Kritische Bemerkungen zum geplanten Bundeswettbewerbsgericht Prof. Dr. Carl Baudenbacher Als der Verfasser des Beitrags im Frühjahr 2011 eingeladen war, vor der Europadelegation der Eidgenössischen Räte über die schweizerische Europapolitik zu sprechen, traf er im Bundeshaus einen hohen Beamten. Auf die Frage, ob man mit den Bemühungen zur Professionalisierung der Wettbewerbskommission vorwärts gekommen sei, antwortete dieser mit leuchtenden Augen: «Das Problem stellt sich nicht mehr. Wir schaffen ein Bundeswettbewerbsgericht!» Inhaltsübersicht A. Der bundesrätliche Vorschlag vom 30. Juni 2010 B. Verhältnis zum geltenden Modell C. Zusammensetzung der WEKO: Der grosse Zankapfel 1. Rückblick I: KG 1962 2. Rückblick II: KG 1985 3. Geltendes Recht D. Der Weg zum Projekt Bundesverwaltungsgericht 1. Evaluation des KG 2008/2009 2. Die dreiköpfige Projektgruppe und die Verbände 3. Das WEKO-Modell wird schlechtgeredet E. Vernehmlassung 1. Das Bundeswettbewerbsgericht stösst auf (fast) einhellige Zustimmung der Wirtschaft... 2. ... wird aber von den politischen Parteien und wichtigen Meinungsträgern abgelehnt F. Das Projekt Bundeswettbewerbsgericht ist unausgegoren 1. Unüberzeugendes Rechtsstaatlichkeitsargument 2. Fehlende wissenschaftliche Fundierung 3. Schwächung der Rechtsdurchsetzung 4. Ein neuer Sonderfall Schweiz in Europa G. Schlussfolgerungen 1. Die gerichtliche Kontrolle der Sanktionspraxis der WEKO funktioniert 2. Der Systemwechsel ist abzulehnen 3. Die WEKO ist zu professionalisieren 4. Im Bundesverwaltungsgericht müssen nebenamtliche Fachrichter mit ökonomischem Hintergrund Einsitz nehmen Exkurs: Zur Motion Schweiger Seite 1 von 26 A. Der bundesrätliche Vorschlag vom 30. Juni 2010 ^ [Rz 1] Tatsächlich gab der Bundesrat am 30. Juni 2010 ein Modell der Kartellrechtsdurchsetzung in die Vernehmlassung, das auf einem vollkommenen Systemwechsel fusst. Zum Wettbewerbskommission zu einen einer will er das eigenständigen, heutige von Sekretariat Politik und der Wirtschaft unabhängigen Wettbewerbsbehörde umgestalten, welche die Untersuchungen führt1. Zum anderen soll «aus Ressourcen der heutigen WEKO und den heute mit Kartellrechtsfragen befassten Richterinnen und Richtern des Bundesverwaltungsgerichts gemeinsam ein neues, von der Wettbewerbsbehörde getrenntes Bundeswettbewerbsgericht gebildet werden, welches bei Abreden und Fällen von Marktmachtmissbrauch die Entscheidfunktion und Sanktionsbemessung übernimmt»2. Bei diesen Sachverhalten soll die Wettbewerbsbehörde vor dem Bundeswettbewerbsgericht Antrag stellen können. In Fusionsfällen soll die Wettbewerbsbehörde die erstinstanzlichen Verwaltungsentscheide fällen. Neben wenigen hauptamtlichen Richtern soll das administrativ dem Bundesverwaltungsgericht zuzuordnende Bundeswettbewerbsgericht «einen Pool aus nebenamtlichen Fachrichterinnen und Fachrichtern auch mit Praxiserfahrung umfassen» 3. Gegen Urteile des Wettbewerbsgerichts stehe der Beschwerdeweg an das Bundesgericht offen. Das Bundeswettbewerbsgericht soll volle Kognition haben. Der Präsident der WEKO hat zutreffend darauf hingewiesen, dass dieses System der Rechtsdurchsetzung i.W. aus dem amerikanischen Recht stammt4. [Rz 2] Der Bundesrat behauptet, das neue Modell werde zu einer Beschleunigung des Rechtsmittelweges führen und die Rechtsstaatlichkeit dadurch verbessern, dass Untersuchung und Antrag einerseits und Entscheid und Sanktionsbemessung andererseits getrennt würden5. Überdies würden die Ressourcen optimal eingesetzt, denn das Wettbewerbsgericht werde «aus den Ressourcen der heutigen WEKO und den heute mit Kartellrechtsfragen befassten Richterinnen und Richtern des Bundesverwaltungsgerichts» gebildet6. Seite 2 von 26 B. Verhältnis zum geltenden Modell ^ [Rz 3] Es gibt auf der Welt zwei grosse Rechtsfamilien, wenn es um die Durchsetzung des Kartellrechts geht: Die europäische und die US-amerikanische7. In den USA führen die Wettbewerbsbehörden die Untersuchungen durch und klagen dann als mit den Unternehmen gleichberechtigte Partei vor einer judiziellen Instanz mit dem Ziel, den Prozess zu gewinnen. Die Federal Trade Commission erscheint mit ihrem Complaint Counsel vor einem Administrative Law Judge und bringt Zivilklagen vor die Gerichte. Die Antitrust Division des Justizdepartements erhebt Straf- und Zivilklagen vor Gerichten. Das europäische Modell kennt demgegenüber eine spezialisierte Wettbewerbsbehörde, welche den Fall untersucht und über ihn entscheidet. Gegen diese Entscheidung kann bei einem Gericht geklagt werden. Das Grundmodell besteht darin, dass das Wettbewerbsamt Untersuchungs- und Entscheidungsbehörde in einem ist (Bsp.: Deutschland). In mehreren Ländern besteht jedoch eine Untersuchungsbehörde, welche ihre Fälle vor eine spezialisierte Wettbewerbsbehörde bringt (Bsp.: Niederlande). [Rz 4] Die Schweiz hat 1962 im Grundsatz das europäische Modell übernommen. Ein Kartellgesetz, das seinen Namen verdient, besteht allerdings erst seit 1995 8. Trotz schwieriger verfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen gelang es damals, ein QuasiKartellverbot, ein Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung und eine Fusionskontrolle zu verankern. Die Rechtsdurchsetzung wurde einer Wettbewerbskommission (WEKO) übertragen, gegen deren Entscheidungen die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht Bundesverwaltungsgerichts können mit offen steht. öffentlich-rechtlicher Urteile Beschwerde des beim Bundesgericht angefochten werden. Die WEKO wurde als zweistufige Behörde strukturiert mit einem sog. Sekretariat als Einheit, welche die Untersuchungen vornimmt und der Kommission im engeren Sinne, welche die Entscheidungen trifft. [Rz 5] Der Erfolg des Jahres 1995 war auf besonders günstige Begleitumstände zurückzuführen. Bei einem Beitritt zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) hätte für die Schweiz das nach EU-Vorbild ausgestaltete EWRWettbewerbsrecht gegolten. Nach dem Scheitern der EWR-Vorlage in der Volksabstimmung vom 6. Dezember 1992 lancierte die Regierung ein sog. Seite 3 von 26 Revitalisierungsprogramm für die Wirtschaft («Programm zur Überwindung der wirtschaftlichen Auswirkungen des EWR-Neins»), dessen Herzstück das Kartellgesetz war. Mit Botschafter Dr. Marino Baldi wurde ein konzeptionell denkender, auch international erfahrener Mann mit der Erarbeitung des Entwurfs betraut. Als Schweizer Vertreter bei der OECD und Unterhändler zum Wettbewerbsrecht bei den EWRVerhandlungen hatte er einen profunden Einblick in das Europäische Wettbewerbsrecht gewonnen9. Trotzdem musste der für schweizerische Verhältnisse grosse Wurf erkämpft werden. Der Dachverband der Wirtschaft (damals noch «Vorort») hatte sich bereits gegen das EWR-Kartellrecht gewandt und stand auch dem KG-Projekt ablehnend gegenüber. Wirtschaftsminister Insofern Jean-Pascal war entscheidend, Delamuraz dass zusammen sich der damalige mit einflussreichen Parlamentariern hinter die Reform stellte und gegen diese gerichtete Angriffe abwehrte. Bei den Schlüsselbegriffen und –konzepten orienterte man sich klar am EU-Recht. C. Zusammensetzung der WEKO: Der grosse Zankapfel ^ 1. Rückblick I: KG 1962 ^ [Rz 6] Recht wird von Menschen angewandt. Es kommt deshalb nicht nur auf die Ausgestaltung des materiellen Rechts an, sondern auch (und nach der hier vertretenen Auffassung vor allem) auf die Zusammensetzung des Gremiums, welches die Entscheidungen trifft. Diese Frage hat seit den Anfängen des schweizerischen Kartellrechts Ende der 1950er Jahre eine zentrale Rolle gespielt. Unter dem KG 1962 fungierte die damalige nebenamtliche Kartellkommission als eine Art gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Diskussionsforumsforum10. Der Kartellkommission gehörten 8 Verbandsvertreter an, je einer des «Vororts» (heute Gewerbeverbandes, des Verbandes economiesuisse), des ostschweizerischer landwirtschaftlicher Genossenschaften, des Gewerkschaftsbundes, der Alliance des sociétés féminines suisses, der Migros, des Verbands schweizerischer Konsumvereine und der Firma Geigy AG. Hinzu kamen 7 unabhängige Mitglieder (Vertreter der Wissenschaft). Die Kartellkommission hatte keine Verfügungs- sondern nur Empfehlungskompetenz. Nicht einmal das EVD war verfügungsbefugt, es konnte nach Art. 22 KG 1962 lediglich verwaltungsrechtliche Klage beim Bundesgericht erheben. Die Vorschrift blieb (was Seite 4 von 26 wohl beabsichtigt war) toter Buchstabe. Damit waren so viele institutionelle Bremsen eingebaut, dass sich eine griffige Wettbewerbspolitik a priori nicht entwickeln konnte. Im materiellen Recht sollte das Konzept des möglichen Wettbewerbs massgeblich sein. Danach wurden Kartelle so lange toleriert als ein Aussenseiter die Möglichkeit hatte, den Wettbewerb aufzunehmen. Allerdings wurde nicht einmal dieses Minimalprogramm durchgehalten. Das Konzept des möglichen Wettbewerbs wurde durch die sog. Saldomethode ersetzt, welche die Vorteile und Nachteile von Kartellen gegeneinander abwog, wobei Wettbewerb nur eine Position neben vielen anderen war 11. Unter dem Strich waren das institutionelle Setting, das materielle Recht und das Verfahrensrecht im Gleichklang. Alles war darauf gerichtet, eine effiziente Wettbewerbspolitik zu verhindern. 2. Rückblick II: KG 1985 ^ [Rz 7] Das KG 1985 brachte nur geringe Fortschritte. Die Struktur der nebenamtlichen Kartellkommission blieb unverändert. Die Mehrheit musste aber aus unabhängigen Mitgliedern bestehen. Der Kartellkommission wurde nach wie vor keine Verfügungskompetenz eingeräumt, es blieb bei der Empfehlungskompetenz. Das Bundesgericht sprach im Jahre 1991 von einem «partnerschaftlichen Modell» der Rechtsanwendung12. Immerhin wurde neu dem EVD eine Verfügungskompetenz eingeräumt. Für den Fall, dass ihre Empfehlungen nicht angenommen wurden, konnte die Kartellkommission beim Departement den Erlass einer Verfügung beantragen. In den zehn Jahren der Geltung des KG 1985 erliess dieses zwei Verfügungen. Im materiellen Recht wurde das Konzept des wirksamen Wettbewerbs verankert. Das Parlament führte allerdings um das Verhältnis der angestammten Saldomethode zum Konzept des wirksamen Wettbewerbs einen regelrechten Eiertanz auf 13. Insgesamt muss man auch Verfahrensrecht hier sagen, und dass die institutionellen Parallelität Vorschriften von – materiellem auf einem Recht, leicht wettbewerbsfreundlicheren Niveau – erhalten blieb. Seite 5 von 26 3. Geltendes Recht ^ [Rz 8] Im KG 1995 erfolgte im materiellen Recht und im Verfahrensrecht der grosse Sprung nach vorn. Das Gesetz bezweckt nun den Schutz des wirksamen Wettbewerbs i.S. eines offenen Leitbildes14. [Rz 9] Der WEKO, wie sie nun heisst, wurde die Verfügungskompetenz eingeräumt. Ein Hauptmangel des Gesetzes von 1995, die fehlende Möglichkeit, unzulässige Wettbewerbsbeschränkungen direkt zu sanktionieren, wurde in einer ersten Folgereform im Jahre 2003 behoben15. Bis dahin konnte die Wettbewerbskommission lediglich in einem ersten Schritt durch Verfügung feststellen, dass ein Wettbewerbsverstoss vorlag. Erst wenn das unzulässige Verhalten unter Verletzung einer entsprechenden einvernehmlichen Regelung oder behördlichen Anordnung weiterhin praktiziert wurde, konnten in einem zweiten Schritt Sanktionen verhängt werden. Der Sinneswandel war nicht zuletzt eine Folge des Ausgangs der Untersuchung im Fall Vitamin-Kartell. In den USA und der EU war das global agierende Kartell mit Bussgeldern von $725 Millionen und EUR 850 Millionen belegt worden. Die Schweiz, in der die Kartellanführerin Hoffman LaRoche ihr Hauptquartier hat, ging leer aus. Die WEKO hatte ihre eigenen Abklärungen getroffen, war aber nicht in der Lage, Sanktionen auszusprechen16. Zusammen mit der Kompetenz der WEKO, Wettbewerbsverstösse direkt zu sanktionieren, wurde eine Bonus-Regelung eingeführt. Von strafrechtlichen Sanktionen sprach niemand. Damit näherte sich die Schweiz noch stärker dem europäischen Modell der Kartellrechtsdurchsetzung an. [Rz 10] Bezüglich der Zusammensetzung der Wettbewerbskommission setzte sich der Reformwille 1994/95 allerdings nicht durch. Nach Art. 18 KG besteht die vom Bundesrat zu bestellende Wettbewerbskommission aus 11 bis 15 Mitgliedern, deren Mehrheit unabhängige Sachverständige sein müssen. Das heisst, dass der Kommission auch Lobbyisten angehören dürfen. Alle Kommissionsmitglieder üben ihre Aufgabe nebenamtlich aus. Zwar war im Vorfeld der Reform von 1995 eine unabhängige WEKO mit sieben Mitgliedern geplant gewesen. Die Verbände leisteten aber heftige Gegenwehr, dem die Politik nicht zu widerstehen vermochte. 1995 musste man ein gewisses Verständnis dafür aufbringen, dass der dossierführende Bundesrat Delamuraz das Fuder angesichts der Widerstände gegen die Reform des materiellen Seite 6 von 26 Rechts und des Verfahrensrechts nicht überladen wollte. 2003 war hingegen das Nachgeben seines Nachfolgers Couchepin im Vorfeld des parlamentarischen Verfahrens enttäuschend. Auch damals gab es einen Vorstoss, die Einsitznahme von Interessenvertretern in der WEKO zu untersagen. Zurzeit gehören der WEKO sieben unabhängige Mitglieder (Hochschullehrer[innen] der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften) und je ein Vertreter des Dachverbands der Wirtschaft economiesuisse, des Bauernverbandes, des Gewerbeverbandes, des Gewerkschaftsbundes und der Konsumentenorganisationen an. [Rz 11] Nach den grossen Reformen der Jahre 1995 und 2003 besteht die Parallelität von materiellem Recht, Verfahrensrecht und Institutionen nicht mehr. D. Der Weg zum Projekt Bundesverwaltungsgericht ^ 1. Evaluation des KG 2008/2009 ^ [Rz 12] Nach Art 59a KG hat der Bundesrat die Wirksamheit der Massnahmen und des Vollzugs des Gesetzes zu evaluieren und dem Parlament spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten Bericht zu erstatten und Vorschläge für das weitere Vorgehen zu unterbreiten. Dazu wurde eine Steuerungsgruppe eingesetzt 17, die verschiedene Gutachten einholte. Der Verfasser dieser Zeilen hatte die Ehre, u.a. die Fragen des institutionellen Setting zu untersuchen18. Er gab die folgenden Handlungsempfehlungen ab: (1) Verkleinerung auf 5 oder 3 Mitglieder und Professionalisierung der Wettbewerbskommission; (2) Ausgestaltung des Präsidiums als Vollamt; (3) Abschaffung des Instituts der Interessenvertreter; (4) Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen zur Gewinnung von Spitzenkräften für die neue Wettbewerbskommission; (5) Wahl (auch) von Ausländern als Mitglieder der Wettbewerbskommission; (6) öffentliche Ausschreibung der Stellen; (7) Sicherung der Unabhängigkeit gegenüber der Politik; (8) Strukturierung der Wettbewerbskommission als einstufige Behörde19. [Rz 13] Die Evaluationsgruppe schlug in ihrem Synthesebericht i.W. gestützt auf diesen Befund vor, die Wettbewerbskommission zu professionalisieren und auf 3–5 Mitglieder Seite 7 von 26 zu reduzieren. Verbandsvertreter sollten der Kommission nicht mehr angehören 20. Der Bericht des Bundesrates über die Evaluation vom 25. März 2009 schloss sich diesen Folgerungen an21. 