Neues Deutschland 26./27 Juni 1999 Der Fall des Eisernen

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Neues Deutschland 26./27 Juni 1999
Der Fall des Eisernen Vorhangs und der
Schock der Freiheit
Vor zehn Jahren öffnete Ungarn seine Grenze / Die DDR drohte auszubluten
Von Karl-Heinz Gräfe
Das Kalenderblatt zeigte den 27. Juni 1989 an. Dieser Sommertag sollte in die Geschichte
eingehen. Bewußt dürfte dies den Akteuren und Zeitgenossen gewiß noch nicht gewesen sein.
Doch Fakt ist: Als Ungarns Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Kollege
Alois Mock an jenem Tag mit großen Drahtscheren (wie profan!) den Grenzzaun zwischen
ihren beiden Ländern zerschnitten, rissen sie das berühmte, in den folgenden Wochen für
Schlagzeilen in der Weltpresse sorgende Loch in den eisernen Vorhang zwischen Ost und
West. Mock gestand später, daß die Folgen dieses symbolischen Aktes "unsere kühnsten
Träume und Erwartungen in jeder Hinsicht übertroffen" hätten. Ost und West trennte bis dato
eine 500 Kilometer lange, gut bewachte Grenze.
Die "lustigste Baracke im Ostblock"
Nach dem symbolischen Akt der beiden Außenminister am 27. Juni wurde in den folgenden
Wochen der gesamte Grenzzaun eingerissen. Wie es später der Berliner Mauer erging, so
wurde auch der ungarische Stacheldraht zu einem heißbegehrten Objekt von Souvenirjägern.
Am 19. August stürmten erstmals mehrere hundert DDR-Bürger nahe der ungarischen Stadt
Sopron die nicht mehr gesicherte Grenze, um über Österreich in die Bundesrepublik zu
gelangen. Ihnen sollten Zehntausende folgen, der ostdeutsche "Arbeiter- und Bauernstaat"
drohte auszubluten. Die Ereignisse überstürzten sich. Zeitgleich mit dem Kollaps der DDR
erlebten Ungarn und die CSSR ihre friedlichen Revolutionen. Es folgte Bulgarien und in
gewalttätigerer Form Rumänien.
Die Schlüsselrolle bei dieser die Verhältnisse in Europa und der Welt grundlegend
verändernden Wende, fiel Ungarn zu. Das Wendejahr in Osteuropa war zwar mit dem ersten
Runden Tisch im Warschau im März 1989 eröffnet worden, doch die Ungarn stellten die
entscheidenden Weichen (ob mit oder ohne Moskauer Einverständnis).
Bis kurz vor dem Zusammenbruch des Staatssozialismus waren westliche Medien und
Osteuropaexperten des Lobes voll über die "ungarische Oase" in der osteuropäischen
"kommunistischen Wüste". Budapest galt als "sichtbares Zeichen einer westlichen
Konsumgesellschaft". Nicht zuletzt auch wegen der marktwirtschaftlichen Reformen seit
1968 sowie der politischen und kulturellen Leberalisierung bezeichneten sie das
reformkommunistische Ungarn Kadars als die "lustigste Baracke im Ostblock". Der
Kommunistischen Partei wurde bescheinigt, sie habe nach 1956 eine dauerhafte Wende
vollzogen zu einem "kritikoffenen, anpassungsfähigen und experimentierfreudigen
Entscheidungsträger".
Es gab in der Tat kein anderes Land im sowjetischen Machtbereich, das so großen Spielraum
für eine Modernisierung der Gesellschaft im Sinne einer nachholenden westlichen
Entwicklung besaß und nutzte: Die entstaatlichte "zweite Wirtschaft" mit 17 Prozent Anteil
am Nationaleinkommen, d. h. die effizienten 25000 Kleingewerbebetriebe unterschiedlicher
Eigentumsformen, ermöglichten nicht nur privatwirtschaftliche initiativen für ein zusätzliches
Einkommen und für das vielgefächerte Konsumangebot, sondern beschleunigte auch soziale
Polarisierung und pluralistische Interessen wie nirgendwo in Osteuropa. Die Öffnung zum
Weltmarkt, der Beitritt zur Weltbank und zum IWF (1982) hatten allerdings ihren Preis. Der
Schuldenberg stieg bis 1989 auf 22 Milliarden Dollar und ein Drittel der Bevölkerung lebte an
oder unter der Armutsgrenze.
