Predigt Hildesheim, Volkstrauertag, 16.11.2014, 2. Kor, 5, 1-10; St. Andreas 1 Denn wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. 2 Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, daß wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, 3 weil wir dann bekleidet und nicht nackt erfunden werden. 4 Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde vom Leben. 5 Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand dazu den Geist gegeben hat. 6 So sind wir denn allezeit getrost und wissen: solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; 7 denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. 8 Wir sind aber getrost und haben vielmehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein beim Herrn. 9 Darum setzen wir auch unsere Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, daß wir ihm wohlgefallen. 10 Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse. Liebe Schwestern und Brüder, wir befinden uns am Ende des Kirchenjahres. Die schweren Dinge stehen an. Sie erinnern uns an die Seiten unseres Daseins, über die wir nicht so gerne reden, die uns immer wieder traurig machen, die uns nicht entlassen aus ihrer Gegenwart, ja, und die gerade wegen ihrer Schwere uns als Menschen zu besonderen Wesen machen. Das erste schwere Ding ist unsere Vergänglichkeit. Das zweite schwere Ding ist das Gericht über uns und unsere Taten. Das dritte schwere Ding ist der unverzagte und trotzige Glaube trotz unserer Vergänglichkeit und trotz des Gerichts. Das erste schwere Ding: unsere Vergänglichkeit. Dieser Tage hatte ich eine merkwürdige Gefühlssituation an mir selbst zu beobachten. Eigentlich eine ganz einfache, aber dennoch sehr tiefe Angelegenheit. Es geht um den Geruch des Herbstes. Dieser besondere Geruch ist mir jahrzehntelang eine köstliche und wertvolle sinnliche Erfahrung gewesen. Die Erde hat in diesen Tagen einen besonderen Geruch, der sozusagen die getane Arbeit der Ernte in sich hat und Abschied nimmt für die Zeit des Winters. Die gefallenen, welkenden und verrottenden Blätter und der Geruch von feuchter Luft verbinden sich zu einem Gesamterlebnis, das ich immer gern gerochen, gefühlt, genossen habe. Nicht zuletzt aufgrund der herrlichen Erwartung des wiedererwachenden Lebens im Frühling und der damit verbundenen Vitalität und Lebensfreude. Ich merke nun in den letzten Jahren, daß dieser Geruch noch eine andere Qualität bekommt, sozusagen andere Gefühle auslöst. Ich erkenne ihn zwar wieder, aber er erinnert mich jetzt mehr und mehr daran daß unsere Zeit, genauer: meine eigene bemessen ist. Natürlich einfach deswegen, weil ich älter werde. Er bekommt deswegen etwas Melancholisches, Ahnungsvolles, Schweres. Das Bewußtsein der Vergänglichkeit wandert aus dem bloßen Wissen hinein in die ganz konkrete Praxis des Lebens. Der Herbst ist für mich ein anderer geworden. Er ist jetzt nicht nur schwerblütig schön, er tut jetzt auch ein bißchen weh. Wobei es noch ein großartiges Privileg ist, das auf diese Weise erleben zu können. Viele Menschen in unserer Umgebung sind gerade geplagt von tödlichen Krankheiten, die in ihnen rumoren, von jählings zustoßenden Ereignisse, die plötzlich die Grenzerfahrung des Todes hart an den Alltag heranführen, oder von den bösen Zuständen, wenn Krieg und Terror das Land mit Verderben überziehen. Aber wie auch immer: wir sind vergängliche Wesen. Und wir müssen unser Leben führen, gestalten und verantworten in der Aussicht auf eine endliche Existenz. Die bohrende Frage, was wir an Sinn und Glück, an Freude und Erfüllung angesichts dieser Aussicht feststellen sollen und können, ist nicht mit einem Handstreich beantwortet. Je länger wir leben, um so mehr begreifen wir, wie kurz es ist. Und das ist schmerzlich, nicht wunderbar. Darum gibt es, so sagt unser Predigttext, ein Seufzen in uns, das einfach aufgrund dieser Verfassung entsteht. Wir wollen leben, und wir müssen sterben. Wir wollen wachsen, und wir müssen irgendwann aufgeben. Wir wollen da sein, und wir müssen gehen. Das Leben in uns hat eine Sehnsucht, die über den Tod hinausgreifen will. Nietzsche hat es in einer Abwandlung der Begriffe so formuliert: denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit. Das zweite schwere Ding in unserem Predigttext ist das Gericht. Was wir tun, ist nicht folgenlos. Und wir sind es, mit denen irgendwie abgerechnet wird. Die Vorstellungen des Jüngsten Gerichts, die wir aus dem Munde Jesu in der Lesung des Evangeliums vernommen haben, mögen meinethalben nicht mit gut mit unseren Weltansichten verträglich sein, aber die damit bezeichnete Sache ist damit nicht erledigt. Wir werden Rechenschaft ablegen müssen über das, was wir getan haben, es sei gut oder böse. Wir werden zu erscheinen haben vor einem Gericht, das sich das alles noch einmal anschaut, was da aus unseren Mündern und Herzen und Händen gegangen ist. Nicht weil es sich dabei um ein sadistisches Tribunal handelt, das sich da ein spätes Stelldichein