Eine pfadanalytische Untersuchung des

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Der Bandwagon-Effekt:
Entscheiden Sonntagsfragen Wahlen?
Eine pfadanalytische Untersuchung des Einflusses veröffentlichter
Sonntagsfragen auf das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2013
Alexander Wuttke
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
[email protected]
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Zusammenfassung
This article examines the effects of published polls on voting intentions during
the campaign for the 2013 German National Elections. Despite extensive research neither is there clear evidence on the existence and magnitude of the acclaimed effects nor does an adequate understanding of the underlying causal
mechanisms exist. Focusing on the bandwagon effect, two rivalling theories of
how polls affect voters are tested. Social-psychological theories proclaim a
self-enforcing cycle of rising polls. Driven by psychological gratifications voters are assumed to go with the expected winner. Cognitive Psychology offers
two possible mechanisms of polls´ influence depending on the voter´s political
involvement. Firstly, voters that are merely interested in the outcome of an
election use polls as a heuristic device to reduce their information costs. So,
public opinion is employed as an indicator of a candidate’s quality. Secondly,
rising poll numbers are expected to activate favorable attitudes towards a political party. Thus, social-psychological explanations assume the influence of
published polls on voting intentions to be mediated by the expected outcome of
an election while Cognitive Psychology assumes a mediation by the voter´s political attitudes. To test these hypotheses we employ path analyses using a RollCross-Section-Survey of the 2013 German Federal Election. Respondents were
interviewed over the course of the electoral campaign and each daily sample
was recruited in a way that it may be considered representative of the German
electorate as a whole. This allows us to assign each published poll to those respondents whose attitudes and voting intentions were observed under the impression of the latest polls. Compared to laboratory experiments we avoid the
drawback of observing polls´ effects in artificial settings. Compared to studies
using panel-data this design minimizes unobserved heterogeneity. Overall the
dataset consist of roughly 8.000 voters that were matched with 51 polls published within the last 76 days before the election. Results show that the major
parties CDU/CSU and SPD were not influenced by the (only slightly) varying
party shares of published polls. Contrary, effects could be found for the smaller
parties The Greens and The Left. The Left benefited from rising numbers in the
polls while The Greens´ downward trend was reinforced by the polls. This effect of published polls on voting behavior was not –as often assumed– driven
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by individual expectations towards the elections´ outcome. In line with the
Cognitive Psychology´s view, the path analysis shows that the effect was mediated by changing political preferences of the voters that had been affected by
the polls.
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Abstracts (deutsch und englisch, max 100 Worte)
Ich argumentiere, dass die Inkonsistenz bisheriger Befunde zum Einfluss veröffentlichter Sonntagsfragen auf das Wahlverhalten auch einem defizitären theoretischen Verständnis der zu Grunde liegenden
Mechanismen und dem Fokus auf direkte Effekte geschuldet ist. Zur Überprüfung der angenommenen
sozial- und kognitionspsychologischen Wirkungsmechanismen werden Mehrebenen-Pfadmodelle
Grundlage von Rolling-Cross-Section-Daten zur Bundestagswahl 2013 berechnet. Während sich für
keine der untersuchten Parteien über die Erwartungshaltung vermittelte Umfrageeffekte auf die Wahlabsicht zeigten, beeinflusst die Wahrnehmung von Sonntagsfragen vermittelt über die Bewertung des politischen Angebots die Wahlneigung gegenüber den Grünen und der Linken im Sinne der BandwagonHypothese.
I argue that the inconsistent evidence in current research regarding published polls´ influence on voting
behavior might be attributed to the solely focus on direct effects and a lacking understanding of the underlying cognitive processes. Using rolling-cross-section survey data for the 2013 German federal elections, I conducted multilevel-path analyses to examine the cognitive processing of opinion polls and its
effect on voters´ attitudes and voting intentions. Results demonstrate the existence of bandwagon-effects
driven by published polls on voting intentions for the Left and the Green Party that are mediated by
polls’ effects on the short-term evaluations of parties and candidates.
Schlüsselbegriffe: Sonntagsfragen; Pfadanalyse; Mehrebenenanalyse; Wahlverhalten
Keywords: polls; path analysis; multilevel analysis; electoral behavior
1. Einleitung1
Kritiker der „Demoskopie-Demokratie“ (Burchardt, 2013) sehen in den regelmäßig veröffentlichten Sonntagsfragen nicht nur Reflexionen gegenwärtiger Stimmungslagen der Bevölkerung, sondern Instrumente einer illegitimen Beeinflussung des Wählerwillens, weil sie selbst
Auslöser der politischen Einstellungen seien, die sie zu vermessen versuchen (vgl. Brettschneider, 2008; Gallus, 2002). Empirische Analysen konnten trotz umfangreicher Forschung wenig
gesicherte Erkenntnisse über Existenz und Stärke von Umfrageeffekten erbringen und führen
regelmäßig zu inkonsistenten Befunden (Hardmeier, 2008), was –wie ich argumentieren werde–
auch auf ein Defizite im theoretischen Verständnis von Umfrageeffekten zurückgeht. Aus theoretischer Sicht ist der Einfluss veröffentlichter Sonntagsfragen auf das Wahlverhalten von Interesse, weil sich an diesem Beispiel die der Wahlentscheidung zu Grunde liegenden Mechanismen der Informationsverarbeitung erhellen lassen. Dieser Artikel verfolgt daher zwei Ziele:
Erstens soll am Beispiel der Bundestagswahl 2013 untersucht werden, ob sich Einflüsse auf das
Wahlverhalten durch die Wahrnehmung aktueller Umfragewerte der Parteien nachweisen lassen. Zweitens sollen kognitions- und sozialpsychologische Mechanismen möglicher Umfrageeffekte geprüft werden. Um den angenommenen, mehrstufigen Prozess der kognitiven Verarbeitung von Sonntagsfragen statistisch adäquat abzubilden, werden Mehrebenen-Pfadanalysen
durchgeführt. Als Datengrunde wird eine Rolling-Cross-Section-Erhebung zur Bundestagswahl
2013 verwendet, der die veröffentlichten Sonntagsfragen demoskopischer Institute beigespielt
wurden. Dabei konzentrieren wir uns auf den Bandwagon-Effekt als prominentestes Phänomen
von Umfrageeffekten, demzufolge sich unentschiedene Wähler in ihrer Wahlentscheidung dem
allgemeinen Umfragetrend anschließen und Sonntagsfragen so als selbsterfüllende Prophezeiung wirken. In der Analyse zeigt sich, dass die beiden Volksparteien von schwankenden Umfragewerten unbeeinflusst blieben während sich für die Linkspartei und Bündnis90/Grüne ein
Bandwagon-Effekt nachweisen lässt. Anders als häufig vermutet, wurde der BandwagonMechanismus bei der Bundestagswahl 2013 nicht durch einen Mitläufereffekt in Richtung des
vermuteten Wahlsiegers angetrieben. Sonntagsfragen wirkten stattdessen entsprechend kognitionspsychologischer Theorien vermittelt über die Beurteilung des Angebots politischer Parteien
auf die Wahlentscheidung.
