Fabian Und Kleiner Mann – was nun? Neue Sachlichkeit und Kritik an der Weimarer Republik Bachelorarbeit Allgemeine Literaturwissenschaften Universität Utrecht Studienjahr 2010/2011 Begleitende Dozentin: Prof. Dr. Birgit Kaiser Valerie Kunz Studentennummer 3409120 [2] Inhaltsverzeichnis 1) Einleitung ......................................................................................................................................... 3 2) Literatur in der Weimarer Republik ................................................................................................ 4 2.1) Neue Sachlichkeit ......................................................................................................................... 5 2.1.1) Neue Sachlichkeit in Fabian und Kleiner Mann - was nun? .................................................. 6 3) Frauen.............................................................................................................................................. 8 4) Sexualität ....................................................................................................................................... 12 5) Arbeitslosigkeit .............................................................................................................................. 15 6) Gesellschaftliche Schichten, Zugehörigkeitsgefühl und politische Ansichten............................... 18 7) Schlussfolgerung............................................................................................................................ 22 [3] 1) Einleitung Die Weimarer Republik: Ein „Zeit des Umbruchs und der Reaktion“ 1. Die Weimarer Republik war die erste deutsche Republik und noch heute erinnert man sich an die Zeit der Weimarer Republik als eine besondere Periode. Frauen hatten mehr Rechte als davor und danach, alles war freier und demokratischer. Aber natürlich gab es auch sehr viele Probleme, die nicht gelöst werden konnten, sodass es 1933 möglich war, dass die Nazis die Macht übernehmen konnten. 1919 wurde die Republik ausgerufen, aber sie nahm keinen guten Anfang, hatte sie doch schon zu Beginn mit den Restriktionen und Verpflichtungen des Versailler Vertrages und den Folgen des ersten Weltkrieges zu kämpfen. Auch die Innenpolitik der jungen Republik war nicht stabil: In 14 Jahren waren 16 Reichsregierungen an der Macht. 2 Zu Beginn der zwanziger Jahre wurde das Land von einer Inflation erschüttert, die erst durch Einführung einer neuen Währung im November 1924 beseitigt werden konnte, aber viele Menschen ihrer Ersparnisse beraubte und für Instabilität sorgte. Der Anfang vom Ende der Weimarer Republik begann 1929 mit der Weltwirtschaftskrise, die auch auf Deutschland große Auswirkungen hatte. Die Arbeitslosigkeit erreichte ungekannte Höhen und dies änderte sich erst mit der Machtübernahme Hitlers 1933. Zurückblickend war die Wirtschaftskrise eine der Hauptursachen dafür, dass Hitler so viel Einfluss bekommen konnte. Die Weimarer Republik war also neben einer Periode der (scheinbaren) Freiheit auch eine der Unsicherheit. Um nicht unterzugehen, war es vonnöten, sachlich und rationell zu bleiben, und Sachlichkeit ist dann auch das große Stichwort der Weimarer Republik. Rationalität zeigte sich in vielen Bereichen des Lebens, allen voran der Kunst und der Literatur, auf die ich später noch näher eingehen werde, aber auch in der Rolle der Frau, der Sexualität und der Religion. Zwei Autoren, die der „Neuen Sachlichkeit“ zugehörig genannt werden können, sind Erich Kästner und Hans Fallada. Ihre Romane Fabian und Kleiner Mann - was nun? spielen in der Weltwirtschaftskrise, also am Ende der Weimarer Republik, und erzählen mit einem lachenden und einem weinenden Auge, aber immer mit viel Ironie und Einfühlungsvermögen vom Schicksal zweier junger Männer in Berlin, die mit Arbeitslosigkeit, dem modernen Leben aber auch mit Liebe und Enttäuschungen zu kämpfen haben. Dabei versäumen sie die Autoren es nicht, die Zeit der Weimarer Republik mit einem wertenden Blick darzustellen und zu kritisieren. In dieser Arbeit möchte ich gerne zeigen, welche Themen sie dabei besonders hervorheben, auf welche Weise sie dies tun und wo sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten in ihrer Themenauswahl finden. Auch werde ich besprechen, welchen Einfluss die Sachlichkeit auf ihre Literatur hat und wie sich dies im Stil zeigt. 1 Sigrid und Wolfgang Jacobeit, Illustrierte Alltags- und Sozialgeschichte Deutschlands 1900-1945. Münster: Westfälisches Dampfboot, 1995, S. 63 2 Vgl. http://www.dhm.de/lemo/html/weimar/innenpolitik/index.html [4] 2) Literatur in der Weimarer Republik Die Literatur der Weimarer Republik zeichnet sich vor allem durch Widersprüchlichkeit und Vielseitigkeit aus. Manche Literatur war sehr politisch, andere wiederum überhaupt nicht, und andere tat, als sei sie nicht politisch, war es eigentlich aber doch. Zu der letzten Kategorie gehören die beiden Romane Kleiner Mann – was nun? und Fabian. Neben der Neuen Sachlichkeit existierten auch Formen der modernen Kunst wie Expressionismus und Dadaismus, aber auch Genres wie der Arbeiterroman wurden immer populärer. Insgesamt wurde mehr gelesen und entwickelte sich das Buch langsam zur Ware, ähnlich, wie wir es auch heute gewöhnt sind. Das Angebot wurde nicht mehr von den Autoren bestimmt, sondern von der Nachfrage; Bücher, die niemand lesen wollte, wurden nicht verlegt und Literatur, die unbequeme Ansichten vertrat und nicht leicht verdaulich war, verstaubte in den Buchläden. Walter Benjamin begann in dieser Zeit mit seinen Theorien über Kunst als Ware, dessen Absatz vom wirtschaftlichen Markt bestimmt wird. Laut Benjamin ist der Autor kein eigenständiger Künstler mehr, sondern ein Lieferant von etwas, das so angepasst wie möglich sein muss, um zu gefallen. So bestimmt das Angebot die Nachfrage, wie bei allen Wirtschaftsgütern im Kapitalismus. 3 Es wurde also mehr gelesen und so entwickelten sich Bücher, die leicht bekömmlich waren und die von vielen Menschen zur Entspannung gelesen wurden. Auch die Literatur der Neuen Sachlichkeit zeichnete sich durch einen einfach verständlichen Stil aus, um so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Erstaunlicherweise blieb trotzdem noch Platz für andere, weniger leicht konsumierbare Kunstformen, wie dem Expressionismus und dem Dadaismus. Im Gegensatz zu anderer Literatur waren diese sehr subjektiv und vergleichsweise unpolitisch, da sie keine allgemeinen Aussagen machten. Vor allem der Expressionismus, der schon einige Zeit vor der Weimarer Republik begonnen hatte, war ein Rückzug von der Wirklichkeit in das Subjekt, in Gefühle und den Ausdruck derer. So vielseitig sich die Literatur der Weimarer Republik auch zeigte und wie demokratisch sich die Republik auch immer gerne präsentierte; auch in dieser Zeit hatte die Literatur mit Zensur und Verboten zu kämpfen. Zwar war das Recht auf Meinungsfreiheit in Wort, Bild und Schrift sogar in der Verfassung verankert, so wie heute, aber die Ausführung dessen stand auf einem anderen Blatt. Sondergesetze wie das „Schund und Schmutzgesetz“ aus 1926 erlaubten die Verfolgung von unbequemen Autoren. Offiziell richtete sich die Verfolgung auf vor allem rechtsradikale Autoren, aber in Wirklichkeit betraf sie doch eher linke Autoren, die sich in ihren Schriften gegen die Republik und deren Missstände richteten. Auch das neu aufkommende sehr politische proletarische Theater, das wie der Arbeiterroman ein Mittel sein sollte, die Arbeiterschaft kulturell zu vereinigen und ein Sprachrohr zu schaffen, wurde, obwohl es sehr populär war, immer wieder verboten. So war Kunst in der Weimarer Republik ein sich Schlängeln zwischen Verboten und Zensur, sodass man so viel wie möglich sagen konnte, ohne verboten zu werden. 3 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit(1936) [5] 2.1) Neue Sachlichkeit Nicht verwunderlich ist es daher auch, dass die Literatur der Neuen Sachlichkeit keinerlei Stellung bezieht. Ihr Anspruch an sich selbst ist vor allem Objektivität und ein neutraler Erzählstil. Der Effekt davon, so die Neuen Sachlichen, sei, dass niemand ihnen Polarisierung zum Vorwurf machen könne. Die Fakten sprächen für sich und jeder Leser könne sich auf Grund dessen eine eigene Meinung bilden. Man könnte also sagen, dass die Literatur der Neuen Sachlichkeit überhaupt nicht politisch sei, da sie ja nur darstelle, aber in Wirklichkeit war diese Literatur doch sehr politisch, indem sie Missstände deutlich aufzeigte. Mehr dazu später in meiner Analyse zu Fabian und Kleiner Mann was nun?. Alfred Döblin war einer der wichtigsten Namen der Neuen Sachlichkeit. Er prägte den Begriff schon, bevor es ihn gab und lange bevor die Weimarer Republik entstand. Seine Theorien zu einer sachlichen Literatur verlangen nach einer neuen, sachlicheren Literaturästhetik, die später ziemlich genau den eigentlichen Merkmalen der Neuen Sachlichkeit entsprechen sollte. Das Besondere an Alfred Döblin selbst ist dass er sowohl zum Expressionismus als auch zur Neuen Sachlichkeit gerechnet werden kann, da er durch eine einzigartige Montagetechnik, die dem eines Films sehr ähnelt, seine Romane auf unterschiedliche Arten erzählt und dabei subjektive Erzählformen wie innerer Monolog mit objektiven wie einem dokumentarischen, neutralen Stil verbindet. Die Neue Sachlichkeit hingegen hat als eins der wichtigsten Merkmale, dass sie sich gegen den Expressionismus wendete. Die Sachlichkeit wollte Dinge so darstellen, wie sie sind, und nannte sich selbst deswegen manchmal auch „Neuer Naturalismus“. Der Fokus liegt auf dem Objekt, also der Sache selbst, und nicht auf dem Menschen, dem Subjekt. Wie Sabina Becker es zusammenfasst, hat die Neue Sachlichkeit „Desinteresse an einem individualistischen Psychologismus, mithin [verlangt sie] größtmögliche Reduktion subjektivistischer Tendenzen mittels einer am Gegenstand […] orientierten objektiven Schreibweise […]; aus beiden Punkten leitet sich sodann die Ausbildung eines nüchtern-unpathetischen Stils ab.