1. Einleitung - Friedrich-Schiller

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Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Politikwissenschaft
Lehrstuhl Politisches System der BRD
Proseminar: Einführung in das politische System der BRD
Modul: POL 210
Leitung: Dr. Sven Leunig
Sommersemester 2015
Die Piratenpartei Deutschland
nach 2012
– Gründe für den politischen
Abstieg
Vorgelegt von:
XXXXXXX
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ........................................................................................................1
2. Das Modell von Niedermayer .........................................................................3
2.1 Modellspezifikationen ...............................................................................3
2.2 Niedermayers Analyse der Piratenpartei bis Ende 2012 anhand des
Modells ............................................................................................................6
2.3 Die Piratenpartei seit 2013 – politischer Abstieg ......................................8
3. Erklärung für den politischen Abstieg anhand des Modells von Niedermayer
und gängiger Theorien des Wahlverhaltens ......................................................11
3.1 Die personelle Situation ..........................................................................12
3.2 Verlust des Alleinstellungsmerkmals und der Unentschlossenen ...........13
3.3 Mediale Erwartungen und fehlender politischer Inhalt ...........................13
3.4 Eine gesellschaftliche Entwicklung im Trichter der Kausalität ..............15
3.5 Der Wähler als homo oeconomicus – fehlender Nutzen der Piratenpartei
.......................................................................................................................17
4. Fazit ...............................................................................................................18
5. Ausblick ........................................................................................................19
1. Einleitung
Der Piratenpartei Deutschland, 2006 gegründet, gelang es innerhalb kurzer
Zeit, beachtliche Wahlerfolge zu feiern und eine gesellschaftliche Debatte über
die Vereinbarkeit des technischen Fortschritts, namentlich des Internets, mit
den politischen und rechtlichen Basisinstitutionen der Moderne anzustoßen.
Schon seit Beginn der 2000er Jahre stellte sich eine interessante Beobachtung
bzgl. der Entwicklung der Parteienlandschaft in der BRD ein, die die
gestiegenen Chancen von Interessenbewegungen, sich politisch in Form von
Parteien zu etablieren, widerspiegelt. Dies gelang zuletzt den Grünen in den
1980er Jahren. Alemann bezeichnet diese Zeit als Transformationsphase, in der
die „Dominanz der großen Vier“ (Alemann 2003: 50) (SPD, CDU, CSU und
FDP) zurückging. Seit 2002 spricht Alemann von einer Fluiden Phase, in der
das „so stabile deutsche Parteiensystem […] in Fluss geraten [ist]“ (Alemann
2003: 50). Dies bedeutet, dass die Wahlergebnisse der großen, etablierten
Parteien erodieren und sich ein neues Spektrum an Parteien durchsetzen kann.
Gleichzeitig können diese neu in den Wettbewerb eintretenden, in der Regel
jungen Parteien, sehr schnell wieder von der politischen Bühne verschwinden.
Ausgehend von dieser Beobachtung stellt sich die Frage, was nun die
Bedingungen für eine Partei sind, um entweder weiterhin im Wettbewerb
bestehen zu können (wie im Falle der etablierten Parteien) oder in den Kampf
um politische Macht einzusteigen (wie im Falle von neuen Parteien).
Insbesondere der Fall neuer Parteien gestaltet sich interessant, da er bisher in
der Politikwissenschaft wenig beachtet scheint. Theorien des Wahlverhaltens,
wie beispielsweise die makrosoziologische Theorie der Konfliktlinien (vgl.
Lipset/Rokkan 1967, insb.: 33 ff.), setzen in der Regel etablierte Parteien in
einen Wettbewerb zueinander. Die Formulierung konkreter Bedingungen für
den politischen Erfolg neuer Parteien in der aktuellen politischen Phase nach
der Jahrtausendwende fehlten. An dieser Stelle setzt nun Niedermayer (2010)
an und formuliert Bedingungen, die den Erfolg neuer Parteien begünstigen
können – er wählt dazu das Beispiel der Piratenpartei. Gerade die Piratenpartei
hat sich jedoch inzwischen wieder deutlich gegenteilig entwickelt und an
politischem Einfluss verloren. Die Forschungsfrage, die im Folgenden
1
beantwortet wird, lautet daher knapp: Wie ist der rasche politische Abstieg der
Piraten nach dem enorm erfolgreichen Wahljahr 2012 im Modell von
Niedermayer zu erklären und welche gängigen Theorien des Wahlverhaltens
spielen dabei eine Rolle?
Zur Beantwortung dieser Frage wird zunächst deskriptiv das Modell von
Niedermayer sowie seine Analyse der Piratenpartei bis Ende 2012 in
Grundzügen dargestellt und anschließend eine Beschreibung der politischen
Entwicklung der Partei seitdem vorgenommen (Kapitel 2). Danach erfolgt eine
Analyse der Gründe für diese (negative) Entwicklung anhand einiger wichtiger
Erfolgsbedingungen, die Niedermayer nennt, sowie unter Bezug auf zwei
Ansätze aus der Theorie des Wahlverhaltens (Kapitel 3).
Grundsätzlich positiv ist, dass die Arbeit eindeutig an den Forschungsstand
anschlussfähig ist, da er sich explizit auf einen konkreten Forschungsbeitrag
bezieht. Die Anknüpfung erfolgt in der Weise, dass der Verfasser den
Forschungsstand mit seiner Arbeit fortschreiben will, was insofern auch von
besonderer wissenschaftlicher wie politischer Relevanz ist, als sich die
Situation hinsichtlich des Untersuchungsobjekts zwischen 2010 und 2013 (dem
ersten und dem letzten Beitrag von Niedermayer dazu) ein weiteres Mal
geändert hat (Abstieg der Partei in Wahlen). Der Versuch, dieses mit Hilfe des
theoretischen Ansatzes von Niedermayer zu erklären, ist also ausgesprochen
interessant und – in beschränktem Umfang – auch machbar.
Man kann dieses Unterfangen auch durchaus als „theorietestend“ verstehen:
Wenn sich der Niedergang der „Piraten“ mit Niedermayers Modell nicht
erklären ließe, würde dies ja die generelle Erklärungskraft des Modells
zweifelhaft erscheinen lassen. Man – ggf. auch der bereits der Verfasser selbst
–
müsste
dann
entweder
die
theoretische
„Grundkonstruktion“
des
Niedermayer’schen Ansatzes hinterfragen oder nach situativen Bedingungen
Ausschau halten, die erklären, warum gerade diese Entwicklung – trotz der
generellen Plausibilität des Modells – nicht erklärbar ist. Der zweite Teil der
Forschungsfrage deutet ja darauf hin, dass der Verfasser entweder schon selbst
weiß, dass das Modell nicht ausreichend ist, oder dies zumindest vermutet.