2. Sonntagsfragen und Wahlverhalten
Eine Reihe von Gründen lassen vermuten, dass die Wahrnehmung veröffentlichter
Sonntagsfragen heute einen stärkeren Effekt auf individuelle Wahlentscheidungen ausübt als in
1
Der Online-Anhang mit Replikationsmaterialien ist auf der Webseite des Autors unter
www.platzhalter.de zu finden.
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früheren Jahrzehnten. Erstens verzehnfachte sich seit den 1960er Jahren die Zahl demoskopischer Prognosen in den großen deutschen Tageszeitungen (Brettschneider, 2008), sodass sich
auch der Anteil der Personen, die angeben Umfrageergebnisse wahrgenommen zu haben, um
ein Vielfaches erhöhte (Brettschneider, 2000, S. 491). Zweitens sind Wahlabsichten weniger
stabil und Wähler entscheiden sich in Folge der Erosion fester Parteiloyalitäten später (Weβels,
2007), weswegen kurzfristige Einflüsse eine stärkere Wirkung auf die Wahlentscheidung ausüben. Drittens könnte die zunehmende Zersplitterung des Parteiensystems, die Auflösung fester
Parteilager und – bei der Bundestagswahl 2013 – das knappe Scheitern einiger Parteien an der
5%-Hürde die Anreize für strategisches Wählen erhöht und Wähler in ihrer Bereitschaft bestärkt
haben, sich intensiver mit Wahlprognosen zu befassen. Viertens bringen heutige Wähler in stärkerem Maße die nötigen Voraussetzungen mit, um Sonntagsfragen in ihr Entscheidungskalkül
in der Wahlkabine einbeziehen zu können. Denn Umfrageergebnisse sind heute nicht nur breiter
bekannt, auch ist die Wählerschaft höher gebildet und politisch interessierter als in früheren
Jahrzehnten (Dalton, 2012; Ohr, Dülmer & Quandt, 2009). Gleichwohl erscheinen Effekte von
Wahlumfragen auf das Wahlverhalten aus theoretischer Perspektive „alles andere als selbstverständlich“ (Schoen, 2002, S. 179). Denn Sonntagsfragen sind neben dem unmittelbaren Bekanntenkreis oder in Medien publizierten Straßeninterviews nur ein Faktor, der die Perzeption der
öffentlichen Meinung beeinflusst (Daschmann, 2000). Zudem haben die meisten Bürger haben
nur geringe Anreize sich verschiedenen Anteilswerte einzelner Parteien zu einzuprägen und in
die eigene Erwartungsbildung zu übertragen (vgl. Schoen, 2002, S. 179-182). Einerseits gibt es
also sowohl gute Gründe Effekte veröffentlichter Sonntagsfragen auf das Wahlverhalten grundsätzlich zu bezweifeln, aber auch Argumente dafür, dass sich der Zusammenhang noch verstärkt
haben könnte. Während einige Autoren die angenommenen Wirkungen von Sonntagsfragen auf
das Wählerverhalten als empirisch widerlegt betrachten (z.B. Brettschneider, 2000, S. 498; Gallus, 2002, S. 33), gelangen einzelne Studien mit verschiedensten Methoden auch zu positiven
Befunden. Die in einer Meta-Studie von Hardmeier (2008) demonstrierte Inkonsistenz der bisherigen empirischen Befunde kann einerseits auf die Methodenvielfalt in der Untersuchung von
Umfrageeffekten zurückgeführt werden. Studien, die den Wissenstand über die Wahlabsichten
der Bevölkerung manipulieren (Bock, 1976; Ceci & Kain, 1982; Fleitas, 1971; Meffert &
Gschwend, 2011; Mehrabian, 1998), können zwar unter Laborbedingungen häufig signifikante
Einflüsse nachweisen (Goidel & Shields, 1994; Marsh, 1985; Mehrabian, 1998; Nadeau, Cloutier & Guay, 1993), leiden jedoch an zweifelhafter externer Validität. Feldexperimentelle Untersuchungen nutzen den Umstand, dass in einigen Fällen erste Prognosen vor Schließung der
Wahllokale veröffentlicht werden (für Rumänien: Gherghina & Chiru 2012; USA: Sudman
1986, Fuchs 1966; Deutschland: Behnke, 2008). Sie kommen seltener zu positiven Befunden,
wohlmöglich auch weil sie einen Spezialfall in den Blick nehmen, in dem Umfragewirkungen
auf die Gruppe der Spätentscheider beschränkt sind. Auf Beobachtungsdaten beruhende Studien
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haben dagegen Schwierigkeit die ursächliche Wirkung von Umfragen zu isolieren. Das gilt insbesondere für Untersuchungen, die auf die Introspektion der Befragten setzen (Brettschneider,
1992; McAllister & Studlar, 1991), aber auch Studien mit Panel-Daten (Blais, Gidengil & Nevitte, 2006; Skalaban, 1988) müssen nachweisen, dass simultane Entwicklungen in der Wahlabsicht der Befragten und den Sonntagsfragen nicht auf eine gemeinsame, unbeobachtete Ursache
wie Wahlkampfereignissen zurückgehen. Mit der Etablierung von Rolling-Cross-SectionErhebungen steht uns ein neuer methodischer Zugang zur Verfügung, der –wie später ausgeführt wird– die tagesaktuelle Zuordnung veröffentlichter Sonntagsfragen zu einzelnen Befragtengruppen erlaubt und so das Problem unbeobachteter Heterogenität minimiert.
In der Literatur hat sich ein Kanon gebräuchlicher Hypothesen herausgebildet, die mehr
oder weniger schlüssig die Richtung vermuteter Wirkungen anzeigen, sodass man sich in empirischen Analysen auf die in den Wahlabsichten ablesbaren direkten Effekte veröffentlichter
Umfragen konzentrierte und potentielle Wirkungen auf vorgelagerte Schritte der kognitiven
Verarbeitung außer Acht ließ (siehe aber: Hoffmann, 2013; Meffert & Gschwend, 2011; Meffert, Huber, Gschwend et al., 2011). Wenn die Effektstärke der Wahrnehmung von Umfragen
auf das Wahlverhalten jedoch nur schwach ist und kontextabhängig beispielsweise mit bestimmten Dynamiken der Wahlkampagnen in ihrem Ausmaß variiert, mag der Fokus auf direkte
Effekte die Inkonsistenz bisheriger Befunde von Wirkungen auf das Wahlverhalten erklären.