“4 Dennoch ist die Neue Sachlichkeit natürlich nicht anti-subjektivistisch, denn anzunehmen, dass ein Roman gänzlich ohne erzählerische Mittel und ohne eine Hauptfigur auskommen kann, so naiv waren die Neuen Sachlichen nicht. Becker: „innerhalb des literarischen neusachlichen Diskurses werden weder die völlige Reduktion der Realität und Realitätserfahrung auf die Objekte und die Objektwelt noch der Verzicht auf die erzählerische Ausgestaltung literarischer Texte gefordert und praktiziert“5. Ziel war es also, einen Roman zu schaffen, der eine sich auf eine Figur konzentrierte, die jedermann sein könnte, und mithilfe dessen die Realität darzustellen. Gefühle der Figuren zu zeigen, wie zum Beispiel durch innere Monologe, war dabei nicht das Ziel, sondern vielmehr, ihre Gefühle durch ihre Handlungen und Aussagen zum Ausdruck kommen zu lassen. Der Leser sollte selbst denken und nichts vorgekaut bekommen. Dennoch war der sachliche Stil nicht theoretisch und wissenschaftlich genug, um einfache Leser abzuschrecken und die Ansichten, die der Autor vertrat, kamen indirekt doch sehr deutlich zum Ausdruck. Darauf werde ich später auch noch eingehen. Wichtig war bei der Neuen Sachlichkeit auch der Nachdruck auf Berlin als Zentrum der Weimarer Republik. Berlin war die Metropole und unterschied sich in der Modernität und Lebensart sehr vom „platten Land“. Berlin stand für das moderne, fortschrittliche Leben, während das Landleben Konservatismus und Traditionen repräsentierte. Kein Wunder, dass immer mehr junge Menschen sich hingezogen fühlten 4 Sabina Becker, Neue Sachlichkeit. Band 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920-1933). Köln: Böhlau Verlag GmbH, 2000, S. 67 5 Idem, S. 70 [6] zu dieser großen Stadt, in der anscheinend das wirkliche Leben stattfand. Aber es ist auch kein Zufall, dass sich die meisten neusachlichen Romane in Berlin abspielen, denn das Leben dort bot auch viel Angriffsfläche, wie wir bei Fallada, vor allem aber bei Kästner sehen werden. 2.1.1) Neue Sachlichkeit in Fabian und Kleiner Mann - was nun? Fabian ist ein neusachlicher Roman von Erich Kästner, der sich allerdings immer vehement dagegen gewehrt hat, zur Neuen Sachlichkeit gerechnet zu werden. Dennoch finden wir in Fabian sehr viele Merkmale und Stilmittel dieser Strömung. Was man bei Kästners, aber auch bei Falladas Roman vor allem merkt, ist dass die Neue Sachlichkeit zwar vorgibt, neutral und objektiv zu erzählen, aber dass dies eigentlich nicht möglich ist. Der Autor bringt doch indirekt seine Vorlieben und Abneigungen zum Ausdruck. Wie ich in zum Beispiel meiner Analyse der Frauenrollen näher erläutern werde, ist deutlich zu erkennen, welche Frauen die Autoren als positiv empfinden und welche sie kritisieren. Und auch Kästners Vorbemerkung zu seinem Roman, die sich schon im Titel findet, dass es sich bei seiner Hauptfigur Fabian um „einen Moralisten“ handelt, zeigt natürlich deutlich, dass nicht nur dargestellt, sondern auch überzeugt werden sollte. Ein Moralist ist jemand mit Werten, jemand der für sich beschlossen hat, was er richtig oder falsch findet, und der das natürlich auch an andere Menschen übertragen will. So sagt Kästner in seiner Vorbemerkung zu Fabian, dass „der Roman ein bestimmtes Ziel verfolgte: Er wollte warnen. Er wollte vor dem Abgrund warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten!“ 6 Vielleicht hat sich Kästner auf Grund dieser Ansicht auch so sehr gegen die Kategorisierung zur Neuen Sachlichkeit gewehrt, da er eben überhaupt nicht sachlich sein wollte. Aber eine Lösung kann Kästner nicht bieten, auch er kann nur Missstände aufzeigen, aber keine mögliche Lösung dafür. In seinem Roman Fabian stirbt Fabian am Ende, man könnte es auch Selbstmord nennen; die einzige aktive Tat der Hauptfigur, die sich ansonsten stets nur mitnehmen lässt und sehr passiv wirkt. In dem Sinne passt Kästner also wieder sehr gut in die Neue Sachlichkeit, die auf schlechte Dinge aufmerksam macht, sie darstellt, aber das Nachdenken darüber, was daran getan werden könnte, dem Leser überlässt. Auch Fallada schreibt in seinem Vorwort zu seinem Roman Wer einmal aus dem Blechnapf frisst: „Wie beim Kleinen Mann konnte der Verfasser nur darstellen, was er sah, nicht, was da sein wird. Dies schien ihm seine Aufgabe, sonst nichts.“7 Und dies darstellen, das tun Kästner und Fallada sehr gewissenhaft. So konzentriert sich Fallada zum Beispiel sehr auf Details. Er beschreibt, wie viel Geld Pinneberg genau verdient und wie viel davon für welche Dinge ausgegeben wird. Der Leser kann sich so ein genaues Bild davon machen, wie wenig der jungen Familie wirklich zum Leben bleibt. Auch bestimmte Adressen und Namen werden von Fallada genannt und die Figuren erscheinen dank seiner Beschreibung sehr lebendig vor dem Auge des Lesers. Auch Kästner beschreibt auf eine solche Art. Seine Figuren sind immer sehr realistisch und glaubwürdig, auch wenn sie manchmal in ein Klischee abrutschen, wie er auch selbst in seinem Vorwort zugibt. Aber Klischees entspringen der Wirklichkeit und die Übertreibung bestimmter 6 7 Erich Kästner, Fabian. (1931) München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004, S. 10 f. Rudolf Wolff (Hrsg.), Hans Fallada, Werk und Wirkung. Bonn: Bouvier, 1983, S. 95 [7] Figuren dient dann auch der realistischeren Darstellung. Auch in Fabian erfährt der Leser, was Fabian verdient und wie viel der Zug kostet. Dennoch scheinen die Romane zwei verschiedenen Zielen zu dienen, beziehungsweise zeigen sie unterschiedliche Milieus. Zwar sind Pinneberg und Fabian beide arbeitslose Angestellte, aber der eine hat eine Familie, für die er sorgen muss, und der andere nicht. So ergeben sich sehr unterschiedliche Bekanntschaften und Bedürfnisse. Während Fallada das ärmliche Leben einer jungen Familie während einiger Monate beschreibt, ist Fabian ein Junggeselle, der sich vor allem mit Frauen und Freunden beschäftigt. Auch spielt sich der Roman Fabian innerhalb weniger Wochen ab. Auffällig ist jedenfalls, dass Fabian viel weniger den Missstand des Geldmangels wegen Arbeitslosigkeit ankreidet, sondern vielmehr die Tatsache der Arbeitslosigkeit selbst. Fallada beschreibt die konkreten lebensbedrohlichen, praktischen Folgen der Arbeitslosigkeit, während Fabians Leben sich nicht maßgeblich geändert zu haben scheint, jedenfalls ist Geldmangel bei Weitem keins der dominantesten Themen und wird nur kurz erwähnt. Dafür macht Kästner mit seiner Figur Fabian vor allem auf die moralischen Zustände der Stadt Berlin aufmerksam, die Art, wie sich Frauen kleiden, wie sie sich benehmen, wie die Presse arbeitet und Fabians zermürbende Suche nach dem richtigen, zuständigen Arbeitsamt. Dies alles wird im Gegensatz zu Pinnebergs Leben, in dem all dies kaum eine Rolle spielt, sehr genau und sehr detailliert beschrieben. Gefühle allerdings spielen in beiden Romanen fast keine Rolle, nur Gedanken. So wird zum Beispiel in der Situation, in der Pinneberg vom Bürgersteig gejagt wurde, weil er ärmlich gekleidet ist, mithilfe seines Verhaltens und der äußeren Umstände deutlich gemacht, wie er sich fühlt: „Er läuft auf seinem Fahrdamm weiter, immer geradeaus, in das Dunkel, in die Nacht hinein, die nirgendwo wirklich tiefschwarze Nacht ist“8. Auch seine Gedanken, „er denkt an furchtbar viel, an Anzünden, an Bomben, an Totschießen, er denkt daran, daß es nun eigentlich auch mit Lämmchen alle ist und mit dem Murkel, daß nichts mehr weitergeht… aber eigentlich denkt er an gar nichts.