Allerdings hätte er die Teilfrage dann etwas sinnvoll formulieren sollen, etwa:
„… und, falls dies nicht möglich ist, welche Erklärungen sich mit Hilfe
alternativer Forschungsansätze dazu finden lassen“.
2
Dazu noch einen Hinweis: Es ist wesentlich, dass Sie bei der Erklärung eines
Phänomens immer innerhalb eines Forschungsansatzes bleiben und diesen
sozusagen „durchprüfen“. Wenn dies nicht zu einem befriedigenden Ergebnis
führt, müssen Sie dies zunächst festhalten und dann – begründet – weitere
Erklärungsansätze aus der Forschung heranziehen. Bitte bei der eigenen
Prüfung nicht mehrere theoretische Ansätze miteinander „vermischen“, da
diese oft von völlig unterschiedlichen Grundannahmen ausgehen!
2. Das Modell von Niedermayer
Der ursprüngliche Beitrag von Niedermayer wurde 2010 in der Zeitschrift für
Parlamentsfragen veröffentlicht und 2013 in überarbeiteter Form erneut im
Buch „Die Piratenpartei“ (Niedermayer , 2013) herausgegeben. Ziel ist im
Folgenden, das Modell in seinen Grundbausteinen darzustellen.
2.1 Modellspezifikationen
Niedermayer baut bei seiner Modellspezifikation zu den Erfolgsbedingungen
neuer Parteien wesentlich auf dem sogenannten „lifespan-Modell“ von
Pedersen auf, das sich mit dem „Lebenszyklus“ (Niedermayer 2013a: 7) von
Parteien befasst.
Niedermayers Grundannahme lautet, dass der Erfolg einer neu in das
Parteiensystem einsteigenden Partei im Wesentlichen anhand von fünf bzw.
sechs
„Karrierestufen“ (Niedermayer 2010: 840; 2013a: 9) festgemacht
werden kann. Diese sind:
1. Wahlteilnahme (Zulassung zu einer Parlamentswahl),
2.
Wettbewerbsbeeinflussung (durch Reaktionen anderer Parteien auf die
Wahlteilnahme),
3. Parlamentarische Repräsentation (Einzug in ein Parlament durch eine
Wahl),
4. Koalitionsstrategische Inklusion (Möglichkeit der Bildung minimaler
Gewinnkoalitionen mit der Partei, vgl. hierzu Zelger 1975: 126),
5.
Regierungsbeteiligung (Beteiligung an einer Regierung … ja, was wohl
auch sonst…) und
3
6. Regierungsübernahme (Regierungschef*in stammt aus den Reihen der
Partei).
Diese Karrierestufen folgen zeitlich aufeinander, die vorherige Stufe muss
jeweils erfüllt sein um auf eine höhere zu gelangen. Sie besitzen ein ordinales
Skalenniveau (vgl. Benninghaus 2007: 23 f., unklar). Diese Definition erlaubt
es offensichtlich sowohl neue Parteien untereinander in ihrem Erfolg zu
messen – z.B. indem in Form einer Abstufung gemessen wird, wie schnell die
jeweiligen Karrierestufen erreicht wurden
etablierten
Parteien
im
System
zu
- als auch gegenüber bereits
vergleichen.
Parteien
können
selbstverständlich auch wieder auf niedrigere Stufen zurückfallen – es ist also
sowohl eine aktuelle Messung des Standes einer Partei im Parteienwettbewerb
möglich, als auch eine Bestimmung des bisher höchsten erreichten Niveaus.
Nicht in die Erfolgsdefinition von Niedermayer geht ein, wie diese
Karrierestufen erreicht werden oder wurden. Gut!
Die Bedingungen für das Erreichen der Karrierestufen teilt Niedermayer in drei
Bereiche ein, die wesentlich dadurch gekennzeichnet sind, wie die Faktoren in
diesen Bereichen zustande gekommen sind, wie sie ihrer Natur nach bestimmt
sind und wie sie durch die Partei beeinflusst werden können. Niedermayer
verwendet hierbei das makroökonomische Grundmodell von Angebot und
Nachfrage; es entsteht also ein Parteienwettbewerb, der ähnlich den Regeln
eines Marktes funktioniert.
Die Angebotsseite (vgl. Niedermayer 2013a: 10) stellt interne Faktoren dar, die
von der Partei selbst bestimmt werden und quasi der Öffentlichkeit präsentiert
werden. Hier nennt Niedermayer Ressourcen wie beispielsweise Mitglieder(zahl), Personal und Finanzausstattung, aber auch Organisationsstrukturen.
Neben den Ressourcen spielen Wahlkampf- und Politikstrategien eine Rolle,
auch in Hinblick auf die Strategien anderer Parteien gegenüber der neuen
Partei. Über diese Strategien kann es Parteien gelingen, entweder die
Konkurrenz zu schwächen und den eigenen Platz im Parteiengefüge zu
markieren, oder die Wähler für die Positionen der neuen Partei sensibel zu
machen. Zu guter Letzt spielen (selbstverständlich) bitte vermeiden – vieles,
was man selbst als selbstverständlich empfindet, ist es für andere nicht…! auch
die inhaltlichen politischen Ausrichtungen und Positionen der Partei eine
entscheidende Rolle – in der Regel stellen sie den Ausgangspunkt einer
4
Parteigründung dar. Sie können als Rahmen beschrieben werden, an dem sich
die Strategien und Ressourcen orientieren. In Kapitel 3 wird gezeigt, dass
gerade dieses inhaltliche Angebot zur Zeit der Parteigründung eine
entscheidende Rolle für die ersten Erfolge der Partei spielt . Leider hat der
Autor hier nicht erkannt, dass diese „Bedingungen“ im Grunde keine sind, da
sie nicht klar operationalisiert bzw. mit Indikatoren verbunden werden: wie
viele Mitglieder muss denn eine Partei haben, um erfolgreich zu sein? Wie
groß müssen deren finanzielle Ressourcen sein? Dass alle diese Faktoren, also
die Zahl der Mitglieder, das Personal in „irgend einer“ Weise den Erfolg bzw.
