Nebenrollen in der Bibel Roland Wagner, Schlüchtern 1. Einführung: Motivation und Ziele Für viele ist die Bibel zu einem Buch geworden, das wir nicht mehr mit unserem Leben in Verbindung bringen können. Dies hat mehrere Gründe. Einer davon könnte der Eindruck sein: In der Bibel geht es um komplizierte und abstrakte Gedanken und Glaubensinhalte, die nur Spezialisten verstehen können. Jahrhundertelange kirchliche Geschichte und Tradition haben uns so geprägt, dass man in den biblischen Texten nur schwer den ursprünglichen Bezug zu den Fragen und Spannungen des alltäglichen Lebens sieht. Die Texte der Bibel wurzeln nämlich in dem Leben und den Erfahrungen ganz konkreter Menschen. Manchmal sehen wir diese Menschen nicht mehr, weil auch sie – oder viele davon – durch jahrzehntelanges Predigen und Bibellesen von der normal erfahrbaren Wirklichkeit in eine heilig-distanzierte Atmosphäre entrückt wurden. Viele können den Apostel Paulus nicht mehr mit normalen Menschen vergleichen. Durch „Nebenrollen“ Neugierde wecken Um die Lebensnähe der biblischen Texte wieder zu gewinnen und den persönlichen Zugang zu ihnen zu erleichtern, ist die Idee entstanden, unbekannte oder wenig bekannte Gestalten in den Mittelpunkt des Bibelstudiums zu rücken. Diese „Nebenrollen“ haben nicht nur den Vorteil, Aufmerksamkeit bei den Lesern hervorzurufen, sondern bieten auch Lücken, die sich für eine kreative Aneignung der biblischen Gestalt eignen. „Nebenrollen“ näher am eigenen Leben Außerdem kann der/die normale Bibelleser/in sich mit scheinbar weniger wichtigen Personen leichter identifizieren und damit die Relevanz der biblischen Inhalte für das eigene Leben besser sehen. Die Arbeit mit Nebenrollen schafft in den Lesenden das Bewusstsein, dass Gott gerade durch Nebenrollen unter den Menschen aktiv wird bzw. werden kann. Das ist ihre theologische Bedeutung: Gott möchte durch die kleinen Leute – damals wie heute – seine Liebesbotschaft vermitteln. Gerade die Nebenrollen sind für das Handeln Gottes unentbehrlich. 2. Methode und Ablauf 2.1 Vorbereitung Die Leitungsperson wählt mehrere Nebenrollen in der Bibel, so dass die Tagungs- oder Bibelkreisteilnehmenden (TN) sich eine aussuchen können. Es bilden sich Gruppen um eine einzige Gestalt. Mit 12 bis 15 TN kann man schön drei Gruppen für drei unterschiedliche Rollen bilden (ideale Gruppengröße: 4 bis 5 TN). Um den TN eine Auswahlmöglichkeit zu lassen, ist es angebracht, etwa fünf bis sechs Rollen zur Verfügung stellen. Die Leitungsperson bringt zu jeder biblischen Gestalt die entsprechenden Bibeltexte. Es ist darauf zu achten, dass etwa gleich große Texte bzw. ungefähr die gleiche Menge an biblischen Texten für die Gruppen ausgewählt werden. Die Texte müssen natürlich in der zur Verfügung stehenden Zeit gelesen und diskutiert werden können. Einigen Texten können kurze Erklärungen (z. B. zu Ortsnamen) durch die Leitungsperson hinzugefügt werden. Auch müssen die Fragen für die beiden Durchgänge der Gruppenarbeit schon vorher formuliert werden. 2.2 Gruppenarbeit Die Gruppen beschäftigen sich mit der ausgewählten biblischen Gestalt in zwei Durchgängen. Der erste Durchgang konzentriert sich auf das, was die biblischen Texte über die Nebenrolle sagen. Sie soll als Mensch so gut wie möglich fassbar werden. Der zweite Durchgang zielt auf die persönliche Relevanz und Aneignung der biblischen Gestalt. Ihre Bedeutung für unser persönliches Leben und unser soziales Miteinander soll herausgestellt werden können. 