“ 9, zeigen sehr deutlich wie er sich fühlt, obwohl nirgendwo gesagt wird, wie er sich genau fühlt. Hier wird deutlich, dass die Denkarbeit dem Leser überlassen wird, denn jeder Mensch kann sich in eine solche Situation hinein versetzen und verstehen, dass Pinneberg sich verzweifelt und traurig fühlt, ohne, dass dies explizit gesagt werden muss. Ein weiteres, in beiden Romanen vorkommendes Merkmal der Neuen Sachlichkeit ist die Betonung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land. Bei Kästner erscheint das Dorf, aus dem er kommt, im Gegensatz zur Stadt immer wie der Inbegriff der Güte, dort, wo das Leben noch normal ist. Der Gegensatz wird vor allem mithilfe seiner Mutter verdeutlicht, deren gutartige und perfekte Darstellung ich noch näher beschreiben werde, und die in einem Dorf wohnt. Das Dorf erscheint Fabian dann auch wie ein Ort der Sehnsucht. Aber als er am Ende dorthin zurückkehrt, merkt er, dass auch dort nicht die Moral herrscht: Die örtliche Zeitung hat einen Redakteur, der Nazi ist, auch dort betrügen die Menschen ihre Ehepartner und gibt es Prostituierte, und die alte Schulfreundin, die Fabian trifft, ist vor lauter Spießigkeit und Bürgerlichkeit zu schnell gealtert. Auch im Dorf ist also nicht alles Gold, was glänzt, und Fabian merkt, dass auch dort nicht die Art von Moral herrscht, die er sich vorstellt. Ähnlich ist es bei Fallada. So macht Mia Pinneberg sich über Lämmchens ländliche Herkunft lustig und scheinen die Menschen in der Stadt ein Stück extremer zu sein. Aber während Pinnebergs 8 Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1950, S. 413 Idem, S. 412 9 [8] Kollegen auf dem Land ihn verraten und Lämmchens Eltern sich durch Gemeinheiten und lieblosem Umgang auszeichnen, so findet Pinneberg in der Stadt einen Kollegen, der ihm hilft, und auch der Kleinkriminelle Jachmann erweist sich als ein guter Mensch. Und auch wenn die Familie am Ende wie Fabian zurückkehrt zum Landleben, so wird darüber doch nichts Positives berichtet: Ihre Nachbarn stehlen Holz und besitzen eine solche Art Gemeinschaftssinn, dass Pinneberg sich fürchtet, weil er sich nicht an unmoralischen Tätigkeiten beteiligen will. Auch sonst wird sehr deutlich gemacht, dass die Familie nur wegen der Miete aufs Land gezogen ist, aber das Leben dort sonst eigentlich nur Nachteile hat. Man sieht also, dass sowohl bei Kästner als auch bei Fabian die Stadt-Land Thematik sehr deutlich aufgegriffen wird, aber dass keiner der Autoren zu einem rundum positiven Urteil über weder das Stadt- noch das Landleben kommt. Ein letztes Merkmal der Neuen Sachlichkeit ist die Darstellung und positive Hervorhebung von Solidarität. Fabian selbst ist ein sehr freundschaftlicher Mensch, was sich zum Beispiel in seinem Verhalten gegenüber seinem Freund Labude oder dem alten Erfinder, den er mit nach Hause nimmt und ihm Essen und Obdach gibt, ausdrückt. Unsolidarisches Verhalten und Egoismus wird dagegen deutlich kritisiert, zum Beispiel das von Cornelia oder das von seinem Kollegen, der Zuschläge für Fabians Idee des Preisausschreibens erhält. Vielleicht noch deutlicher ist es bei Fallada. So lernt der Leser Heilbutt kennen, der Pinneberg immer wieder hilft und sich nie über diese einseitige Freundschaft beschwert. Auch Jachmann gibt der Familie mehrmals Geld und unterstützt sie, und es wird deutlich, dass Pinneberg und Lämmchen es ohne diese beiden Freunde sehr schwer hätten. Auffällig ist dabei, dass sowohl Pinneberg und Jachmann beide auch Eigenschaften haben, die Pinneberg ablehnt: Heilbutt beschäftigt sich erst hobbymäßig und später hauptberuflich mit FKK und Aktfotos, etwas, dass Pinneberg selbst eher befremdlich findet. Und Jachmann ist ein Kleinkrimineller, der des Öfteren verschwindet und dann im Gefängnis ist. Dennoch sind beide Männer sehr positive Figuren und das vor allem durch ihr Verhalten Pinneberg und seiner Frau gegenüber. Die Botschaft scheint also zu sein, dass es viel wichtiger ist, ein guter Mensch zu sein, als eine perfekte glatte Persönlichkeit. Das sieht man auch an Pinnebergs Abkehr von jeglichen unsolidarischen Menschen, wie seine Kollegen, die ihn verraten und dem Tischler Puttbreese, der sehr freundlich tut, aber eigentlich nur auf Geld aus ist. Alles in allem können beide Romane also deutlich der Neuen Sachlichkeit zugeordnet werden, da sie alle wichtigen Merkmale dieser vorweisen. 3) Frauen Wie vieles in der Weimarer Republik, veränderte sich die Rolle der Frau und war vor allem anders als zuvor. Heutzutage wird die Weimarer Republik als eine Zeit gesehen, in der Frauen viele Rechte hatten und beinahe so lebten wie heutzutage. Aber das war nur scheinbar so. Zwar besaßen Frauen nun das aktive und passive Wahlrecht, gab es mehr berufstätige Frauen und vor allem veränderte sich die Art der Arbeit, die Frauen verrichteten. So arbeiteten weniger Frauen auf dem landwirtschaftlichen Betrieb der Familie, was auch mit der Urbanisierung zu tun hatte, und es gab auch weniger Hausmädchen. Stattdessen waren mehr Frauen industrielle Arbeiterinnen und Angestellte, und entwickelten sich typische Frauenberufe wie Stenotypistin oder Verkäuferin, die [9] meist von jungen, noch ledigen, oder älteren, wieder ledigen Frauen ausgeübt wurden. Auch studierten mehr Frauen und erreichten einen akademischen Abschluss. Doch der Schein, dass der Großteil der Frauen arbeitete, so wie es heute der Fall ist, trübt. Die meisten Frauen waren nur zwischenzeitlich berufstätig, zum Beispiel, wenn sie noch nicht verheiratet waren, oder wenn sie verwitwet waren und für sich selbst sorgen mussten. Verheiratete Frauen arbeiteten in der Regel nicht, und eine Beamte, deren Mann auch verdiente, wurde nicht nur als „Doppelverdienerin“ beschimpft, sondern konnte sogar aus diesem Grund legal entlassen werden. Frauen an der Universität hatten mit Vorurteilen und Sexismus zu kämpfen und arbeitende Frauen verdienten weniger als ihre männlichen Kollegen, sogar nach den Regeln des Tarifvertrages. Natürlich gab es eine Frauenbewegung, die sich für die Rechte der Frau einsetzte. Aber diese Frauenbewegung stammte aus der Zeit vor der Weimarer Republik, und dementsprechend war auch ihr Idealbild der Frau: eine dominante Hausfrau, die ihren Haushalt, ihre Kinder und ihren Mann regiert. Eine solche Frau finden wir in der Figur der Frau Kleinholz, auf die ich später zurückkommen werde. Die junge, moderne Frau entsprach diesem Idealbild jedoch nicht und wollte dies auch keinesfalls. Sie suchte sich ihr eigenes Vorbild, das unter anderem von den amerikanischen Medien erschaffen wurde. So standen sich zwei Frauenideale gegenüber: Das eine war das der organisierten Hausfrau, die alles kontrolliert und ihren Haushalt perfektioniert hat. Dazu gehörten auch technische Geräte im Haushalt, die den Alltag erleichtern sollten. Die junge Frau hingegen orientierte sich eher am Typus des „Vamp“: das Idealbild „der attraktiven, schon ein bißchen zu selbstständigen Frau mit Bubikopf, geschminktem Gesicht, modischer Kleidung, Zigarette, eine Arbeit als flottes „Tippfräulein“ oder als Verkäuferin im Traumland des Konsums absolvierend, die Freizeit im Charleston-Schritt oder mit dem Besuch von UFA- und Hollywood-Filmen verbringend“10. Solche Frauen finden wir vor allem in Fabian zuhauf. Auffällig ist, dass beide Frauenbilder von einer Dominanz der Frau ausgehen. Offensichtlich träumten die Frauen davon, nun endlich einmal die Macht in den Händen halten zu können und das Handeln der Männer wenn schon nicht bestimmen, dann doch wenigstens deutlich beeinflussen zu können. Jedoch waren beide Frauenbilder nicht ganz realistisch, denn die Verhältnisse zwischen Mann und Frau konnten sich natürlich nicht auf Schlag so verändern. Auch hatten Frauen nun vor allem mit gesteigerten Erwartungen zu kämpfen, die sie in eine Doppelrolle zwangen: Einerseits wollten sie ihr weibliches Idealbild erfüllen, aber andererseits lebten sie in der Realität und mussten sich an ihre Verhältnisse anpassen. Geldmangel war ein großes Problem, aber auch Bedürfnisse von Kindern und Ehemännern sorgten dafür, dass nicht jede Frau sich so ausleben konnte, wie sie es gerne gewollt hätte. Alles in allem kann man also sagen, dass Frauen in der Weimarer Republik theoretisch viele Rechte und Möglichkeiten bekommen hatten, von denen allerdings in der Praxis nicht viel übrig blieb. In Fabian und in Kleiner Mann - was nun? finden wir sehr unterschiedliche Frauenrollen. Vor allem in Fabian fällt tatsächlich sehr die (scheinbare) Dominanz der Frauen über die Männer auf, vor allem in sexueller Hinsicht: Es scheint, als wüssten alle Frauen genau, was sie wollten, und könnten ihre Männer dementsprechend manipulieren. So gibt es die Figur der Irene Moll, deren sexuelle Bedürfnisse in ihrer Ehe nicht erfüllt werden und die deswegen ein Abkommen mit ihrem Ehemann trifft, dass sie Affären mit anderen Männern haben darf. Jedoch ist auch dies nicht ganz frei, denn der Ehemann will jede Affäre persönlich kennenlernen und Zustimmung geben. Und auch wenn es so 10 Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Deutsche Geschichte Band 9. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1987, S. 105 [10] scheint, als ob Irene Moll jeden Mann bekommen könnte, so versucht sie doch mehrere Male erfolglos, Fabian für sich zu gewinnen. Das zeigt, dass Irene Moll nur scheinbar frei von männlichem Einfluss ist, sondern ihm im Gegenteil sehr stark unterliegt. Im Allgemeinen hat man beim Lesen des Romans den Eindruck, dass alle Frauen in Fabian egoistisch sind und nur an Sex denken. Dabei unterwerfen sie sich den Männern in verschiedenem Maße, während es so scheint, als wären sie diejenigen, die die Zügel in der Hand halten. So begegnen wir Labudes Mutter, die einen reichen, untreuen Mann hat und dessen Geld verprasst, während sie sich so wenig wie möglich um ihren Sohn sorgt; der „Kulp“, die Geschlechtsverkehr mit dem todkranken Wilhelmy gegen Geld hat und sich von ihm krankenhausreif prügeln lässt; der „Selow“, die vorgibt lesbisch zu sein, das aber eigentlich nicht ist, sondern am liebsten einen Mann will; und so noch einigen anderen. Der Großteil der Frauen scheint sich selbst als reines Sexobjekt zu sehen, ohne jegliche Ansprüche. Ein Beispiel für sexuell sehr unmissverständliches Verhalten ist eine Blondine, die Fabian in einem Tanzbar kennenlernt: „die Blonde […] nahm Fabians Hand und fuhr sich mit dieser so lange über die Brüste, bis die Brustwarzen groß und fest wurden. „Gehen wir dann ins Hotel?“, fragte sie.