Misserfolg einer Partei beeinflussen, dürfte unstrittig sein, es ist schlicht
plausibel, dies anzunehmen. Die Formulierung eines konkreten und
überprüfbaren „Bedingungsgefüges“ im Sinne einer Kausalität („wenn die
Partei x Mitglieder hat ist sie erfolgreich/nicht erfolgreich) ist letztlich nicht
formulierbar, da alle diese Faktoren in unterschiedlicher Weise den Wahlerfolg
beeinflussen. Wie dies jeweils geschieht, ist aber nicht messbar. Insofern fragt
sich, was dieses „Erklärungsmodell“ wirklich erklärt – außer der Nennung
allgemeiner Einflussfaktoren tut es eigentlich nichts. Dies müsste der Verfasser
erkennen und auch klar benennen, da sich hieraus schon Folgerungen für die
empirische Anwendung des Niedermayer’schen Modells sowohl für den Aufals auch Abstieg der Partei ergeben. Insofern darf man gespannt sein, wie der
Verfasser
nachweisen
(!)
will,
dass
das
inhaltliche
Angebot
eine
„entscheidende“ (!) Rolle bei den ersten Erfolgen der Partei gespielt hat.
Auf der Nachfrageseite verortet Niedermayer nun alle Wahlberechtigten, um
deren Stimmen sämtliche Parteien eines politischen Systems konkurrieren.
Diese
ist
geprägt
Wahlberechtigten“
von
„Orientierungen
(Niedermayer
2013a:
und
10).
Verhaltensweisen
Hierbei
nennt
er
der
die
Parteienbindung, die Existenz von Konfliktlinien in der Gesellschaft, aber auch
die Offenheit gegenüber neuen Parteien sowie die Organisierbarkeit in Frage
kommender Bevölkerungsgruppen. Daneben gehören selbstverständlich die
Orientierung der Wähler gegenüber einzelnen, von einer neuen Partei
vereinnahmten politischen Themen und der Bewertung des Spitzenpersonals
der Partei dazu (vgl. Niedermayer 2013a: 11). Diese Einstellungen bestimmen
maßgeblich, wie die Strategie einer neuen Partei aussehen könnte und wie die
generellen Chancen auf Erfolg im politischen System sind.
5
Angebots- und Nachfrageseite treffen unter Bedingungen aufeinander, die den
Rahmen
des
Parteienwettbewerbs
abstecken
und
ebenfalls
auf
die
Erfolgschancen neuer Parteien einwirken. Diese Rahmenbedingungen sind
extern, in der Regel durch institutionelle Vorgaben, gegeben und von den
Parteien zumindest kurz- und mittelfristig nicht veränderbar. Dazu gehören der
rechtliche Rahmen, die Staatsorganisation, das intermediäre Feld und generelle
gesamtpolitische Entwicklungen, die ein politisches System prägen (können)
(vgl. Niedermayer 2013a: 11).
Diese drei genannten Kategorien liefern Erfolgsbedingungen (wie gesagt: das
eher nicht…) neuer Parteien, um sich im politischen System zu etablieren.
Nicht gesagt ist, wie viele Bedingungen erfüllt sein müssen, um eine bestimmte
Karrierestufe zu erreichen – oder wieder von einer Karrierestufe herab zu
rutschen, denn selbstverständlich können die meisten der genannten Faktoren
auch negative Ausprägungen annehmen, beispielsweise aufgrund eines
Skandals um einen Spitzenpolitiker, auf den in den Medien ein schlechtes Licht
fällt. In aller Regel wird eine Partei immer sowohl von positiven als auch
negativen Bedingungen begleitet sein. Ebenfalls fehlt eine differenzierende
Bewertung der Bedingungen – vorstellbar wäre, dass beispielsweise die
Bewertung des Spitzenpersonals einen deutlich höheren Ausschlag für den
Erfolg einer Partei gibt - genannt sei hierbei die Medialisierung des politischen
Betriebs und damit einhergehende Fokussierung auf Persönlichkeiten (vgl. Jun
2009, insb.: 282) - als die generelle personelle Organisationsstruktur in den
Anfängen der Partei. Dennoch erlaubt diese Kategorisierung zumindest eine
Einteilung in interne und externe Faktoren. Letzteres ist sicher richtig, und
auch die Darstellung der Problematik hinsichtlich der Relevanz der einzelnen
Faktoren ist völlig korrekt, geht aber an oben geschilderten grundsätzlichen
Kritik noch etwas vorbei… Hier wäre jetzt auch interessant, ob Niedermayer in
seinem Beitrag von 2013 irgend welche Änderungen hinsichtlich seines
Ansatzes von 2010 vorgenommen hat – wenn nicht, wäre dies auch
erwähnenswert!
2.2 Niedermayers Analyse der Piratenpartei bis Ende 2012 anhand des
Modells
6
Hier wäre zunächst eine Darstellung der Annahmen von Niedermayer aus dem
Jahr 2010 im Vergleich zu 2013 interessant. Da er ja 2010 zu einer eher
kritischen Einschätzung kommt, wäre interessant zu erfahren, wie er diese
Positionen 2013 revidiert hat, um nun den – bis dahin – Erfolg der Piraten zu
erklären!
Die Piratenpartei stellt insofern ein Phänomen dar, als dass sie eigentlich aus
einem einzigen Kernthema, genauer gesagt einer gesellschaftlichen Diskussion
um das Thema Urheberrechte und Software-/ Musikpiraterie, entstanden ist
(vgl.
Bartels
2013).
Der Name stellt
eine direkte
Antwort
einer
Interessengruppe dar, um „den von der Rechteindustrie ins Spiel gebrachten
Begriff der Piraterie ironisch aufzunehmen“ (Bartels 2013: 18). Niedermayer
(2013) geht der Frage nach, weshalb es gerade dieser ‚klassischen‘ EinThemen-Partei gelang, nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen
anderen europäischen Ländern (allen voran Schweden, vgl. Niedermayer 2010:
842; Bartels 2013: 17 ff.) so einen starken Einfluss nicht nur in der
gesellschaftlichen Debatte, sondern auch im politischen Betrieb zu nehmen.
Als Beispiel nennt Niedermayer die Wahl zum Landtag des Saarlandes 2012.