2.3 Plenum Nach jeder Gruppenarbeit gibt es ein Plenum, in dem die Erkenntnisse kurz (5 Minuten pro Gruppe) mitgeteilt werden. Nach der ersten Gruppenarbeit wird die biblische Gestalt vorgestellt. In der Vorstellung werden die Antworten auf die anfänglichen Fragen zu den Texten an passender Stelle eingeflochten (also: nicht nur Fragen und Antworten berichten). Nach der zweiten Gruppenarbeit soll es auch einen Kurzbericht (5 Minuten pro Gruppe) geben. Die aktuelle Bedeutung der Nebenrolle kann – neben einem Kurzbericht – auch durch eine Inszenierung der Erzählung oder Darstellung der Gestalt durch Figuren herausgestellt werden. Die Inszenierung überbrückt meistens ohne große Probleme den kulturellen und geschichtlichen Graben zur biblischen Welt. Am Schluss ist eine Auswertungsrunde wünschenswert. 3. Struktur und Zeitrahmen (12 bis 15 TN) 1. Begrüßung, Vorstellung und Einführung der Bibelarbeit (Ziel, Ablauf usw.) – 15 Min. 2. Auswahl der Gruppen/drei TN (mit kurzer Vorstellung der biblischen Personen) – 15 Min. 3. Gruppenarbeit: Erster Durchgang – 60 Min. 4. Erstes Plenum: Kurze Gruppenberichte (Vorstellung der biblischen Personen) – 15 bis 30 Min. (im Falle von 3 Gruppen) 5. Gruppenarbeit: Zweiter Durchgang – 45 bis 60 Min. 6. Zweites Plenum: Kurze Gruppenberichte mit Inszenierung oder Darstellung – 15 bis 30 Min. 7. Auswertung – 15 Min. Dieser Aufbau passt sehr gut für ein Tagestreffen mit vier Stunden intensiver Arbeit. Transfer auf zwei Hauskreistreffen Bei 90-minütigen Hauskreistreffen kann man die Arbeit auf zwei Treffen verteilen. Die Zahl der Arbeitsgruppen und die Menge an Rückfragen wird natürlich die Zeit des Plenums bestimmen. Man kann nur eine einzelne Nebenrolle vertiefen, indem man für alle Arbeitsgruppen nur eine biblische Gestalt auswählt. 4.1 Beispiel aus dem Alten Testament Rizpa (2. Sam 3,7-8; 2. Sam 21,1-14) – erstes Blatt für die erste Gruppenarbeit Gruppenarbeit – erster Durchgang: 60 Minuten Erklärungen: Name bedeutet „Feuerstein“. Ish-Boschet: Sohn Sauls, der nach dem Tode des Vaters die Regierung über die Stämme Israels weiterführen wollte. Abner: General Sauls und Isch-Boschets, der bisher die Machtansprüche Isch-Boschets vor dem Gegenspieler David verteidigt hatte. Gibeoniter: Einwohner von Gibeon, einer Stadt mit der die Isareliten einen Friedensvertrag geschlossen hatten (Jos 9). Amoriter: ursprüngliche Bevölkerung Kanaans; nach V.5 wollte Saul die Gibeoniter „zunichte machen“, doch gibt es darüber keine Informationen. Jabesch in Gilead: eine israelitische Stadt Beth-Schean: eine nichtisraelitische Stadt Philister: Feinde Israels in Kanaan Kisch: Vater Sauls 1. Warum ärgert sich Isch-Boschet über die Nachricht, dass sein General Abner zu der Nebenfrau seines Vaters eingegangen ist (2. Sam 3,7-8)? 2: Was ist der Grund für die dreijährige Hungersnot zur Zeit Davids (2. Sam 21,1-6? Wie kann man nach der Auffassung des Textes die Not wenden? Was meinen Sie dazu? 3. Warum wurden die sieben Toten nicht beerdigt? Wie lange blieben sie unter freiem Himmel? 4. Wie verstehen Sie die Reaktion Rizpas? 5. Was macht David, nachdem er von Rizpas Tat benachrichtigt wurde? Wie interpretiert der Text diese Tat Davids (V.14)? Aufgabe: Versuchen Sie die Gestalt der Rizpa anhand der gelesenen Texte dem Plenum vorzustellen. Fügen Sie dabei die Antworten zu den obigen Fragen an entsprechender Stelle in Ihren Bericht ein. Sie haben zur Vorstellung 5 Minuten. Rizpa (2. Sam 3,7-8; 2. Sam 21,1-14) – zweites Blatt für die zweite Gruppenarbeit Gruppenarbeit – zweiter Durchgang: 45 Minuten Rizpa war eine Nebenfrau Sauls, die nach seinem Tode Opfer politischer Machtansprüche und Bündnisinteressen wird und zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen muss. Rizpa verlor ihre beiden Söhne wegen einer politischen Entscheidung. Ihre einzige Möglichkeit zu protestieren war eine letzte stumme Liebestat an den Toten. 1. Mit wem würden Sie Rizpa heute vergleichen? 2. Was können wir von Rizpa lernen? 