Hier soll dieser Zusammenhang daher als mehrstufiger kognitiver Prozess konzeptualisiert werden, der explizit auch Wirkungen von Sonntagsfragen auf Einstellungen jenseits der Wahlabsicht in Betracht zieht und so zudem zu einem näheren Verständnis der den Umfragewirkungen
zugrunde liegenden Mechanismen beitragen soll.
3. Der Bandwagon-Effekt
Unter dem Bandwagon-Effekt wird die Vermutung beschrieben, dass sich im Zuge von
Wahlkämpfen Sammlungsbewegungen hinter der führenden Partei bilden, wodurch das politische „Momentum“ zu selbstverstärkenden Trends politischer Stimmungen führen sollte. Ein in
der Literatur häufig vorzufindender Begründungs- und Erklärungsversuch des BandwagonEffekts rekurriert auf die menschliche Neigung zu gruppenkonformem Verhalten (z.B. McAllister & Studlar, 1991, S. 721). Dabei wird auf das klassische Konformitätsexperiment von Asch
(1955) verwiesen. Asch zeigte, dass einige Versuchsteilnehmer auch offensichtliche Tatsachen
nicht mehr benennen, wenn anwesende Dritte mehrheitlich abweichende Urteile äußern. Analog
erklärte Elisabeth Noelle-Neumann auf der gesellschaftlichen Ebene ein sich selbst verstärkendes Meinungsklima mit dem Begriff der Schweigespirale (Noelle-Neumann, 1989). Wahlprognosen sollten demnach einen Konformitätsdruck auslösen, wenn sie als Hinweise auf implizite
Gruppennormen verstanden werden.
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Während dieser Erklärungsansatz zwar grundsätzlich geeignet scheint, langfristige Dynamiken öffentlicher Meinung zu erklären, ist er als Begründung eines Einflusses veröffentlichter Sonntagsfragen auf das Wahlverhalten nur wenig überzeugend. Denn um innerhalb der zeitlich eng begrenzten Wahlkampfphase einen Einfluss auf die Einstellungen der Wähler zu bewirken, müsste sich die Zustimmung zu einzelnen Parteien in wenigen Wochen oder Monaten
so gravierend ändern, dass sie zunächst als Verschiebung gesellschaftlicher Normen wahrgenommen werden und anschließend internalisiert werden könnte, um nachhaltig auf die politischen Einstellungen eines Wählers zu wirken. Anders als in Aschs Konformitätsexperiment
bringen Wähler jedoch erstens politische Voreinstellungen mit und sind reale Wahlkämpfe nicht
zweitens durch Meinungshomogenität, sondern durch gerade Dissens gekennzeichnet. Wenn
eine Änderung individueller Einstellungen aus Angst vor sozialer Isolation nicht plausibel erscheint, könnte die Wahrnehmung von Sonntagsfragen im Sinne des Konformitätsarguments
das Wahlverhalten nur beeinflussen, wenn ein Wähler gegen die eigenen Präferenzen stimmt,
um damit der Mehrheitsmeinung gerecht zu werden. Die Stimmabgabe ist jedoch geheim und
kann daher ohne Furcht vor sozialen Sanktionen erfolgen. Die Begründung eines BandwagonEffektes über das Konformitätsargument kann daher trotz seiner Verbreitung in der Literatur
zumindest bei Betrachtung kürzerer Zeiträume nicht überzeugen.
Das Mitläuferargument betont psychologische Belohnungen durch die Zugehörigkeit zu
einer erfolgreichen Gruppierung. Derartige psychologische Gratifikationen durch Gruppenmitgliedschaften wiesen Cialdini et al. (1976) für Sportvereine nach. Sie zeigten im Rahmen von
Feldexperimenten, dass die Bereitschaft sich mit Pullovern der eigenen College-Mannschaft zu
zeigen mit dem Erfolg des Teams zunimmt. In weiteren Experimenten zeigten sie, dass der
Wunsch in der Gunst des Gegenübers zu steigen, die Neigung erhöht sich zur erfolgreichen
College-Mannschaft zu bekennen bzw. die Zugehörigkeit zu einem weniger erfolgreichen Team
zu leugnen. Der psychologische Gratifikationsmechanismus wird also durch die öffentliche und
sichtbare Demonstration der Gruppenzugehörigkeit ausgelöst oder zumindest verstärkt. Öffentliche und offensive Bekenntnisse zu einer Partei (Autosticker, Parteiabzeichen, Werbeschilder
im Vorgarten oder der Besuch von Wahlkampf- und Parteiveranstaltungen) sind in der politischen Kultur der Bundesrepublik jedoch eher selten und Politik eher Privatsache. Durch die
Aussicht als Teil der obsiegenden politischen Gruppierungen intrinsische Befriedigung zu erfahren sollten Sonntagsfragen daher wenn überhaupt nur moderate Effekte auf das Wahlverhalten im Sinne des Mitläuferarguments ausüben.
H1a: Die Erwartung eines Wahlsieges von Partei X erhöht die Wahrscheinlichkeit für
Partei X zu stimmen.
Die Funktion von Sonntagsfragen als valider, aber kognitiv anspruchsvoller Indikator
des zu erwartenden Wahlausgangs wurde bereit diskutiert. Empirische Studien bestätigen sowohl den Einfluss von Sonntagsfragen auf die Erwartungsbildung als auch eine Interaktion mit
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dem Grad politischer Interessiertheit (Blais & Bodet, 2006; Faas & Schmitt-Beck, 2007; Huber,
Gschwend, Meffert et al., 2009; Meffert & Gschwend, 2011).
H1b: Steigende Umfragewerte für Partei X erhöhen die Erwartung eines Wahlsieges
von Partei X, insbesondere unter politisch hoch Interessierten.
Die Verbindung beider Hypothese verdeutlicht den indirekten Einfluss der Wahrnehmung veröffentlichter Sonntagsfragen auf das Wahlverhalten gemäß dem Mitläuferargument:
H1: Die in Sonntagsfragen veröffentlichten Anteilswerte für Partei X üben einen über
die Erwartungsbildung vermittelten, positiven Einfluss aus auf die Wahrscheinlichkeit für Partei
X zu stimmen.
Die diskutierten sozialpsychologischen Ansätze sind trotz ihrer Verbreitung in der Forschungsliteratur also nur eingeschränkt geeignet einen Zusammenhang zwischen Sonntagsfragen und Wahlverhalten zu begründen. Die „Theorie des unpersönlichen Einflusses“ (Mutz,
1998) trägt in einer kognitionspsychologische Annäherung dem unpersönlichen Charakter des
medial vermittelten Einflusses von Sonntagsfragen Rechnung. Sonntagsfragen wirken demnach
erstens über heuristische Abkürzungen oder zweitens durch eine Vergegenwärtigung von Argumenten und Gegenargumenten, die eine Person als ursächlich für die in Sonntagsfragen abgebildete öffentliche Meinung ansieht.