Hierbei stellt er fest, dass sich die Piratenpartei dazu ein „buntes
‚Vollprogramm‘, in dem netzpolitische Themen keine Prioritäten hatten“
(Niedermayer 2013b: 51) zugelegt hatte – sich zu diesem Zeitpunkt also
(kurzzeitig, vgl. Kap. 3.3) von der Ein-Themen-Problematik entfernt hatte.
Zusätzlich führt er einige weitere Erfolgsbedingungen auf, die den Wahlerfolg
begünstigten (vgl. Niedermayer 2013b: 51 ff.). Deutlich zu erkennen ist der
Versuch der Partei, sich als absolut transparent zu geben. So lautet eine der
Hauptforderungen der Partei, „transparente[] Politik statt eines gläsernen
Bürgers“1 voranzutreiben. Verschiedenste Positionspapiere wurden hierzu
verfasst,
insbesondere
auch
zum
Thema
„Transparenz
und
Korruptionsbekämpfung in der Politik“2. Während bekannt ist, dass die
Piratenpartei gerade bei jungen, häufig sogar Erstwählern einen starken Stand
hat (vgl. Niedermayer 2013c: 64 ff.), dürfte der Aspekt der Transparenz auch
bei älteren Wählern für Pluspunkte gesorgt haben – insbesondere in Erinnerung
an die CDU-Spendenaffäre von 1999. Wie keine andere Partei beansprucht die
1
https://www.piratenpartei.de/politik/themen/#p [Zugegriffen am 15.08.2015]
http://wiki.piratenpartei.de/Positionspapiere/Transparenz_und_Korruptionsbekämpfung_in_de
r_Politik [Zugegriffen am 15.08.2015]
2
7
Piratenpartei, für basisdemokratische und damit vollkommen transparente
politische Prozesse zu stehen und jeden einzelnen Bürger in die politische
Entscheidungsfindung einzubinden. Durch dieses Angebot (vgl. Kapitel 2.1)
gelang es der Piratenpartei einerseits, Wähler direkt durch politische
Positionierung zu erreichen, andererseits auch eine Reaktion der anderen
politischen Parteien zu erzwingen (Karrierestufen 2 und 3, vgl. Kapitel 2.1).
Auch bei den weiteren beiden im Jahr 2012 stattfindenden Landtagswahlen
gelang es den Piraten, jeweils mit einem für die erste Wahlteilnahme in diesen
Ländern beachtlichem Ergebnis in die Landtage in Nordrhein-Westfalen und
Schleswig-Holstein einzuziehen (vgl. Abb. 1). Das Jahr 2012 stellte für die
Piraten ein Jahr des Erfolgs dar, und dies trotz Sexismus-Vorwürfen (vgl.
Niedermayer 2013b: 56) und einer Gender-Debatte (vgl. Kulick 2013). Dies
weist darauf hin, dass andere Erfolgsbedingungen deutlich wichtiger für die
Wahlergebnisse
waren.
Die
genannten
Transparenzbestrebungen
und
Positionen zur Urheberrechtsdebatte spielten dabei sicher eine entscheidende
Rolle.
Die Partei befand sich somit auf bestem Wege, auch zumindest die nächste
Karrierestufe bald zu erreichen und in weniger als zehn Jahren nach ihrer
Gründung eine feste Größe im politischen Betrieb zu werden .
Hauptschwäche dieses Kapitels ist, dass die Darstellung nicht den drei Ebenen
des theoretischen Ansatzes von Niedermayer entspricht. Er selbst hat sich 2010
ja noch bemüht, die Partei unter diesen Perspektiven zu prüfen. Das hätte der
Autor auch für die Zeit bis einschließlich 2012 vornehmen müssen, unabhängig
davon, ob Niedermayer selbst das in seinem Beitrag 2013 getan hat (wenn
nicht, hätte dies natürlich gesondert erwähnt werden müssen!). In jedem Fall
wird schon hier deutlich, dass eine eindeutige Kausalität bzw. dass klare
Bedingungsgefüge von Niedermayer nicht identifiziert werden. Vielmehr
werden schlicht Behauptungen über die Relevanz eigentlich nur eines
einzelnen Punktes – des Programms der Partei (Transparenz) – behauptet, ohne
deutlich zu machen, womit Niedermayer seine Annahme belegt. Abgesehen
davon fehlen Ausführungen zu den übrigen Modellfaktoren fast völlig.
2.3 Die Piratenpartei seit 2013 – politischer Abstieg
8
Bei einer Betrachtung der Wahlergebnisse nach den Erfolgen des Jahres 2012
ist ein Rückgang auf das Niveau der Jahre vor 2012 zu beobachten (vgl. Abb.
1). Im Zeitverlauf bis Mitte des Jahres 2015 (bis dahin fanden die
Bürgerschaftswahlen in Bremen und Hamburg statt) scheint das Jahr 2012
somit eine Ausnahmerolle einzunehmen, dies stellt auch Abb. 1 dar.
9
Wahl
Stimmanteil in %
Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin
8,9
2011
Landtagswahl Saarland 2012
7,4
Landtagswahl Schleswig-Holstein 2012
8,2
Landtagswahl Nordrhein-Westfalen 2012
7,8
Landtagswahl Niedersachsen 2013
2,1
Landtagswahl Bayern 2013
2,0
Bundestagswahl 2013
2,2
Landtagswahl Hessen 2013
1,9
Europawahl 2014
1,4
Landtagswahl Sachsen 2014
1,1
Landtagswahl Brandenburg 2014
1,5
Landtagswahl Thüringen 2014
1,0
Bürgerschaftswahl Hamburg 2015
1,6
Bürgerschaftswahl Bremen 2015
1,5
Abbildung 1: Wahlergebnisse der Piratenpartei seit Ende 2011, angelehnt an Niedermayer
2013b: 34; Quelle: amtliche Wahlstatistiken
Die Partei fiel somit von der Karrierestufe 3 (parlamentarische Repräsentation)
wieder zurück (stimmt so ja nicht – die Piraten sind ja immer noch in etlichen
Landtagen vertreten!). Wie in Kapitel 3 gezeigt werden wird, fiel die Partei
sogar auf das Niveau der ersten Karrierestufe zurück, da andere Parteien nicht
einmal mehr gezwungen waren, auf die Piratenpartei in ihren Wahlkämpfen
oder Parteiprogrammen zu reagieren. Die gesellschaftliche Diskussion um
Transparenz und Urheberrechte im Internet ebbte ab und selbst als die NSAAffäre Anfang 2013 ihren Lauf nahm, konnte die Partei daraus kein Kapital
schlagen (siehe Kap. 3).