2. Die dreiköpfige Projektgruppe und die Verbände ^ [Rz 14] Im April 2009 setzte das EDV eine dreiköpfige Projektgruppe, bestehend aus dem Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO), Prof. Dr. Aymo Brunetti, dem Genfer Professor Dr. Christian Bovet und dem Direktor des Sekretariats der Wettbewerbskommission Rafael Corazza ein, die zur Umsetzung der in der Evaluation vorgeschlagenen institutionellen Reformen Lösungsvarianten erarbeitete22. Im August und September 2009 wurden diese Vorschläge ausgerechnet denjenigen Interessengruppen in Anhörungen vorgestellt, die derzeit Einsitz in der Wettbewerbskommission haben, sowie weiteren Organisationen, «die sich besonders aktiv an der politischen Diskussion in Fragen des KG beteiligten»23. Damit wurde den Interessenvertretern bereits in dieser VorVernehmlassung die Frage gestellt: Stimmt Ihr Eurer Abschaffung zu? Die verspürten, wie nicht anders zu erwarten war, wenig Lust auf Suizid, sondern meldeten «bedeutenden Widerstand» an24. Die dreiköpfige Arbeitsgruppe zog daraus die Konsequenz, dass eine Lösung zu suchen sei, bei der keine Interessenvertreter im Entscheidungsgremium sitzen würden. Das sollte mit dem Wettbewerbsgericht erreicht werden, dem in Analogie zu den Handelsgerichten auch praxiserfahrene Fachrichter angehören sollten. Nun mag man sich, vor allem wenn man bei der Evaluation aktiv involviert war, die Frage stellen, wie die Arbeitsgruppe auf diese Idee, die einen radikalen Bruch mit der geltenden Durchsetzungsordnung bedeuten würde, gekommen ist. Hier hilft ein Blick in ein Papier des Dachverbandes der Wirtschaft economiesuisse vom vom 16. März 2009. Darin wird der Gedanke eines Systemwechsels mit den folgenden Worten lanciert: «Aus der Sicht der Wirtschaft ist die Etablierung eines Kartellgerichts nach dem Modell der heute in der Schweiz in vier Kantonen bestehenden Handelsgerichte zu prüfen. Mindestens zwei vollamtlich tätige Kartellrichter würden das Präsidium und das Vizepräsidium stellen. Nebenamtlich würden acht Fachrichter amten, die ihre Fach- und Seite 8 von 26 Branchenkenntnisse einbringen. Die Zusammensetzung des (Fach-) Richtergremiums sollte paritätisch aus Interessenvertretern und Unabhängigen bestehen, wobei wie bisher den Wirtschaftsverbänden ebenso wie den Konsumentenorganisationen und Gewerkschaften ein Vorschlagsrecht zuzugestehen ist.» 25 [Rz 15] Von der Einigung auf einen Systemwechsel schienen alle Beteiligten ihren Nutzen zu haben. Das EVD glaubte einen Weg gefunden zu haben, die ungeliebten Verbandsvertreter loszuwerden. Professor Brunetti wies am Tag, an dem die Vorlage der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, ausdrücklich darauf hin, dass die Einsitznahme von Verbandsvertretern im Gericht ausgeschlossen sei26. Das Sekretariat der WEKO sah sich vor einer rosigen Zukunft. Es sollte nämlich zur neuen Wettbewerbsbehörde aufgewertet werden. Dass die Wirtschaftsverbände und insbesondere economiesuisse dem neuen Modell seinen Segen erteilten, erstaunt nicht weiter 27. Am 14. Oktober 2010 verkündete der Dachverband im Anschluss an eine von ihm veranstaltete Tagung vollmundig, es bestehe «Konsens zu den vorgeschlagenen institutionellen Veränderungen im Kartellrecht»28. [Rz 16] Im Frühjahr 2010 wurde die Vorlage ausgearbeitet, die am 30. Juni 2010 in die Vernehmlassung ging. Das war die Zeit, als der Verfasser den eingangs genannten Spitzenbeamten des EVD traf. 3. Das WEKO-Modell wird schlechtgeredet ^ [Rz 17] Um den Systemwechsel besser verkaufen zu können, fühlte sich der Bundesrat in seinem Erläuternden Bericht bemüssigt, die von der Evaluationsgruppe vorgeschlagene Reform des heutigen Modells der WEKO, die er noch im Vorjahr begrüsst hatte, mit der Behauptung schlechtzureden, sie würde mehr Ressourcen erforderlich machen und eine Verkürzung der Verfahrensdauer verunmöglichen. Weiter wurde geltend gemacht, dieses Modell wäre aus rechtsstaatlicher Sicht nur dann akzeptabel, wenn im Hinblick auf die diskutierte Einführung von Strafsanktionen für natürliche Personen ein zweites Verfahren vorgesehen würde, das vor ein unabhängiges Gericht führte29. Seite 9 von 26 E. Vernehmlassung ^ 1. Das Bundeswettbewerbsgericht stösst auf (fast) einhellige Zustimmung der Wirtschaft ... ^ [Rz 18] Die Wirtschaftsverbände begrüssten die Vorlage, an deren Vorbereitung sie selbst wesentlichen Anteil Vernehmlassungsantworten hatten, stürmisch. müssen im Ein paar Folgenden Beispiele von genügen. Der Wirtschaftsdachverband economiesuisse lobte in seiner Stellungnahme vom 26. November 2010 die Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit der Verfahren, der Rechtssicherheit und des Bundeswettbewerbsgerichts Rechtsschutzes, verbunden seien. die mit Die der klare Einsetzung Trennung eines zwischen untersuchender Behörde und entscheidendem unabhängigem Gericht sei wichtiger als die Aspekte der Grösse und der «Professionalisierung» der Behörde. Der Ordnung halber ist darauf hinzuweisen, dass economiesuisse kurze Zeit zuvor, in einem Papier vom 16. März 2009, festgestellt hatte, es sei unbestritten, «dass die Rekursinstanz gegen WEKO-Entscheide, das Bundesverwaltungsgericht, eine richterliche Behörde ist (wie das Europäische Gericht Erster Instanz), die nach verbreiteter Meinung genügenden Rechtsschutz bietet»30. Der Verband behauptete weiter, mit dem neuen Modell stehe auch eine Verkürzung der Verfahren in Aussicht. Er war sogar bereit, auf die Einsitznahme in Bundeswettbewerbsgericht zu verzichten und stellte fest, aus «historischer Sicht» könne nachvollzogen werden, dass Verbandsangestellte nicht als Fachrichter amten könnten31. Ganz mochte der Dachverband aber nicht auf Einflussnahme verzichten. Er schlug vielmehr vor, es sei bei der Wettbewerbsbehörde ein Beratergremium nach dem Vorbild des österreichischen Rechts einzurichten.32 [Rz 19] Der Verband der Industrie- und Dienstleistungsholdings in der Schweiz, SwissHoldings, freute sich, dass «die verfahrensrechtlichen und institutionellen Garantien der EMRK» im Schweizer Kartellrecht umgesetzt würden. Für Interessenvertreter im Bundeswettbewerbsgericht gebe es keine Legitimation, doch sei vorstellbar, dass der neuen Wettbewerbsbehörde ein Beratungsgremium zur Seite gestellt wird, in dem Lobbyisten Einsitz nehmen könnten 33. Bauenschweiz, die Dachorganisation der Schweizer Bauwirtschaft, begrüsste die Einrichtung eines Wettbewerbsgerichts, forderte aber, dass Verbandsvertreter/innen von der Tätigkeit als Seite 10 von 26 Mitglied des Wettbewerbsgerichts keinesfalls ausgeschlossen sein dürften. Die Wettbewerbsbehörde sei in das EVD einzugliedern34. Die Arbeitsgruppe Schweiz der deutschen Studienvereinigung Kartellrecht bezeichnete die neue Organisation nicht nur als sachgerecht, sondern sogar als «rechtlich zwingend». Nur mit einer solchen Neuerung sei den Anforderungen der EMRK Rechnung zu tragen 35. Andere Anwälte reklamierten nicht nur, die Einrichtung eines Wettbewerbsgerichts sei «erforderlich, um das Kartellgesetz in Übereinstimmung mit der EMRK zu bringen». Die Schweiz habe mit der Schaffung eines unabhängigen Bundeswettbewerbsgerichts gar die EU überholt, deren institutionelle Struktur Art. 6 EMRK nicht gerecht werde36. [Rz 20] Immerhin gab Markenartikelindustrie es auch Promarca, Kritik. ein So Mitglied sprach von sich der Verband economiesuisse, für der eine Beibehaltung des bisherigen Modells aus, verlangte aber eine Professionalisierung der WEKO und das Ausscheiden der Interessenvertreter37. 