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SWR2 LITERATUR
MEINEN SCHATTEN WIRFT EIN FLIEDERBAUM
DIE DICHTERIN FRIEDERIKE MAYRÖCKER
VON NORBERT HUMMELT
SENDUNG ///11.02.2014 /// 22.03 UHR
Redaktion Künstlerisches Wort /// Literatur /// Stephan Krass
Regie: Iris Drögekamp
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Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung
und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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O-TON 1:
nun eigentlich, deklamieren die Büsche, er liebkoste meinen Garten, ach das Mysterium einer angebissenen Birne
einer offenen Tür einer welken Blume eines vergiszmeinnichtblauen Augenpaars, (Edith S.), das Zifferblatt deiner Erkenntnis, nämlich die Terminologie des Kontrollierens :
das Fieber das Sperma der Blutdruck die Treue (was mich
in die Arme meiner verstorbenen Mutter trieb) . . . . . .
MUSIK: JOHN DOWLAND, “FLOW MY TEARS”:
SPRECHERIN:
„Die Szene ist immer die gleiche, die Seele, am Schreibtisch, am
Sommerort, in der Nacht, hier bei Nacht auf dieser nicht enden
wollenden Reise.“
O-TON 2:
Ja, hier ist Friederike oder Fritzi, lieber Norbert, ich hab mir da im
Kalender aufgeschrieben: 22. März, und da machen wir diese
Aufnahme im ORF. Und da steht aber: 16.45 Taxi. Das würde heißen,
würdest Du mich dann mit dem Taxi abholen? Dann müsstest Du halt
bei meinem Haustor Zentagasse 16 bei meinem Namen drücken und ich
komm dann herunter. Ich mach Dir das Haustor auf, wenn schlechtes
Wetter ist. Dann kannst Du warten, bis ich herunterkomme. Und die
nächste Frage ist dann: die Gedichte oder die Texte, wie auch immer,
haben wir das besprochen? Hast Du die Texte? Weil ich weiß nicht,
was ich da zusammenstellen soll. Heute ist Freitag, der 23. Februar…
ANSAGE:
Meinen Schatten wirft ein Fliederbaum. Die Dichterin Friederike
Mayröcker. Ein Feature von Norbert Hummelt.
ERZÄHLER:
Die Szene ist immer die gleiche. Es ist früher Morgen, vielleicht fünf
Uhr, im fünften Wiener Bezirk Margareten. In einem der oberen
Stockwerke eines 1906 erbauten Hauses in der Zentagasse brennt
bereits Licht. Friederike Mayröcker hat ihre tägliche Schreibarbeit
aufgenommen. Es ist, wie in der jahrzehntelangen Praxis der 1924
nirgendwo anders als in Wien als Tochter eines Lehrers und einer
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Modistin geborenen Dichterin seit langem ritualisiert, ein nahezu
übergangsloses Gleiten aus dem Schlaf in den Vorgang des Schreibens.
O-TON 3:
. . . . . . mit einem wollenen Schal
halte ich mir das liebe Ohr zu welches schmerzte . . . . . .
befangen : gefangen : noch in der Wohlfahrt des Schlafes
war ich nicht imstande dem Verlangen nachzugeben, 1 Glas
Wasser zu trinken sobald ich erwacht war : noch im Zustand
des Schlafes befangen war ich nicht imstande, sobald ich
erwacht war, dem Bedürfnis nachzugeben 1 Glas Wasser zu
trinken : es wäre 1 Kühnheit gewesen 1 Rosenbusch. Man
will manchmal (zeitlebens) dasz 1 schöner Tag sich
wiederhole also möchte man dasz 1 schöner Tag wiederkomme.
Der Wolkenkratzer der kl. Pappschachtel auf dem Nachtkästchen am Morgen, eben aus den Träumen erwacht :
der Wolkenkratzer der kl. Pappschachtel auf dem Nachtkästchen (NOVALGIN) . . . . . .
ERZÄHLER:
In den Gedichten wie in den Prosawerken Friederike Mayröckers sind
die Wege, die vom Leben ins Schreiben führen, kurz. Jeder Eindruck
kann sofort Eingang finden in den entstehenden Text. Mit einer Staunen
machenden Hingabe widmet sich die Schriftstellerin seit vielen Jahren
ihrem poetischen Werk. Ihren völlig eigenen Stil kann man am ehesten
im Bild der Alchemie begreifen: Erinnerungen aus der Kindheit finden
sich in surreale Metaphern übersetzt, Wahrnehmungssplitter ihrer
nächsten Umgebung und Meditationen über die Sehnsüchte und Nöte
der menschlichen Existenz verschmelzen mit Einsprengseln aller Art,
sprachlichen Zufallsfunden und Zitaten aus Briefen und Lektüren zu
einer unverwechselbaren Legierung. „Benachbarte Metalle“ nannte der
Lyriker Thomas Kling die Ergebnisse dieser Verfahrensweise, für die er
Parallelen in der bildenden Kunst entdeckte.
SPRECHER:
„Marcel Duchamp sprach einmal von ‚Benachbarten Metallen‘, als ihm
nicht mehr einfiel, welche Werkstoffe er zu einer bestimmten Arbeit
verwandt hatte. Auch bei den vielen hundert Mayröckergedichten ist es
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das Ähnliche, das Unterschiedene, ist das Scheidbare verschmolzen. Ihr
Gedicht ist aus ‚Benachbarten Metallen‘ gemacht.“
O-TON 4:
Ja, es ist mit großer Emotion geschrieben …
MUSIK: HÄNDEL, SUITE IN D MINOR, PRELUDE:
O-TON 5:
Zeitlebens: Faltenwurf meiner Existenz, war
ich eitel in meinem Traum, begann ich zu lesen im Studienheft der Geheimnisse . . . . . . malte schwarze Mauer und rief
das ist der Tod von EJ, Dornenkrone mit schwarzem Filzstift gezittert auf Daunendecke, etc.
ERZÄHLER:
Zu den Geheimnissen ihrer Kunst gehören sogenannte Verbalträume.
O-TON 6:
Es geht so, dass ich etwas träume, einen Satz oder auch nur Worte, und
dass ich dann, während ich das träume oder kurz nachdem ich es
geträumt hab, aufwache. Ich schreib dann den Satz, die Worte auf und
am Morgen bin ich dann immer sehr erstaunt, was da in der Nacht
aufgeschrieben wurde von mir.
ERZÄHLER:
Vor jeder anderen Verrichtung nimmt Friederike Mayröcker nach dem
Erwachen das Schreiben auf und arbeitet, so lange die Kraft reicht.
O-TON 7:
Dann mach ich zwischendurch Pause, ich bin ein Hoher-BlutdruckPatient, wenn ich dann eben hohen Blutdruck hab, dann mach ich Pause
und schieb das Frühstück ein und dann mach ich weiter.
O-TON 8:
(Was frühstückst du?) – Einen teeinfreien Tee. – (Du musst doch auch
was essen. Was isst du dann?) – So ähnlich, was du gerne isst. Kipferln.