Die ersten Gespräche am "Dreieckstisch"
Ungeachtet größerer politischer Spielräume artikulierte sich auch uin Ungarn ein "zweite
Öffentlichkeit", die noch mehr Transparenz und Demokratie verlangte. Die liberale Zensur
oder die Wahlordnung von 1983, die es ermöglichten, 1985 ein Drittel alternativer
Abgeordneten in das Parlament zu bringen, reichte weder dem 1987 gegründeten
"Ungarischen Demokratischen Forum" noch den im Jahr 1988 gegründeten Jungen und Freien
Demokraten oder der "Liga der freien Gewerkschaften". Zur breiten Palette der Opposition
kam das Wiederausleben der vom Rakosi-Regime 1948 beseitigten "historischen" Parteien
der Kleinen Landwirte, der Sozialdemokraten und Christdemokraten. Sie alle, eingeschlossen
die oppositionellen Reformkommunisten (sog. Märzfront), verlangten den konsequenten
Übergang zur parlamentarischen Demokratie nach westlichem Vorbild.
Erst als der 76jährige Janos Kadar im Mai 1988 sein Amt abgab und an die politische
Führungsspitze reformkommunistische Oppositionelle wie Reszö Nyers, Miklos Nemeth und
Imre Poszgay gelangten, wurde der schrittweise Systemwandel von oben möglich. Das am 11.
Januar 1989 vom Parlament verabschiedete Gesetz über die Vereins- und
Versammlungsfreiheit legalisierte die bestehenden mehr als zwei Dutzend
Oppositionsgruppen. Am 21. Februar verzichtete die USAP auf ihr verfassungsmäßig
garantiertes Führungsmonopol und bekannte sich zu freien Parlamentswahlen. Justizminister
Kalman Kulcsar legte daraufhin im Parlament das Konzept einer neuen Verfassung vor, die
Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Machtkontrolle festschreiben sollte.
Staatsminister Nyers kündigte am 2. März an, daß sich Ungarn auch politisch dem Westen
öffnen und im Mai den Eisernen Vorhang entlang der Grenze zu Österreich abbauen werde.
Im Unterschied zu Polen war aber die heterogene ungarische Opposition vorerst zu einem
nationalen Dialog mit der Staatspartei nicht bereit. Ihre Vertreter kamen seit dem 22. März zu
ihren ersten internen Gesprächen zusammen, um sich als einheitliche Gegenkraft zu
profilieren und gemeinsam die Modalitäten für die Verhandlungen mit der USAP zu
bestimmen. Die von ihnen inszenierten großen politischen Massenkundgebungen zum
Jubiläum der ungarischen Märzrevolution 1848 gegen die Habsburger und zum Abbruch der
Bauarbeiten am Staudammprojekt Nagymaros im Mai sowie die Beisetzungsfeierlichkeiten
des "Märtyrers" Imre Nagy stärkten den reformkommunistischen Flügel um Pozsgay, der
schließlich im Juni 1989 als Verhandlungspartner der Opposition voll akzeptiert wurde.
Nun begann auch in Ungarn der Dialog am Runden Tisch, in diesem Fall exakter: am
"Dreieckstisch", auch Trialog genannt. Es beteiligten sich als die drei Partner die
Reformkommunisten, die "Oppositionelle Tischrunde" und Vertreter der staatsnahen
Massenorganisationen (Gewerkschaften, Jugendorganisationen, Frauenverband, Patriotische
Volksfront, Ferenc-Münnich-Gesellschaft). Die dreimonatigen nationalen Beratungen vom
13. Juni bis 18. September 1989 im Parlamentsgebäude von Budapest gehören zu den
Schlüsselereignissen im annus mirabilis, im wundersamen Jahr 1989.