2. ... wird aber von den politischen Parteien und wichtigen Meinungsträgern abgelehnt ^ [Rz 21] Trotz des erheblichen publizistischen Trommelfeuers lehnten die grossen politischen Parteien den Systemwechsel hingegen rundweg ab. Die Christlichdemokratische Volkspartei CVP befürchtet eine unnötige Justizialisierung und sachliche Entfremdung der Entscheidungen und eine Verlängerung der Verfahren 38. FPD/Die Liberalen teilt die zuletzt genannte Auffassung und nennt als Voraussetzung für eine starke Wettbewerbsbehörde «vor allem ausreichenden ökonomischen Sachverstand innerhalb des für die Sanktion zuständigen Gremiums» 39. Die Sozialdemokratische Partei SP erachtet es zur Stärkung des Wettbewerbs als «richtig und wichtig, dass die Wettbewerbskommission wie bisher sowohl strategische als auch rechtsanwendende Funktionen kohärent wahrnehmen kann» 40. Auch die Schweizerische Volkspartei SVP verwirft die «vorschnell wirkende Einsetzung einer neuen staatlichen Untersuchungsbehörde und eines neuen Bundeswettbewerbsgerichtes»41. Seite 11 von 26 [Rz 22] Der Schweizerische Gewerkschaftsbund bezeichnete eine Revision des Kartellgesetzes in seiner Vernehmlassungsantwort vom 15. November 2010 als nicht notwendig. Die Einsetzung eines Bundeswettbewerbsgerichts würde die Wettbewerbspolitik im Bereich harter Kartelle schwächen. Es sei kein Wunder, dass Kartellanwälte die geplante Neuerung begrüssten. An der Einsitznahme von Verbandsvertretern in der WEKO will der SGB mit der (fragwürdigen) Begründung festhalten, die sogenannten unabhängigen Sachverständigen müssten häufiger in den Ausstand treten. Verbandsvertreter brächten grosses praktisches Wissen ein 42. [Rz 23] Am 8. November 2010 meldete der Präsident der WEKO, Prof. Dr. Vincent Martenet, Bedenken gegen die Schaffung eines Wettbewerbsgerichts an 43. In der NZZ vom 16. November 2010 äusserten sich die drei letzten Präsidenten der Wettbewerbskommission bzw. der früheren Kartellkommission, die Professoren Dr. Pierre Tercier, Dr. Roland von Büren und Dr. Walter Stoffel, ablehnend gegenüber der Schaffung eines Bundeswettbewerbsgerichts. Kritisiert wurde, dass der neuen Wettbewerbsbehörde aufgrund ihrer Rückführung in die Verwaltung die erforderliche Unabhängigkeit fehlen und dass die Effizienz der Rechtsdurchsetzung leiden werde, da das Bundeswettbewerbsgericht nur auf Antrag der (geschwächten) Wettbewerbskommission aktiv werden könne und sich das Verfahren komplizieren werde 44. F. Das Projekt Bundeswettbewerbsgericht ist unausgegoren ^ 1. Unüberzeugendes Rechtsstaatlichkeitsargument ^ [Rz 24] Dass der Systemwechsel durch Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verlangt wird, trifft nicht zu. Gemäss dieser Vorschrift hat jede Person ein Recht darauf, «dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird». Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 24. Februar 2010 i.S. Swisscom gegen WEKO (Terminierungspreise im Mobilfunk) das geltende Modell der Rechtsdurchsetzung Seite 12 von 26 ausdrücklich als mit Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK vereinbar bezeichnet. Unternehmen haben danach keinen Anspruch darauf, dass eine Bussgeldentscheidung bereits erstinstanzlich von einem Gericht i.S. dieser Vorschrift beurteilt wird. Es reicht vielmehr aus, dass die Sanktion durch eine gerichtliche Instanz mit voller Kognition überprüft werden kann, wobei die vom Bundesverwaltungsgericht ausgeübte Kognition den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK entspricht45. Das Bundesgericht hat diese Feststellungen nicht beanstandet46. [Rz 25] Das Bundesverwaltungsgericht hat auch die tendenziöse Diskussion der Frage, ob der Mangel der angeblich fehlenden organisatorisch-funktionellen Unabhängigkeit der WEKO «geheilt» werden kann47, zurückgewiesen: «Ist, wie hier, im innerstaatlichen Verhältnis nach der EMRK Rechtsschutz durch ein unabhängiges Gericht nur mindestens einmal zu gewährleisten [....], dann wäre es verfehlt, die den Anforderungen an ein Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht entsprechende Entscheidbehörde letztlich als ‹mangelhaft› verfasst hinzustellen, was sie ja wohl kaum sein kann, wenn deren Struktur innerstaatlich durch die Gesetzgebung positivrechtlich so vorgesehen ist und sich diese innerstaatliche Verfahrensordnung selbst nicht als EMRK-widrig erweist.»48 2. Fehlende wissenschaftliche Fundierung ^ [Rz 26] Das Modell von Wettbewerbsbehörde und Bundeswettbewerbsgericht ist ohne jede wissenschaftliche Grundlage lanciert worden. Die breit abgestützte Evaluation liefert für einen solchen Schluss nicht den geringsten Anhaltspunkt. Ein Expertenbericht wurde nicht erstellt. Die Behauptung, der Systemwechsel sei aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit, der Effizienz des Ressourceneinsatzes und der Verfahrensbeschleunigung geboten, ist unbelegt. Das Fehlen einer wissenschaftlichen Fundierung sticht auch deshalb ins Auge, weil die Bundesverwaltung für den zweiten Teil der Revision, die Umsetzung der Motion Schweiger betreffend die Sanktionierung natürlicher Personen/Unternehmen, richtigerweise eine Rechtsgutachten der Professoren Dr. Günter Heine von der Universität Bern und Dr. Robert Roth von der Universität Genf eingeholt hat49. Seite 13 von 26 [Rz 27] Das Kartellrecht ist eines der am stärksten globalisierten Rechtsgebiete. In EU und EWR nimmt es eine zentrale Stellung ein. Der Rechtsvergleichung kommt deshalb eine noch wichtigere Bedeutung zu als im übrigen Wirtschaftsrecht. Die Evaluation hat rechtsvergleichend gearbeitet50. Auch der 2. Teil des Erläuternden Berichts zur Motion Schweiger enthält vergleichende Ausführungen51. Der Vorschlag eines Systemwechsels bei der Rechtsdurchsetzung kommt hingegen ohne rechtsvergleichende Erörterungen aus. Es wird mit keinem Wort erwähnt, dass das neue Modell jedenfalls in seinen Grundzügen dem amerikanischen entspricht. Die Voraussetzungen für einen «legal transplant» sind freilich nicht einmal ansatzweise gegeben. Dazu bedürfte es einer Analyse der (auch kulturellen) Rahmenbedingungen der Kartellrechtsdurchsetzung in den USA einerseits und in der Schweiz andererseits. Zu thematisieren wäre neben dem Fehlen von Strafsanktionen für Individuen in der Schweiz v.a. die Dominanz der privaten Rechtsdurchsetzung in den USA und das weitgehende Fehlen dieser Möglichkeit in der Schweiz. Der Erläuternde Bericht des Bundesrates weist lediglich darauf hin, dass nach Auffassung der in der VorVernehmlassung angehörten Kreise bei einem anderen Anliegen der Revision, der Stärkung des Kartellzivilrechts, «eine eigentliche ‹Amerikanisierung› im Sinne der Einführung des Instruments der Sammelklagen» verhindert werden sollte52. [Rz 28] Von entscheidender Bedeutung sind sodann die grundlegenden Unterschiede bezüglich des Status der Richter und ihrer Auswahl. In der Schweiz ist bei Richterwahlen das Parteibuch wichtig. Eine Organisation wie das Standing Committee on the Federal Judiciary der American Bar Association, das eine wesentliche Rolle bei der Kontrolle der Qualität von Richterkandidaten spielt53, fehlt. Angesichts der Kleinheit des Landes und der beschränkten Anzahl der Fälle kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ein Bundeswettbewerbsgericht die Rechtssicherheit in gleicher Weise sicherstellen könnte wie die amerikanischen Gerichte. Überdies wird die geplante Wettbewerbsbehörde, die aus dem bisherigen Sekretariat geschaffen würde, zu positiv dargestellt. Nach der Einschätzung der drei ehemaligen WEKO-Präsidenten wäre sie schwächer als die gegenwärtige WEKO54. Auf jeden Fall wäre die Wettbewerbsbehörde von ihrer Schlagkraft her nicht annähernd mit den amerikanischen Antitrustbehörden, deren Anfänge auf die Jahre 1890 bzw. 1914 zurückgehen, zu vergleichen. Seite 14 von 26 [Rz 29] Während eine Diskussion des amerikanischen Modells fehlt, wird da und dort auf das österreichische Kartellrecht hingewiesen, wo die Bundeswettbewerbsbehörde BWB – wie der weisungsgebundene Kartellanwalt – lediglich antragsberechtigt ist und das Kartellgericht entscheidet55. Kein Wort wird jedoch darüber verloren, dass Österreich, bei allem Respekt, nicht als ein Land mit einer besonders effizienten Wettbewerbspolitik gilt. Seit 2008 wird in der österreichischen Bundesregierung darüber nachgedacht, die BWB zu einer modernen «Voll-Wettbewerbsbehörde» nach dem Vorbild der Europäischen Kommission oder des deutschen Bundeskartellamtes Wettbewerbskontrolle umzugestalten, sicherzustellen. Dazu um eine sollte schlagkräftigere die BWB mit Entscheidungsbefugnis ausgestattet werden. Es wird in diesem Zusammenhang sogar davon gesprochen, dass sich Österreich in einem Aufholprozess befindet 56. Der Bundesrat orientiert sich daher an einem Vorbild, das in dem betreffenden Land von massgeblichen Kräften als Auslaufmodell angesehen wird. Der Rest Europas und der Welt bleibt ausgeblendet. Dieses ergebnisorientierte und selektive Vorgehen verstösst gegen Grundregeln der Rechtsvergleichung. Es darf auch nicht übersehen werden, dass die schwersten Kartellverstösse in einem EU-Mitgliedstaat auf europäischer Ebene aufgegriffen werden. 