(lacht)
O-TON 9:
Das heißt, ich fang ziemlich früh an und arbeite dann bis Mittag,
ungefähr, und dann gibt es eigentlich nichts mehr für mich. Dann hab
ich den Tag ausgefüllt, gefühlsmäßig ausgefüllt, und dann hab ich das
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Bedürfnis, nur zu entspannen. Dann geh ich bissel fort oder ich besorge
irgendwas oder ich fange dann an zu lesen, also ich hab jeden Tag …
lese ich meine Lieblingsdichter, Jacques Derrida, und Ponge, vor allem
Ponge auch, und ich präparier mich sozusagen schon für den nächsten
Morgen, dass ich wieder was schreiben kann.
SPRECHERIN:
„Ich verbrachte die meiste Zeit mit dem Lesen meiner Lieblingsdichter.
Die Wahrheit ist, ich ging nie ohne Schreibpapier und Stift an die
Lektüre, auch bin ich nie imstande gewesen, mich in eine Lektüre
einzulassen ohne pausenlos zu exzerpieren, es ist wie eine Krankheit.“
O-TON 10:
Na ja, das leere Blatt gibt es eigentlich bei mir überhaupt nicht, weil ich
bin umringt von Exzerpten und von vielen Dingen, die ich so während
des Tags auch aufschreibe und so. Ich mach es jetzt so, dass ich anfang‘
zum Beispiel, wenn ich in der Früh anfang‘ und dann oft nur eine halbe
Seite schreib, dann hör ich auf für den Vormittag. Und dann hab ich am
nächsten Morgen, hab ich diese halbe Seite. Und das ist so schön, dann
weiß ich, dann kann ich da weitermachen. Ich hab natürlich auch frühe
Morgen, wo ich eine ganze oder mehr Seiten schreib. Aber es ist sehr
verlockend, wenn man schon paar Zeilen dort stehen hat.
ERZÄHLER:
Es sind immer dieselben Bücher, aus denen sich Friederike Mayröcker
Anregungen für ihr Schreiben holt. So findet der Leser immer wieder
den Hinweis auf den Philosophen Jacques Derrida und insbesondere auf
sein Buch Die Postkarte.
O-TON 11:
Die Postkarte hab ich vor zwanzig Jahren zum ersten Mal gelesen und
dann immer wieder gelesen. Und dann hab ich das Buch, es ist
verschwunden bei mir in der Wohnung, dann hab ich es noch einmal
gekauft bei meinem Lieblingsbuchhändler Herrn Doktor Posch in der
Lerchenfeldergasse und er hat dann schon gesagt, wenn du‘s wieder
brauchst, dann hab ich noch eines, ich hab’s dann wieder gebraucht, ich
hab noch einmal, also ein drittes Mal hab ich „Die Postkarte“ zu Hause,
hätte ich sie zu Hause, wenn ich sie nicht verkramt hätte. Und das
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wichtigste Buch ist aber außer der Postkarte von Jacques Derrida, ist
auch von Jacques Derrida, und zwar Glas, das heißt Totenglocke.
SPRECHER:
„Der Gesang, der zur Tube emporsteigt, dringt aus der Kehle. Alles,
was schön ist, ‚provoziert und lässt in unserer Kehle entdecken: den
Gesang.‘ Alles, ‚was uns singen macht‘ oder ‚schluchzen‘, sei es eine
‚Grableuchte‘ oder der Verrat, steht in einer Beziehung zur Schönheit,
und jede Schönheit provoziert eine Bewegung am Grund der Kehle.“
O-TON 12:
(lacht) Ja, das sind die herrlichsten Sachen von Derrida. Poetisch, ganz
poetisch. Reine Poesie. Das musst du unbedingt einmal lesen.
O-TON 13:
als nämlich die Agave = „der Hof voll Rosen“, oh sink‘ hernieder Nacht der Liebe. Es ist das Etamin, so Jacques Derrida, die
Mutter schneiderte mir zarte Etaminkleidchen für die
heiszen Sommertage in D., am Nacken zu schlieszen mit
kl.Perle . . . . . . „Eitelkleid“, der Flug oder Diebstahl
der Schwalben, so Jacques Derrida . . . . . . als ich ihr vor die Füsze
spuckte : fiebte fieberte, alsbald. Ringelten auf dem
Betttuch meine immerfort regnenden Haare.
SPRECHER:
„Erzählungen ohne Zusammenhang, jedoch mit Assoziation, wie
Träume. Gedichte, bloß wohlklingend und voll schöner Worte, ohne
allen Sinn und Zusammenhang, höchstens einzelne Strophen
verständlich; sie müssen wie lauter Bruchstücke aus den
verschiedenartigsten Dingen sein. Höchstens kann wahre Poesie einen
allegorischen Sinn im großen haben und eine indirekte Wirkung wie
Musik etc. tun.“
ERZÄHLER:
Schrieb lange vor Derrida der frühromantische Dichter Novalis, als
habe er sich die Sprachkunst Mayröckers bereits um 1800 träumen
lassen. Der romantischen Idee vom Vermischen und Verschmelzen der
Gattungen scheint auch die Vielzahl der Formen in ihrem Werk zu
entsprechen, die zwischen kurzen lyrischen Notaten und den weit
ausgreifenden rhythmischen Endlosschleifen ihrer Prosa immer wieder
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einen neuen Typus erfindet. Zuletzt: Études, frei komponierte längere
Gedichte, in denen Augenblicke des gelebten Leben aufblitzen wie
Goldklumpen, die am Grund eines Baches schimmern – die Wellen
gleiten drüber hinweg.
O-TON 14:
Wenn du nur glücklich bist, sage ich zu ihm usw. Womöglich
kann ich nur über zeichnen und malen meinen Gedanken
Ausdruck
verleihen, hockte dann vor Scarlatti’s Katzenfuge als die Agaven . . . . .
spüre ich tatsächlich jene sandige Anhöhe =
Epikur’s Wange, Blumen Ranken, Raketen, nämlich kl. Anhöhe erklimmend spüre ich noch heute den Staub unter
meinen Füszen und Dohlengeschrei, tappend, ein wenig, oder
mit Mutter am Arm während das Jaulen der jg. Hunde (Puchberg am Fusze des Schneebergs, damals, Anhöhe welche ich
erklimme deklamiere, die Büsche etwa, die winzigen Schlangen : Schlangenköpfe welche) . . . . .
MUSIK: HÄNDEL-SUITE:
ERZÄHLER:
Sucht man in der deutschen Literatur ein Vorbild für den MayröckerStil, so wird man am ehesten in den Romanen Jean Pauls fündig.