Auch innerparteilich stellte die Folgezeit die Piraten vor vermehrte Probleme,
die auch Niedermayer (2013b: 53 ff.) bereits erahnte. So ist in der Folgezeit
seit 2012 die Anzahl der Neumitgliedschaften kontinuierlich zurückgegangen
10
und es fallen deutlich mehr Austritte als Neueintritte an3. Neben des rein
quantitativen Verlusts an Mitgliedern, was sich wohl besonders in einzelnen
Landesverbänden auswirken dürfte (?) und über den Mitgliederbeitrag einen
Einfluss auf die Finanzen der Partei hat, hat die Piratenpartei auch qualitativ an
Personal verloren. Im Jahr 2014 sind gleich mehrere, medial bekannte
Persönlichkeiten aus der Partei ausgetreten, u.a. Anke Domscheit-Berg
(ehemalige Vorsitzende des Landesverbandes Brandenburg), Sebastian Nerz
(ehemaliger Bundesvorsitzender) und Thorsten Wirth (ebenfalls ehemaliger
Bundesvorsitzender). Die grundsätzliche Kritik (von Niedermayer?) lautete,
die Partei verliere sich in internen (personellen) Streitigkeiten und sei weit von
den früheren, ideellen Forderungen einer transparenten und bürgernahen
Politik abgerückt. Wie stark Niedermayer die Erfolgschancen der Partei
überschätzt hat, lässt sich daran erkennen, dass er ihr prophezeite, dass sich
„schneller als erwartet […] die Frage nach einer Regierungsbeteiligung stellen
[könnte]“ (Niedermayer 2013b: 60). Es spiegelt die damalige Stimmung wider
und zeigt gleichzeitig, wie schnell sich in Zeiten der Medialisierung (vgl. Jun
2009) selbst politische Parteien verändern können. wohl eher: Stimmungen
gegenüber Parteien…
3. Erklärung für den politischen Abstieg anhand des Modells
von Niedermayer und gängiger Theorien des Wahlverhaltens
Das Modell von Niedermayer, wie es bisher dargestellt wurde, diente dazu, den
Erfolg
der
Piratenpartei
anhand
von
objektiven
Kriterien,
sog.
Erfolgsbedingungen, zu analysieren. Die seit 2013 vorhandene Situation war
damals noch nicht vorhersehbar. Im Folgenden wird diese Entwicklung, wie sie
in Kapitel 2.3 beschrieben wurde, anhand des Niedermayer’schen Modells und
unter
Zuhilfenahme
einzelner
Ansatzpunkte
gängiger
Theorien
des
Wahlverhaltens in Hinblick auf Ursachen untersucht. Wie gesagt – bitte erst
das eine Modell „durchtesten“, dann ggf. andere Theorien hinzuziehen, wenn
das erstere keine befriedigenden Erklärungen bieten kann.
3
https://wiki.piratenpartei.de/Datei:Mitgliederentwicklung.png [Zugegriffen am 15.08.2015];
https://wiki.piratenpartei.de/Datei:Mitgliederentwicklung_ein_vs_aus.jpg [Zugegriffen am
15.08.2015]
11
3.1 Die personelle Situation
Auch dieser Unterpunkt verwundert – warum verwendet der Verfasser nicht
einfach die drei Ebenen von Niedermayer, selbst wenn dieser selbst es 2013
nicht getan haben sollte? Dies müsste er wenigstens erklären!
Im Modell von Niedermayer lässt sich die in 2.3 angesprochene Entwicklung
im Personalbestand nun an zwei Stellen verorten und somit der
Erfolgsrückgang bei den Wahlen (vgl. Abb. 1) erklären Ja – aber wie „erklärt“
sich dies tatsächlich aus ersterem? Beweisführung?!. Einerseits stärkt der
personelle Rückgang zwar die instabile Organisationsstruktur der Partei (vgl.
Niedermayer 2013b: 59), die insofern eine Besonderheit darstellt, als dass
viele, auch kleinere, Entscheidungen basisdemokratisch diskutiert und
getroffen
werden,
was
einen
hohen
Organisationsaufwand
erfordert.
Entscheidungen können aus organisationstheoretischer Sicht aufgrund der
geringeren Zahl stimmberechtigter Personen leichter getroffen werden (vgl.
Olson 1971: 53 ff.). Andererseits fallen aber viele engagierte Mitglieder weg,
die eine Partei, die von vielen Wahlberechtigten noch immer als Außenseiter
gehandelt wird und über deren Perspektiven und politische Positionen, gerade
in Bereichen die nicht zu den Hauptthemen gehören, wenig bekannt ist,
dringend benötigt. Sogenanntes Trittbrettfahrerverhalten wird ebenfalls
verstärkt, wenn Personen, die eigentlich ein Interesse an der Thematik und den
Zielen der Partei haben, austreten und damit einhergehend häufig die Mitarbeit
einstellen (Olson 1971, insb.: 60 ff.). Auch die finanziellen Auswirkungen sind
über Mitgliederbeiträge nicht zu unterschätzen, Alemann bezeichnet diese noch
immer als eine der „Hauptquellen für Parteifinanzen“ (Alemann 2003: S. 210).
Außerdem können rückläufige Mitgliederzahlen ein negatives Bild nach Außen
abgeben, die Öffentlichkeit bekommt den Eindruck, dass selbst die Mitglieder
nicht mehr mit der Partei zufrieden sind.
Niedermayer (2013d: 90) verweist außerdem darauf, dass die Mitglieder einer
Partei in der Regel zu ihren Stammwählern zählen, Austritte schmälern somit
diesen Bestand. Zusätzlich fehlt es an Input innerhalb der Partei was Ideen,
Motivation etc. angeht (Niedermayer 2013d: 90f.).
Daneben sind gerade die Austritte von bekannten Führungspersönlichkeiten,
zumal wenn sie sich derart häufen, immer ein Problem für eine Partei, da diese
häufig von den Medien skandalisiert werden (vgl. Jun 2009: 281 f.) und das
12
Image der Partei in der Öffentlichkeit schädigen. Auch diese Erfolgsbedingung
hat sich für die Piratenpartei zum negativen gewandelt, waren doch gerade die
Spitzenpolitiker*innen wie Marina Weisband durch ihre mediale Präsenz
(insbesondere natürlich im Internet, als dem selbsterwählten Leitmedium der
Piratenpartei) in der Gründungsphase enorm für die öffentliche Beachtung der
Partei verantwortlich.