3. Schwächung der Rechtsdurchsetzung ^ [Rz 30] Wenn sowohl das geltende (nach der hier vertretenen Auffassung verbesserungsbedürftige) Modell als auch das geplante System EMRK-konform sind, so verdient das Modell den Vorzug, welches die Ziele des Gesetzes am besten umsetzt. Nach seinem Artikel 1 bezweckt das KG, «volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswirkungen von Kartellen und anderen Wettbewerbsbeschränkungen zu verhindern und damit den Wettbewerb im Interesse einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung zu fördern». Im Bereich der Kartelle und des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung geht es darum, Verhalten welches den Wettbewerb erheblich beeinträchtigt oder wirksamen Wettbewerb beseitigt, qua Sanktion vergangener Verstösse und der davon ausgehenden Abschreckung zu verhindern. Es ist bedauerlich dass die von Interessenvertretern angekurbelte Seite 15 von 26 Sanktionsdebatte die Tatsache, dass Hard core-Wettbewerbsverstösse alles andere als Kavaliersdelikte sind, ein Stück weit in den Hintergrund treten lässt. [Rz 31] Wenn es zum geplanten Systemwechsel käme, so wäre eine Schwächung der Wettbewerbspolitik zu befürchten, und zwar aus mehreren Gründen: (i) Der Schweizerische Gewerkschaftsbund weist in seiner Vernehmlassungsantwort auf die jedem Anwalt und jedem Richter bekannte Tatsache hin, dass es vorteilhaft ist, den Gegner in die Kläger- bzw. Antragstellerrolle zu drängen. «Indem künftig das heutige Sekretariat der WEKO vor dem Bundeswettbewerbsgericht als Klägerin eine Sanktion gegen ein hartes Kartell beantragen muss, wird es den Anwälten des Kartells, die vor dem Gericht die Gegenpartei bilden, gleichgestellt. Gestärkt werden hingegen die Anwälte des Kartells, die dessen Interessen vertreten.»57 (ii) Eines der zentralen Probleme bei der Durchsetzung des Kartellgesetzes ist die Frage nach dem Stellenwert der Ökonomie. Wirtschaftskreise und Kartellanwälte haben recht mit ihrer Forderung, das KG dürfe nicht formaljuristisch angewandt werden. Ob allerdings ein Wettbewerbsgericht eine ökonomisch fundierte Rechtsprechung eher entwickeln könnte als eine reformierte WEKO, ist zweifelhaft. Dass der Bundesrat darauf achten will, wettbewerbsrechtliche dass bei Kenntnisse, dessen Zusammensetzung unternehmerische umfassende Erfahrung und industrieökonomisches Wissen angemessen berücksichtigt werden» 58, ändert daran nichts. (iii) Der Bundesrat hat geltend gemacht, ein Wettbewerbsgericht trüge dem besonderen Charakter des Kartellrechts, «nämlich der hohen rechtsfortbildenden Komponente jedes Urteils» Rechnung59. Das ist aber nicht der Punkt. Entscheidend sind vielmehr die folgenden drei Argumente: (1) Ob ein Gericht in der Lage wäre, wettbewerbspolitische Leitplanken auf breiter Ebene zu entwickeln, ist sehr fraglich. Gerichte können Fälle nicht aufgreifen, sie werden immer nur punktuell tätig. Die neue Wettbewerbsbehörde hätte weniger Ressourcen und wäre weniger unabhängig als die bisherige WEKO. Es kann kaum bestritten werden, dass das geltende Modell der Rechtsdurchsetzung, bei der die WEKO Untersuchungs- und Entscheidungsbefugnis hat, hier Vorteile aufweist. Eine wichtige Aufgabe von Wettbewerbsbehörden ist es, sich über die Jahre eine fundierte Kenntnis der zu überwachenden Märkte zu verschaffen. Seite 16 von 26 (2) Die Tendenz im In- und Ausland geht in Richtung Verfahrensabschluss durch Vergleich («settlement») Möglichkeit zu 60. Das kann nur eine Behörde erreichen, der notfalls die entscheiden zu Gebote steht. (3) Darauf, dass ein Bundeswettbewerbsgericht angesichts der Grösse des Landes kaum die kritische Masse an Eingängen haben dürfte, die erforderlich ist, um ein umfassendes Fallrecht zu entwickeln und damit Rechtssicherheit zu garantieren, wurde bereits hingewiesen 61. (iv) Die Arbeitsgruppe Schweiz der Studienvereinigung Kartellrecht hat gefordert, das Gesetz müsse ausdrücklich vorschreiben, «dass das Bundeswettbewerbsgericht den Sachverhalt selbständig festzustellen, rechtlich umfassend zu würdigen und sein Ermessen eigenständig und umfassend auszuüben» hat62. Man darf freilich nicht übersehen, dass nicht einmal amerikanische Gerichte volle Kognition haben, wenn sie über Fälle entscheiden, die von den Wettbewerbsbehörden vor sie gebracht werden. Unlängst hat der United States Court of Appeals for the Sixth Circuit die Rechtsprechung im Fall Realcomp II, Ltd.v Federal Trade Commission unter der Überschrift «standard of review» folgendermassen zusammengefasst: «When we review a decision of the Federal Trade Commission, the legal issues are ‹for the courts to resolve, although even in considering such issues the courts are to give some deference to the Commission’s informed judgment that a particular commercial practice is to be condemned as ‹unfair.›› FTC v. Ind. Fed’n of Dentists, 476 U.S. 447, 454 (1986). The Commission’s findings of fact are conclusive if supported by substantial evidence. Barnett Pontiac-Datsun, Inc. v. FTC (In re Detroit Auto Dealers Ass’n), 955 F.2d 457, 469 (6th Cir. 1992); see 15 U.S.C. § 45(c). When we review the Commission’s findings, we may not ‹make [our] own appraisal of the testimony, picking and choosing for [ourselves] among uncertain and conflicting inferences.› Ind. Fed’n, 476 U.S. at 454 (quoting FTC v. Algoma Lumber Co., 291 U.S. 67, 73 (1934)). Rather, under the substantialevidence standard, we uphold the Commission’s findings ‹if . . . supported by› such relevant evidence as a reasonable mind might accept as adequate to support a conclusion.›› Id. (quoting Universal Camera Corp. v. NLRB, 340 U.S. 474, 477 (1951)); see also In re Detroit Auto Dealers Ass’n, 955 F.2d at 469.»63 Seite 17 von 26 Das wird man auch im Hinblick auf die folgenden Feststellungen von economiesuisse zur Situation de lege lata bedenken haben: Das Bundesverwaltungsgericht habe «nur de iure aber nicht de facto volle Kognition, da es keine Möglichkeit zu einer umfassenden Beweiserhebung ... (habe) und damit seiner Vorinstanz WEKO regelmässig ein technisches Ermessen zugesteht und dadurch mangels hinreichender Entscheidungsgrundlagen faktisch nicht in der Lage ist, einen reformatorischen Entscheid zu fällen. Gleiches gilt für den ‹Court of First Instance› in der EU, dem die analoge Funktion zukommt.»64 (v) Weit hergeholt ist das Argument, ein Wettbewerbsgericht sei auch deshalb zwingend erforderlich, weil nur ein Gericht Strafsanktionen für natürliche Personen aussprechen könne. Ob der schweizerische Gesetzgeber solche Sanktionen vorsehen wird, ist offen. Der Bundesrat lehnt sie ab65. Wenn es trotzdem zur Einführung von Strafsanktionen gegen natürliche Personen kommen sollte, so würden sich keine besonderen Probleme stellen66. 