O-TON 15:
Ich hab mir jetzt die Briefe von Jean Paul, hab ich mir gekauft, die sind
ja neu herausgekommen, sind sehr interessant. Und auch gut zum
Exzerpieren. Also für mich ist nur ein Buch interessant und wichtig,
wenn man daraus exzerpieren kann. Ich hab immer exzerpiert und hab
immer dann das auch verwendet fürs Schreiben. Es gibt natürlich, wie
ich sie nenn, sogenannte Standardgedichte wie „was brauchst du“ zum
Beispiel. Das ist nicht montiert, das ist entstanden unter einem Baum in
einem nahen Park, das ist eigentlich ein Minutengedicht. Und sowas
gibt es auch, Minutengedichte, wo ich’s einfach notier, dort, vor dem
Baum und dann zu Haus kaum überarbeitet und in die Maschine.
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ERZÄHLER:
Die Szene ist immer die gleiche. Im Flur die Mülltonnen; gegenüber das
Flachdach des Supermarkts. Darüber die Schwalben. Wann genau sie in
die Zentagasse eingezogen ist, entzieht sich ihrer Erinnerung.
O-TON 16:
Ungefähr in den fünfziger Jahren.
ERZÄHLER:
In den Straßen des ehemaligen Arbeiterbezirks gibt es nur wenige
Grünflächen. Aber Friederike Mayröcker findet dort, was sie braucht.
O-TON 17:
Ich würde vielleicht brauchen ein Zimmer mehr … (lacht) Oberhalb des
Parks, das ist ein ganz kleiner Park, man nennt das in Wien Beserl-Park,
und oberhalb, es fängt direkt an beim Beserl-Park, sind die Linden, und
die sind natürlich wunderbar, wenn sie dann blühen, ist es so ein Duft,
der kommt direkt von oben, spürt man’s wie einen Regen oder wie Tau
kommt es runter, der Duft der Linden. Das ist schon sehr schön. Da geh
ich schon manchmal, einfach um diesen Duft zu atmen.
O-TON 18:
was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch
wie groß wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie groß wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel
ERZÄHLER:
In seiner Klarheit und Einfachheit kommt dieses Gedicht nicht wenigen
Lesern entgegen – die Dichterin selbst hat Distanz dazu.
O-TON 19:
Ich hab mich sehr entfernt davon, aber ich weiß, dass es sehr viel
Anklang findet. Vielleicht weil es eine einfache Struktur hat vielleicht,
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oder auch einen philosophischen Gedanken, dass man eben einen Baum
vergleicht mit dem Leben des Menschen und so. Diese Art von Gedicht
mit einfacher Struktur sind die seltensten Gedichte bei mir.
ERZÄHLER:
Die Eingebungen des Augenblicks erfahren in den meisten ihrer Texte
eine kalkulierte Überformung mit sprachlichen Fremdelementen.
O-TON 20:
Ja gut, mit der Eingebung, das ist schon sehr schön und gut, aber
natürlich kommt dazu viel Technik, die Montage-Technik, ohne die
kann ich, also ich arbeite immer noch mit Montage. Seit den Anfängen,
aber anders als bei den Anfängen. Und von der Eingebung allein, da
kann ich nur wenig davon profitieren.
II
O-TON 21:
HÖRST DU NOCH IRGENDWAS
es ist so still
mein ohr ist taub
mein Aug ist trüb
es ist fast nichts mehr da
das mich bewegt
ich sah mein Nachtgesicht
im Fenster vis-à-vis
ich bin mir selber fremd
vielleicht bin ich schon tot
nur wenn im Wind hangauf
die Rebe rauscht
der rosa Wind
mit vielen Bändern fliegt
der rosa Wind –
da wach ich auf
und fühl
wie trocken meine Lippen sind
9
O-TON 22:
Ja, lieber Norbert, hier ist Friederike Mayröcker. Ich hab jetzt schon
einige Sachen ausgewählt und ich werde Dir das schicken. Ich wollte
nur wissen, drum ruf ich an, wie dringend es ist, ich hab so viel andere
Termine und bin noch immer nicht so ganz auf der Höhe. Ich hoffe, daß
ich das zum Wochenende oder längstens Anfang der nächsten Woche
Dir schicken kann. Dann alles Gute.
SPRECHERIN:
„Ich habe mit unzähligen Menschen Berührungen ausgetauscht, habe
die Orte und Jahreszeiten gewechselt, aber tatsächlich habe ich mich
von meinem Schreibplatz nicht wegbegeben, von meiner Schreibarbeit,
naturgemäß hier ist mein Platz und Zuhause, aber vielleicht spielt sich
alles nur in meinem Kopf ab, vielleicht ist es so dass wir nur noch in der
Vorstellung leben, dieses und jenes zu tun, vielleicht vollziehen wir
alles nur noch im Kopf, sage ich, wir leben womöglich nur noch dank
unserer Vorstellungskraft die wir jahrzehntelang gepflegt und betätigt
haben, das sind jedoch alles nur Vermutungen.“
O-TON 23:
Ich mag die Sonne nicht mehr. Früher hab ich sie, als junger Mensch
hab ich sie sehr gern gehabt, und jetzt fühl ich mich viel besser, wenn
ich also sehe, es ist trüb, dann weiß ich, dass das Arbeiten auch besser
geht. Es ist mir wirklich lieber, wenn’s trüb ist, aber ich hab den
Sommer sehr gern, aber auch lieber, wenn zum Beispiel kein
strahlender Tag ist. Hab ich schon lieber, es ist kein strahlender Tag.
ERZÄHLER:
In den Werken vieler Dichter gibt es eine Art Bildspeicher, gefüllt mit
frühen Eindrücken, oftmals aus der Natur. Der Bildspeicher Friederike
Mayröckers ist ein Dorf in Niederösterreich.
O-TON 24:
Dieser Speicher, der ist gefüllt mit Erinnerungen an die frühen
Sommermonate, die ich in Deinzendorf erlebt habe, aber nur eben die
Sommer bis zum elften Lebensjahr, meine Eltern haben da ein Haus
gehabt mit einem Innenhof, so einen Lehmvierkanter, das ist so das
Übliche im Weinviertel, und da war eben dieses wunderbare Haus und
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da war noch ein großer Garten daneben und es war eine Idylle für mich
als Kind. Und da, von daher kommen alle meine Natureindrücke, das ist
aber leider, im elften Lebensjahr hab ich den letzten Sommer dort
verbracht, weil das Haus musste dann verkauft werden.
SPRECHERIN:
„Ich saß dann da und starrte aufs Wasser. Ich saß dann da und verfolgte
mit meinen Augen den Flug der Schwalben, so niedrig, sie streiften
beinahe die Dorfstraße. Ich saß dann da und die Mittagsonne brannte
auf die Steinstufen am Ziehbrunnen. Ich saß dann da und im großen
Garten an der Längsseite des Hauses glühten die Feuerlilien, und
Zitronenfalter gaukelten darüber hin, das birkenweiße Lusthäuschen
glänzte zwischen Büschen und Beeten und Zwergbirnbäumen.“
O-TON 25:
(Wusstest du denn als Kind schon, wie die ganzen Blumen heißen? )
Zum Teil. Mein Vater war Volksschullehrer und hat mir das eingeprägt.