Der heuristische Mechanismus beruht auf der Orientierung an den Urteilen Dritter bei
der eigenen Meinungsbildung. Voraussetzung dafür ist, dass Urteile der signifikanten Anderen
als glaubwürdig angesehen werden, etwa weil sie von einem anerkannten Experten geäußert
oder von besonders vielen Personen geteilt werden. Die mühsame eigene Urteilsbildung wird so
quasi an Dritte ausgelagert. Werbeagenturen setzen häufig auf die angenommene Wirkung dieser Konsens-Heuristik, beispielsweise wenn Unternehmen mit hohen Verkaufszahlen ihrer Produkte oder überdurchschnittlicher Kundenzufriedenheit werben.2 Analog können Wähler in der
politischen Landschaft die in Sonntagsfragen abgebildete öffentliche Meinung als „short-cut“
verwenden, um mit geringem Aufwand zur eigenen Wahlentscheidung zu gelangen und so ihre
Informationskosten zu reduzieren. Die Heuristik sollte zur Anwendung kommen, wenn der
Wähler über wenig verfestigte Voreinstellungen verfügt und nur in geringem Ausmaß motiviert
ist, sich mit den zur Auswahl stehenden Kandidaten und Programmen zu beschäftigen, dann
also wenn er den Ausgang der Wahlen nicht als besonders wichtig erachtet (Mutz, 1998; Sorokin & Boldyreff, 1932, S. 727).
H2a: Steigende Umfragewerte für Partei X haben einen positiven Einfluss auf die Bewertung des politischen Angebots von Partei X, insbesondere unter politisch gering Involvierten.
2
Auch die in der wissenschaftlichen Community verbreitete Orientierung am Impact-Faktor
kann in diesem Sinne verstanden werden.
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H2b: Eine bessere Bewertung des politischen Angebots von Partei X erhöht die Wahrscheinlichkeit für Partei X zu stimmen.
H2: Die in Sonntagsfragen veröffentlichten Anteilswerte für Partei X üben einen über
die Bewertung des Parteiangebotes vermittelten, positiven Einfluss aus auf die Wahrscheinlichkeit für Partei X zu stimmen.
Die Cognitive-Response-Theorie geht davon aus, dass nicht nur die in einer wahrgenommenen Botschaft kommunizierten Informationen, sondern auch die durch die Wahrnehmung ausgelösten kognitiven Prozesse einen Einfluss auf individuelle Einstellungen nehmen
können (vgl. Raab, Unger & Unger, 2010, S. 97). Nimmt eine Person Informationen über die
Meinungen Dritter wahr, vergegenwärtigt sie sich mögliche Argumente und Gründe, um diese
zu rationalisieren. Bei Wiederholung dieses Vorganges –wie beispielsweise bei kontinuierlich
steigenden Umfrageergebnissen für eine politische Partei– werden die trainierten ProArgumente aktiviert und sind daher leichter zugänglich (vgl. Mutz, 1998, S. 212-225). Dieser
Mechanismus sollte insbesondere bei Personen mit mittlerer politischer Involvierung wirken, da
gering Involvierte erstens zu dem zusätzlichen kognitiven Aufwand weniger motiviert sein werden und zweitens auch nicht auf ein Reservoir denkbarer Argumente zurückgreifen könnten.
Wähler, die sich dagegen sehr intensiv mit politischen Fragen beschäftigen, verfügen über umfassende und konsistente Überzeugungssysteme und sind daran interessiert kognitive Dissonanz
zu vermeiden. Mit dem eigenen Überzeugungssystem inkompatible Informationen werden daher
verworfen oder führen sogar zu einer Verfestigung bestehender Attitüden, da man sich die Argumente für die eigene Haltung vergegenwärtigt und sich so deren Richtigkeit versichert (Kunda, 1990, S. 490-496; Mutz, 1998, S. 213-225). Der Cognitive-Response-Mechanismus sollte
also bei niedrig Involvierten nicht wirken, während steigende Umfragewerte bei mittel Involvierten einen Bandwagon-Effekt auslösen, und unter hoch Involvierten keinen Effekt oder eine
Verfestigung bestehender Präferenzen zur Folge haben.
H3a: Steigende Umfragewerte für Partei X haben einen positiven Einfluss auf die Bewertung des politischen Angebots von Partei X, insbesondere unter politisch mittel Involvierten.
H3b: Steigende Umfragewerte für Partei X haben unter politisch hoch Involvierten keinen oder einen negativen Einfluss auf die Bewertung des politischen Angebots von Partei X.
4. Methodik, Daten und Operationalisierung
Mit der Etablierung von Rolling-Cross-Section-Erhebungen (RCS) hat sich ein neuer
Forschungsansatz zur Untersuchung von Umfrageeffekten ergeben. Bei RCS-Erhebungen wird
eine „normale Zufallsstichprobe […] nach strengen methodischen Anforderungen so über einen
festgelegten Zeitraum verteilt, dass die Befragten jedes einzelnen Tages für sich genommen eine
11
repräsentative Stichprobe aus der Wählerschaft darstellen“ (Hoops et al. 2013, S. 217). Somit
können tagesaktuelle Schwankungen der öffentlichen Meinungen nachverfolgt werden. Diese
Erhebungsmethodik erlaubt es den erhobenen Daten die an dem jeweiligen Feldtag veröffentlichten Sonntagsfragen zuzuspielen. Idealerweise ist so jedem Befragten (bzw. den Befragten
eines Feldtages) eine Sonntagsfrage zuzuordnen, unter dessen Eindruck sich seine Präferenzen
und Wahlabsichten ändern sollten. Es lässt sich somit untersuchen, ob ein systematischer Zusammenhang zwischen Schwankungen in den veröffentlichten Sonntagsfragen und der Varianz
der individuellen Einstellungen besteht (siehe für frühere Anwendungen: Blais, Gidengil &
Nevitte, 2006; Faas & Schmitt-Beck, 2007; Hoffmann & Klein, 2013). Diesem Vorgehen liegt
die Annahme zu Grunde, dass systematische Zusammenhänge nicht auf unbeobachtete Drittvariablen wie Wahlkampfereignisse, sondern kausal auf die Wahrnehmung von Sonntagsfragen
zurückgeführt werden können, dass also ein Wähler eine neue Umfrage bei der morgendlichen
Zeitungslektüre zur Kenntnis genommen und diese Information in veränderte Wahlabsichten
übertragen hat. Denn die durch demoskopische Institute durchgeführten und in den Medien
publizierten Sonntagsfragen sind in der Regel zunächst mehrere Tage (bei Allensbach bspw. bis
zu 13 Tage, bei der Forschungsgruppe Wahlen für gewöhnlich lediglich drei Tage) im Feld und
werden erst einen Tag (Forschungsgruppe Wahlen, Infratest dimap) oder mehrere Tage (Allensbach, emnid, forsa) nach Abschluss der Feldarbeit veröffentlicht werden. Somit führt die natürliche Verzögerung zwischen den Feldzeiten der demoskopischen Institute und der RCSErhebung zu unterschiedlichen Informationskontexten der Befragten, zudem variieren die Verarbeitungs- und Feldzeiten zwischen den Prognoseinstitute beträchtlich und wirken so einen
einem systematischen Zusammenhang von RCS-Wahlabsicht und beigespielten Sonntagsfragen
entgegen.