4. Ein neuer Sonderfall Schweiz in Europa ^ [Rz 32] Nach Art. 141 Abs. 2 lit. a des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung erläutert der Bundesrat bei der Begründung und Kommentierung eines Erlassentwurfs u.a. «die Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht und das Verhältnis zum europäischen Recht ....»67. Man darf gespannt sein, wie die Regierung angesichts der vorstehend genannten Kritikpunkte die Tatsache erklären will, dass sie sich vom europäischen Recht offen abzuwenden beabsichtigt. Sowohl die Totalrevision von 1995 als auch die Teilrevision von 2003 haben sich am EU-Recht orientiert68. Unter den gegebenen Umständen wäre bei einem Systemwechsel ein internationaler Reputationsverlust zu befürchten. [Rz 33] Die Vorstellung, man könne mit der Einrichtung eines Wettbewerbsgerichts die angeblich in die gleiche Richtung gehende Diskussion in der EU und in ihren Mitgliedstaaten beeinflussen, ist nach der hier vertretenen Auffassung realitätsfremd. Dass solche Überlegungen auch in Deutschland da und dort angestellt werden, ändert nichts. Man muss sich daher die Frage stellen, ob es klug ist, angesichts der Seite 18 von 26 aufgezeigten Defizienzen eines Systemwechsels einen weiteren Sonderfall Schweiz in Europa zu schaffen. G. Schlussfolgerungen ^ 1. Die gerichtliche Kontrolle der Sanktionspraxis der WEKO funktioniert ^ [Rz 34] Das schweizerische Kartellgesetz ist ein junges Gesetz. Die WEKO hat erst seit 2005 die Kompetenz, Direktsanktionen zu verhängen. Das Bundesverwaltungsgericht hat seinen Betrieb Anfang 2007 aufgenommen 69. Eine Bussenpraxis besteht in der Schweiz erst seit 2006. Zu Exzessen ist es nicht gekommen. Die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichts im Fall Swisscom gegen WEKO (Terminierungspreise im Mobilfunk) beweisen, dass das geltende System gerade im Bereich der Bussen funktioniert70. 2. Der Systemwechsel ist abzulehnen ^ [Rz 35] Der Bundesrat hat den Nachweis, dass ein Bundeswettbewerbsgericht einem verbesserten WEKO-Modell mit voller gerichtlicher Kontrolle überlegen ist, nicht erbracht. Es sprechen im Gegenteil zahlreiche Gründe dafür, dass ein solcher radikaler Schritt in der Schweiz, die bis vor relativ kurzer Zeit ein klassisches Land der Kartelle war, auf eine Schwächung der Wettbewerbspolitik hinausliefe. Die Vorlage ist unausgereift und wissenschaftlich unfundiert. Der zeitliche Ablauf lässt erkennen, dass die Bundesverwaltung den überraschenden Schwenk im Herbst 2009 einzig deshalb vorgenommen hat, weil sie voreilig glaubte, nur so die Verbandsvertreter aus dem Entscheidungsgremium verdrängen zu können. Eine derart zentrale Weichenstellung darf aber nicht mittels eines Hüftschusses im Halbdunkeln des vorparlamentarischen Verfahrens vorgenommen werden. 3. Die WEKO ist zu professionalisieren ^ [Rz 36] Es führt daher kein Weg daran vorbei, die WEKO, die entsprechend dem europäischen Modell der Kartellrechtsdurchsetzung sowohl Untersuchungs- wie Entscheidungskompetenz hat, entsprechend den Vorschlägen der Evaluation zu Seite 19 von 26 71. professionalisieren Das bedeutet erstens, dass das Institut der Interessenvertreter abzuschaffen ist. Das Argument, eine entsprechende Reform sei bereits in der Vernehmlassung zur KG-Revision von 2003 abgelehnt worden72 und habe deshalb auch heute keine Chance, ist angesichts des eindeutigen Befundes der OECD und der in der Literatur erhobenen Kritik nicht ausreichend. Die OECD ist die internationale Organisation, die über die besten komparatistischen Kenntnisse im Wettbewerbsrecht verfügt. In den acht Jahren, die seit der Reform von 2003 vergangen sind, hat sich sodann das europäische Umfeld mit der Gründung des European Competition Network ECN, dem alle Wettbewerbsbehörden der EU angehören und an dessen Sitzungen auch die EFTA-Überwachungsbehörde und die Wettbewerbsämter der EWR/EFTA-Staaten teilnehmen, enorm verändert. Die Schweizer Arbeitsgruppe der Studienvereinigung Kartellrecht lehnt die Einsitznahme von Lobbyisten im Bundeswettbewerbsgericht ab73. Man wird anzunehmen haben, dass sich diese Ablehnung auch auf die WEKO bezieht. Rz 37] Es fällt auf, dass die Lobbyisten kein zwingendes Sachargument vorzubringen haben, das ihren Verbleib in der WEKO rechtfertigen würde. In ihrem Papier vom 16. März 2009 stellte economiesuisse fest, «[d]ie Mitwirkung von Vertretern aus der Praxis ... (entspreche) dem wiederholt bestätigten klaren politischen Willen des Gesetzgebers»74. In seiner Vernehmlassung vom 26. November 2010 behauptete der Dachverband ohne jeden Beleg, es «fehle eine Evidenz für behauptete Mängel» 75. Tatsächlich sind die Mängel offensichtlich. Schon die Bemerkung, die Lobbyisten würden lediglich von ihrem Verband vorgeschlagen, der Bundesrat sei aber bei seiner Wahl frei76, hält nicht Stand. Zwar könnte der Bundesrat einen bestimmten Kandidaten ablehnen, was soweit ersichtlich nie geschehen ist. Die Folge wäre aber nur, dass der betreffende Verband einen anderen Kandidaten nominieren würde. Faktisch besitzen die Verbände also ein Ernennungsrecht. Was die Behauptung anbelangt, Verbandsvertreter würden, wenn einmal ernannt, weisungsunabhängig agieren 77, so hat ein ehemaliger Mitarbeiter des Sekretariats der WEKO unlängst folgende Feststellungen gemacht: «Problematisch an den Interessenvertretern ist, dass sie ihr durchaus vorhandenes Wissen nur dann einbringen, wenn sie glauben, dass dies im Interesse ihres Verbandes ist. Will der Verband etwas anderes riskieren, streuen Seite 20 von 26 sie häufig sogar Gift in die Diskussion, um die Entscheide in ihre Richtung zu lenken. Interessenvertreter gehören deshalb nicht in eine solche Behörde.» 78 [Rz 38] Aber selbst wenn es so wäre, dass keine konkreten Weisungen erteilt werden, so sind Verbandsvertreter strukturell nicht in einer Position, in voller Unabhängigkeit zu entscheiden. Die Lobbyisten befinden sich in einem permanenten Interessenkonflikt. Dabei spielt die (tatsächliche oder vermeintliche) Erwartungshaltung ihres Verbandes ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass sie von diesem remuneriert werden. Nur schon der Anschein der Befangenheit von Mitgliedern der WEKO macht deren Entscheidungen unter rechtsstaatlichen Prinzipien angreifbar. Überdies besteht die Gefahr, dass nicht börsenkotierte Unternehmen auf eine Anfrage bei der WEKO oder sogar auf einen Zusammenschluss verzichten – bzw. sogar bereits verzichtet haben – aus Furcht, dass Daten in die falschen Hände geraten könnten. Dieses Problem wird sich mit zunehmendem internationalem Informationsaustausch noch akzentuieren 79. Ob jemand befangen ist oder nicht, ist im Übrigen eine Tatsachenfrage, die nicht politisch entschieden werden kann. [Rz 39] Zweitens muss die WEKO verkleinert und die Pensen der Mitglieder müssen erweitert werden80. 