“ 11 Und ihre Freundin erklärt: „Ich bin überall rasiert“12. Die beiden sind keine Einzelfälle, denn die meisten der Frauen, denen Fabian begegnet, verhalten sich in einer solchen, sexuell anzüglichen Art. Ein großer Gegensatz dazu ist Fabians Mutter. Sie verkörpert die mütterliche Unschuld und kommt passenderweise auch nicht aus dem „schlechten“ Berlin, sondern aus einer Kleinstadt. Frau Fabian ist eine sehr besorgte, mitfühlende Mutter, die ihren Sohn über alles liebt. Und auch Fabian liebt seine Mutter sehr und will sie vor dem Leben beschützen, das er führt. So verschweigt er ihr, dass er entlassen worden ist, damit sie sich keine Sorgen macht. Frau Fabian ist ein bisschen naiv und ihre Probleme beschränken sich auf eierlegende Hühner und kleinere Krankheiten. Dabei ist sie aber grundehrlich und wird sehr positiv dargestellt. Frau Fabian ist der weibliche Gegensatz zu all den Berliner Frauen, mit denen Fabian zu tun hat, denn sie ist nicht berechnend und egoistisch. Welcher Frauentyp hier präferiert wird, ist deutlich zu spüren. So verliebt sich Fabian in eine Frau, die seiner Mutter anfangs sehr ähnlich ist: Cornelia Battenberg. Auch sie stammt ursprünglich nicht aus Berlin. Sie erscheint sehr frisch, fröhlich und nett. Ein ehrliches Mädchen mit Träumen und Hoffnungen, voller ernst gemeinter Liebe, ähnlich wie Fabians Mutter. Fabian geht eine Beziehung mit Cornelia ein, aber dann beginnt sie eine Affäre mit einem einflussreichen Regisseur, der ihr eine Karriere als Schauspielerin besorgen soll. Fabian ist nicht so sehr entsetzt über die Affäre an sich, sondern über Cornelias Motive dafür. Für ihn, den Moralisten, ist eine solche Berechenbarkeit nicht vorstellbar und er verlässt Cornelia deswegen auch. Sie, das unschuldige, ehrliche Mädchen, hat sich als nicht so unschuldig und ehrlich erwiesen, sondern als berechnend und sexgerichtet wie die anderen Berliner Frauen, die ihren Körper an die Männer verkaufen. So bleibt also nur Fabians Mutter als einzige wirklich positive Frauenfigur übrig, da die einzige andere ideale Frau, Cornelia, nur nett und ehrlich schien, aber es dann doch nicht war. Alle anderen Frauen werden sehr negativ dargestellt und Fabian sieht sie im Allgemeinen mit einem belächelnden, oft auch angeekelten Blick, aber nie mit echter Sympathie. So scheint es, als sei die einzige wirklich ideale Frau Fabians Mutter, zu der er dann am Ende auch zurückkehrt. 11 Erich Kästner, Fabian. (1931) München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004, S. 55 Idem 12 [11] Pinneberg in Kleiner Mann - was nun? hingegen hat seine ideale Frau schon gefunden: Emma, genannt Lämmchen. Lämmchen ist ein naives Mädchen aus einer einfachen Arbeiterfamilie. Wie sie selbst sagt, ist sie auch ein wenig dumm, was aber vor allem mit Unerfahrenheit zu tun hat. So weiß sie anfangs nicht gut, wie sie einen Haushalt führen und kochen muss und macht dabei viele Fehler. Aber je länger sie mit Pinneberg verheiratet ist, desto selbstbewusster und erfahrener wird sie. Lämmchen entwickelt sich im Laufe des Romans sehr und ist am Ende eine starke, kompetente und selbstbewusste Hausfrau und Mutter, die nicht nur gegenüber ihrem Mann ihren Willen durchsetzt. Schließlich arbeitet sie, das Mädchen, das sich selbst für so inkompetent hielt, sogar selbstständig als Näherin und sorgt damit für das einzige Einkommen der Familie. Während anfangs Pinneberg also sehr für seine junge Frau sorgen muss und die Familie ernährt, sind die Rollen am Ende vertauscht und sorgt Lämmchen als eine moderne Frau für die Familie, während Pinneberg den Haushalt führt. Lämmchen erfüllt am Ende auf die Art eigentlich die Doppelrolle der modernen Frau: Sie ist eine gute Hausfrau und Mutter, aber wenn es darauf ankommt, kann sie auch gut arbeiten und Geld verdienen, und sich so auch in eine traditionell männliche Rolle einfinden. Lämmchen wird dann auch, trotz der ehelichen und finanziellen Probleme, durchweg als sehr positiv dargestellt, obwohl ihre Fehler auch nicht verschwiegen werden. Sie ist sehr menschlich und die Figur im Roman, in die sich so mancher weiblicher Leser am besten einfühlen kann, vor allem, weil sie so realistisch und glaubwürdig ist. Ganz anders ist es der Fall mit Pinnebergs Mutter. Zwar versucht Lämmchen am Anfang, die positiven Eigenschaften von Mia Pinneberg zu sehen, aber dennoch erscheint die Mutter als eine durchweg schlechte Person, die sich auch nicht zum Positiven entwickelt. Mia ist eine der Berliner Frauen, denen wir auch in Fabian oft begegnen: Sie lebt in Berlin, ist selbstbewusst und egoistisch, sexuell sehr offen und verdient ihr Geld mit ominösen Geschäften, die mit Prostitution zu tun haben. Sie hat keine Lust, sich um Männer irgendwelcher Art zu kümmern, und scheint es gewöhnt zu sein, mit reichen, selbstständigen Menschen zu tun zu haben. Bei ihrem Sohn macht sie keine Ausnahme und auch ihr „Liebhaber“, Jachmann, muss sich an sie anpassen anstatt andersrum. Mia Pinneberg erscheint im Roman als sehr herzlos aber auch als unglücklich, sie trinkt zu viel und wird dann streitsüchtig oder weinerlich. Sie verkörpert deutlich Fallada’s Kritik an der modernen Frau, vor allem, wenn man sie mit der gutmütigen und doch selbstbewussten Lämmchen vergleicht. Auf Mia Pinneberg werde ich im Kapitel über Sexualität noch näher eingehen. Diese Kritik äußert sich auch in anderen Frauenfiguren, die erst sehr dominant erscheinen, sich dann aber als eigentlich sehr unterwürfig entpuppen: So lernt der Leser Marie Kleinholz und ihre Mutter, Frau Kleinholz kennen. Sie sind Ehefrau und Tochter von Pinnebergs altem Chef, der sehr reich ist. Die alte Frau Pinneberg kontrolliert und regiert ihren Mann und vor allem dessen Alkoholkonsum. Als er ihr einmal „entwischt“ und in einer Kneipe flirtet und trinkt, sucht sie ihn in ihrem Bademantel und schleppt ihn nach Hause. Wie der Leser erfährt, ist sie jedoch sehr unglücklich dabei – „Ja – schließlich kann man nur weinen, und das geht im Dunkeln auch“ 13 – dass sie ihren begehrten, reichen Mann, den sie sehr liebt, so kontrollieren muss aus Angst, dass er sonst nicht bei ihr bleibt. Ihre Tochter, Marie, ist jedoch noch unglücklicher. Über dreißig und noch nicht verheiratet – das ganze Dorf redet über sie. Zumindest denkt das ihr Vater, der mit aller Kraft versucht, sie zu verheiraten. Marie entspricht dem alten Typ Frau: willenlos an ein männliches Familienmitglied 13 Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1950, S. 72 [12] überliefert, der sie so bald wie möglich einem Ehemann übergeben will. Fallada zeigt hier, dass beides nicht glücklich macht: Komplett einem Mann ergeben oder ihn komplett dominierend. Es scheint, als plädiere Fallada für Gleichberechtigung, wie sie im Prinzip in der Ehe von Lämmchen und Pinneberg gelebt wird. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass in den beiden Romans das neue Frauenbild der dominanten Frau deutlich thematisiert wird, aber dass beide Autoren Kritik daran üben. Allerdings kommen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen. Denn während Kästner im Grunde alle seine Frauen, zumindest die dominanten, „bestraft“, indem er sie am Ende dem Mann unterwürfig macht, hebt Fallada gerade die „angemessen selbstbewussten“ Frauen hervor. Kästner, dem in Kritiken des Öfteren Frauenfeindlichkeit vorgeworfen wurde, scheint den Typ der mütterlichen, ehrlichen, aber auch etwas dummen Frau anzupreisen, während Fallada eher eine selbstbewusste, aber warme und vernünftige, dem Mann gleichgestellte Frau zu bevorzugen scheint. Nicht vergessen werden darf dabei, dass es sich um zwei männliche Autoren handelt. Ihre Kritik an der weiblichen Dominanz kann daher natürlich auch männlicher Eitelkeit entspringen, die ihre Rolle als Beschützer und Versorger nicht so schnell aufgeben wollte. Vor allem die Reaktion Kästners auf selbstbewusste Frauen ist daher nicht so überraschend, wenn man bedenkt, dass er im 19. Jahrhundert geboren wurde und natürlich mit einem ganz anderen Frauenbild aufgewachsen ist. Falladas Bevorzugung einer gleichberechtigten Ehe ist da schon moderner, denn in den Grundzügen funktionieren heutzutage die meisten Ehen zumindest theoretisch gleichberechtigt, auch wenn es sogar heute noch viele Männer gibt, die der Meinung sind, dass Frauen an den Herd und Männer auf eine Arbeitsstelle gehören und nicht andersrum. Jedenfalls, bei aller Kritik, sollten die beiden idealen Frauentypen der Weimarer Republik nicht von langer Dauer sein, denn schon ab 1933 begann sich ein neuer Zwischentyp zu entwickeln, der bodenständigere Typ der tatkräftigen Hausfrau und Mutter, die „dem Führer“ und der Familie dient, in dieser Reihenfolge. Inwieweit dieses nationalsozialistische Frauenbild im Gegensatz zu dem der Weimarer Republik realistischer oder positiver war, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich denke aber, dass es für eine Frau einfacher zu erfüllen war, da weniger Eigenschaften erwartet wurden und das Idealbild einheitlicher war. Allerdings trat dabei natürlich auch eine Rückschrittlichkeit im Frauenbild auf, denn einfache Dinge sind nicht immer auch modern und fortschrittlich. 