Für die folgende Analyse wird auf die Rolling-Cross-Section-Wahlkampfstudie (ZA
5703, v. 1.0.0.) zurückgegriffen, die von Rattinger, Roßteutscher, Schmitt-Beck et al. (2013) für
die German Longitudinal Election Study durchgeführt wurde. Die hier verwendete Vorwahlwelle mit einer angestrebten täglichen Stichprobengröße von 100 Personen wurde vom 08.07.21.09.2013 telefonisch erhoben. Bei einer Ausschöpfungsquote von 15,8% wurden so insgesamt
7.882 Personen befragt.
Den Individualdaten wurden die Sonntagsfragen fünf großer Umfrageinstitute (Allensbach, Emnid, Forsa, Forschungsgruppe Wahlen, Infratest dimap) beigespielt,3 deren Prognosen
in der überregionalen Presse veröffentlicht werden. Wurden an einem Tag keine neuen Umfragen veröffentlicht, wurden den Befragten die zuletzt veröffentlichten Sonntagsfragen zugewiesen, bei mehreren Umfragen an einem Tag wurde der entsprechende Mittelwert verwendet. In
den 76 Tagen des Erhebungszeitraums wurden die imposante Zahl von insgesamt 51 Umfragen
veröffentlicht (Allensbach: 6, Forsa: 13, FGW: 9, Emnid: 12, Infratest: 11). In Ermangelung
3
Die Daten wurden www.wahlrecht.de entnommen.
12
zwingender theoretischer Argumente über das Ob und die Dauer einer adäquaten Verzögerung,
haben wir uns von der Datenstruktur leiten lassen (vgl. Faas & Schmitt-Beck, 2007), die die
stärksten Korrelationen von Sonntagsfragen mit den Wahlabsichten und Erwartungen über die
Regierungs- und Parlamentszusammensetzungen für einen Lag von einem Tag aufweist. Den
Befragten vom 20. August werden also die die am 19. August veröffentlichten Sonntagsfragen
zugeordnet. Alternative Operationalisierungen führen nur zu geringfügig abweichenden Resultaten. (Korrelationsmatrizen und Regressionstabellen mit alternativen Operationalisierungen
sind im Online-Anhang zu finden.)
Um den theoretisch skizzierten, mehrstufigen Prozess der Wirkungen von Sonntagsfragen auf Einstellungen und Verhalten formalstatistisch adäquat zu modellieren wurden hierarchische Pfadanalysen berechnet. Die Analysemethode ist für diese Fragestellung besonders geeignet, da sie es ermöglicht den kognitiven Prozess der Wirkung von Sonntagsfragen über Erwartungen und Präferenzen bis zur Wahlentscheidung nachzuverfolgen. Da Pfadanalysen eine besondere Form der Regressionsanalyse darstellen und diese von einer Unabhängigkeit der Beobachtungen ausgeht, muss die hierarchische Struktur des RCS-Datensatzes berücksichtigt werden, da die Befragten eines Feldtages ihre Antworten vor einem geteilten Informationskontext
geben und sich daher ähnlicher sind als die Befragten anderer Feldtage (vgl. Hoffmann & Klein,
2013, S. 217). In unserer Mehrebenen-Pfadanalysen stellen die Feldtage daher die Objekte
zweiter Ebene und die Individuen die Objekte erster Ebene dar. Da nicht alle verwendeten Variablen ein (quasi-)metrisches Skalenniveau aufweisen, werden generalisierte lineare Regressionen berechnet. Normalverteilte Mediatorvariablen in unserem Mehrgleichungssystem werden
durch OLS-Regressionen geschätzt, endogene dichotome Variablen durch die logit LinkFunktion. Die Analysen wurden mit Stata 13.1 durchgeführt.
– Abbildung 1 etwa hier –
Die Bandwagon-Hypothese wird für die vier im Bundestag vertretenen Parteien untersucht. Die
zu erklärende endogene Variable ist die zum Befragungszeitpunkt geäußerte Absicht für die
jeweilige Partei zu stimmen (1=ja; 0=andere Partei; Personen ohne Angabe und Briefwähler
wurden nicht berücksichtigt). Das Mitläufer-Argument geht davon aus, dass Personen auf der
Siegerseite stehen wollen und sich daher der erwartet siegreichen Partei anschließen wollen,
wobei die Erwartung über den Wahlausgang wiederum durch demoskopische Prognosen beeinflusst sein sollte (Hypothese 1). Der Theorie des unpersönlichen Einflusses zufolge, sollte der
Einfluss auf das Wahlverhalten durch die politischen Präferenzen vermittelt werden (Hypothesen 2 und 3). Diese theoretischen Annahmen wurden in ein Pfadmodell übertragen (Abbildung
1), das in seiner Grundstruktur dem sozialpsychologischem Ansatz der Wahlforschung folgt
(Campbell, Converse, Miller et al., 1980).
13
Die Parteiidentifikation (0=keine Zuneigung für die jeweilige Partei bis 5=sehr starke
Zuneigung zu dieser Partei) sollte demnach sowohl direkt auf das Wahlverhalten als auch auf
die kurzfristigen Einstellungen gegenüber einer Partei wirken. Als langfristige affektive Bindung an eine Partei sollte die Parteiidentifikation von den kurzfristigen Schwankungen der öffentlichen Meinung unbeeinflusst bleiben. Die kurzfristigen Parteipräferenzen wurden über die
Lösungskompetenz der Partei für das vom Wähler als wichtigsten empfundene politische Problem operationalisiert (1=ja; 0=nein) sowie über eine elf-stufigen Skala zur Beurteilung des Spitzenkandidaten der Partei. Ob ein Befragter den Sieg einer Partei erwartet, wurde über Frage
nach der erwarteten Regierungsbeteiligung dieser Partei (1=ja; 0=nein) dieser Partei erhoben.