4. Im Bundesverwaltungsgericht müssen nebenamtliche Fachrichter mit ökonomischem Hintergrund Einsitz nehmen ^ [Rz 40] Natürlich wurde der Widerstand der politischen Parteien in Bern zur Kenntnis genommen. Es gibt deshalb in der Bundesverwaltung offenbar neuerdings Überlegungen, auf die Schaffung eines Bundeswettbewerbsgerichts zu verzichten und die Entscheidungskompetenz einer Spezialkammer des Bundesverwaltungsgerichts zu übertragen. Damit werden die in diesem Beitrag vorgetragenen Bedenken freilich nicht ausgeräumt. Entscheidend ist nicht die gerichtsorganisatorische Zuordnung der Kartellrichter, sondern die Frage, ob ein Gericht erstinstanzlich oder – wie bisher – als Beschwerdeinstanz urteilt. Das geltende (zu verbessernde) System weist jedenfalls in der Schweiz klare Vorzüge auf. Darüber, ob in reiferen Kartellrechtssystemen über einen Wechsel hin zu einem Gerichtssystem nachgedacht werden sollte, ist hier nicht Seite 21 von 26 zu befinden. Dem berechtigten Anliegen, dass die Rechtsprechung praxisbezogen und ökonomisch fundiert sein soll, ist dadurch Rechnung zu tragen, dass im Bundesverwaltungsgericht (wie früher in der Rekurskommission für Wettbewerbsfragen) nebenamtliche Fachrichter insbesondere mit ökonomischem Hintergrund Einsitz nehmen. Exkurs: Zur Motion Schweiger ^ [Rz 41] Der aktuelle Versuch, die schweizerische Wettbewerbspolitik vom europäischen Modell abzukoppeln, hatte ein Vorspiel. Am 20. Dezember 2007 reichte Ständerat Rolf Schweiger eine Motion ein, die unter dem Titel «Ausgewogeneres und wirksameres Sanktionssystem für das Schweizer Kartellrecht» den Bundesrat beauftragen wollte, im Kartellgesetz vorzusehen, dass Unternehmen, welche «ein hohen Anforderungen genügendes Programm zur Beachtung der kartellgesetzlichen Regelungen betreiben», unter bestimmten Voraussetzungen mit einer reduzierten beziehungsweise mit keiner Verwaltungssanktion belegt werden können. Zur Stärkung der ComplianceAnstrengungen der Unternehmen sollten gleichzeitig Strafsanktionen gegen natürliche Personen im Fall ihrer aktiven Beteiligung an Kartellabsprachen mit Wettbewerbern eingeführt werden81. Hintergrund des Vorstosses war offenbar die Busse von 144 Mio Euro (damals 230 Mio CHF) gegen einen Schweizer Aufzugshersteller, welche die Europäische Kommission wegen Verstössen gegen das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft auferlegt hat82. In der Schweiz war die einzige halbwegs nennenswerte Busse in Höhe von 101'000 Franken in der Sache Flughafen Zürich AG (Unique) – Valet Parking am 18. September 2006 erlassen worden83. Der Verfasser hat deshalb den Vorstoss in seinem Evaluationsgutachten zu Handen des SECO als Versuch am untauglichen Objekt bezeichnet84. [Rz 42] Das erste Anliegen der Motion Schweiger wurde vom Parlament in der Form überwiesen, dass nur eine Sanktionsmilderung, nicht aber eine Befreiung vorgesehen sein sollte. Der Bundesrat schlägt in seinem Vorentwurf vom 30. März 2011 vor, dass angemessene Compliance-Vorkehrungen sanktionsmindernd zu berücksichtigen sind, wenn sie und ihre Wirksamkeit von den Unternehmen hinreichend dargetan werden85. Seite 22 von 26 Das entspricht praktisch der bestehenden Rechtslage86. Damit ist dieser Teil der Revision im Grunde genommen unnötig. Die Einführung von Strafsanktionen für natürliche Personen lehnt der Bundesrat unter Berufung auf das Rechtsgutachten der Professoren Dr. Günter Heine von der Universität Bern und Dr. Robert Roth von der Universität Genf grundsätzlich ab87. Die beiden Experten sind zum Schluss gelangt, dass die Einführung von Strafsanktionen oder von Verwaltungsmassnahmen die Wirksamkeit der Vorschriften gegen Kartelle vermindern würde88. Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Zeit für die Einführung von Strafsanktionen für Manager nicht reif. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier versucht wird, die Verantwortung von den Unternehmen, den Hauptnutzniessern von Kartellen, auf Individuen abzuschieben. Ob die Analogie zum Schuldstrafrecht angemessen ist, ist zu bezweifeln. Entscheidend muss die Abschöpfung der Kartellrente sein. Prof. Dr. Carl Baudenbacher, Präsident des EFTA-Gerichtshofs, Chairman des St. Gallen International Competition Law Forum ICF. 1 Erläuternder Bericht vom 30. Juni 2010 zur Änderung des Bundesgesetzes über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, KG), 6 f. (Erläuternder Bericht 1). 2 Erläuternder Bericht 1, 12. 3 Erläuternder Bericht 1, 12. 4 Basler Zeitung vom 8. November 2010. 5 Erläuternder Bericht 1, 13. 6 Erläuternder Bericht 1, 12, auch 13. 7 Vgl. z.B. Douglas Ginsburg, Comparing Antitrust Enforcement in the United States and Europe, Journal of Competition Law and Economics 1 (3) (2005), 428 f. 8 SR 251. 9 Neben Botschafter Dr. Marino Baldi, dem eigentlichen «Vater» des Kartellgesetzes, haben v.a. RA Dr. Jürg Borer und RA Dr. Philipp Zurkinden bei der Reform mitgewirkt. 10 Zum KG 1962 anstelle vieler Leo Schürmann, Kommentar zum schweizerischen Kartellgesetz, Zürich 1964. 11 Die Saldomethode wurde vom Berner Ökonom Prof. Dr. Hugo Sieber, welcher der Kartellkommission angehörte, erfunden; vgl. Aktuelle Probleme der schweizerischen Wettbewerbspolitik, WuR 1967, 15–32; ders., Über die Kriterien der volkswirtschaftlichen und sozialen Schädlichkeit von Kartellwirkungen, WuR 1973, 48–76. 12 BGE 117 Ib 481, Erw. 4 b bb. 13 Vgl. dazu Walter R. Schluep, Wirkssamer Wettbewerb: Schlüsselbegriff des neuen schweizerischen Wettbewerbsrechts, Bern 1987. 14 Vgl. Botschaft zu einem Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, KG) vom 23. November 1994, BBl. 1995 I, 486 ff., 510; Baudenbacher, Zur Revision des schweizerischen Kartellgesetzes, AJP 1994, 1367 ff., 1372; Klaus A. Vallender/Peter Hettich/Jens Lehne, Wirtschaftsfreiheit und begrenzte Staatsverantwortung: Grundzüge des Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrechts, 4. Auflage, Bern 2006, S. 387, § 13 Rz. 14; Franz Jaeger/Christian Kaiser, Das Konzept einer wirksamen Wettbewerbsordnung aus ökonomischer Perspektive, illustriert am Fallbeispiel Schweiz, in: Baudenbacher (Hrsg.), Internationales und Europäisches Wirtschaftsrecht, St.Gallen 2004, Band 2, 117 ff., 120; Baudenbacher, Was ist vom guten alten Modell der Wettbewerbspolitik übriggeblieben?, in: Wettbewerb in einem größeren Europa. Referate des XXXIX. FIW-Symposiums, Köln 2007, Heft 215, 13–32. Seite 23 von 26 15 http://www.admin.ch/ch/d/as/2004/1385.pdf, besucht am 10. Juni 2011. Der Verfasser war damals Experte der ständerätlichen Kommission. 16 Jahresbericht 2000 der Wettbewerbskommission gemäss Art. 49 Abs. 2 KG, 5. 17 Mitglieder der sog. Steuerungsgruppe waren Dr. Rafael Corazza, Direktor Sekretariat WEKO; Dr. Ulf Böge, ehemaliger Präsident des deutschen Bundeskartellamts und des International Competition Network; Prof. Dr. Aymo Brunetti, Leiter Direktion für Wirtschaftspolitik Staatssekretariat für Wirtschaft; Dr. Werner Bussmann, Verantwortlicher Gesetzesevaluation und Föderalismusfragen Bundesamt für Justiz; Prof. Dr. Dorothea Herren, Institut für Wirtschaftsrecht der Universität Bern und Prof. Dr. Vincent Martenet, Universität Lausanne/Vizepräsident der WEKO. 18 Carl Baudenbacher unter Mitarbeit von Simon Planzer, Christian Mayer, Frank Bremer und Philipp Speitler, Gutachten zur Evaluation bestimmter Aspekte des Schweizerischen Kartellgesetzes: Institutionelles Setting – Vertikalbeschränkungen – Individualsanktionen – Private Enforcement, Rechtsgutachten zu Handen des Schweizerischen Staatssekretariats für Wirtschaft, Bern 2009, ‹http://www.seco.admin.ch/dokumentation/publikation/00004/02365/index.html?lang=de›, besucht am 10. Juni 2011. 19 Baudenbacher, Gutachten 2009, 43 ff. 20 Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement, Evaluationsgruppe Kartellgesetz, Evaluation gemäss Art. 59a Kartellgesetz, Synthesebericht, Bern 2009, 56 ff. 21 Bericht gestützt auf Artikel 59a Kartellgesetz über die Evaluation des Kartellgesetzes und Vorschläge zum weiteren Vorgehen, vom Bundesrat am 25. März 2009 gutgeheissen, 8 f. 22 Vgl. Erläuternder Bericht 1, 6 f. 23 Erläuternder Bericht vom 30. Juni 2010 zur Änderung des Bundesgesetzes über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, KG), 6 f. (Erläuternder Bericht 1). 24 Erläuternder Bericht 1, 9. 