Personell hat die Piratenpartei massive Probleme auf verschiedenen Ebenen,
die sich kurzfristig durch schlechtes Image auswirken, langfristig jedoch auch
zu einem inhaltlichen Problem führen können.
3.2 Verlust des Alleinstellungsmerkmals und der Unentschlossenen
Betrachtet man die Wählerschaft der Piraten, stellt Niedermayer (2013c: 65)
fest, dass ein Großteil ehemalige Nichtwähler sind. Während diese vielleicht
mit den Piraten genau den Aspekt, der ihnen in den bisher etablierten Parteien
gefehlt hat, repräsentiert sahen, ist es wahrscheinlich, dass gerade diese Wähler
auch schnell wieder abfallen und einer anderen Partei ihre Stimme geben.
Durch den Zeitpunkt der Parteigründung und der ersten öffentlichen Auftritte
bis hin zu den ersten Wahlteilnahmen war klar, dass die Piraten auf der Welle
einer gesellschaftlichen Situation reiten, die sich um das Medium Internet und
die damit verbundene Debatte um Urheberrechte dreht (vgl. Bartels 2013; siehe
auch Kapitel 3.4 ). Nachdem im Zuge der Wahlerfolge der Piraten die anderen
Parteien auf die neue politische Situation strategisch reagierten und ehemalige
Alleinstellungsmerkmale der Piraten okkupierten – sich also ‚plötzlich‘ für
Transparenz und die Rechtslage im Internet einsetzten oder zumindest
interessierten – waren diese gezwungen ihr politisches Profil auch darüber
hinausgehend zu schärfen. Diese Erfolgsbedingung konnten sie, wie bereits
erwähnt, nicht umsetzen.
3.3 Mediale Erwartungen und fehlender politischer Inhalt
Ein weiterer Punkt, der der Partei nach den Wahlerfolgen von 2012 zu schaffen
machte, war die Tatsache, dass es in vielen Politikfeldern noch immer keine
einheitliche Leitidee gab. So wurden bei Themen, die nicht die Transparenz
und die Überwachung und Einschränkung im Internet betrafen, immer wieder
13
von Landesverbänden unterschiedliche Positionen ausgegeben. Dies führte
dazu, dass es äußerst schwer war, Wähler, deren Hauptinteresse nicht den
Transparenzbestrebungen oder der Urheberrechtsdebatte galt, überhaupt zu
gewinnen, geschweige denn zu halten und als Stammwähler zu gewinnen.
Dieses Problem wurde verstärkt von den Medien aufgegriffen, die immer
wieder die Parteiführung zu unterschiedlichsten politischen Themenfeldern
nach Positionen befragten. Da die Partei sich dem basisdemokratischen Prinzip
verschrieben hatte, alle inhaltlichen Entscheidungen durch die ganzheitliche
Basis der Mitglieder selbst entscheiden zu lassen, wirkte das Führungspersonal
in diesen Situationen häufig überfordert (vgl. Niedermayer 2013d: 94). Der
Partei fehlte in dieser Hinsicht eine strategische Komponente: eine strake
Parteiführung, die im Zweifel eine ‚Marschrichtung‘ vorgeben kann und im
Stande ist, kurzfristig medial vermarktungsfähige Entscheidungen zu treffen.
In der Phase nach den Wahlerfolgen, als die Partei in (sub-)nationalen wie
supranationalen Parlamenten vertreten war, war diese Forderung nach einer
Öffnung hin zu anderen Politikfeldern gewachsen – hatte man der Partei zu
Beginn ihres Wirkens, unter Hinblick auf das konkrete Gründungsmotiv und
den ideellen Großprojekten, noch ihre Ein-Themen-Problematik verziehen.
Viele Wechselwähler, die von anderen Parteien abgewandert waren (vgl.
Niedermayer 2013c: 65, Tab. 1), forderten eine klarere Positionierung der
Partei gerade auch was die Abgrenzung zu politisch rechten Themengebieten
anging (vgl. die Debatte um rechte Tendenzen in der Piratenpartei vor den
Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen4). Diese
medial inszenierten Debatten schaden einer Partei, die sich selbst als
‚Mitmachpartei‘ bezeichnet, selbstverständlich.
Dieser so wichtige externe Erfolgsfaktor, die mediale Wahrnehmung, der den
Aufstieg der Piraten dadurch erst möglich gemacht hatte, dass viele
Journalisten die Piratenpartei als Chance auf eine transparentere Politik
begriffen, hat sich umgekehrt und wirkt inzwischen eher erfolgshemmend, da
negative Nachrichten dominieren.
4
http://www.taz.de/!5095091/
[Zugegriffen
am
15.08.2015];
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/piraten-chef-nerz-weist-rechtsextremismus-kritikzurueck-delius-a-829355.html [Zugegriffen am 15.08.2015]
14
3.4 Eine gesellschaftliche Entwicklung im Trichter der Kausalität
Während die genannten Probleme im personellen Bereich und der medialen
Wahrnehmung sowie die Inhaltsproblematik sicher alles Gründe sind, weshalb
die Piratenpartei, statt weitere Karrierestufen zu erklimmen, so rasch wieder
zurückfiel und heute von vielen bereits unter die verschmähten ‚Sonstigen‘
gezählt wird, ist insbesondere der Aspekt des Gründungsmotivs interessant –
also derjenigen gesellschaftlichen Entwicklung, die dazu geführt hat, dass die
Piratenpartei überhaupt in dieser Form aufblühen konnte.
In der sozialpsychologischen Theorie des Wahlverhaltens gibt es die Idee eines
„Funnel of Causality“ (Campbell et al. 1980: 24 ff.), in dem „events are conceived to follow each other in a converging sequence of casual chains“ (Campbell et al. 1980: 24). In Betrachtung gezogen werden solche Ereignisse, die
eine Auswirkung auf die politische Willensbildung haben.