Wähler beurteilen die Erfolgsaussichten einer Partei nicht nur rational, sondern auch durch die
Brille ihrer persönlichen Parteipräferenzen. Die individuellen Erwartungen bilden sich aus einer
Mischung von Fakten-Informationen und subjektiven Projektionen (Blais & Bodet, 2006;
Daschmann, 2000, S. 173; Marsh, 1985, S. 59; Meffert, Huber, Gschwend et al., 2011; Schoen,
2000, S. 653-658). Um auf wishful-thinking zu kontrollieren wird die Regierungserwartung
neben den Sonntagsfragen daher noch durch politisches Interesse (Meffert, Huber, Gschwend et
al., 2011), dem Vorliegen und der Stärke der Parteiidentifikation sowie der Bewertung von Lösungskompetenz und des Spitzenkandidat erklärt. Ein Interaktionsterm prüft die Annahme (Hypothese 1b), dass sich Sonntagsfragen bei politisch höher interessierten Personen stärker in der
Erwartungsbildung niederschlagen. Der Theorie des unpersönlichen Einflusses zu folge hinterlässt die Wahrnehmung der öffentlichen Meinung insbesondere bei politisch gering und mittel
Involvierten eine Wirkung auf die politischen Präferenzen. Die fünfstufige Involvierungsskala
(„Wie wichtig ist es Ihnen persönlich, wie die kommende Bundestagswahl ausgeht?“) wird dazu
in drei Kategorien aufgeteilt, die als Dummy-Variablen in das Modell integriert werden. Um
ähnliche Gruppengrößen zu erreichen, wurden Befragte, denen der Wahlausgang „überhaupt
nicht wichtig“ bis „mittelmäßig“ wichtig ist als gering Involvierte kategorisiert, Befragte, denen
der Wahlausgang „wichtig“ ist als mittel Involvierte und Befragte, denen er „sehr wichtig“ ist
als politisch hoch Involvierte. Zusätzlich wurden das Geschlecht (1=männlich), das Alter sowie
das Vorliegen eines Abiturs als soziodemographische Kontrollvariablen der Parteiwahl aufgenommen.
5. Analyse
Abbildung 2 ruft die Dynamik des Meinungsklimas des Bundestagswahlkampfes 2013 in Erinnerung und vermittelt einen Eindruck der Datenstruktur und der bivariaten Zusammenhänge
zwischen Wahlabsichten im RCS und den in Sonntagsfragen veröffentlichten Anteilswerten der
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im Bundestag vertretenen Parteien.4 Die Union schwankte nur geringfügig bei 40%. Abgesehen
von regelmäßigen Abfällen bei der Veröffentlichung einer Umfrage des forsa-Instituts waren
auch die Werte der SPD auf niedrigerem Niveau weitgehend konstant. Die Zustimmungsraten
der beiden kleinen Parteien waren etwas volatiler. Die Linkspartei konnte im Verlauf des Wahlkampfes an Zuspruch gewinnen während die Grünen von anfangs etwa 14% mit der Zeit auf
Anteilwerte unter 10% fielen. Die stärkeren Schwankungen der Wahlabsichten unter den RCSBefragten sind auf den großen Zufallsfehler durch die geringen täglichen Fallzahlen in der RCSStichprobe zurückzuführen, die auch nach einer Glättung noch erkennbar sind.
Da die vergangene Bundestagswahl anders als die Wahlkämpfe 2002 und 2005 nicht
von markanten Umschwüngen des Meinungsklimas gekennzeichnet waren und zugleich die
Wahlabsichten der RCS-Befragten stark fluktuieren, lässt die graphische Betrachtung statistische Zusammenhänge unwahrscheinlich erscheinen. Zudem ist zumindest mit dem bloßen Auge
nicht zu erkennen, dass die RCS-Wahlabsichten den veröffentlichten Sonntagsfragen wie vermutet zeitlich leicht verzögert nachlaufen würden. Vielmehr zeigt sich für die Grünen im RCSSample um Feldtag 20 ein kurzzeitiges Zustimmungshoch, das in den veröffentlichten Sonntagsfragen keine Entsprechung findet. Stärker im Gleichklang bewegen sich dem Augenschein
nach die Umfragewerte und RCS-Wahlabsichten für die Linkspartei. Letztlich können aber nur
statistische Analysen Aufschlüsse über die Zusammenhänge zwischen Wahlabsicht und Umfragewerten geben.
– Abbildung 2 etwa hier –
4
Die Wahlabsicht der RCS-Befragten wurde lowess-geglättet. Es wurde ein sozial- und regionalstrukturelles Gewicht mit Transformationsgewichtung angewendet.
15
Tabelle 1 zeigt eine Auswahl relevanter Variablen aus den Ergebnissen der Pfadanalyse (die umfangreiche Regressionstabelle des Gesamtmodells ist im Online-Anhang zu finden), die auf zwei Modellen –mit und ohne Interaktionstermen– beruhen.5 Weil die angegebenen Regressionskoeffizienten auf
unterschiedlichen Schätzverfahren beruhen ist eine Interpretation relativer Effektstärken schwierig. Relevanter für unsere Fragestellung ist ohnehin zunächst, ob Sonntagsfragen überhaupt einen statistisch von
null unterscheidbaren Einfluss auf die Einstellungen und das Verhalten der Wähler ausüben. Unseren
Hypothesen zufolge sollten alle angegebenen Regressionskoeffizienten positiv und statistisch signifikant
sein. Ein flüchtiger Blick auf Tabelle 1 verdeutlicht, dass die formulierten Hypothesen nicht durchgehend
bestätigt werden können. Nur eine Minderheit der Koeffizienten erreicht die Schwelle üblicher Signifikanzniveaus. Bei der Vielzahl der überprüften Paramater sind schon aus statistischen Gründen einige
fälschlicherweise statistische signifikante Befunde zu erwarten, die Zahl signifikanter Parameter liegt
jedoch deutlich über dem Anteil zu erwartender „Scheinbefunde“. Vor allem aber lassen sich deutliche
Muster erkennen: Bei den großen Volksparteien lassen sich mit einer Ausnahme keine statistisch signifikanten Zusammenhänge zwischen den in Sonntagsfragen veröffentlichten Anteilswerten der Parteien und
den politischen Einstellung der RCS-Befragten erkennen, was angesichts des konstanten Meinungsklimas
gegenüber SPD und Union im Verlauf des Wahlkampfes zu erwarten war. Das Auf und Ab der kleineren
Parteien in den Sonntagsfragen hat jedoch auf die Einstellungen der Wähler gegenüber Linke und Grüne
abgefärbt.
– Tabelle 1 etwa hier –
Während sich für alle Parteien Projektionseffekte nachweisen lassen und Befragte den Parteien, die sie
positiver beurteilen, bei der Wahl auch bessere Erfolgsaussichten einräumen, lassen sich entgegen früherer Befunde bei der Bundestagswahl 2013 keine Hinweise auf einen Einfluss von Sonntagsfragen auf die
erwartete Regierungszusammensetzung erkennen. Möglicherweise lässt sich dieser Befund als Singularität erklären, die sich aus dem ereignisarmen Wahlkampf ergibt, in dessen Verlauf konstant eine übergroße
Mehrheit der Wähler von einer Wiederwahl Angela Merkels ausging.6 Auch Personen mit hohem Interesse am politischen Geschehen wurden in ihren Erwartungen über den Wahlausgang nicht von aktuellen
Sonntagsfragen beeinflusst. Hypothese 1b muss daher verworfen werden. Bestätigt werden kann die Annahme, dass Personen, die vom Wahlsieg einer Partei ausgehen, diese –mit Ausnahme der Linkspartei–
auch eher wählen wollen (Hypothese 1a). Dieser Befund wird in der Literatur häufig als Beleg für einen
Bandwagon-Effekt im Sinne der Mitläufer-Hypothese interpretiert (z.B. Huber, Gschwend, Meffert et al.,
2009, S. 580). Dabei mag es sich jedoch auch um einen Methodenartefakt handeln, das sich aus einer
unzureichenden Kontrolle um Projektionseffekte ergibt. Zumindest aber ist es für sich genommen kein
Hinweis auf einen durch die Wahrnehmung von Umfragen ausgelösten Bandwagon-Effekt, da der Zu5
Die Analyse musste ungewichtet vorgenommen werden, da Stata 13.1 für das angewendete Verfahren keine Gewichtung zulässt.