4) Sexualität Auch Sexualität wurde in der Weimarer Republik rationalisiert. Der erste Weltkrieg hatte zu einem starken Rückgang der Geburtenrate geführt. Es war also nötig, dass Menschen Geschlechtsverkehr hatten, aber dass dies kontrolliert wurde. Es wurden Regeln für den Geschlechtsverkehr aufgestellt. Sex außerhalb der Ehe war natürlich nicht erwünscht und am liebsten hatte man, dass vor allem gutverdienende, gesunde und intelligente Menschen Kinder bekamen. Hier ist schon ein Anfang der Beurteilung von Menschen nach „gut“ und „schlecht“ zu sehen, die Hitler in großem Stil ausgeführt hat. Die „Sozialhygiene“ war sowohl bei den Rechten als auch bei den Linken populär: es war nicht gewünscht, dass Behinderte, Menschen mit Erbkrankheiten oder geistig schwache Menschen Kinder bekamen. Ende der zwanziger Jahre wurden deswegen sogar Kondome legalisiert und öffentlich [13] ausgegeben, auch, um Geschlechtskrankheiten zu verhindern, deren Existenz schon seit Anfang des Jahrhunderts nicht mehr bestritten wurde. Es wurde also öffentlich über Sex gesprochen und somit wurde das Tabu, das darauf gelegen hatte, entfernt. Dies führte natürlich zu mehr als nur zu Ehepaaren, die legal und vernünftig Geschlechtsverkehr hatten, sondern bot auch einen Nährboden für allerlei andere Formen von Sexualität, die kaum unterbunden worden konnten. Es fand sogar eine „vorsichtige[…] Liberalisierung“14 von Homosexualität statt, die jedoch weiterhin illegal blieb. Auch Abtreibung wurde nicht legalisiert, trotz der Bemühungen von Frauenbewegungen. Natürlich fanden vor allem Abtreibungen trotzdem massenweise statt, illegal und ohne ärztliche Aufsicht. Alles in allem war die Verbreitung verschiedener Formen von Sexualität nicht mehr aufzuhalten und vor allem in der Großstadt Berlin kümmerten sich die Leute nicht so sehr mehr um Regeln und Verbote, sondern lebten ihre Sexualität so aus, wie sie das wollten. Besonders Frauen konnten sexuell offener sein; nicht umsonst war das schon besprochene Idealbild des „Vamp“ eine Frau, die körperlich attraktiv und sich ihrer (sexuellen) Anziehungskraft auch bewusst war und damit spielte. Natürlich gab es auch Gegenbewegungen, die diese „Unsittlichkeiten“ aufhalten wollten. Diese reaktionären Bewegungen propagierten vor allem Sexualität innerhalb der Ehe und mythisierten das traditionelle Bild einer Familie mit einer organisierten, mütterlichen Hausfrau und einem dominanten Vater. Geschlechtskrankheiten und ungewünschte Schwangerschaften gäbe es so nicht, war ihre Begründung, stattdessen nur gesunde, glückliche deutsche Bürger mit Kindern. Dass es eine jungen Familie trotzdem nicht leicht gemacht wurde, sehen wir in Kleiner Mann - was nun? am Beispiel von Pinneberg, seiner Frau Lämmchen und ihrem Sohn. Sie haben vor allem Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden, weil niemand ein schreiendes Kind im Haus haben will. Auch muss die junge Familie ständig mit Geldsorgen kämpfen und mehrere Briefe schreiben, bis sie ihr Stillgeld erhält. In Fabian gibt es solche kleinen Familien gar nicht erst, stattdessen alle möglichen anderen Formen von Sexualität, vor allem Frauen, die ihre Sexualität ungeniert ausleben. So lernt der Leser Irene Moll kennen, von der schon früher berichtet wurde. Sie hat Geschlechtsverkehr mit anderen Männern mit Einverständnis ihres Mannes, weil sie sich in der Ehe nicht befriedigt fühlt. Ihre Männer findet sie in Partnervermittlungsgelegenheiten, in denen zum Flirten und Verkehren animiert wird. In Fabian scheinen One-night Stands etwas sehr Normales zu sein, jeder tut es und es wird öffentlich darüber geredet. Frauen verführen Männer mit eindeutigen Gesten und deutlichen Worten. Jeder mit jedem, so scheint es, und manche auch mit mehreren, wie der Nachbar von Fabian, der des Öfteren mehrere Frauen mit nach Hause bringt, wie sich die Vermieterin Frau Hohlfeld beklagt: „Ich werfe ihn hinaus, wenn das noch einmal vorkommt.“15 . Fabian hingegen findet das völlig normal, jedenfalls tut er gegenüber seiner Wirtin so, bis sie schließlich einlenkt: „Die Sitten haben sich geändert. Man paßt sich an.“16 Hier macht Kästner auf die Tatsache aufmerksam, dass Menschen, die die Zustände nicht in Ordnung finden, oft als unmodern abgestempelt werden. Und auch in diesem Fall will die Wirtin nicht als unmodern gelten und akzeptiert die sexuellen Vorlieben ihres Mieters. Auch hier ist Kästners Kritik an der Fortschrittlichkeit deutlich: Fortschrittlichkeit um der Fortschrittlichkeit Willen ist Unsinn, scheint er zu sagen, denn es muss vernünftige Gründe dafür geben, dass man etwas verändert. 14 Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Deutsche Geschichte Band 9. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1987, S. 109 15 Erich Kästner, Fabian. (1931) München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004, S. 46 16 Idem, S. 47. [14] Andere hingegen sind weniger zimperlich im Äußern ihres Unmuts: In Kleiner Mann - was nun? wird Pinnebergs Freund und Kollege Heilbutt entlassen, weil er Nacktfotos von sich hat machen lassen. Aber auch in seinem Fall „siegt“ die sexuelle Freiheit: Durch seine Entlassung macht Heilbutt sein Hobby zum Beruf und wird später ein wohlhabender Mann. Seine Vorliebe für Freikörperkultur, Aktfotos und Nacktschwimmen wird ihm nicht zum Verhängnis. Fallada scheint hier zu argumentieren, dass jeder seine Sexualität so ausleben können soll, wie er das möchte. Auch, dass Pinneberg selbst der Freikörperkultur abgeneigt ist, wird nicht als etwas Schlechtes dargestellt: die Freundschaft zwischen ihm und Heilbutt bleibt bestehen und Heilbutt wird weiterhin als ein sehr positiver und hilfsbereiter Mensch dargestellt. Man spürt also die Toleranz, die aus dieser Darstellung spricht: Menschen sind verschieden und dürfen das auch sein, solange sie einander akzeptieren. Weniger tolerant ist Kästner, dessen sexuell freie Figuren allesamt sehr unglücklich erscheinen und sich eigentlich nur nach Liebe sehnen. Interessanterweise sind bei Kästner vor allem die Frauen sexuell aktiv und damit auch unglücklich, die Männer sind eher die „Opfer“ ihrer Praktiken. Kästner stellt die neuen sexuellen Gepflogenheiten manchmal mit einem Zwinkern dar, wie im Falle des Morphinisten in der „Cousine“: „er hat polizeilich Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen“17 , aber manchmal auch sehr deutlich, wie im Falle des lesbischen Paares Selow und Ruth Reiter: „Die Selow“ ist nur aus Enttäuschung über die Männer lesbisch geworden. Eine gewagte These könnte also sein, dass Kästner der Meinung ist, wahre lesbische Liebe gebe es nicht. Vielleicht kritisiert er hier aber auch nur die Art, wie die Frauen die Sexualpartner wechseln, und sich dabei nicht um das Geschlecht kümmern. Auch Fallada kritisiert die sexuelle Offenheit: Seine unsympathische Figur Mia Pinneberg hat selbst einen „Liebhaber“18 – „mit dem geh ich schlafen“19 - und betreibt außerdem eine Art Bordell bei sich zuhause, indem sie Zusammenkünfte organisiert, bei denen der Alkohol reichlich fließt und bei denen Männer „befriedigt“20 werden. Auch sie hat also eine sehr freizügige Art, ihre eigene Sexualität auszuleben und die anderer zu motivieren. Da Mia Pinneberg die negativste und unsympathischste Figur des ganzen Romans ist, spricht es von selbst, dass diese Praktiken nicht als empfehlenswert dargestellt werden. Insgesamt üben Fallada und Kästner also eine Menge Kritik an der Sexualität der Weimarer Republik. Während Fallada aber jedem seine eigene Sexualität „erlaubt“, so lange, wie sie niemand anders belästigt, scheint Kästner die sexuellen Gepflogenheiten Berlins übertrieben und unmoralisch zu finden. 17 Erich Kästner, Fabian. (1931) München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004, S. 95 Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1950, S. 136 19 Idem 20 Idem, S. 206 18 [15] 5) Arbeitslosigkeit Arbeitslosigkeit war in der Weimarer Republik keine Seltenheit und bis heute liegt die Rekordhöhe der Arbeitslosigkeit in Deutschland in der Zeit des Untergangs der Weimarer Republik, also in der Zeit unserer Helden Fabian und Pinneberg. Die deutsche Wirtschaft in den Zwanzigern hatte es schwer; galt es doch, das eigene Land wieder aufzubauen und trotzdem die Vorschriften des Versailler Vertrages zu erfüllen und sich an die wirtschaftlichen Restriktionen dessen zu halten. Außerdem war die Weimarer Republik die Zeit der Rationalisierung in jeder, also auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Auch, wenn Rationalisierung in dem Falle nicht nur Entlassungen, sondern auch Intensivierung der Arbeitskraft und Kontrolle der Arbeiter bedeutet. Aber die „erhöhte Produktivität je Arbeiter führte zu erhöhter Erwerbslosigkeit und damit Stillegung von Arbeitskräftepotential“ 21. Somit bedeutete Rationalisierung immer auch Kürzungen und Entlassungen. Wie alles schwankte auch die Zahl der Arbeitslosen von 1920 bis 1933 sehr. Ein erster Höhepunkt der Arbeitslosigkeit wurde 1926 mit der „kleinen Wirtschaftskrise“22 erreicht. Zu dem Zeitpunkt gab es erstmals mehr als zwei Millionen Arbeitslose in Deutschland. Danach erholte sich die Wirtschaft wieder und sank die Arbeitslosigkeit. 1929 allerdings geschah der Börsencrash in New York, der der Anfang der Weltwirtschaftskrise sein sollte und auch die deutsche Wirtschaft in tiefe Probleme stürzte. Nach 1929 war dem Anstieg der Arbeitslosigkeit nichts mehr entgegen zu setzen und so erreichte die Erwerbslosenquote im Februar 1932 den Rekord von mehr als 6 Millionen Arbeitslosen. Am Anfang der zwanziger Jahre wurde Erwerbslosigkeit als noch kein großes Problem gesehen. Auch erhielten am Anfang nur Kriegsversehrte Erwerbslosenunterstützung. Aber bald musste man einsehen, dass Arbeitslosigkeit zum strukturellen Problem wurde. Arbeitslose, die „bedürftig genug“ 23 waren, bekamen Erwerbslosenunterstützung. Dieses „bedürftig genug“ wurde sehr streng gefasst; um Recht auf Unterstützung zu haben, mussten Erwerbslose viele Voraussetzungen erfüllen. