und elterliche Verantwortung als primäre Aufgaben im Trennungsprozeß zu betrachten und zu behandeln. Eine hartnäckige, nicht aufzulösende Kooperationsabwehr der Eltern hat zur Folge, daß die Freiwilligkeit der Mitarbeit, der Zusammenarbeit mit den Vertretern des staatlichen Wächteramtes - Richter und Jugendamt - und des Kindeswohls - Sachverständiger - aufgehoben wird. Richter wie Sachverständiger erblicken in dieser Abwehr, in dieser Verweigerung von im Interesse des Kindeswohls notwendiger Einsicht, einen Mangel an elterlicher Erziehungskompetenz, an elterlicher Verantwortung oder Verantwortungsbereitschaft. Aus ihm leiten sie eine akute Gefährdung der Kinder ab, die sie, in aller Deutlichkeit und unter Hinweis auf die möglichen rechtlichen und eingreifenden Konsequenzen, bewerten und benennen. In diesem Sinne bleibt die juristisch-psychologische Koalition dem staatlichen Wächteramt verpflichtet, sie nimmt ihre Verantwortung gegenüber den beteiligten Menschen ernst, nicht zuletzt dadurch, daß sie noch in der Phase der elterlichen Verweigerungshaltung, aufklärend und auf Verstehen und Einsehen hoffend interveniert. Hier entsteht nicht eine Situation, in der Richter und Sachverständiger gemeinsam Druck auf die Eltern ausüben; sie greifen den Druck, dem die Eltern durch ihr unkooperatives Verhalten ihre Kinder auf diese nachhaltig schädigender Weise aussetzen, auf und geben ihn an sie zurück. Nur auf diesem Wege kann es, wenn die Abwehr der Eltern gegen Veränderung einer konflikthaften Trennungssituation hartnäckig bleibt, gelingen, sie diesen Druck selbst spüren, seine Auswirkungen auf die Kinder wenigstens erahnen zu können. In dieser Gestaltung der Allianz zwischen Richter und Sachverständigem liegt zum einen die Chance, ihre Potentiale zu nutzen und gemeinsam einen Prozeß zu gestalten, in dem elterliche Verantwortung entstehen, sich entfalten und geformt werden kann und damit das Kindeswohl einen sicheren Ort in den Gefühlen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Eltern findet. Zum anderen haben sie die Chance, noch als Machtinstanz, wenn sie von den Eltern genötigt werden, 31 als solche zu fungieren, konstruktiv, erkenntnisfördernd und verhaltensverändernd zu wirken. Das Potential an Zivilcourage, an Fachkenntnissen und an sozialer Kompetenz, das für ein solches Vorhaben notwendig ist, kann als synergetischer Effekt des Zusammenspiels zweier Fachleute verstanden werden, die sich auf ein neues Denken und Handeln in ihren jeweiligen Fachgebieten und in ihrer Zusammenarbeit eingelassen haben.16 16 Es geht hier nicht um die konkreten Personen, also die Verfasser, sie stehen nur exemplarisch für ein neues Denken und Handeln. Richter wie Sachverständiger haben mit anderen KollegInnen ähnliche Kooperationszusammenhänge erfolgreich praktiziert, Elmar Bergmann etwa mit Uwe Jopt (Bielefeld), Günter Rexilius etwa mit den Richtern Hans-Peter Cuvenhaus (Rheine), Christian Prestien (jetzt Potsdam). Die Ergebnisse sind in den meisten Fällen ähnlich und nicht nur für die Eltern und Kinder, sondern auch für Richter und Sachverständige lehrreich und bereichernd gewesen.