6
Über drei Viertel aller Befragten gingen von einer unionsgeführten Bundesregierung nach der Bundestagswahl aus.
Diese Erwartung blieb über den Befragungszeitraum weitgehend konstant.
16
sammenhang zwischen Wahlabsicht und Regierungserwartung unabhängig von Umfragewirkungen auftritt. Hypothese 1 muss daher verworfen werden.
Während ein durch Sonntagsfragen ausgelöster Mitläufereffekt für die Bundestagswahl 2013
nicht nachgewiesen werden kann, ist die empirische Evidenz für Umfrageeffekte, die über Präferenzen
vermittelt auf das Wahlverhalten wirken, stärker. Wie der sozialpsychologische Ansatz der Wahlforschung vermuten lässt, wirken die Kandidaten- und die Sachfrageorientierung auf das Wahlverhalten
(Hypothese 2b). Diese Einstellungen werden wiederum durch wahrgenommene Sonntagsfragen beeinflusst. Schwankungen in den Umfragewerten von Grünen und Linken schlagen sich in den subjektiv empfundenen Lösungskompetenzen dieser Parteien nieder. Nimmt ein Wähler wahr, dass diese Parteien in
den Umfragen steigen oder fallen, traut er ihnen stärker respektive weniger stark zu, die anstehenden
Probleme des Landes zu lösen. Für die SPD gilt dieser Zusammenhang nur für politisch mittel und hoch
Involvierte Personen. Auf die Beurteilung des Spitzenkandidaten weist die Wahrnehmung von Umfragen
nur im Fall der Grünen einen statistisch von Null unterscheidbaren Effekt auf.
Kann nun davon gesprochen werden, dass die Wahrnehmung von Wahlumfragen die Wahlabsicht
beeinflusst? Für die beiden Volksparteien ist ein solcher Effekt nicht festzustellen, für die kleinen Parteien lässt sich die Frage dagegen bejahen (siehe Tabelle 1, Gesamteffekte). Sowohl für die Linkspartei als
auch für Bündnis90/Grüne beeinflusst die Wahrnehmung veröffentlichter Sonntagsfragen –vermittelt über
die Bewertung des politischen Angebots der Parteien– die Neigung für eine der beiden Parteien zu stimmen. Der Gesamteffekt ist für beide Parteien auf dem 99%-Niveau statistisch signifikant. Demoskopische
Prognosen, die das Bild eines Aufwärtstrends der Linkspartei gezeichnet haben, haben also ihrerseits
selbst zu dieser Dynamik beigetragen und das Erstarken der Linkspartei beflügelt. Die Grünen sind dagegen durch die Veröffentlichung ungünstiger Umfragewerte in einen Abwärtsstrom geraten. Mit dem
schlechteren Abschneiden in den demoskopischen Prognosen verloren die Wähler sowohl das Zutrauen in
die Lösungskompetenz der Grünen und bewerteten auch ihren Spitzenkandidat weniger positiv.
Ginge der Bandwagon-Effekt auf die Konsens-Heuristik zurück, sollten Einflüsse insbesondere
unter politisch gering Involvierten auftreten (Hypothese 2a), wäre der Cognitive Response Mechanismus
am Werk, wären positive Umfragewirkungen unter mittel Involvierten zu erwarten (Hypothese 3a) während Umfragen unter hoch Involvierten folgenlos bleiben oder negativ auf die Parteipräferenzen wirken
sollten (Hypothese 3b). Die Interaktionsterme aus Sonntagsfragen und politischer Involvierung sollten
also statistisch signifikant positiv sein, tatsächlich sind die in den meisten Fällen statistisch nicht von null
zu unterscheiden. Einzig in der Wirkung von Sonntagsfragen auf die wahrgenommene Lösungskompetenz von SPD und Grünen lassen sich relevante Subgruppenunterschiede ausmachen. Entgegen unserer
Annahmen wirken hier Sonntagsfragen aber besonders stark unter politisch hoch Involvierten. Die Hypothesen 2a, 3a und 3b müssen daher verworfen werden.
17
6. Fazit
Am Beispiel des Bandwagon-Effektes wurde die Wirkung von Sonntagsfragen auf individuelle Einstellungen und Erwartungen sowie Wahlabsichten im Rahmen einer Mehrebenen-Pfadanalyse untersucht. Für
die Bundestagswahl 2013 konnte gezeigt werden, dass die Wahrnehmung demoskopischer Prognosen
einen Einfluss auf das beabsichtigte Wahlverhalten ausübte, jedoch lediglich in der Neigung für eine der
beiden kleinen, im Bundestag vertretenen Parteien zu stimmen. Nutznießer des Bandwagon-Effektes war
dabei die Linkspartei, während der in den letzten Wahlkampfwochen einsetzende Abwärtstrend der Grünen durch die Publikation von Sonntagsfragen nochmals verstärkt wurde. Das Wählerverhalten gegenüber
den beiden Volksparteien blieb dagegen von Umfragewirkungen unbeeinflusst, was mutmaßlich auch auf
die geringe Dynamik der Wahlabsichten gegenüber SPD und CDU im ereignisarmen Bundestagswahlkampf 2013 zurückzuführen ist. Es ist denkbar, dass Bandwagon-Effekte in stärkerem Maße auftreten und
dann auch die Volksparteien erfassen, wenn sich wie 2002 und 2005 die öffentliche Meinung im Zuge der
Wahlkampagne stärker dreht als dies im vergangenen Wahlkampf der Fall war.
Die Pfadanalyse offenbart einen Bandwagon-Effekt, obwohl das Untersuchungsdesign Umfrageeffekte eher unterschätzt. Erstens sind Wähler mit bundespolitischen Angelegenheiten grundsätzlich
vertrauter als mit Vorgängen auf kommunaler oder Landesebene. Zweitens blieben kumulative Einflüsse
unberücksichtigt, da wir nur Effekte auf politische Einstellungen einen Tag nach Veröffentlichung einer
Umfrage in den Blick genommen haben. Damit wurden auch indirekte Effekte über eine veränderte Medienberichterstattung oder angepasstes Verhalten der politischen Elite nicht erfasst. Viertens wurden
Schwankungen der öffentlichen Meinung nur in kurzfristiger Perspektive untersucht. Langfristige Veränderungen des Meinungsklimas im Sinne der Schweigespirale Noelle-Neumanns blieben ebenso Wirkungen unberücksichtigt.