Zur Zeit der Gründungsphase der Piratenpartei hatte noch keine deutsche Partei
das Thema Internet für sich entdeckt und die Politik somit „keine
ausreichenden Antworten [zu] bieten“ (Bartels 2013: 15), was Fragen des
Internetrechts und des Persönlichkeitsschutzes im Internet betraf. Die
Rechtsprechung tat sich schwer, Vorfälle der Verletzung des Urheberrechts
effektiv zu verfolgen und zu beurteilen. Die viel zitierte ‚Grauzone‘ weitete
sich aus. Bartels macht den „technische[n] Fortschritt, genauer gesagt […] die
Digitalisierung von Content“ (Bartels 2013: 15) als Anlass einer sozialen
Bewegung aus, die sich in Form der Piratenpartei (europaweit) politisch
niederschlug. Die alten Granden in Form der Volksparteien schienen von
dieser Entwicklung ähnlich überrascht wie in den 1980er Jahren von der
Umwelt- und Friedensbewegung, die zur Gründung der Partei Die Grünen
führte. Die etablierten Parteien taten sich schwer, sich an die neue Situation
anzupassen, was den Piraten zusätzlich Aufwind gab – nicht nur, dass sie eine
neue Thematik auf den Tisch gebracht hatten, die anderen Parteien waren
diesbezüglich in sich selbst inhaltlich und positionell uneins.
Im Trichter der Kausalität schlug sich dieses Ereignis also so nieder, dass die
gesellschaftliche Entwicklung einen Startpunkt darstellte und eine ganze Reihe
weiterer Ereignisse, wie die Streitfrage des Urheberrechts (vgl. Bartels 2013)
oder die Forderung nach transparenterer Politik, zur Folge hatte - diese stellten
15
dann „relevant conditions“ (Campbell et al. 1980: 26) dar. All diese Ereignisse
beeinflussten die Wähler bei den folgenden Wahlterminen in ihrem Verhalten,
häufig „nicht direkt, sondern nur vermittelt über die politischen Einstellungen“
(Schoen 2009: 187) – selbstverständlich neben anderen Faktoren.
Campbell et al. beschreiben den Aufbau des Trichters folgendermaßen: „the
axis of the funnel represents a time dimension“ (Campbell et al. 1980: 24).
Jedes Ereignis ist an einem bestimmten Punkt auf dieser Zeitlinie verortet und
hat Einflüsse auf weitere Ereignisse, die näher in Richtung Verengung des
Trichters liegen. Dies bedeutet, dass Ereignisse, die weiter zurück liegen, nur
einen mittelbaren Einfluss haben. Wenn diese Ereignisse also beispielsweise
nur ein über eine bestimmte zeitliche Periode aufflammendes Phänomen
darstellten, spielen sie nach voranschreitender Zeit im Trichter eine wesentlich
geringere Rolle für die konkrete Wahlentscheidung eines Individuums. Genau
so verhielt es sich mit der Urheberrechtsdebatte und der Transparenzforderung
in der Politik. Der Piratenpartei gelang es, im richtigen Moment, in dem diese
Faktoren eine entscheidende Rolle im Trichter der Kausalität einnahmen, in der
öffentlichen Meinung für eine Beachtung dieser Themen in der Politik zu
stehen und Stellung zu diesen Fragen zu beziehen.
Nachdem sich die gesellschaftliche Entwicklung, insbesondere durch die von
den Piraten angestoßenen, aber von allen Parteien in der Folge mitdiskutierten
Debatten, weiter verschob, fiel auch deren Bedeutung im Trichter und somit
für die weiter in der Zukunft liegenden Wahlentscheidungen. Ein wichtiger
Grund für den Niedergang der Piraten könnte also darin liegen, dass das
Gründungsmotiv der Partei, für das sie in der öffentlichen Meinung noch
immer hauptsächlich steht, an politischer Relevanz verloren hat. Die Wähler
werden inzwischen durch andere Faktoren (stärker) in ihrer Entscheidung
bestimmt.
Hinzu kommt, dass die Piraten, wie in Kap. 3.3 erläutert, noch immer
weitestgehend als Ein-Themen-Partei wahrgenommen werden, wodurch sie
diesen Verlust an Relevanz eines Themas nicht durch ein anderes ausgleichen
können.
16
3.5 Der Wähler als homo oeconomicus – fehlender Nutzen der
Piratenpartei
Ein weiterer Aspekt hängt eng mit dem in Kapitel 3.1 angesprochenen
Trittbrettfahrerverhaltens zusammen. Der rational-choice-Ansatz nach Anthony
Downs liefert eine Erklärung für besonders volatiles Wahlverhalten, denn er
unterstellt, dass „a rational man always takes the one [option, M.M.] which
yields him the highest utility“(Downs 1985: 36). Dieser Nutzen ist häufig
versteckt und nicht direkt messbar und kann somit auch durch „events that are
only remotedly connected“ (Downs 1985: 37) erhöht werden. Es ist also
durchaus
vorstellbar,
dass
Wähler
aufgrund
einer
„taktischen
Wahlentscheidung“ (Lembcke 2013: 91) bei einem konkreten Wahltermin
einer Partei ihre Stimme geben, mit der sie sonst nichts verbindet. Bei der
nächsten Wahl wird das ökonomische Nutzenkalkül der Wahlentscheidung
(vgl. Downs 1985: 38 ff.) wieder komplett neu bestimmt. Ähnlich wie in 3.4
könnte nun also angenommen werden, dass die Piraten lediglich für eine kurze
Zeitspanne für einen größeren Teil der Wählerschaft im ökonomischpolitischen Sinne attraktiv waren.
Eine weitere Erklärung für den kurzweiligen Erfolg der Piratenpartei liefert der
rational-choice-Ansatz eventuell in Hinblick auf solche Wähler, die als
ehemalige Nichtwähler die Piratenpartei wählten (diese machten mengenmäßig
tatsächlich einen Großteil der Wählerschaft aus, vgl. Niedermayer 2013c: 65,
Tab. 1). Ein Phänomen, das der Ansatz von Downs nur schlecht zu erklären
vermag, ist die generelle Wahlteilnahme, da diese für die Individuen mit
Kosten verbunden ist, jedoch keinen direkten (monetären) Nutzen liefert (vgl.