vor den Toren des Himmel gönnt, sondern weil Menschen und Schöpfung unter unserem Handeln, unserem Tun und Lassen, unsere Art und Weise zu leben gelitten haben. Gegen uns führt nicht einfach ein Gott Klage, der ansonsten nichts zu tun hat, sondern er ist nur der Anwalt für die, mit denen wir unterwegs waren – für sie ist nun vor dem Richterstuhl Christi Platz und Gelegenheit, ihre Sache vorzubringen. Mancher mag das mit wegfwerfender Geste abtun, als ginge ihn das nichts an. Nun, wir werden sehen. „Die Rache ist mein, spricht der Herr, ich will vergelten“ heißt es in Dtn. 32 (zitiert in Röm.12). Was wirklich geschieht, bestimmen nicht wir. Das liegt in größerenHändern. Die zusätzliche Beschwernis aber ist diese: zu der Vergänglichkeit unseres Lebens, die als solche schmerzlich genug ist, kommt eine Erwartung hinzu, die sozusagen auf die Qualität unseres Lebens abstellt. Es reicht nicht aus, das Leben bestanden zu haben, es kommt auch darauf an, wie es geführt und bestanden wird. Und zwar, wie wir es geführt und bestanden haben. Nicht die anderen, nicht die Umstände, nicht die Gesellschaft, sondern wir. Elefanten oder Glühwürmchen ist diese Aufgabe nicht gestellt, aber uns. Denn wir haben die Macht, Elefanten und Glühwürmchen und eben auch Menschen und unseresgleichen ins Unglück zu stürzen oder ins Glück zu führen. Wir haben die Macht, wir haben die Freiheit, und darum haben wir auch die Verantwortung. Darum drückt der Predigttext auch sehr pointiert auf diesen Sachverhalt: wir werden alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi und Rechenschaft ablegen von allem, was wir getan haben, es sei gut oder böse. Wenn wir aber offenbar werden, wird sich wieder zeigen, wie nackt wir sind. Es wird sich wieder die alte Blöße zeigen, die wir zu verdecken suchen durch allerlei verschiedene Ablenkungsmaßnahmen. Seit dem Paradies ist das so. Aber es wird nichts nützen – wir selber wissen, wie es ist, und Gott weiß es auch. Das ist das Schwere daran. Man kann auch dieser Situation nicht ausweichen – sie kommt sozusagen mit der Vergänglichkeit auf uns zu. Es ist – bei Lichte besehen – ein und derselbe Vorgang. Die Endlichkeit unseres Lebens ist die Bedingung dafür, daß überhaupt eine Bilanz gezogen werden kann. Wären wir unendlich, könnten wir dieser Unausweichlichkeit ein Schnippchen schlagen – aber wir sind endlich. Ist nichts mit Schnippchen. Das dritte schwere Ding nun ist der trotzige und unverdrossene Glaube gerade angesichts unserer Endlichkeit und angesichts des Gerichts. Das Schwere daran ist: wie soll es einen Ausweg geben, wo die Dinge doch feststehen. Wir sind endlich, und am Ende das Gericht. Und wie der Spruch über uns aussieht, ist so schwer nicht auszurechnen. Was soll der Glaube da noch für einen Ausschlag geben? Man kann übrigens, das nur nebenbei, in diesem Zusammenhang die ganze Euthanasie- und Sterbehilfe-Debatte auch so lesen, daß wir der Unverfügbarkeit unseres Endes und des Gerichts wenigstens einen kleinen Akt autonomer Bestimmung und Selbständigkeit beifügen wollen. Wir möchten eben nicht ganz so ausgeliefert, nicht ganz so nackt und bloß sein, wie es hier im Text steht. Wir wollen wenigstens eine kleine Decke der Selbstachtung davor ziehen, damit es nicht so erbärmlich, so qualvoll, so ohnmächtig aussieht, für uns nicht und die anderen auch nicht. Nun heißt es aber in unserem Text: So sin wir denn allezeit getrost und wissen: solange wir im Leibe sind, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Wir sehen sozusagen das Schwere, unsere Vergänglichkeit und die Summe unserer Taten, aber darum geht es im Glauben an Christus ganz am Ende nicht. Der Glaube an Christus sagt vielmehr: schau nicht auf deine Endlichkeit. Schau nicht auf deine Blöße. Schau nicht auf das, was du erreicht hast oder nicht. Schau auch nicht darauf, was die anderen von dir halten und wie du in ihren Augen dastehst. Sondern glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Christus als die letzte Wirklichkeit der sichtbaren und der unsichtbaren Dinge. An den auferstandenen Christus, weil der dafür steht, daß der Tod nicht den Sieg behalten wird und nicht das letzte Wort des Lebens ist. Das letzte Wort hat der Auferstandenen und niemand sonst. Er sitzt eben auf dem Richterstuhl. Glaube an den auferstandenen Christus, weil er den eigentlichen Rahmen unseres Lebens spannt. Da ist mehr in und an uns als die Spanne zwischen Geburtsurkunde und Totenschein. Glaube an den gekreuzigten Christus, weil der dafür steht, daß an einer Stelle, am Kreuz Jesu, die Schuld dieser Welt getragen und nicht vergolten wird. Daß das Erbarmen über das Recht und die Gnade über die Anklage siegt. Den Preis dafür bezahlen aber nicht wir, sondern er. Wir müssen das nicht verstehen. Aber wir können es annehmen. Und es wird uns trösten. Das alles ist nicht evident – wir wandeln im Glauben – und es ist auch nicht leicht, aber das biblische Zeugnis versichert uns: es ist wahr. Amen.