Diesen Befunden liegt die Annahme zu Grunde, dass sich die Zusammenhänge der untersuchten
Merkmale der RCS-Befragten mit den zugespielten Sonntagsfragen als kausale Wirkung interpretieren
lassen. Begründet wurde diese Annahme mit dem unterschiedlichen Informationskontext der RCSBefragten und den Stichprobeneinheiten der beigespielten Sonntagsfragen sowie den unterschiedlichen
Feld- und Verarbeitungszeiten der demoskopischen Institute. Limitationen in der Interpretation der Befunde ergeben sich zudem aus dem Umstand, dass Wahlabsichten und nicht berichtetes tatsächliches Verhalten untersucht wurden. Weiterhin könnte der Befund eines nicht-existenten Einflusses von Sonntagsfragen auf die Erwartungsbildung auf die Operationalisierung über die dichotome Variable der erwarteten
Regierungsbeteiligung einer Partei zurückzuführen sein. Durch den hier gewählten pfadanalytischen
Untersuchungsansatz sollte in methodischer Hinsicht zur bestehenden Forschungsliteratur ein Beitrag
geleistet werden, indem der mehrstufige Prozess der kognitiven Verarbeitung von Sonntagsfragen statistisch adäquat abgebildet wird. Das pfadanalytische Forschungsdesign konnte offenlegen, dass zumindest
bei der Bundestagswahl 2013 nicht, wie gelegentlich vermutet, die Erwartung über den Wahlausgang die
treibende Kraft hinter dem Bandwagon-Effekt darstellt; vielmehr wird der Effekt von Sonntagsfragen auf
das Wahlverhalten über geänderte politische Einstellungen gegenüber den Parteien vermittelt. Diese Wir-
18
kung entfaltet sich jedoch nicht subgruppenspezifisch entsprechend der Theorie des unpersönlichen Einflusses, sodass die in dieser Arbeit durchgeführten Tests vorherrschender Erklärungsansätze von Umfrageeffekten auch auf weiteren Forschungsbedarf verweisen und beispielsweise Replikationen zu Wahlen
mit größeren Dynamik in der öffentlichen Meinung sinnvoll erscheinen lassen. Auch könnten hier nicht
untersuchen Hypothesen von Umfrageeffekten angewendet werden, gerade auch im Hinblick auf strategisches Wählen, mit dem vorgeschlagenen Ansatz in den Blick genommen werden. Zum anderen bedürfen
die hier getroffenen impliziten Annahmen näherer empirischer Untersuchung. So ist beispielsweise denkbar, dass nicht alle Sonntagsfragen gleicherweise, sondern nur die Prognosen mancher Institute eine Wirkung zeigen. Auf individueller Ebene wäre zu prüfen, ob Wähler in Abhängigkeit von individuellen Prädispositionen unterschiedlich lange Zeit benötigen, um Sonntagsfragen wahrzunehmen und zu verarbeiten. Wünschenswert wären auch Untersuchungen zur Wirkung von Sonntagsfragen bei Nebenwahlen.
19
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23
7. Tabellen
Tabelle 1. Ergebnisse der Pfadanalyse (Auswahl relevanter Variablen)
Union
SPD
Grüne
Linke
Regierungserwartung
-4.361
1.308
4.821
-1.593
(4.195)
(1.941)
(3.102)
(4.769)
0.091*** 0.381***
0.163***
0.118***
Kandidat
(0.012)
(0.066)
(0.016)
(0.018)
0.787***
0.069***
0.349*
0.466***
Issues
(0.104)
(0.010)
(0.143)
(0.118)
Polls*Politisches Interesse
4.961
0.551
-4.774†
1.647
(4.006)
(2.067)
(2.847)
(1.222)
Wahlverhalten
Kandidat
0.383***
0.180***
0.310***
0.429***
(0.030)
(0.021)
(0.027)
(0.043)
Issues
1.569***
1.414***
1.570***
2.218***
(0.097)
(0.097)
(0.167)
(0.204)
Regierungserwartung
0.406**
0.295**
0.361*
-0.165
(0.156)
(0.093)
(0.140)
(0.379)
Issues
Polls
0.983
4.777
10.576**
17.864**
(3.787)
(3.058)
(4.092)
(6.660)
Polls*Involvierung (gering)
0.701
-15.890*
-23.442*
5.152
(9.815)
(6.729)
(11.272)
(17.132)
Polls*Involvierun -10.772
-3.603
0.525
-6.750
g (mittel)
(8.355)
(5.808)
(9.084)
(8.755)
Kandidat
Polls
0.465
4.366
6.848**
7.504†
(3.716)
(3.385)
(2.182)
(3.876)
Polls*Involvierung (gering) -9.336
-7.128
6.563
-6.290
(9.337)
(6.058)
(5.675)
(8.859)
Polls*Involvierung (mittel) -6.954
-0.048
1.391
0.502
(8.365)
(5.376)
(4.929)
(9.851)
Gesamteffekte
Polls->Präferenzen->Wahl
1.720
7.543
18.734**
42.841**
(6.274)
(4.654)
(6.758)
(15.401)
Polls->Erwartung->Wahl
-1.771
0.360
1.740
0.262
(1.834)
(0.585)
(1.323)
(0.995)
Angegeben sind unstandardisierte Regressionskoeffizienten. Die Koeffizienten der Sonntagsfragen sowie die berechneten Gesamteffekte beruhen auf dem Modell ohne Interaktionsterme. Signifikanzniveaus: ***: p<0,001; **: p<0,01; *: p<0,05; †: p<0,1.
Polls
24
8. Abbildungen
Sonntagsfragen *
politisches
Interesse
Sonntagsfragen
Sonntagsfragen *
mittlere
Involvierung
Sonntagsfragen *
hohe
Involvierung
Politisches
Interesse
Geschlecht
Lösungskompetenz
Parteiidentifikation
Regierungserwartung
Wahl
Mittlere
Involvierung
Kandidat
Hohe
Involvierung
Alter
Abitur
Abbildung 1. Pfaddiagramm
Dichotome endogene Variablen sind durch Ellipsen gekennzeichnet. Pfade in Fettdruck kennzeichnen direkte und indirekte
Einflüsse von Sonntagsfragen. Die gewählte horizontale Anordnung der exogenen Variablen dient der Übersichtlichkeit und ist
nicht im Sinne einer zeitlichen oder kausalen Abfolge zu verstehen.
25
Abbildung 2. Entwicklung der Wahlabsicht
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