Auch meine Mutter. Im elften Lebensjahr war ich noch nicht soweit,
dass ich geschrieben hab. Aber mit 15 hab ich angefangen. Aber ich hab
damals soviel Eindrücke gehabt. Ich kann mich erinnern, ich war, ich
bin von meiner Mutter her ein bissel melancholisch und hab das damals
schon als Kind gespürt, ich bin da an dem Ziehbrunnen gesessen und
der Ziehbrunnen war gegenüber vom Haustor, vom Haus, und da bin
ich einfach gesessen und hab so, das war so ein Sinnen irgendwie, ein
Nachsinnen, aber ich weiß nicht, woran ich da gedacht hab, aber es war
irgendwie eine Melancholie da und ich weiß jetzt, was die Melancholie
von damals bedeutet hat, es war eigentlich ein Vorstadium dessen, was
ich jetzt bei jedem Text, den ich mach, erlebe. Ich kann nur arbeiten,
wenn ich melancholisch bin, also wenn ich melancholisch gestimmt
bin. Ich versteh überhaupt nicht, dass Dichter sagen, sie können nur
schreiben, wenn sie fröhlich sind oder gut gelaunt oder ausgeschlafen
oder so.
O-TON 26:
MANCHMAL BEI IRGENDWELCHEN ZUFÄLLIGEN
BEWEGUNGEN
streift meine Hand deine Hand deinen Handrücken
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oder mein Körper der in Kleidern steckt lehnt fast ohne es zu wissen
einen Augenblick gegen deinen Körper in Kleidern
diese kleinsten beinahe pflanzlichen Bewegungen
dein abgewinkelter Blick und dein Auge absichtlich ins Leere wandernd
deine im Ansatz noch unterbrochene Frage wohin fährst du im Sommer
was liest du gerade
gehen mir mitten durchs Herz
und durch die Kehle hindurch wie ein süszes Messer
und ich trockne aus wie ein Brunnen in einem heiszen Sommer
SPRECHERIN:
„Ich wanderte dann umher mit meinem dürren Weidenzweig. Ich
wanderte dann umher, ein Stück die Dorfstraße aufwärts bis zum
Wegkreuz und wieder zurück. Ich wanderte dann umher, da stand mein
Vater an der Böschung zum Bach und schnitzte für mich eine
Weidenpfeife.“
O-TON 27:
mein Wimmern. Anbetung der frühen Kindheit in D.
Anbetung der Kindheit. Das Spiegelbild in der Regentonne die
Erdbeerbeete im Garten die Malven im Haar weiszt du der Phlox
der im Wind. Das Wimmern immer das Wimmern irgendwo in meinem
Herzen, ich weinte viel, sasz am Ziehbrunnen vor dem Haus, da
war das Wimmern in mir, die Lüster der Sterne, geliebter Fliederbaum, geliebter Baum den ich küszte, die Weidenrute zog ich
nach die Dorfstrasze hinauf, bis dorthin wo die niedrigen
Häuser aufhörten, dann das Wegkreuz die Äcker gnadenvoll der
Sonnenuntergang dort oben am Ende der Strasze ich weinte, sprang
in den Abfallkanal, die Scherben zerschnitten den Fusz, wie
standen still diese Sommer damals als sei es 1 einziger Sommer
gewesen. Die Hollerstauden der Bach die Brücke mit der Statue
des hl.Nepomuk. Der himmlische Lokus die Veilchenwiese, wir
sind in den Weinbergen, der Hund friszt Gras weiszt du da kommt
1 Regen, die Donnerblümchen.
Beinahe 80 Jahre später weiszt du, die Titel locken aber die ungeheuren Bücher ungelesen, auf dem Fuszboden neben dem Bett –
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ich fliege dahin es ist Dämmerzeit BLAUE STUNDE, sagt Erika
Tunner, die glühenden Tannen am Horizont weiszt du die Reduktion des Körpers solch Gräslein auf meinem Grab –
ERZÄHLER:
Das Wimmern, aber auch das erlösende, befreiende Weinen, gehört zu
den immer wiederkehrenden Motiven im Werk Friederike Mayröckers.
MUSIK:
JOHN DOWLAND; „FLOW MY TEARS“:
O-TON 28:
Ich hab immer geweint, ich hab manchmal so Bronchialkatarrhe gehabt,
und da hab ich dann geweint, weil ich mir gedacht hab, besonders
meine Mutter macht sich Sorgen. Und da hab ich mir gedacht, das kann
ich nicht. In Deinzendorf zum Beispiel, da haben wir einige Zimmer so
nebeneinander gehabt, war ein verhältnismäßig größeres Haus, mit
Innenhof, und ich hab da ein Zimmer immer für mich gehabt in
Deinzendorf, in Wien nicht, in Deinzendorf ein Zimmer für mich
gehabt und da hab ich sehr viel gehustet, nächtelang gehustet. Und
meine Eltern, die daneben geschlafen haben, hab ich mir eben gedacht,
sie werden sich furchtbare Sorgen machen. Und da hab ich dann auch
geheult. Das Weinen begleitet die Melancholie, die ich hab von meiner
Mutter. Und die erleichtert mir, oder fördert, sagen wir so, das Weinen
und die Melancholie fördert das Schreiben.
III
O-TON 29:
Ja, lieber Norbert, hier ist Friederike, es ist Sonntag, halb elf vorbei am
Vormittag, und ich wollte Dir eigentlich durchgeben, die Kreuze oder
die Gedichte, die ich jetzt ausgewählt hab, und Dich bitten, ob Du mir
von den neuen Gedichten, ich glaub, Du hast sie mir sogar beigelegt,
aber ich finde sie nicht mehr, einfach das Datum sagst. Das eine neue
Gedicht fängt an mit „Weil wir entzückt sind, zu zweit“, und das zweite
Gedicht fängt an mit „nun eigentlich, deklamieren die Büsche“, aber ich
brauch die zwei Daten, sonst find ich sie nicht. Du weißt, ich hab einige
Schwierigkeiten mit der Ordnung, mit der Unordnung. Ich werde
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versuchen, Dich vielleicht am späten Nachmittag oder am Abend noch
einmal anzurufen … Dann alles Gute, leb wohl, baba…
O-TON 30:
„weil wir entzückt sind zu zweit, den Mond heruntergefetzt auch Süszbusch Blättchen im Türkenschanz, verbringe die Abende eher verwüstet, es
solle doch alles sehr expressiv sein was ich
schreiben wolle etc., die kl.Holzschuhe solch
Blütenmeere (Dufy), von der glitzernden Spitze
des Berges rief jemand meinen Namen, begleitet
mich 1 Lupinen Allee . . . . . .