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Zahl der Arbeitslosen vor 1927 mutmaßlich viel höher angesetzt werden muss, als sie in den Statistiken erscheint, denn nur Leute, die Recht auf Unterstützung hatten, wurden auch als arbeitslos erfasst. Diese frühere Erwerbslosenfürsorge wurde teilweise vom Staat, teilweise von den Gewerkschaften und teilweise aus Steuergeldern der berufstätigen Bürger finanziert. Aber die Arbeitslosigkeit stieg, die Wirtschaft stagnierte und jemand musste die Arbeitslosenfürsorge bezahlen. Denn „in wirtschaftlichen Boomjahren besaß man die Mittel zum Ausbau der Leistungen, obwohl ihre Beanspruchung relativ gering war. Wenn dagegen in Krisenjahren die sozialpolitische Intervention besonders dringlich benötigt wurde, drängte der Staat auf Einsparungen und Leistungsabbau.“24 Dieses System der Arbeitslosenunterstützung war also zum Scheitern verurteilt. Schon seit 1923 diskutierte man deswegen über eine Neuordnung der Arbeitslosenunterstützung und dies resultierte schließlich 1927, zu einer Zeit, in der es der Wirtschaft vergleichsweise gut ging und man davon ausging, dass die Arbeitslosigkeit in den kommenden Jahren nicht maßgeblich steigen würde, in dem 21 Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Deutsche Geschichte Band 9. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1987, S. 122 22 Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Deutsche Geschichte Band 9. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1987, S. 121 23 Vgl Peter Lewek, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik 1918-1927. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1992, S. 219 24 Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Deutsche Geschichte Band 9. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1987, S. 133 [16] „Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ (AVAVG). Dieses enthielt eine Anzahl von Veränderungen, neuen Regeln und Anpassungen, aber die wichtigste Neuerung war, dass die Arbeitslosenversicherung nur von Privatpersonen, also durch Mittel von Steuern, die Berufstätige speziell dafür bezahlen würden, finanziert würde. Somit würde die Arbeitslosenversicherung nicht mehr die Wirtschaftskasse beeinträchtigen. Das AVAVG enthielt auch eine Reihe von Regeln und Sätzen, die die Höhe des Arbeitslosengeldes und die Dauer des Rechtes darauf betrafen, dies wurde allerdings zwischen 1927 und 1933, nachdem die Krise weiter fortschritt, immer mehr ge- und verkürzt, weil es immer mehr Arbeitslose gab und somit mehr Menschen, die Unterstützung brauchten. So scheiterte also auch diese Arbeitslosenversicherung, denn es gab einfach keine Menschen mehr, die sie bezahlen konnten. Die Höhe der Arbeitslosenunterstützung richtete sich danach, was man in den drei Monaten vor der Arbeitslosigkeit verdient hatte. Man bekam einen bestimmten Prozentsatz plus Zuschläge, falls man eine Familie zu ernähren hatte. Frauen bekamen sowieso nur in den seltensten Fällen Arbeitslosenunterstützung. In meinen beiden Romanen ist die Arbeitslosigkeit ein Thema, aber es wird sehr unterschiedlich behandelt. Während Fabian eher allgemein mit Arbeitslosigkeit und noch nicht deren lebensbedrohlichen Folgen zu tun hat, ist Arbeitslosigkeit in Pinnebergs Leben vielleicht das wichtigste Thema. Der Roman Kleiner Mann – was nun? ist dann auch oft sehr konkret in Beschreibungen von Zuständen und Zahlen wie der Höhe der Arbeitslosenunterstützung: 18 Reichsmark pro Woche. Aussagen über die Wahrscheinlichkeit dieser Angabe lassen sich leider nicht machen, aber einer Statistik aus 1927 zufolge müsste Pinneberg dank seines Verdienstes von 170 RM bei Mandel und weil er Familienvater ist, ca. 25 Reichsmark Unterstützung erhalten. Diese Statistik berücksichtigt aber nicht die Kürzungen, die danach erst stattfanden, und außerdem ist es nicht sicher, welche Art der Unterstützung er überhaupt erhält, da die Arbeitslosenunterstützung begrenzt war auf nur 26 Wochen und sich die letzten Kapitel von Kleiner Mann - was nun? 14 Monate nach der Entlassung von Pinneberg abspielen. Berücksichtigt man diese Fakten, so ist eine Unterstützung von 18 RM wöchentlich nicht sehr unrealistisch.25 Überhaupt erscheinen in Kleiner Mann - was nun? des Öfteren Zahlen, die zeigen, was Dinge in dieser Zeit kosteten, und wie weit man also mit dem monatlichen Lohn kam. Dies erhöht die Glaubwürdigkeit der Geschichte und macht die Geldnot von Pinneberg und Lämmchen weniger abstrakt. Es ist auch ein Stilmittel der neuen Sachlichkeit, wie ich schon erläutert habe. Ähnlich detailliert wie Listen, in denen die Preise von Lebensmittel und sonstigen zum Leben benötigten Dingen aufgeführt sind, so beschreibt Fallada auch die Art, in der Pinneberg in der Bürokratie der Ämter gefangen ist. So darf er nicht aus Berlin wegziehen, um Miete zu sparen, weil er nicht beweisen kann, dass der Wohnortwechsel ihm mehr berufliche Perspektiven bieten würde. Das führt dazu, dass er wöchentlich zweimal nach Berlin fahren und einen Teil seiner kleinen Unterstützung für den Zug ausgeben muss. 25 Vgl F. Syrup, Die Regelung der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung im Deutschen Reich, in: Internationale Rundschau der Arbeit, 2. Band Heft 9/1927 S. 811 f. sowie ders., Hundert Jahre Staatliche Sozialpolitik, 1839-1939, Stuttgart 1957, S. 338 [17] Auf ähnliche Art hat auch Fabian mit bürokratischen Regeln zu kämpfen: Er durchkreuzt die halbe Stadt Berlin auf der Suche nach einem Arbeitsamt, das für ihn zuständig ist. Als er am Ende bei der richtigen Behörde angelangt ist, erfährt er, dass ihm noch keine Unterstützung zusteht, da er sich noch im letzten bezahlten Monat seiner Berufstätigkeit befindet. Fabians Beispiel zeigt sehr gut die Absurdität, die sich aus dem neuen Gesetz zur Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung ergeben hat: Einerseits hat der Staat so etwas wie eine ehrliche Arbeitslosenversicherung geschaffen und sorgt für ihre Durchführung. Andererseits führen die neuen Möglichkeiten aber auch zu so vielen neuen Instanzen, dass niemand mehr weiß, wo er hin muss und wer zuständig ist. Außerdem illustriert das Beispiel die Art, wie die Arbeitslosenstatistik gefälscht wurde: Fabian darf sich noch nicht arbeitslos melden - obwohl er es faktisch ist - weil er noch für zwei Wochen Lohn bekommen hat. Überhaupt fällt es vor allem in Kleiner Mann - was nun? auf, wie gelogen und geschummelt wird, um nicht zugeben zu müssen, dass Stellenabbau in den deutschen Firmen eine Tatsache ist. So wird Pinneberg aus seinem ersten Job entlassen, weil er die Tochter des Chefs nicht heiraten will und dies das ausschlaggebende Kriterium ist, ihn anstatt einen seiner Kollegen zu entlassen. Bei seinem zweiten Job wird ein Nichterfüllen der Verkaufsquote vorgeschoben, um ihn zu entlassen, während in Wirklichkeit böse Gerüchte über eine mögliche Tätigkeit als Nazi der Grund waren, denn sein Arbeitsplatz Mandel ist ein jüdisches Warenhaus. Alles in allem also ein Vorschieben von Gründen. Auch erscheint es in Kleiner Mann - was nun? als sei Pinneberg der einzige Arbeitslose in Deutschland. Er fühlt sich sehr minderwertig deswegen und gibt sich selbst die Schuld dafür, merkt andererseits aber auch die Ablehnung durch die Gesellschaft, als er in Berlin sehnsüchtig vor der Schaufensterscheibe eines Feinkostgeschäftes stehen bleibt und von einem Polizisten weggejagt wird: „Aber in der spiegelnden Scheibe des Fensters steht noch einer, ein blasser Schemen, ohne Kragen, mit schäbigem Ulster, mit teerbeschmierten Hosen. Und plötzlich begreift Pinneberg […], daß er draußen ist, daß er nicht mehr hergehört[...]. Armut ist nicht nur Elend, Armut ist auch strafwürdig. Armut ist Makel, Armut heißt Verdacht.“26 Pinneberg fühlt sich sehr alleine in seinem Schicksal, während es doch zur selben Zeit mehreren Millionen anderer Menschen auch so geht. Fabian hingegen sieht dies deutlicher und empfindet Arbeitslose als einen Teil der Gesellschaft, in der er lebt. Dies wird deutlich, als er bei einem Spaziergang viele arbeitslose Menschen beobachtet und über sie nachdenkt: „Vor den Schaufenstern stehen zu bleiben, kostete noch immer nichts, und wer wollte erkennen, ob sie nichts kaufen konnten oder ob sie es nur nicht wollten? Sie trugen ihre Feiertagsanzüge und sie taten recht daran, denn wer hatte so viele Feiertage wie sie?“27. Auch sieht er klar, dass seine Entlassung nichts mit seinem eigenen persönlichen Versagen zu tun hat, sondern mit Löhnen und Einsparungen innerhalb der Firmen. So freut sich ein Kollege, dem Fabian von seiner Entlassung erzählt, dass es ihn nicht getroffen hat: , „Ihr Gehalt ist kleiner“, meinte Fabian, „Sie dürfen bleiben.“´28. Und auch Jachmann, der sogenannte Schwiegervater von Pinneberg, erkennt die Situation: „wer stellt denn heute einen Menschen ein?