Das am Ende der Verhandlungen am "Dreieckstisch" vereinbarte Demokratiepaket erhielt bis
Oktober parlamentarische Zustimmung. Die Übergangsverfassung bestimmte, daß die
Republik Ungarn ein unabhängiger, demokratischer Rechtsstaat ist, "in dem die Werte der
bürgerlichen Demokratie und des demokratischen Sozialismus gleichermaßen zur Geltung
kommen." Beschlossen wurden die Einrichtung eines Verfassungsgerichtes in Eztergom
sowie Gesetze über die Parteien und die Medien.
Die seit 1947 ersten freien Wahlen im Frühjahr 1990 veränderten die machtverhältnisse
gravierend. Das rechtskonservative Demokratische Forum bildete mit den Parteien der
Kleinen Landwirte und Christdemokraten eine Koalitionsregierung mit absoluter
Parlamentsmehrheit (59 Prozent). Ministerpräsident wurde der langjährige Generaldirektor
des Semmelweis-Museums, der Medizinhistoriker Jozsef Antal. Das Parlament wählte den
Schriftsteller Arpad Göncz, Mitbegründer des Bundes Freier Demokraten und Aktivist des
Volksaufstandes 1956, zum Staatspräsidenten. Seine linksliberale Partei wurde stärkste
Opposition (24 Prozent). Die aus der Selbstauflösung der Staatspartei im Oktober 1989
hervorgegangene Ungarische Sozialistische Partei (USP) war der eigentliche Wahlverlierer
(acht Prozent). Es gehört schon zu den Eigenartigkeiten, daß Sozialisten und Liberale
einander auf der Oppositionsbank näher kamen und im Mai 1994 gemeinsam den
Machtwechsel durch eine sozialistisch-liberale Koalition herbeiführten. Warum erhielt die
inzwischen zur Sozialdemokratie mutierte USAP-Nachfolgepartei die absolute
Parlamentsmehrheit (54 Prozent) nach ihrem Wahldesaster von 1990? Was veranlaßte die
einstigen dissidentischen Freien Demokraten zum Frontwechsel?
Verantwortungslos Westmodell übernommen
Es war nicht nur der dumpfe völkisch-rassistische Populismus und das antikommunistische
Feldgeschrei im rechtskonservativen Lager, das viele Wähler nach dem friedlichen
Machtwechsel abschreckte. Die Regierung übertrug verantwortungslos das in den westlichen
Metropolen durchaus noch funktionierende Marktwirtschaftsmodell auf ein Land mit
nachholender Modernisierung. Das führte schon nach kurzer Zeit zu noch größeren sozialen
Zerklüftungen wie unter dem Reformsozialismus Kadars. Der Schriftsteller Istvan Eörsi
schrieb in seinem 1993 erschienen Essay "Der Schock der Freiheit" über das nicht nur für
Ungarn typische Spannungsverhältnis zwischen politischen und wirtschaftlichen
Freiheitskriterien: "Die Hoffnung griff um sich, daß wir schon bald zum Westen aufschließen
oder uns Europa anschließen könnten, worunter meistens verstanden wurde, daß sich binnen
kurzem zum im Westen üblichen Freiheitsstandards der westliche Lebensstandard gesellen
würde. Allgemein herrschte die Erwartung, der Westen werde alles für unseren Anschluß tun
... Dagegen stellte sich bald heraus, daß die maßgeblichen westlichen Wirtschaftskreise in uns
keine angehenden Partner, sondern in erster Linie neue Marktchancen mit billig verfügbaren
Arbeitskräften sahen ... Hinter den Freiheitsparolen kamen - als wirkliche Bewegkräfte des
Geschehens - Wirtschafts- und Großmachtinteressen zum Vorschein."
Die sozialdemokratisch-linksliberale Koalition wurde im Mai 1998 wieder abgewählt. Sie
vermochte weder die Diskrepanz zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit noch die fatale
Abhängigkeit Ungarns vom internationalen Kapital zu verringern. Demokratie und Wohlstand
sind offenbar auch in Ungarn nicht allein durch sozialdemokratischen Machtwechsel zu
erreichen. Sie bedürfen eines zusätzlichen linkssozialistischen Gegendrucks, der bisher nicht
wirkungsvoll genug war.
Unser Autor, Professor für osteuropäische Geschichte, lebt in Dresden.
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