ERZÄHLER:
Friederike Mayröcker, die den Krieg, wie sie selbst einmal schrieb, wie
hinter einem Schleier verlebt hat, ergreift den Beruf ihres Vaters: Sie
wird Lehrerin und unterrichtet Englisch, sie heiratet einen Kollegen und
ist Ende zwanzig, als sie 1954 den fast gleichaltrigen Autor Ernst Jandl
kennenlernt. Auch er arbeitet als Englischlehrer. Für beide ist es die
entscheidende Begegnung: Sie trennen sich von ihren Ehepartnern und
ziehen als Paar in den Kampf um literarische Anerkennung, die im
konservativen Österreich nach dem Krieg schwer zu erringen ist. Sie
haben Kontakte zur Wiener Gruppe um H.C. Artmann und Gerhard
Rühm, gehören aber nicht dazu. Mayröckers früher Prosaband Larifari.
Ein konfuses Buch geht ebenso unter wie Ernst Jandls Debut „Andere
Augen“. Jandl befreit sich 1957 mit radikalen Sprechgedichten.
O-TON JANDL:
schtzngrmm… schtzngrmm… t-t-t-t …
ERZÄHLER:
Seine Bühnenauftritte machen Jandl bekannt. Seine robuste und
expressive Lautdichtung ist dem so komplexen wie versponnenen
Ansatz Mayröckers deutlich entgegengesetzt. Aber auch sie lässt sich
von Konzepten experimenteller Lyrik anregen, wie sie von Max Bense
und Helmut Heißenbüttel vertreten werden. In den Texten ihres Bandes
Tod durch Musen, der 1966 im Rowohlt Verlag erscheint, finden sich
überbordende, frei assoziierte Sprachgebilde, die von der Subjektivität
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der schreibenden Person nichts ahnen lassen. Sie erprobt darin jedoch
eine Technik, die für ihr Schreiben bestimmend bleibt: die Montage.
SPRECHERIN / SPRECHER IM CHOR: die Armut aber und der Hunger um die Ecke
Hökerwolken aus Hökerwolken: leichte kommunikation
Kind mein Samt (ist Verlangen grosz)
o mond Unterlasz verwaist: you are no longer the same my dear!
ERZÄHLER:
Im Schreiben versuchen sich Jandl und Mayröcker auch gemeinsam: Ihr
Hörspiel Fünf Mann Menschen wird mit dem Preis der Kriegsblinden
ausgezeichnet. Im übrigen behalten sie ihre je eigenen Positionen bei.
O-TON 32:
Es ist gut gegangen, weil wir nicht zusammen gewohnt haben. Das war
eigentlich die Voraussetzung für das Arbeiten. Das wurde im Anfang
ausgesprochen von uns beiden, dass wir nicht zusammen wohnen, aber
dann hat es eine Zeit gegeben, wo Ernst Jandl doch das Gefühl gehabt
hat, das wäre schön, wenn wir zusammen wohnen würden, aber da hätte
es wahrscheinlich einer Riesenwohnung bedurft, und das war
unmöglich, also wir haben als Lehrer ja fast nix verdient. Er noch ein
bissel mehr, weil er am Gymnasium war. Aber ich hab als
Hauptschullehrerin ja ganz wenig verdient.
ERZÄHLER:
Um vom ungeliebten Brotberuf loszukommen und Zeit zum Schreiben
zu gewinnen, versucht es Friederike Mayröcker mit einer Auszeit.
O-TON 33:
Ich war zwei Jahre in Berlin und da hab ich nicht ein Wort geschrieben.
Es war so, dass ich ganz allein sein muss, um arbeiten zu können, und
ich war mit Ernst Jandl, was sehr schön war, in Berlin, da haben wir
eine große Wohnung gehabt, das war ein DAAD-Stipendium, und es
war sehr schön und ich hab auch dort einen kleinen Hund gehabt, ich
bin ein Hundenarr, und mit dem bin ich immer spazieren gegangen. Hat
nicht mir gehört, der Hund… (lacht) Das war ein kleiner Dackel, ein
Rauhhaardackel. Mit dem bin ich spazieren gegangen und das hat mich
abgehalten, auch abgehalten davon, irgendetwas zu arbeiten.
15
ERZÄHLER:
Ernst Jandl fällt das Schreiben in Gesellschaft leichter.
O-TON 34:
Der konnte sehr gut schreiben, zum Beispiel im Sommer, wenn wir
Ferien gemacht haben, dann hat er, wenn ich dabei war, sozusagen die
meisten Gedichte geschrieben.
ERZÄHLER:
Mitte der siebziger Jahre, sie sind etwa fünfzig, scheiden beide Autoren
vorzeitig aus dem Lehramt aus. Ernst Jandl fällt die Umstellung schwer.
Für Friederike Mayröcker ist es eine Erlösung.
O-TON 35:
Ich bin eine schlechte Pädagogin gewesen und hab das eigentlich nicht
gern gemacht. Und dann, wie diese Last von mir gefallen ist, hab ich
das Gefühl gehabt, jetzt beginnt mein eigentliches Schreibleben. Und
das war auch so, ich hab damals geschrieben wie eine Verrückte, und
hab nur, den ganzen Tag nur geschrieben. Ich musste alles sozusagen
nachholen, was ich ja während dieser, 24 Jahre hab ich unterrichtet, was
ich während dieser 24 Jahre nicht schreiben konnte, nicht arbeiten
konnte, hab ich dann gedacht, jetzt muss ich das alles nachholen.
MUSIK-AKZENT: HÄNDEL-SUITE:
ERZÄHLER:
Sie widmet sich nun vor allem der Prosa. 1975 erscheint Das Licht in
der Landschaft, ihr erstes Buch im Suhrkamp Verlag, die Eröffnung
einer langen Reihe. Buch um Buch folgt, fast jedes Jahr kommt etwas
Neues.
SPRECHERIN / SPRECHER:
Fast ein Frühling des Markus M.
Heiligenanstalt.
Die Abschiede.
Gute Nacht guten Morgen.
Reise durch die Nacht.
Das Herzzerreißende der Dinge.
16
Winterglück.
Mein Herz mein Zimmer mein Name.
Stilleben.
Das besessene Alter.
Lection.
Notizen auf einem Kamel.
Brütt oder Die seufzenden Gärten.
Mein Arbeitstirol.
Und ich schüttelte einen Liebling.
Paloma. Dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif.
Ich bin in der Anstalt.
Ich sitze nur grausam da.
ERZÄHLER:
Unterbrechungen des Schreibflusses bedeuten neben den mit Ernst
Jandl verlebten Sommerferien nur die Lesereisen, zu denen Friederike
Mayröcker immer häufiger eingeladen wird. Eine Folge des Ruhms,
wird sie doch von einer wachsenden Leserschaft verehrt. Besonders die
Dichter nachwachsender Generationen sehen in ihrer Hingabe an die
Sprache und die Literatur ein leuchtendes Vorbild. Von der Kritik
werden ihre Bücher, nach anfänglicher Ignoranz, mit einer Mischung
aus Respekt und Ratlosigkeit behandelt. Für ihre fragmentarische Form
des Erzählens, die jede Form von Handlung verweigert und neben dem
schreibenden Ich nur schattenhaft umrissene Personen kennt, fehlt es an
Vergleichen. Die Unbeirrbarkeit, mit der die Schriftstellerin ihrem Weg
folgt, fordert aber auch eine Rhetorik des Lobs heraus, die zunehmend
hymnische Züge annimmt.