25 unternehmen im wettbewerb evaluation des kartellgesetzes, Studie von economiesuisse vom 16. März 2009, 41 f. 26 Neues Kartellgesetz macht die Wettbewerbsbehörde effizienter, Tagesanzeiger vom 30. Juni 2010. 27 Vgl. dazu unten, E. 1. und F. 28 http://www.economiesuisse.ch/de/themen/wb/kartellrecht/seiten/_detail.aspx?artID=webnews_kartellerechtseminar_20101014, besucht am 10. Juni 2011. 29 Erläuternder Bericht 1, 13 f. 30 unternehmen im wettbewerb evaluation des kartellgesetzes, Studie von economiesuisse vom 16. März 2009, 39. 31 economiesuisse, Vernehmlassung Revision Kartellgesetz vom 26. November 2010, 2 f. 32 Die Idee war bereits auf dem 16. St. Gallen International Competition Law Forum, das am 23./24. April 2011 stattfand, vertreten worden. Vgl. Baudenbacher, Ed., ICF Vol. 11, Basel 2010, 68 ff. Dezidiert dagegen Bundesverwaltungsrichter Marc Steiner, a.a.O., 70: «Either you have one concept or you have the other one, but you cannot combine them…. No lawyer would be ready to disclose confidential material to someone in a decision without the right to vote and being representative of a lobby.» 33 Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen; Vernehmlassung von SwissHoldings vom 18. November 2010, 2 f. 34 bauenschweiz, Vernehmlassung über die Revision des Bundesgesetzes über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (KG) vom 17. November 2010, 1 f. 35 Vernehmlassung KG der Arbeitsgruppe Schweiz der Studienvereinigung Kartellrecht vom 19. November 2010, 3 f.; vgl. auch den Beitrag des Kartellanwalts Daniel Emch, Gefährliche Doppelrolle von Wettbewerbsbehörden. Plädoyer für klarere Trennung von politischem Auftritt und richterlichen Kompetenzen, NZZ vom 28. Mai 2010. 36 Simon Hirsbrunner/Jens Werner, Überholt das schweizerische Kartellgesetz das EU-Vorbild?, in: Jusletter 20. September 2010. 37 Revision KG – Stellungnahme Promarca vom 15. November 2010, 2 f. 38 Vernehmlassung Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen vom 15. November 2010, 2. 39 Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen, Vernehmlassungsantwort der FDP vom 19. November 2010, 2. 40 Vernehmlassungsantwort der SP Schweiz zur Revision des Kartellgesetzes vom 7. November 2010, 2. 41 Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen, Vernehmlassungsantwort der Schweizerischen Volkspartei (SVP) vom 19. November 2010. 42 Schweizerischer Gewerkschaftsbund, Vernehmlassungsantwort zur Revision des Kartellgesetzes vom 15. November 2010, 2 f. 43 Basler Zeitung vom 8. November 2010. 44 Pierre Tercier/Roland von Büren/Walter A. Stoffel: Für eine ernsthafte Durchsetzung des Wettbewerbsrechts, in: NZZ vom 16. November 2010 (Nr. 267), 31. 45 E. 5.5., 5.5.6; vgl. dazu schon Baudenbacher, Gutachten 2009, 32 f. 46 Urteil des Bundesgerichts 2C_343/2010 und 2C_344/2010 vom 11. April 2011 . 47 Vgl. unternehmen im wettbewerb evaluation des kartellgesetzes, Studie von economiesuisse vom 16. März 2009, 30. 48 E. 5.6.2. 49 Zur Motion Schweiger unten, Exkurs. 50 Vgl. Synthesebericht, 51 ff.; Baudenbacher, Gutachten 2009, passim. Seite 24 von 26 51 Erläuternder Bericht 2, 10 ff. 52 Erläuternder Bericht 1, 7. 53 http://www.americanbar.org/content/dam/aba/migrated/scfedjud/federal_judiciary09.authcheckdam.pdf, besucht am 10. Juni 2011. 54 Oben, E. 2. 55 Erläuternder Bericht 1, 7; zur Anlehnung an das österreichische Kartellrecht auch oben, E. 1. 56 Vgl. die Feststellungen des damaligen Wirtschaftsministers und heutigen Parlamentsabgeordneten Martin Bartenstein (ÖVP) in ‹http://newsflash.unternehmerweb.at/bartenstein-bundeswettbewerbsbehorde-zu-behorde-mit-biss-machen/›. 57 Schweizerischer Gewerkschaftsbund, Vernehmlassungsantwort zur Revision des Kartellgesetzes von 15. November 2010, 2. 58 Erläuternder Bericht 1, 12. 59 Erläuternder Bericht 1, 13. 60 Vgl. z.B. die Ausführungen von Tom Rosch, U.S. Federal Trade Commissioner, Theofanis Christoforou, Hauptberater Wettbewerb im Juristischen Dienst der Europäischen Kommission und RA Dr. Patrick Sommer auf dem von Dr. Sven Norberg geleitete Panel ‹Settlement as a Remedy – (the) Way to Go› des 18. St. Gallen International Competition Law Forum ICF vom 7./8. April 2011, Publikation in der Reihe International Competition Law Forum ICF. 61 Oben, F. 2. 62 Vernehmlassung KG der Arbeitsgruppe Schweiz der Studienvereinigung Kartellrecht vom 19. November 2010, 5. 63 ‹http://www.ca6.uscourts.gov/opinions.pdf/11a0084p-06.pdf, 9›, besucht am 10. Juni 2011; zum Kontext auch Richard M. Steuer, Standards of Proof and Judicial Review: A U.S. Perspective, in: Barry Hawk (Hrsg.), International Antitrust Law & Policy 2005, Huntington, New York 2006, 143 ff. 64 economiesuisse, unternehmen im wettbewerb, Papier vom 16. März 2009, 30. 65 Unten, Exkurs. 66 Vgl. rechtsvergleichend zur Situation im Vereinigten Königreich das Strafurteil des Southwark Crown Court im marine hose cartelFall, ‹http://www.oft.gov.uk/news-and-updates/press/2008/72-08›, besucht am 10. Juni 2011. 67 SR 171.10. 68 Vgl. Botschaft zu einem Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, KG) vom 23. November 1994, BBl. 1995 I, 486 ff.; Botschaft über die Änderung des Kartellgesetzes vom 7. November 2001, BBl. 2001, 2025 ff. Der Verfasser war bei der Reform von 2003 Experte des Ständerats. 69 http://www.bvger.ch/gericht/geschichte/index.html?lang=de. 70 Oben, F. 1. 71 Dazu oben, D. 1. 72 Erläuternder Bericht 1, 15. 73 Vernehmlassung der Arbeitsgruppe Schweiz der Studienvereinigung Kartellrecht, 6. 74 economiesuisse, unternehmen im wettbewerb, Papier vom 16. März 2009, 40. 75 economiesuisse, Vernehmlassung Revision Kartellgesetz von 26. November 2010, 2. 76 unternehmen im wettbewerb evaluation des kartellgesetzes, 40. 77 unternehmen im wettbewerb evaluation des kartellgesetzes, 40. 78 Martin Werner, Kein Geld und kein Personal, NZZ Nr. 102 vom 3. Mai 2011, 26. 79 Baudenbacher, Gutachten 2009, 41 f. 80 Dazu Baudenbacher, Gutachten 2009, 43 ff. 81 ‹http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20073856›, besucht am 10. Juni 2011. 82 Entscheidung der Kommission C(2007) 512 endg. vom 21. Februar 2007, COMP/E-1/38.823 – PO/Elevators and Escalators. 83 RPW 2006/4, 625 ff. 84 Gutachten 2009, 173. 85 Erläuternder Bericht vom 30. März 2011 zur Änderung des Bundesgesetzes über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, KG), Teil 2: Umsetzung der Motion Schweiger (07.3856): Ausgewogeneres und wirksameres Sanktionssystem für das Schweizer Kartellrecht, 28 ff. (Erläuternder Bericht 2). 86 In seiner Antwort auf die Motion Schweiger vom 20. Februar 2008 hat der Bundesrat ausgeführt: «Nach der geltenden gesetzlichen Regelung können Compliance-Programme (und ein damit einhergehendes geringeres Verschulden) im Rahmen der Artikel 3 und 6 der KG-Sanktionsverordnung als sanktionsmildernd, nicht aber als sanktionsausschliessend berücksichtigt werden.» ‹http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20073856›, besucht am 10. Juni 2011. 87 Erläuternder Bericht 2, 16 f. 88 Günter Heine/Robert Roth, Rechtsgutachten zur Sanktionierung natürlicher Personen / Unternehmen im Zuge der Schweizer Kartellrechtsrevision (Stand 13. Oktober 2010, teilweise aktualisiert zum 25. März 2011) ‹http://www.seco.admin.ch/themen/02860/04210/index.html?lang=de›, besucht am 10. Juni 2011; Erläuternder Bericht Teil 2, 9. Domaine(s) Wettbewerbsrecht ; Kartellrecht Seite 25 von 26 juridique(s) : Catégorie d'article : Beiträge Paru dans : Jusletter 11. Juli 2011 Proposition de Carl Baudenbacher, Kritische Bemerkungen zum geplanten Bundeswettbewerbsgericht, in : Jusletter 11. citation : Juli 2011 [Rz] Seite 26 von 26