3. Für das Plenum: Fernsehreportage über den Vorfall Rizpa: Ein Fernsehreporter interviewt zwei oder drei Passanten, die Rizpa auf dem Fels beobachten und dann miteinander darüber sprechen. Bitte berücksichtigen Sie unterschiedliche Meinungen und Beweggründe bzw. Sinn oder Sinnlosigkeit von Rizpas Handlung und deren Beziehung zum Glauben. Für Bericht und Darstellung im Plenum haben Sie 5 Minuten. 4.2 Beispiels aus dem Neuen Testament Maria von Magdala (Mk 15,40-47; 16,1-3; Lk 8,1-3; Joh 20,1-18) - erstes Blatt für die erste Gruppenarbeit Gruppenarbeit – erster Durchgang: 60 Minuten Erklärungen: Magdala („Festung“) ist eine kleine Stadt am See Genezareth. 1. Warum wurde Maria wohl eine Jüngerin Jesu? 2. Was lassen die Markusstellen über Maria schließen? 3. Was bedeutete es damals, als Frau zur Jüngerschaft Jesu zu gehören? 4. Was ist in der Ostergeschichte des Johannes (Joh 20, 1-18) anders als in den anderen Evangelien (z.B. Lk 24,1-12)? Warum? 5. Welche Stellung nimmt Ihrer Meinung nach Maria von Magdala im Jüngerkreis ein? Aufgabe: Versuchen Sie, die Gestalt der Maria von Magdala anhand der gelesenen Texte dem Plenum vorzustellen. Fügen Sie dabei die Antworten zu den obigen Fragen an entsprechender Stelle in Ihren Bericht ein. Sie haben zur Vorstellung 5 Minuten. Maria von Magdala (Mk 15,40-47; 16,1-3; Lk 8,1-3; Joh 20,1-18) – zweites Blatt für die zweite Gruppenarbeit Gruppenarbeit – zweiter Durchgang: 45 Minuten Maria von Magdala ist Jüngerin Jesu aus der galiläischen Stadt Magdala. Sie gehörte zur engeren Gefolgschaft des Herrn und wird „Apostelin der Apostel“ genannt. Sie war diejenige, die den Aposteln die Auferstehung Jesu verkündigte. Später ist sie (fälschlicherweise) mit der „Sünderin“ in Lk 7,36-50 identifiziert worden. In der apokryphen Literatur wurde Maria von Magdala zur „Partnerin“ Jesu (Evangelium des Philippus, 2./3. Jh. n.Chr.). Dan Brown („Da Vinci Code“) macht sie sogar zu Jesu Ehefrau. 1. Was können wir von der Maria von Magdala der Evangelien lernen? 2. Was haben wir mit Maria von Magdala gemeinsam? 3. Wie können wir die verschiedenen Bilder von Maria von Magdala durch Figuren (im Plenum) darstellen? Für Bericht und Darstellung im Plenum haben Sie 5 Minuten. Ausblick: Weitere Beispiele für Nebenrollen Barnabas Der Apostel aus Zypern hat Paulus der christlichen Gemeinde in Jerusalem vorgestellt und öfter zwischen den unterschiedlichen Meinungen in der ersten Christenheit vermittelt. Später hat er Paulus zur Gemeindearbeit und Mission motiviert. Baruch Er stand dem Propheten Jeremia in den schwierigen Zeiten der Verfolgung bei und hat seine Worte und Taten für die Nachwelt aufgezeichnet. Baruch hat wegen der Verbindung mit Jeremia ein angenehmes Leben und einen erfolgreichen Beruf aufgeben müssen. Elisa Dieser Prophet steht im Schatten des großen Elia, dessen Schüler er war. Doch hat er in seiner Zeit durch sein Handeln ein großes Beispiel von Glaube und Nächstenliebe gegeben. Jakobus, der Ältere Das Leben dieses Jüngers Jesu zeigt, wie der Weg zum Glauben aussehen kann (allmähliches Wachsen). Nach kirchlicher Tradition kommt Jakobus wunderbarerweise nach Spanien, wo er zum Nationalheld wird (Santiago de Compostella). Lydia Die erste Christin auf europäischem Boden hat sich durch ihre Gastlichkeit ausgezeichnet, indem sie in ihrem Hause die Gemeinde versammelte und umziehende Christen aufnahm. Schifra und Pua Die zwei Hebammen in Ägypten widersetzen sich dem Befehl Pharaos und lassen die israelitischen Jungen am Leben. Die beiden Frauen, die selbst keine Kinder hatten, riskieren ihr eigenes Leben für die Kinder anderer. Roland Wagner, Kassel Fachreferent für Küsterarbeit, Haus- und Bibelkreise in der EKKW im Referat Gemeindeentwicklung und Missionarische Dienste E-Mail: [email protected]