SPRECHER / SPRECHERIN:
„Die wohl bedeutendste deutsche Gegenwartsautorin…“
„…wenn nicht die bedeutendste deutschsprachige Lyrikerin…“
„Friederike Mayröcker gehört zu den großen innovativen
Schriftstellerinnen dieses Jahrhunderts.“
„…sie gehört zu den mächtigsten Sprach-Zauberinnen, die je gelebt
haben…“
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„… ein Werk von überragender Qualität und Einzigartigkeit, seit
Jahrzehnten.“
ERZÄHLER:
Friederike Mayröcker nimmt das zur Kenntnis, lässt sich aber nicht
weiter stören, sondern arbeitet unbeirrt fort. Ganz für sich stehen ihre
Bücher da, ein immerwährendes Gespräch, das sich selbst in Frage
stellt, um wieder neu zu beginnen.
IV
MUSIK:
BRAHMS, EIN DEUTSCHES REQUIEM: „UND ALLES FLEISCH,
ES IST WIE GRAS“:
O-TON 36:
WIRD WELKEN WIE GRAS
wird welken wie Gras ∙ mein Fusz und mein Haar mein stillstes Wort
wird welken wie Gras ∙ dein Mund dein Mund
wird welken wie Gras ∙ dein Schauen in mich
wird welken wie Gras meine Wange meine Wange und die kleine
Blume
die du dort weiszt wird welken wie Gras
wird welken wie Gras ∙ dein Mund dein purpurfarbener Mund
wird welken wie Gras ∙ aber die Nacht aber der Nebel aber die Fülle
wird welken wie Gras wird welken wie Gras
ERZÄHLER:
In den frühen Gedichten finden sich Beispiele einer nahezu klassisch
anmutenden Lyrik, getragen von einem biblisch inspirierten Ton.
O-TON 37:
Die sind schon von mir, und ich empfinde es nicht als klassische
Gedichte. Oft hab ich das Gefühl so, diese frühen Sachen sind erste
Schritte, so. Und wenn man was gemacht hat, dann hat man das Gefühl:
Jetzt bitte noch weiter, noch weiter, noch weiter, weil es muss noch was
Besseres kommen, dieses Gefühl: Es muss noch was Besseres kommen.
Immer noch etwas. Und bei diesen frühen Sachen hab ich sicher auch
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das Gefühl gehabt, ich kann mich nicht mehr erinnern, aber sicher war
da auch dieses Gefühl: Jetzt muss aber noch was Besseres kommen.
MUSIK:
BRAHMS, EIN DEUTSCHES REQUIEM: „UND ALLES FLEISCH,
ES IST WIE GRAS“:
SPRECHER:
„Denn alles Fleisch ist wie Gras und all seine Herrlichkeit wie die
Blume im Gras. Das Gras verdorrt, und die Blume verwelkt; aber in
Ewigkeit bleibt das Wort des Herrn.“
O-TON 38:
Na ja, ich will einmal zu dem Gedicht „wird welken wie Gras“ etwas
sagen. Ich hab damals gehört von Brahms das Brahms Requiem.
Gesungen von… also mitwirkend war ein Männerchor, ein Wiener
Männerchor, und einer dieser Sänger, ich war damals sehr jung, in den
war ich verliebt, in diesen Sänger. Und der war auch Pianist und das hat
mich so erregt, das zu hören, ich hab dann das Gefühl gehabt, er singt
nur für mich, obwohl er da in diesem Chor war. Und das hat mich dann
zu dem Gedicht angeregt.
MUSIK:
BRAHMS, EIN DEUTSCHES REQUIEM: „UND ALLES FLEISCH,
ES IST WIE GRAS“:
O-TON 39:
„Wird welken wie Gras“, das war mir immer schon, damals schon ein
Begriff, und ich finde es so wunderbar, dieses Brahms-Requiem, wie
das dann gesungen wird, „wird welken wie Gras“. „Wird sein wie Gras,
und alles Fleisch wird sein wie Gras“, das ist eigentlich der richtige
Text, ich hab das aber dann umge-, bissel modelliert, und hab gesagt:
„wird welken wie Gras“.
SPRECHERIN:
Ich wanderte dann umher und sah viele Fliederbüsche. Ich wanderte
dann umher und im Hinterhof eines Abbruchhauses sah ich einen
kahlen Strauch der plötzlich zu brennen begonnen hatte, es war ein
Pfingsttag. Ich wanderte dann umher und kauerte nieder und schrieb im
Anblick eines brennenden Busches mein erstes Gedicht.
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O-TON 40:
Ja, und meine Kindheit, ich meine, ich bin schon religiös erzogen, aber
nicht so dass ich eine strenge religiöse Erziehung, das überhaupt nicht.
Ich bin überhaupt religiös, so im Innersten bin ich sehr religiös. Ich hab
fast, man könnte sagen: Ich hab meinen Kinderglauben erhalten.
SPRECHER:
„Da verbrannte der Dornbusch und brannte doch nicht. Mose sagte: Ich
will dort hingehen und mir die seltsame Erscheinung ansehen. Warum
verbrennt denn der Dornbusch nicht?“
O-TON 41:
Ich meine, er hat schon gebrannt. Es war ein Dornbusch, es war in der
Nachkriegszeit, kurz nach dem Krieg, da hab ich noch bei meinen
Eltern gewohnt, ich hab da ein Kabinett gehabt, wo der Blick direkt in
dieses Gestrüpp gegangen ist, so ein Wildwuchs war da. Und da hab ich
gesehen, wirklich am Pfingstsonntag, da hat dieser Busch, also
eigentlich Gestrüpp war das, das hat wirklich zu brennen begonnen. Ich
weiß bis heute nicht, warum das gebrannt, das hat eben gebrannt. Und
für mich war das damals so religiös verpackt für mich. Das war für
mich so ein Symbol, es brennt, es brennt in mir, und die Poesie brennt,
so war das ungefähr.
SPRECHER:
„Da entstand plötzlich vom Himmel her ein Brausen, gleich dem eines
daherfahrenden Windes, und erfüllte das ganze Haus, wo sie saßen. Es
erschienen ihnen zerteilte Zungen, wie von Feuer, und als sich je eine
auf jeden einzelnen von ihnen niederließ, wurden alle vom Heiligen
Geiste erfüllt und fingen an, in verschiedenen Sprachen zu sprechen, so
wie der Geist es ihnen eingab, zu reden.“
ERZÄHLER:
In der neueren literarischen Theorie, namentlich auch bei Derrida, wird
die Stelle des Heiligen Geistes von der Sprache vertreten. Die Sprache
selber, liest man, sei es, die da spricht, wenn es aus den Dichtern redet.
