Die Rückkehr der Atavismen

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Die Rückkehr der Atavismen
Am Beispiel der Buchmessen-Beteiligung streitet Ungarn über kapitalistische Freiheit, neue
Literatur und alte Werte
Ungarn ist traditionell ein Land, das nur Humoristen ohne seelische Beschädigung ertragen
können. Wer unsere Geschichtsbücher studiert, wird erfahren, dass wir seit Jahrhunderten
jede Schlacht gewonnen und nur die Kriege verloren haben. Nach dem Friedensvertrag von
Trianon im Jahr 1920 war zusammen mit zwei Dritteln des Territoriums auch die Meeresküste
dahin, trotzdem beherrschte von da an ein Konteradmiral namens Miklós Horthy das Land.
Die Monarchie wurde abgeschafft, doch die Heilige Krone blieb das höchste Symbol unserer
Staatlichkeit. Im November 1956 zerschlug eine sowjetische Agentur, die sich Revolutionäre
Arbeiter-und-Bauern-Regierung nannte, die revolutionären Selbstverwaltungsorgane der
Arbeiter und Bauern, die sie massenhaft an den Galgen brachte und in die Gefängnisse
sperrte.
In der Wendezeit 1989 verkündete die kommunistische Nachfolgepartei als Erste den
Kapitalismus. 1998 übernahm die Partei der Jungdemokraten die Regierung, die ihre Karriere
als demokratische Organisation, sensibel für die Menschenrechtsproblematik, begonnen hatte.
Doch nachdem sie auf der Linken nicht genügend Wähler vorgefunden hatte, wechselte sie
über Nacht ins rechte Lager. Ihre Führer tauschten Kleidung, Wortschatz und Mimik aus und
können sich rühmen, dass sie - in Europa einzigartig - mit der extremen Rechten
zusammenspielen. Wir haben eine Republik, doch nun schlagen die Jungdemokraten vor, in
der Verfassung die Heilige Krone als höchstes Symbol ungarischer Staatlichkeit zu verankern.
Unübersehbar wird Ungarn von der Renaissance atavistischer Denkformen heimgesucht. Dies
zeigt sich beim Streit, der in den vergangenen Wochen um die ungarische Beteiligung an der
Frankfurter Buchmesse ausgebrochen ist.
Alte Fronten sind wieder aufgeplatzt. Mitverantwortlich dafür ist der Umstand, dass die neue
Freiheit vor zehn Jahren von einer Intelligenzija begrüßt wurde, die durch die fürsorgliche
Gunst der Diktatur moralisch ramponiert war. Nach der brutalen Niederschlagung der
Revolution von 1956 hatte sie mangels Alternative ihren Sonderfrieden mit der Führung
geschlossen. Sie erkannte deren Machtanspruch an und erhielt im Gegenzug mehr Freiheit
und bessere Existenzmöglichkeiten. Dadurch wurde ihr ein Arbeiten auf hohem Niveau
möglich - auf einem Feld ohne Tabus.
Für diese Abhängigkeit zahlte sie einen hohen moralischen Preis. Die meisten Intellektuellen,
die nicht mit einem schlechten Gewissen leben wollten, verdrängten die Erinnerung an die
Revolution und ihre grausame Unterdrückung und wollten den Ertrag ihres Kompromisses
ohne Selbstanklage genießen. Und nach der Wende versuchten sie chancenlos, ihre
Vergangenheit mit den Forderungen der neuen Demokratie in Einklang zu bringen.
Die einfachste Anpassungsmethode wurde von ideologischen Populisten erfunden.
Der Ungar - so heißt die populistische Selbstrechtfertigung - ging in 1000 Jahren, eingekreist
von germanischen, slawischen und Turkvölkern und unter wechselnden Besatzern, nur
deshalb nicht zugrunde, weil er sich den fremden Anforderungen äußerlich anzupassen
wusste. Die Anpassung, diese ungarische Eigenschaft par excellence, unterdrückte den
Widerstandsgeist nicht, sondern nährte ihn in den Tiefen der Seele. Die spärlich gesäten
Oppositionellen der Kádár-Zeit, so heißt es, waren deshalb gar keine Ungarn und natürlich
weder Slawen noch Germanen, sondern Juden oder jüdischen Geistes. Demnach waren auch
der Liberalismus und das hinter ihm stehende Großkapital ein jüdisches Gebilde.
In seiner Kampfschrift gegen die Frankfurter Buchmesse (Die Frankfurter Tyrannei) erklärt
István Csurka, Anführer einer im Parlament vertretenen rechtsextremen Partei, einstmals
begabter Schriftsteller und kádáristischer Spitzel, dass man mit der Buchmesse den
"kosmopolitischen Ausverkauf Ungarns" betreibe. Die Beteiligung sei ein "Teil der
ungarischen Selbstaufgabe, der ungarischen Agonie". Nationale Schicksalsfragen wie die
Revolution von 1956 oder der ungarische Gulag würden, so Csurka, in Frankfurt nicht einmal
eine marginale Rolle spielen. Stattdessen sei die Buchmesse von der Holocaust-Literatur
monopolisiert. Diese Diagnose ist nicht nur eine Lüge
sie grenzt auch den Mord an einer halben Million ungarischer Staatsbürger aus den
Schicksalsproblemen Ungarns aus.