“29 Es scheint, als würde Pinneberg seine sonst so sympathische Naivität in Hinblick auf die Realität ihm hier zum Verhängnis, weil er nicht erkennt, dass er nur einer von vielen ist und er es nicht persönlich nehmen darf. 26 Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1950, S. 412 Erich Kästner, Fabian. (1931) München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004, S. 123 28 Idem, S. 107 29 Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1950, S. 144 27 [18] 6) Gesellschaftliche Schichten, Zugehörigkeitsgefühl und politische Ansichten Auch was gesellschaftliche Schichten betrifft, war die Weimarer Republik eine Zeit voller Gegensätze, in verschiedener Hinsicht. Einerseits hatte sich die strikte Trennung zwischen zum Beispiel Arbeitern und Bürgern wieder etwas gelockert, sodass es nun leichter möglich war, miteinander umzugehen. Andererseits fühlten sich viele Menschen ihrer Schicht verbunden. Dazu kamen politische Ansichten, die so polarisierten und die Menschen für sich einnahmen, dass innerhalb einer Schicht erbitterte Kämpfe ausbrechen konnten, über das Thema Politik, wer war schuld, dass man den Krieg verloren hatte, wessen Schuld war das Missglücken der Weimarer Republik und wer würde das Land am Ende „retten“? Besonders erbittert waren dabei natürlich Streits zwischen den Nationalsozialisten und den Kommunisten. Aber auch innerhalb des linken Flügels, der vor allem aus Arbeitern bestand, herrschte große Uneinigkeit. Zwar wurde viel unternommen, um die Proletarier stark zu machen, indem man gemeinsame kulturelle und soziale Aktivitäten organisierte und indem die Arbeiter natürlich ihren Gewerkschaften verbunden waren, die viel für sie bewegten. Aber die Teilung der Schicht in Sozialdemokraten und Kommunisten war eine Tatsache, wurde immer verschärfter und war nicht nur eine inhaltliche Frage, die überbrückt worden konnte, sondern entwickelte sich immer mehr zur Feindschaft. „Nicht im Kampf zwischen rechts und links […] wurde die Republik zerrieben, sondern sie ging an der fehlenden Aktionseinheit des demokratisch gesonnenen Flügels zugrunde.“30, sagt Beutin dazu. Die Kommunisten nannten die Sozialdemokraten „Sozialfaschisten“, während die Sozialdemokraten ihrerseits die Kommunisten als noch schlimmere Faschisten beschimpften. Oft waren die sozialdemokratischen Anhänger Arbeiter, die ehrgeizig waren, und einen Aufstieg in der Gesellschaft für sich und ihre Kinder erhofften. Die Kommunisten hingegen waren oft frustrierte, arbeitslose Arbeiter, und die KPD wurde manchmal auch als „Arbeitslosenpartei“ bezeichnet. Ähnlich wie die KPD, so profitierte auch die NSDAP von den Arbeitslosen, oft aber von arbeitslosen Angestellten. Überhaupt war die NSDAP eine Partei, der viele Angestellte zustimmten. Sie gehörten der Schicht der Kleinbürger an, die sich seit ihrer Entstehung von den Arbeitern unterschieden und abgehoben hatte, indem man dort mehr verdiente und insgesamt höhere Ansprüche hatte (und haben konnte). Durch Arbeitslosigkeit und rapide sinkende Löhne jedoch verdienten nun Angestellte manchmal sogar weniger als Arbeiter und wurde ihr Selbstbewusstsein dadurch erheblich beschädigt. Wirtschaftlich gesehen konnten sie nun fast zur Schicht der Arbeiter gerechnet werden, aber selbst ein arbeitsloser Angestellter fühlte sich noch nicht gleich mit einem arbeitslosen Arbeiter. Die Schuld für ihre schlechte wirtschaftliche Lage konnten die arbeitslosen „Burgeois“ den „Ostjuden“ geben. Diese kamen im Gegensatz zu den deutschen Juden, die endlich einmal gleiche Rechte hatten, integriert waren und sogar hohe Führungspositionen besetzten – alles in allem also normale Deutsche waren – aus den östlichen Ländern, sprachen mit einem Akzent und nahmen ihre Religion oft ernster als die einheimischen Juden. Sie kamen, um zu arbeiten, in einer Zeit der großen Arbeitslosigkeit in Deutschland. Die Ostjuden hatten ein sehr negatives Ansehen und mehrmals in der Geschichte der Weimarer Republik kam es zu Anschlägen großen Ausmaßes auf die Häuser dieser Menschen. Zuerst kehrte sich die Abneigung der Deutschen also vor allem gegen die „fremden“ Ostjuden, um sich später in einen Hass auch gegenüber ihren eigenen jüdischen Mitbürgern zu wandeln. 30 Wolfgang Beutin, Klaus Ehlert, Wolfgang Emmerich, Christine Kanz, Bernd Lutz, Volker Meid, Michael Opitz, Carola Opitz- Wiemers, Ralf Schnell, Peter Stein und Inge Stephan (hrsg.), Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag, 2008, S. 387 [19] In Fabian, dem Großstadtroman, fällt zuerst nicht auf, dass es Unterschiede zwischen verschiedenen politischen Ansichten und zwischen den Schichten gibt. Bei näherem Hinsehen sind diese jedoch sehr zahlreich vorhanden. Auffällig ist aber, dass innerhalb des Nachtlebens, in dem sich Fabian bewegt, Schichten keine große Rolle spielen; alle gehen dort miteinander um, ob Arbeiter, Künstler oder Erwerbsloser. Fabian selbst ist Angestellter, also Kleinbürger. „ich bin ein Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort“31, sagt er in einer Diskussion mit einem kommunistischen Proletarier, der sich soeben mit einem Nazi wegen seiner Ideen beschossen hat. Fabian selbst gibt vor, unpolitisch zu sein und geht dann auch auf die Art durchs Leben. Gegenüber dem Proletarier sagt er aber, obwohl er ein Kleinbürger sei, fühle er sich den sozialistischen Arbeitern verbunden. Außerdem möchte er später im Roman in seinem Heimatort die ihm angebotene Stelle bei einer rechten Zeitung nicht annehmen. Auch, wenn er also passend zur neuen Sachlichkeit neutral bleibt, so kann man doch an kleineren Hinweisen seine politische Neigung erkennen. Allerdings kritisiert er politisches Engagement, zum Beispiel in Person von Labude, seinem besten Freund. Labude ist Sozialdemokrat und obwohl er selbst aus einer intellektuellen, reichen Familie kommt, glaubt er an eine Gesellschaft, die ohne Klassenunterschiede funktionieren kann. Er will diese erreichen, indem er die „Jugend“, nämlich die Studenten, mit sich vereint und so mit ihnen für sein Ziel kämpft. Er erinnert damit sehr an die Studenten der 68er Generation, die Kästner natürlich unmöglich vorhergesehen haben kann. Fabian belächelt Labude des Öfteren für sein politisches Engagement und obwohl er die Begeisterung bewundert, glaubt er nicht, dass Labude Erfolg haben wird. Fabian ist aber nicht der einzige Unpolitische in diesem Roman. So sagt Kollege Münzer in einer betrunkenen Laune, sowohl rechte als auch linke Extreme würden die Republik kaputt machen, man müsse sie aber reparieren, anstatt sie zu zerstören.32 Auch die Zeitung, bei der Fabian arbeitet, will weder für, noch gegen die Regierung schreiben, vor allem nicht gegen, weil sie sich dann selbst schadete. Dafür zu schreiben ist aber auch nicht möglich: „wir sind anständige Leute“33 . Vielleicht ist Fabian selbst auch so unpolitisch, da er eigentlich Intellektueller ist, und nur notgedrungen zur Schicht der (arbeitslosen) Angestellten zählt. Aber die Kritik an Akademikern und Intellektuellen ist auch nicht zu überlesen, wenn Fabian einem Kollegen vorlügt, er hätte seine Dissertation über das Stottern Heines geschrieben. Akademiker beschäftigen sich mit sinnlosen Dingen und stehen am Ende auch nicht besser im Leben, scheint die Aussage zu sein. So geht es auch dem Erfinder, der ein brillanter Wissenschaftler ist. Aber seine Erfindungen werden benutzt, um anderen zu schaden, und so landet er auf der Straße und letztendlich sogar in einer Psychiatrie. Das Plädoyer scheint sich also gegen Studenten und Akademiker zu richten, die in ihrer eigenen unrealistischen Welt leben, auch, wenn der Rektor von Fabians alter Schule glaubt, dass Fabians Leben mit einem Doktortitel besser verlaufen wäre und ihm auch schon in seiner Schulzeit gesagt wurde, dass man mit einem akademischen Abschluss weiter kommt. 34 Auch die ablehnende Art, mit der Fabian auf den Direktor reagiert, zeigt, dass er dessen Theorie Unsinn findet und einen akademischen Titel für etwas ganz und gar Nutzloses hält. 31 Erich Kästner, Fabian. (1931) München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004, S. 66 Vgl. Erich Kästner, Fabian. (1931) München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004, S. 38 33 Erich Kästner, Fabian. (1931) München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004, S. 32 34 Vgl. Erich Kästner, Fabian. (1931) München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004, S. 221 32 [20] Desinteresse für Politik scheint also in Fabian vor zu herrschen. Jedoch begegnet man des Öfteren dem Kampf zwischen rechts und links, als etwas, dass zum Leben dazu gehört. So finden Labude und Fabian es erst schockierend, dann aber auch belustigend, als sie einen Kommunisten und einen Nazi finden, die sich gegenseitig mit Pistolenschüssen verletzt haben. Wie schon erwähnt, lehnt Fabian den Nationalsozialismus ab, findet ihn jedoch vor allem auch in seinem Heimatort und nicht nur auf der Straße. Was er ihm vor allem vorwirft, ist nicht zu wissen, wogegen er eigentlich wirklich ist, und vor allem nicht, was die Lösung für das Problem ist: „„Ihre Partei“, er meinte den Faschisten, „weiß nur, wogegen sie kämpft, und auch das weiß sie nicht genau.