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O-TON 42:
Ja, der Heilige Geist. Ich glaube auch an den Heiligen Geist. Das ist auf
jeden Fall der Heilige Geist, also nicht die Sprache, sondern der Geist.
Es ist eigentlich so, je älter ich werde, desto reicher wird mein Zugang
zum Geist, zum Heiligen Geist. Und es war ja auch so, dass ich früher
durch verschiedene Dinge abgelenkt wurde in meiner Jugend. Und jetzt
bin ich halt nicht mehr abgelenkt. Also alles Mögliche hat mich
abgelenkt, ich war sehr eitel, ich war ein sehr eitler Mensch… (lacht)
Da hat mich da Verschiedenes abgelenkt.
V
ERZÄHLER:
Die Szene ist immer die gleiche. Friederike Mayröcker und Ernst Jandl
führen ihr Leben in zwei Wohnungen. Während sein Schreibrhythmus
zwischen Euphorie und Depression schwankt, schreibt sie rastlos und
nahezu täglich. Abends sieht man sich. Meistens in seiner Wohnung.
O-TON 43:
Meistens war es so, dass ich ein kaltes Nachtmahl gebracht hab, und
wir dann bei ihm, das war sehr schön, bei ihm haben wir dann das
Nachtmahl gegessen und Jazz-Platten gehört. Wir haben stundenlang
Jazz-Platten gehört und es war für mich ein großes Erlebnis.
ERZÄHLER:
In seinem Bühnenstück Aus der Fremde hat Ernst Jandl diesen
gemeinsamen Alltag poetisiert – verfremdet aber durch den steten
Gebrauch des Konjunktivs und der dritten Person.
SPRECHERIN:
„sie sei / offenbar / zu früh
sie sei hineingeplatzt / in seine arbeit / wolle nach dem haushalt sehen
SPRECHER:
was haushalt / sei doch nicht haushalt / sei seine werkstatt
SPRECHERIN:
seine arbeit gehe vor / sie fühle / sie störe ihn
SPRECHER:
er eben / beendet habe / sein tagespensum
der whisky hier / sei der beweis / ob sie auch wolle
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SPRECHERIN:
einen schluck / genug! / sei schon zuviel
ob er ihr / sein geschriebenes / zeigen wolle“
O-TON 44:
Na ja, es war so: er hat mir, wenn ich ihn besucht habe jeden Abend,
dann hat er mir gezeigt, was er während des Tages geschrieben hat, und
ich hab das mit großer Freude immer gelesen und manchmal hat er es
mir auch vorgelesen, aber ich konnte ihm nicht immer alles zeigen, weil
ich hab ja auch viele Prosabücher, ziemlich umfangreiche Prosabücher
geschrieben, und die hab ich immer erst hergezeigt, wenn sie fertig
waren. Aber wenn ich Gedichte gemacht hab, die hab ich ihm dann
auch gezeigt.
SPRECHER:
„unfertiges produkt / selbst zu lesen fürchte er / ihr lesen nicht
es sei der anfang / endlich / von seinem stück
und völlig neu / nichts mehr von dem / was sie schon kenne“
O-TON 45:
(lacht) Er wollte immer, dass ich’s absegne, seine Sachen. Und ich hab
mich dann auch eigentlich doch meistens gefreut, wenn er gefunden hat,
dass es ein gutes Gedicht ist. Aber ich war nicht davon abhängig, also
wenn er gesagt hat, ja, vielleicht da oder dort könnte man noch was
anderes, irgendwas anderes schreiben, das war ein bissel anders bei mir.
ERZÄHLER:
Ernst Jandls Poesie gewinnt in den späten Jahren einen zunehmend
dunklen Zug, er verfasst Gedichte in „heruntergekommener Sprache“.
Auch für Friederike Mayröcker sind Schmerz, Einsamkeit und
Hinfälligkeit wichtige Themen. Aber ihre Arbeiten behalten den
dichterisch hohen Ton und die Blickrichtung nach oben. Immer wieder
finden sich Vogelmotive in ihren Prosabüchern und Gedichten.
O-TON 46:
Für mich ist das ein Symbol überhaupt der Poesie, der Vogel. Das Sichin-die-Lüfte-Erheben, die Poesie erhebt sich ja auch in die Lüfte. Ich
hab eine wahnsinnige Affinität zu Schwalben, überhaupt zu Vögeln,
aber vor allem zu Schwalben, und zu Lerchen, die eine ganz eigenartige
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Flugtechnik haben, die fliegen immer so auf, so ein Stück hinauf und
dann wieder runter, auch dort in Deinzendorf waren die Lerchen, das
hat mich immer begeistert. Und ich bin dann drauf gekommen, dass
zum Beispiel der Max Ernst ein Bild hat, wo er so eine Lerche zeichnet,
malt, so dass die Lerche eine Leiter hinaufsteigt. Das ist genau das, was
sie ja macht, wenn sie so hinaufgeht, hinauffliegt.
O-TON 47:
Winterglück
eine Erlösung eine Offenbarung jetzt diese
Stimme wieder zu hören Vogelstimme jetzt dieses
Gezwitscher, etwas wie Paradiese blühten
auf ich vergösse die
Tränen
aber die Stimme kommt nicht Vogelstimme nein dieses
Winterglück
ist mir nicht zugedacht jemand
anderer an einem anderen Ort wird es wird dieses Gezwitscher
Vogelstimme Stimme empfangen an meiner statt jetzt in dieser
Stunde Sekunde
ERZÄHLER:
Ernst Jandls gebrechlicher Gesundheitszustand ist der Grund dafür, dass
das Paar für kurze Zeit noch einmal im selben Haus wohnt.
O-TON 48:
Mit zunehmendem Alter konnte er die Stiegen nicht mehr steigen. Auch
zu seiner eigenen Wohnung nicht. Und darum hat er dann diesen
Umzug gemacht noch im letzten Jahr, vorletzten und letzten Jahr, weil
ich dann einen Lift gehabt hab, und das war für ihn dann leichter.
ERZÄHLER:
Am 9. Juni 2000 stirbt Ernst Jandl. Im folgenden Jahr erhält Friederike
Mayröcker den Georg-Büchner-Preis, die namhafteste ihrer zahlreichen
Auszeichnungen. An ihrem von jeher ganz dem Schreiben gewidmeten
Leben ändert dies nichts. Nur wohnt Friederike Mayröcker jetzt ein
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Stockwerk höher, in der Wohnung, in der sie zuvor Ernst Jandl gepflegt
hat. Näher zum Himmel, weiter weg von der Straße.
O-TON 49:
Himmel ist gut, Straße ist bedauerlich. Ich habe viele Anregungen auch
bekommen, wie ich noch unten gewohnt hab, da waren Fenster, die man
aufmachen konnte, jetzt hab ich so ein Kippfenster, so dass ich nicht
rausschauen kann.
ERZÄHLER:
Ausgeräumt hat sie die alte Wohnung nicht.