Nun hätte ich Csurkas Namen gar nicht erst erwähnt, wenn ich in seiner Kampfschrift nicht
auf die folgende Formulierung gestoßen wäre: "internationaler Schriftsteller, erfolgreicher
liberal-homosexuell-hermaphroditisch-kosmopolitischer Autor". Dieses Wortungetüm stammt
aus dem Jahr 1999 - wie ist das möglich? Die Adjektive "international", "liberal" und
"kosmopolitisch" sind lediglich Synonyme für "jüdisch". Die Bezeichnungen "homosexuell"
und "hermaphroditisch" dienen dazu, jegliche Minderheiten-Identität, jede abweichende
Verhaltensweise und jede fremde Kultur zu verunglimpfen - und zwar einzig und allein
wegen ihrer "nicht-ungarischen" Qualität.
Mit dem Parteistaat arrangierten sich aber nicht nur die Führer des so genannten "völkischen"
Lagers, sondern auch die meisten "Urbanen", die ihr geistiges Profil in den Schulen des
Sozialismus, des Liberalismus oder des apolitischen Ästhetizismus ausgebildet hatten. Die
Niederschlagung der ungarischen Revolution hat auch die Urbanen davon überzeugt, dass sie
der schützenden Hand des Parteistaates nicht entkommen würden. So paktierten
hervorragende völkische und urbane Schriftsteller gleichermaßen mit den Vertretern des
Staates, um das Ansehen der "lustigsten Baracke" zu befestigen.
Allerdings, die Urbanen gerieten mit den Anforderungen des neuen Zeitalters nur deshalb
nicht in Konflikt, weil sie von Anfang an westlich orientiert waren. Die Anfänge der
modernen bürgerlichen Literatur in Ungarn lassen sich auf eine zur Jahrhundertwende
gegründete Zeitschrift zurückführen, die den programmatischen Titel Nyugat - zu Deutsch
"Westen" - führte und die Verbürgerlichung der Literatur und des Lebens als ihre
Hauptaufgabe betrachtete. Das urbane Lager erlebt die westliche Integration nach der Wende
als eine durch kulturelle Traditionen geheiligte Perspektive. Weil aber in der Kádár-Ära ihre
weiße Weste moralische Flecken bekommen hatte, verstärkten die Urbanen ihre apolitischen
Neigungen. Sie stilisierten ihre - um mit Thomas Mann zu sprechen - "machtgeschützte
Innerlichkeit" zur natürlichen Geste der souveränen und apolitischen Persönlichkeit. Das
passte gut zur Tendenz des Zeitgeistes. Denn die Kunst hatte sich in dieser Welthälfte schon
längst der universellen Arbeitsteilung angepasst. Die Haltung des Citoyen à la Diderot oder
Lessing stellt seit 1968 die Ausnahme dar.
Der ungarische Streit um die Frankfurter Buchmesse lässt sich auch auf andere historische
Ursachen zurückführen. Kleine Länder empfinden es als Demütigung, dass sie im geistigen
Stoffwechsel der Welt nur die Rolle des Empfängers spielen dürfen. In der Tat: Keine einzige
der Nationen, die nicht in einer Weltsprache kommunizieren, kann sich im Zeitalter der
Moderne eines Lyrikers universeller Wirkung rühmen. Dies gilt besonders für ein kleines
Land mit einer derart isolierten Sprache wie Ungarn. Ein Düsseldorfer
Literaturwissenschaftler, der mein patriotisches Herz zum Schlagen bringen wollte, teilte mir
1990 mit, dass sein Institut über mehr als 400 Petöfi-Übersetzungen verfüge. Daraufhin fragte
ich ihn taktlos, wie viele seiner Studenten in ihrer Freizeit Petöfi auf Deutsch lesen würden.
Die neue Rechte möchte die Ungarn wieder in den alten Sattel setzen
Gegen diese Isolierung revoltiert der Ungar, indem er sich einen nationalen Kanon
zusammenbastelt und eine literarische Werteordnung aufstellt, die die Hierarchien der
Weltliteratur mitunter auf den Kopf stellt. Den Begriff des Talents betrachtet man dabei als
abstrakte Kategorie, und keinem will einleuchten, dass es zurückgebliebenen, mit partikularen
Problemen ringenden Ländern immer wieder gelingt, selbst die größten Flammengeister ins
Magnetfeld des Provinziellen zu ziehen. In Ungarn hat dies Endre Ady bei Ausbruch des
Ersten Weltkrieges so formuliert: "Niemals vermag uns zur Wahrheit / unsere eigene
Wahrheit zu führen."