Downs 1985: 260 ff.). Schoen folgert daraus, dass „ein rationaler Akteur nicht
an Wahlen teilnehmen [sollte]“ (Schoen 2009: 193). Wenn man sich noch
einmal das Hauptthema der Piraten vergegenwärtigt, den Streit um
Urheberrechte im Internet, könnte hier also tatsächlich ein indirekter
(monetärer) Nutzen in der Form vorgelegen haben, dass die Wähler durch eine
politisch starke Piratenpartei entweder hofften, dass die Partei selbst eine freie
Verfügung und Verbreitung von Daten - die bisher dem Urheberrecht
unterlagen oder in einer Grauzone verortet waren - durchsetzen würde, oder
zumindest andere Parteien durch ihren Wahlerfolg dazu animieren würde, sich
17
dieses Themas anzunehmen. Davon hätten aber sehr, sehr wenige Wähler
profitiert…
Nachdem die etablierten Parteien eben dies taten und nun auch auf der großen
politischen Bühne über das Internetrecht diskutiert wurde, sahen viele Wähler
ihr Ziel erreicht – zumindest insofern, als dass ihnen eine weitere
Wahlteilnahme oder gar politische Mitarbeit nicht den entsprechenden Nutzen
geliefert hätten.
4. Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die vermutlichen (!!!) Gründe für
den raschen politischen Wiederabstieg der Piraten in der Wählergunst vielfältig
sind – relevant könnten sein personelle Probleme in der Parteiführung wie –
basis,
inhaltliche Schwächen und fehlende Führungsstrategien oder
eine
Wählerschaft, die sich, sei es nun aufgrund rationaler (ökonomischer)
Entscheidung oder einer sich im Zeitverlauf verändernden Bewertung einer
gesellschaftlichen Situation, schnell wieder abgewendet hat. Dass die Piraten
inzwischen wieder auf der ersten Karrierestufe stehen, scheint derzeit
unumgänglich. Ein Wiedereinzug in die Parlamente, in denen derzeit
Abgeordnete der Piraten sitzen, ist – betrachtet man den Trend der letzten
Wahlergebnisse – unwahrscheinlich. Dies Argument ist – wie Niedermayer
selbst ja leidvoll erfahren musste – nicht sehr tragfähig… allerdings ist es in offensichtlicher
-
Ermangelung
eines
tatsächlichen
Analyse-
bzw.
Prognosemodells geradezu verständlich, dass dem Autor dazu nicht mehr
einfällt.
Im Modellrahmen, den Niedermayer vorlegt, lässt sich diese Entwicklung
relativ leicht erklären – diejenigen Erfolgsbedingungen, die einst zu einem
politischen Aufstieg der Piraten und dem erklimmen der Karrierestufen
führten, haben sich (häufig zum negativen) gewandelt. Unter Zuhilfenahme der
sozialpsychologischen
sowie
rational-ökonomischen
Theorie
des
Wahlverhaltens, lässt sich fundiert aufzeigen, wo Probleme liegen. Dass diese
Analyse aufgrund des Umfangs der Arbeit sicher nicht vollständig ist, ist der
Komplexität der Sache und der Vielzahl der (möglicherweise) einwirkenden
Faktoren geschuldet.
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5. Ausblick
Selbstverständlich bedeutet diese durchaus finstere Analyse der Entwicklungen
der letzten Zeit, insbesondere in Hinblick auf die Wahlergebnisse, noch lange
nicht, dass
die Piratenpartei
in
der politischen Bedeutungslosigkeit
verschwinden wird. Gelingt es der Partei, die genannten Probleme in den Griff
zu bekommen, sich auch außerhalb ihres ‚Lieblingsthemas‘ ein politisches
Profil zu geben und eine Wählerschaft zu erreichen, die sich nicht so
wechselhaft verhält, dürfte einem erneuten Aufstieg auf höhere Karrierestufen
nichts im Weg stehen.
Interessant gestalten dürfte sich also eine erneute Analyse des Werdegangs der
Piratenpartei in einigen Jahren, um dann eventuell auch in Hinblick auf die
Wahlsoziologie das Verhalten von Wählern gegenüber neuen Parteien
tiefergehend zu untersuchen.
Gerade vor diesem Hintergrund bietet sich eventuell auch ein Vergleich der
Piratenpartei mit der Alternative für Deutschland an, um Unterschiede in der
Art und Weise des Eintretens in den politischen Wettbewerb zu bestimmen und
eine allgemeingültige Prognose zu den Erfolgschancen von Neuparteien (in
diesem Sinne also unter Umständen eine Weiterentwicklung des Modells von
Niedermayer) im politischen System der BRD treffen zu können.
Wie gesagt: das Modell wird eigentlich gar nicht stringent angewandt, weshalb
sich letztlich auch keine zwingenden Schlüsse auf dessen Tauglichkeit hin
ziehen lassen. Weiterhin ist problematisch, dass in den Kapiteln 3.1-3.3
Annahmen/Ergebnisse anderer Modelle einfließen. Nur Kapitel 3.4 und 3.5
scheinen insofern „pur“ zu sein, indem sich dort zum einen auf den „funnel of
causality„ bzw. das Rational Choice-Modell bezogen wird. Allerdings wird
nicht klar, welche Funktion dieses Kapitel haben soll. Anscheinend hat der
Verfasser gar keine Probleme mit Niedermayers Modell, weshalb sich fragt,
warum er dann noch „ergänzend“ Campell und Downs hinzuzieht.
Ungeachtet dessen ist positiv zu werten, dass der Verfasser überhaupt eine
klare Anbindung an den Forschungsstand vornimmt und immerhin einige
Schwächen des Niedermayer’schen Modells erkennt und benennt – leider zieht
er daraus keine Schlüsse für seine eigene Untersuchung. Ebenfalls ist
19
grundsätzlich positiv, dass hier eine anspruchsvolle Fortschreibung bisheriger
Forschungsergebnisse versucht wird und überdies weitere Literatur zur
Erklärung herangezogen wird, so dass die Arbeit noch als
„gut“
zu bewerten war.
20
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Internetquellen
Piratenpartei
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https://www.piratenpartei.de/politik/themen/#p
[Zugegriffen am: 15.08.2015]
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http://wiki.piratenpartei.de/Positionspapiere/Transparenz_und_Korruptionsbek
ämpfung_in_der_Politik [Zugegriffen am: 15.08.2015]
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https://wiki.piratenpartei.de/Datei:Mitgliederentwicklung.png [Zugegriffen am:
15.08.2015]
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https://wiki.piratenpartei.de/Datei:Mitgliederentwicklung_ein_vs_aus.jpg
[Zugegriffen am: 15.08.2015]
Taz Verlags und Vertriebs GmbH, http://www.taz.de/!5095091/ [Zugegriffen
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Spiegel Online GmbH, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/piraten-chefnerz-weist-rechtsextremismus-kritik-zurueck-delius-a-829355.html
[Zugegriffen am: 15.08.2015
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