O-TON 50:
Aber die ist leider auch so ganz zugeräumt, eben auch mit Büchern und
Papier und Manuskripten, und Zeugs halt.
O-TON 51:
Damals in Deinzendorf waren auch Mauersegler. Hier in Wien seh ich
sie nicht, leider. Ich hab sie früher gesehen, in der unteren Wohnung,
komischerweise, in der oberen seh ich sie nie. Also wenn sie kommen,
die kommen ja Anfang Mai.
SPRECHERIN:
ich höre pausenlos ein Zwitschern und Segeln aber ich
weiß nicht ist es die Schwalbe Dorfschwalbe Mauersegler
sind es die Schwalben DIE WIEDERGEKOMMENEN?
ich sehe sie nicht in der Tiefe des Himmels
O-TON 52:
Ich höre jetzt gar keinen Jazz mehr, seit Ernst Jandl nicht mehr lebt,
oder fast keinen mehr. Ich höre Bach und ich höre John Dowland und
die Musik, die ich jetzt zu den jüngsten Arbeiten höre, ist Händel,
Klaviersuiten von Händel, die sind wunderbar und ich spiel immer das
gleiche, immer die gleiche Platte. Während des Schreibens. Ganz laut!
MUSIK: HÄNDEL, KLAVIERSUITEN:
ERZÄHLER:
Die Abwesenheit des Freundes wird in den Texten immer wieder
spürbar. Friederike Mayröcker verfasst ein „Requiem für Ernst Jandl“
und widmet ihm zahlreiche Gedichte.
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O-TON 53:
in Tränen in Tränen wenn ich den Wellen Blumen gebe, AMORE, für
Ernst Jandl
plötzlich der stille Ruf das zärtliche Sakrament der Sehnsucht :
du, das musz ich dir sagen, du, hör bitte zu, du, was denkst du
darüber, du, wie soll ich mich entscheiden, in der Küche sekundenweis möcht ich zu dir sprechen, du, in der Küche küsse ich dich
während ich die Brotlade öffne, du, ich brauche dich weine um
dich, du, komm zu mir zurück während ich die Gardine die Blume
auf dem Fenster, bald nun die Chrysanthemen, das ist die Zeit
der Chrysanthemen du weiszt, wir haben uns lange nicht gesehen
die Tränen rollen, du, 1 viel zu heiterer Herbsttag, du, die blutenden Ströme, du, lasz dich schlieszen in meine Arme, vergib
was ich unrecht getan, manchmal während ich deine Hand deinen
Mund deine Seele (nur 1 Sekunde lang), die Nachtschattengewächse
jungen Füchse, das welke Blatt vor der Tür – natura morta
O-TON 54:
Er kommt eben immer wieder her, ist immer wieder da. Ob nun als
junger Mensch oder später dann, wie er krank war. Weder ein Trost
noch ein Schmerz. Es ist etwas anderes. Es ist eben diese Verwandlung
in die Sprache, von der alles Mögliche verwandelt werden kann.
O-TON 55:
Dreizeiler am 21.2.1978
es sprieszen immerfort die sanften
Toten aus Blume Baum Gebüsch und Wald / bald
meinen Schatten wirft ein Fliederbaum
O-TON 56:
Das ist eine Erinnerung an Deinzendorf, an den Innenhof, in dem in
einer Ecke mein Fliederbusch gestanden ist. An dem bin ich so
gehangen als Kind, also bis zum elften Jahr bin ich da drinnen gewesen
im Innenhof und dann hab ich eben einmal, ehe ich das Gedicht
geschrieben hab, hab ich dann oft das Gefühl gehabt, also das kann
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auch ausdrücken, wenn ich einmal gestorben bin, dass dieser
Fliederbusch dann als Symbol dasteht irgendwie, also als Umwandlung
des Menschenlebens.
MUSIK: HÄNDEL, KLAVIERSUITEN:
SPRECHERIN:
„Das Bleibende sehen im Vergänglichen; die Anatomie der Dinge und
aller Lebewesen erkennen und in Sprache verwandeln; eine Literatur
der Zersplitterung (als MEDIUM DES MITLEIDS) schreiben, nämlich
ein sich in alle Geschöpfe zersplittern, versprengen, verschütten,
verteilen, zerstäuben; das oberste Ziel nie aus den Augen verlieren :
einer poetischen Wahrheit gerecht zu werden; gleichzeitig mit größter
Maßlosigkeit und größtem Maßhalten arbeiten, und dies möglichst ohne
Unterbrechung und unverzagt, um in den Sog jenes Rhythmus zu
kommen, der einem wunderbarerweise das Schreiben zum Leben macht
und das Leben zum Schreiben.“
O-TON 57:
Und wenn man was gemacht hat, dann hat man das Gefühl: Jetzt bitte
noch weiter, noch weiter, noch weiter, weil es muss noch was Besseres
kommen, dieses Gefühl: Es muss noch was Besseres kommen.
O-TON 58:
dann hört alles plötzlich auf auch die Lerche Narzisse die
Nachtigall die unscheinbar in dem Blätterdach die ich nie sah
nie hörte, die mit roten offenen Schnäbeln pfeilenden Dorfschwalben : die sind jetzt 80 die werden lange leben auch die rosa
Päonien in den fremden Gärten, die Zeisige Wühlmäuse Maulwürfe die in den Grabhügeln wohnen. Dann geht mir die Sprache verloren : abhanden, der Mond dem sie lange schon sein Geheimnis
entwunden, die 1.Kirschen, die Gänseblümchen der Mohn, die kl.
Hunde, Weiszdorn und Nachtviolen, die Bürde meines Gewissens das
Kästchen mit der Asche der letzten Verwandten alles verloren herausgerissen aus meinem Herzen getilgt keine Erinnerungen mehr an
die Erde : an die Glorie Welt
(fand heute morgen den Regenschirm des Freundes gänzlich verstaubt
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und verbogen in diesen 8 Jahren da man vergessen auf ihn . .)
»love me, love my umbrella«, James Joyce
behutsam mit den Augen zu winken (mir nach) und liebkosen und
küssen mein letztes Gedicht : das eben fertig geschriebene allerletzte Gedicht und wie die Tränen drüberrollen dasz die Zeilen
zerflieszen nämlich 1 Zirpen das keiner mehr hört usw.
MUSIK:
ANTONY AND THE JOHNSONS, „HOPE THERE’S SOMEONE“:
O-TON 59:
Ja, lieber Norbert, hier ist Friederike, nur ganz kurz, ich wollte
Dir sagen, ich habe mir jetzt diesen wunderbaren Antony Hegarty, hab
ich mir besorgt, also das ist hinreißend und das fördert mein Arbeiten in
einer Weise, das hätt ich nicht gedacht. Also das ist so schön, das ist
einfach wunderbar, so was hab ich überhaupt noch nicht gehört, und das
ist für mich ganz wichtig fürs Arbeiten. Alles Gute. Heute ist Montag,
der 29. April. Dann leb wohl, auf bald, leb wohl.
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