““ 35 Dass Nationalsozialisten selbst nicht wirklich wissen, was sie wollen und was sie nun eigentlich bekämpfen, das wird auch deutlich im Gespräch mit dem alten Schulkollegen Wenzkat, der nationalsozialistisch sein will, aber nicht weiß, warum. Auf Fabians inhaltliche Fragen hat er keine Antworten und sagt am Ende nur, als sei es eine Beschimpfung, Fabian sei nicht patriotisch genug. Dann möchte er ins Bordell. Nazis werden also in Fabian oft als dumme Mitläufer dargestellt und das sagt viel über die politische Tendenz des Romans. Alles in allem scheint Kästner hier für mehr Solidarität und politische Mäßigung zu plädieren. Arbeiter und Angestellte sollten zusammenarbeiten und Ständeunterschiede überwinden, weil sie die gleichen Ziele haben: „ich bin euer Freund, obwohl ihr darauf pfeift“36, sagt Fabian zu dem kommunistischen Arbeiter. Auch Pinneberg und Lämmchen sind nach bester neusachlicher Art keiner politischen Strömung verbunden, und bei ihnen lässt sich nicht einmal eine Tendenz feststellen. Dennoch finden sich in dem Roman viele politische Ansichten und auch die Meinungen über Unterschiede zwischen Schichten sind dort etwas differenzierter. Lämmchen und Pinneberg sind beide Angestellte, Pinneberg später arbeitsloser Angestellter. Sie sind weder Kommunisten, wie Pinneberg seinem Vermieter Puttbreese versichert, obwohl Puttbreese das merkwürdig findet: „Komisch. Wenn ich Sie wäre, ich wäre Kommunist“37, noch scheinen sie Nazis zu sein. Zwar ist eine unterschwellige Abneigung Juden gegenüber spürbar, auf die ich später noch zurückkommen werde, diese war in dieser Zeit aber noch nicht unbedingt programmatisch für die Nationalsozialisten. Lämmchen kommt aus einer Proletarierfamilie, die sich Pinneberg gegenüber sehr (bewusst) derb benimmt und stolz betont, dass sie eine einfache Familie sei. So macht sich Lämmchens Vater sehr über den Angestellten Pinneberg lustig, weil dieser in keiner angesehen, sozialistischen Gewerkschaft ist und seine Überstunden nicht bezahlt bekommt. Pinneberg wird vorgeworfen, es gebe keine Solidarität zwischen Angestellten38 und er hielte sich für etwas Besseres39. Aber auch, wenn die Unterschiede zwischen Kleinbürgern und Proletariern hier sehr betont werden, und mehrfach gesagt wird, dass ein Arbeiter als Mann für ihre Tochter ihnen besser gepasst hätte, so ist doch die Annäherung zwischen ihnen auch spürbar: „Sie denken genauso wie ein Prolet…“40, sagt Emmas Vater, ihre Mutter ist froh, dass Pinneberg nicht viel verdient und Emma so ein einfaches Mädchen bleiben wird und ihr Bruder, Karl, lässt sich am Ende zu einem „Ein richtiger Burgeois ist mir noch 35 Erich Kästner, Fabian. (1931) München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004, S. 66 Idem 37 Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1950, S. 401 38 Idem, S. 24 39 Idem, S. 25 40 Idem 36 [21] immer lieber als ihr Sozialfaschisten“41 herab, woraufhin er sich mit seinem Vater, dem „Sozialfaschisten“ (also einem Sozialdemokraten) streitet, der ihn „Sowjetjünger“ nennt. Hier ist also sehr deutlich die Kluft zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten zu sehen, und das sogar innerhalb einer Familie. Juden, die in Fabian eine sehr kleine bis keine Rolle besetzen, sind in Kleiner Mann - was nun? sehr wichtig, sind zwei von Pinnebergs Arbeitgebern doch Juden. Das Warenhaus Mandel und auch das Bekleidungsgeschäft Bergmann, bei denen Pinneberg gearbeitet hat, werden beide als sehr erfolgreiche und angesehene Firmen beschrieben. Trotzdem sind sich die Romanfiguren sich deren jüdischer „Andersartigkeit“ bewusst und scheint es nicht ungewöhnlich zu sein, dass Kleinholz, der Pinneberg in seinen Betrieb zu locken versucht, besonders betont, dass bei ihm alle „arisch“ seien und seinerseits über die „Judenwirtschaft“42 schimpft, oder dass Lämmchen bemerkt, sie möge „die Juden nicht sehr gerne“43 . Auch, als Pinneberg böse ist, weil sein alter Chef Bergmann ihn nicht mehr annehmen möchte, wird auf dessen jüdische Religion angespielt: Er wird als „Der kleine, hässliche Jude, mit dem der Herrgott bei seiner Erschaffung nicht sehr gnädig verfahren ist“44 beschrieben, als wäre es ein jüdisches Merkmal, besonders hässlich zu sein. Juden sind also in Fallada sehr deutlich Menschen, die zwar zur Gesellschaft dazu gehören und deren wirtschaftlichen Erfolg niemand komisch findet, die aber trotzdem als merkwürdig und anders empfunden werden, und denen gegenüber tolerant zu sein nicht unbedingt als nötig empfunden wird. Es scheint allerdings nicht, als würde dieser Umstand im Roman kritisiert. Keine einzige jüdische Romanfigur, die es sowieso nicht sehr zahlreich gibt, wird als positiv beschrieben, sondern im Gegenteil als ziemlich negativ, so wie Bergmann, der Pinneberg nicht zurücknehmen will und ihn anlügt, der geldgierige Puttbreese und das Warenhaus Mandel, in dem Pinneberg ausgebeutet wird. Abkehr von Juden wird nicht kommentiert. Es scheint also, als fände Fallada diesen „moderaten“ Antisemitismus normal und zum Leben dazugehörig. Die letzte, in Kleiner Mann - was nun? stark vertretene und ähnlich wie in Fabian persiflierte politische Richtung ist der Nationalsozialismus. Trotz der leichten Abneigung gegen Juden ist auch eine starke Abkehr vom Nationalsozialismus zu spüren. So wird Lauterbach, ein Kollege Pinnebergs im „arischen Betrieb“ Kleinholz als ein Nazi beschrieben, wie er im Buche steht, aber nicht so sehr, weil er tatsächlich politisch davon überzeugt ist. Lauterbach wird als ein etwas dummer, einfacher Mann dargestellt, der sich in seinem Leben gelangweilt hatte. Dann sei er zu den Nazis gegangen und habe eine Beschäftigung gefunden, außerdem tolle glänzende Abzeichen und Uniformen bekommen. Seine „Lebenssehnsucht war gestillt: er konnte sich fast jeden Sonntag – und manchmal auch wochentags am Abend – prügeln.“45, wird etwas ironisch dazu gesagt. Auf der Arbeit hilft ihm seine Zugehörigkeit zur Sturmabteilung der Nazis auch noch: Oft sei er dort als etwas streng verschrien, aber dass er Nazi war „machte alles wieder gut“46. Die Bauern, mit denen Lauterbach zusammen arbeitet, sind also augenscheinlich auch Nazis. Alles in allem wird Lauterbach also als jemand beschrieben, der total unpolitisch ist, aber Uniformen und Ansehen mag und sich außerdem liebend gerne prügelt – deswegen ist er zu den Nazis gegangen. Die Schlussfolgerung, dass alle Nazis ähnlich 41 Idem, S. 27 Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1950, S. 61 43 Idem, S. 64 44 Idem, S. 124 45 Idem, S. 74 46 Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1950, S. 74 42 [22] dumm seien, ist dann schnell gezogen – und es wird deutlich, dass Fallada nur Verachtung für die Nazis fühlt, während Fabian sie belächelt und kritisiert. Alles in allem finden wir in den beiden Romanen also die verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Ansichten und Schichten. Deutlich wird vor allem, dass beide Autoren die Nazis als eine lächerliche und dumme politische Gruppierung sehen und außerdem eine Annäherung zwischen Angestellten und Intellektuellen wollen. 7) Schlussfolgerung Beide Romane gehören der neuen Sachlichkeit an und haben als wichtigstes Merkmal dieser Strömung, dass sie politisch keine eindeutige und abgegrenzte Stellung einnehmen. Aber, und auch das ist Teil der Strömung, beide zeigen dem Leser auf eine sehr deutliche und oft auch ironische Art, was „gut“ ist: Beide Autoren plädieren für mehr Solidarität, sowohl was politische Ansichten und Schichten betrifft, die sich nicht miteinander verfeinden sollten, sondern auch was das Zwischenmenschliche angeht. Beide kritisieren Egoismus und loben Hilfsbereitschaft. Politisch gesehen lehnen beide deutlich den Nationalsozialismus ab und sehen ihn als dumm und inhaltslos. Auch Frauen betreffend sind sich die Autoren einig: Es scheint, als sei keiner von beiden einer selbstständigen, berufstätigen Frau abgeneigt, diese muss aber dennoch solidarisch und treu ihrem Mann gegenüber sein und sollte vor allem nicht egoistisch sein. So richtet sich die Kritik von Fallada und Kästner also vor allem an den allgemein ihrer Meinung nach herrschenden Egoismus: Kästner sagt dies schon in seinem Vorwort und auch im Roman mehrmals sehr deutlich, aber auch Fallada, der es auf eine weniger ausgesprochene Weise zeigt, lobt Gutherzigkeit und kritisiert Egoismus, und er zeigt sogar, dass Hilfsbereitschaft für ihn über anderen Tugenden wie Bravheit (in Jachmanns Fall) oder „sexueller Normalität“ (in Heilbutts Fall) steht. [23] Quellen Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Deutsche Geschichte Band 9. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1987. Erich Kästner, Fabian. (1931) München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004. F. Syrup, Die Regelung der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung im Deutschen Reich, in: Internationale Rundschau der Arbeit, 2. Band Heft 9/1927 S. 811 f. sowie ders., Hundert Jahre Staatliche Sozialpolitik, 1839-1939, Stuttgart 1957, S. 338 Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1950. Peter Lewek, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik 1918-1927. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1992. Rudolf Wolff (Hrsg.), Hans Fallada, Werk und Wirkung. Bonn: Bouvier, 1983. Sabina Becker, Neue Sachlichkeit. Band 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920-1933). Köln: Böhlau Verlag GmbH, 2000. Sigrid und Wolfgang Jacobeit, Illustrierte Alltags- und Sozialgeschichte Deutschlands 1900-1945. Münster: Westfälisches Dampfboot, 1995. Wilhelm Adamy und Johannes Steffen, „Arbeitsmarktpolitik in der Depression“, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt und Berufsforschung. 15. Jahrgang, 1982. http://doku.iab.de/mittab/1982/1982_3_MittAB_Adamy_Steffen.pdf Wolfgang Beutin, Klaus Ehlert, Wolfgang Emmerich, Christine Kanz, Bernd Lutz, Volker Meid, Michael Opitz, Carola Opitz- Wiemers, Ralf Schnell, Peter Stein und Inge Stephan (hrsg.), Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag, 2008. Deutsches Historisches Museum über die Weimarer Republik: http://www.dhm.de/lemo/html/weimar/ 23.05.2011 Quellen der Bilder des Titelblatts: http://www.seltsame-welt.de/2009/12/fabian-erich-kastner/ http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kalenderblatt/385941/bilder/image_main/