Nein, nicht die Lüge ist der grimmigste Feind der Besten in den provinziellen Nationen,
sondern es sind die lokalen, aktuellen, maßgeschneiderten Wahrheiten und das ihretwegen
tobende Gezänk. Zum Beispiel war in Ungarn jahrhundertelang die nationale Unabhängigkeit
die heiligste Idee, aber man musste sie immer wieder mit einer anderen Idee vereinbaren, mit
der man die Unterdrückung der in Ungarn lebenden Völker rechtfertigte. In diesem geistigen
Umfeld erschienen Verbürgerlichung und Urbanisierung deshalb als gefährliche Importe, weil
sie angeblich traditionelle nationale Werte, historische Privilegien und alte Formen des
Zusammenlebens bedrohten. In den Jahrhunderten, als sich das europäische Bürgertum
herausbildete, bot Ungarn keine Warte, von der aus sich die Welt hätte überblicken lassen.
Deshalb konnten sich keine bedeutende Dramenkunst und auch keine Philosophie entwickeln.
Und es waren die überkommenen Reaktionsmuster, die dafür sorgten, dass selbst die genialen
ungarischen Lyriker des 19. Jahrhunderts, was die Modernität ihres Fühlens und Denkens
angeht, weit hinter ihren größten westeuropäischen Zeitgenossen zurückblieben, etwa hinter
Heine und Baudelaire.
Diese Zurückgebliebenheit erklärt vielleicht die ungarische Diskussion um die Frankfurter
Buchmesse. Denn im Kern dreht sie sich darum, dass das eine Lager der gespaltenen
ungarischen Literatur für seine künstlerischen Produkte einen westlichen Markt sucht (und
zum Teil auch findet), während das andere, das konservative Lager in dieser Suche den Verrat
ungarischer Werte und Interessen erblickt - mit dem Unterschied, dass die konservative
Fraktion schon seit langem keine bedeutenden Werte und Werke mehr produziert, sondern
lediglich eine mit Nationalismus, Irredentismus und Rassismus anger eicherte
agrarromantische Ideologie. Zuletzt hatte das Elend der kommunistischen
Zwangsvergenossenschaftung einer neuen Generation dieser früher so wichtigen völkischen
Literaturbewegung Bedeutung und Sendungsbewusstsein verliehen.
Doch seitdem sind ihre Schriftsteller entweder verstummt oder zusammen mit der
halbfeudalen Bauernschaft ausgestorben. Demgegenüber bringt die urban-bürgerliche
Literatur in Ungarn ein Talent nach dem anderen hervor.
Diese Gruppe sieht der Buchmesse mit Zuversicht, aber nicht mit Wohlbehagen entgegen.
Keine einzige Intellektuellengruppe fühlt sich in Ungarn wirklich wohl. Vielleicht haben wir
übertriebene Erwartungen an die kapitalistische Demokratie geknüpft, vielleicht brauchen wir
nach dem Bankrott der sozialistischen Illusion eine neue. Doch Illusionen präsentieren schnell
ihre Rechnung. Da wir kein Westungarn hatten, das Ostungarn erobert hätte, und da wir ein
Blutvergießen vermeiden wollten, musste man sich 1989/90 mit den alten Machthabern
arrangieren. So bewahrte die herrschende Elite in den ersten Jahren des Wildwestkapitalismus
einen Großteil ihrer Macht. Die gegen sie auftretenden Interessenbündnisse haben sich schnell
die Praktiken der Bereicherung angeeignet und bewegen sich immer sicherer zwischen den
Lücken der Gesetze. Deshalb rufen diese miteinander kämpfenden Eliten und die sie
vertretenden Parteien im Augenblick nur eines hervor: tiefe Frustration.
Gewiss, dafür ließen sich die Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft verantwortlich
machen. Doch derzeit gibt es zum Kapitalismus keine realistischen Alternativen. Deshalb ist
ihr ideologisches Angebot so kärglich. Nur die atavistischen Parteien der extremen Rechten
warten noch mit intellektuellen Leckerbissen auf: Sie hätten es am liebsten, wenn der Ungar wie nach alter Legende seine landnehmenden Vorfahren vor 1100 Jahren - das Mittagessen
wieder unter dem Sattel seines Pferdes weich ritte. Doch wenn wir einen Blick unter das
Hinterteil ihrer Führer werfen könnten, würden wir unter dem Sattel kein rohes Fleisch,
sondern Kreditkarten und Sparbücher erblicken.
Aus dem Ungarischen von Gregor Mayer
Der Schriftsteller István Eörsi lebt in Budapest
sein Lukács-Drama "His Master's Voice" wird am 14. und 15. Oktober während der
Buchmesse im Frankfurter Theaterhaus in einer Aufführung des Wiener Theaters zu sehen
sein
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