Alle 2010 JGuptara TZ Kolumnen

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Most-India Kolumne
Januar 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
www.twins.guptara.net
Die Falsche Freiheit
Eine dunkelhäutige Kamerafrau tritt aus dem Zürcher Hauptbahnhof, NDTV steht auf dem Mikrofon.
New Delhi TV gaben wir damals unser erstes TV-Interview. Mit einer solchen Ausrede gewappnet
spreche ich sie in meinem gewohnten, für Freunde peinlichen Networking-Einstellung an: „Sie
kommen aus Indien? Ja, mein Vater… Unser Buch…“
Sie ist Korrespondentin aus Paris und dreht eine Reportage über die Minarett-Verbannung. Eines von
vielen Beispielen, wie die Schweiz für ihren demokratisch gefällten Entscheid kritisiert wird. Oder,
seltener – da es ironischerweise als „politisch unkorrekt“ gilt – gelobt. Natürlich hat der Entschluss
auch Schweizer stark getrennt. Ich habe von einem Thurgauer gehört, der aus Protest gegen die
vermeintliche Intoleranz seiner Landsleute auf seinem privaten Grundstück ein „Minarett“ bauen
lassen will.
Denn hat die Schweiz nicht eine gravierende Sünde begangen? Tatsächlich, sie verstosst gegen eines
der wichtigsten Werte der westlichen Zivilisation: die architektonische Baufreiheit! Die Diskussion um
Religionsfreiheit ist eine Maskerade. Dem Koran sind Minarette gar nicht erst bekannt, genauso
wenig wie Kirchentürme (oder –Gebäuden) der Bibel.
Natürlich wissen das manche nicht, weil sie den Koran nicht kennen und die Bibel nicht kennen
wollen, geschweige denn Bauregelungen. So toben die meisten Debatten zwischen schlecht
informierte Parteien und wie üblich geht es um Sachen, um die es eigentlich überhaupt nicht geht.
Die Energie der Anti-Minarett-Lobby wäre sinnvoller eingesetzt, die Tradition der Freiheit Muslimen
zu erklären. Dafür müsste sie aber ihre eigenen historischen und kulturellen Wurzeln kennen. Wie
sonst wollen sie letztendlich dieses Land vor islamische „Unfreiheiten“ schützen? Minarette kratzen
nur an der Oberfläche, aber wenigstens wird nun gekratzt.
Most-India Kolumne
Februar 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
www.twins.guptara.net
Ordnung und Anarchie
7 Wochen gratis in Berlin wohnen: der Flug, die Unterkunft sind bezahlt, das Essen auch – und wer
würde sich Freibier à discrétion entgehen lassen?
Ach ja, die meisten Menschen, die einen normalen Job haben und nicht gerade dem Militär
entkommen sind. Genau das ist Thema: „Die Arbeitswelt von Morgen“ solle man mitgestalten.
Palomar5 ist ein interdisziplinäres Innovations-Camp für Querdenker, -Macher- und -Erfinder, die den
Alltag auf den Kopf stellen möchten.
Ich bewerbe mich also prompt und nicht gerade einfallsreich mit einer Seite Text … wie 600 andere
auch, wovon manche professionelle Animations-Clips oder eigene Patente mitliefern.
Zur eigenen Überraschung bekomme ich ein Interview und finde mich wenig später ein glücklicher
Opfer der Gegensätze. Ich war weder Mensch noch Tier, ein Panzergrenadier, nur ein Name (gebellt)
und ein Uniform (verschwitzt). Als Nächstes bin ich einer von 30 Jungtalenten unter dem Alter von 30
aus 13 Ländern, die sich die Zukunft effizienter, flexibler, menschlicher erträumen. Und täglich
ausschlafen. Unser Wohnort: Die Malzfabrik, die der Kaserne glich, bis wir mit mehr oder weniger
Geschmack Innendekoration betrieben.
Arbeitszeiten gibt es nicht; bald etabliert sich die Nachtschicht, die sich knapp mit den
Frühaufstehern kreuzt. Ohne Hierarchie und mit schwer erkennbarer Struktur ist ein gemeinsamer
Start nötig: die ersten Tage verbringen wir in identischen blauen Jumpsuits und irren wie eine Armee
von Andersdenkende durch Berlin.
Panzergrenadier war eine Extreme, wie man sich organisieren kann, Palomar5 die andere. Die
meisten Firmen und Schulen sind dem Militär-Modell ähnlicher, obwohl die Zukunft zunehmend
Palomar5-Merkmale erfordert: Raum für kreatives Chaos, das bei näherem Hinsehen doch viel besser
synchronisiert ist. www.palomar5.org
Most-India Kolumne
März 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
www.twins.guptara.net
Lebenszyklus von Ideen
30 Jungtalente, animiert stehend, abwartend sitzend, zunehmend resigniert liegend. Es ist die erste
Woche von Innovations-Camp Palomar5 und wir müssen zu gewisse organisatorische Entschlüsse
kommen. Wie arbeiten so viele schlaue Köpfe an so vielen Ideen?
Der Embryo einer Idee entsteht beim Käffele, unter der Dusche, im Traum. Wenn sie genug reif ist,
wird sie von den Eltern zum Ideas Wall getragen und auf Post-it-Notizzettel geboren. Plötzlich wird
sie von einem Dutzend ermutigende und kritisierende Tanten und Onkeln belagert, wo sie sehr
schnell erwachsen wird. Während einige in einem Inkubator ruhen, überleben andere nicht so lang,
werden von den eigenen Eltern abgetrieben oder von ehrgeizigen Verwandten erstickt.
Um eine Idee zum Projekt zu befördern muss man mindestens drei Paten finden. Bei hunderten
Glühbirnen musste jeder zwangsläufig einige den Stecker ziehen, wo sie im „Ideenfriedhof“ landeten,
repräsentiert von einem Kreuz mit RIP. Darüber steht: Konsens hat meine Idee getötet. Doch ist der
Tod des Kreuzes bekanntlich nicht endgültig; wenigstens ein Projekt ist „wiederauferstanden“.
Zum Glück stirbt ebenfalls Konsens als Idee. Ein Muster ergibt sich: Diskutiert wird stundenlang, ein
Entscheid bleibt aus. Schliesslich ergreifen Wenige die Initiative und setzen eine Idee um. Dieses
System wird auch von den Kritikern übernommen, weil es das Einzige ist, was steht.
Solches Verhalten scheint symbolisch für viele andere Umstände zuzutreffen. Wer ist ein Anführer?
Traditionell ist er, selten sie, oben im Hierarchie. Effektiver wird immer mehr von unten, von hinten
geführt. Ein Leiter merkt vielleicht gar nicht, dass er dieser ist, bis er sich umdreht und eine Schar
Anhänger entdeckt. Also bitte: Initiative ergreifen, man wird staunen, wie viele folgen!
Most-India Kolumne
April 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
www.twins.guptara.net
Entbindet das Genie
Unrasiert und mit dunklerem Haar erinnert Kosta Grammatis an einen irgendwie männlicheren Jim
Carrey. Lustig ist er auch, aber mit etwas exzentrischerem Humor. Er strahlt eine enigmatische
Mischung aus, pendelnd zwischen besonnen und zappelig, gedämpft und hyperaktiv. Wenn er
spricht, dann mit erfrischender Authentizität, egal ob schlechter Witz oder schlichte Weisheit. Der
schnell gelangweilte Kalifornier ist an den Gruppentreffen von Innovations-Camp Palomar5 nie zu
finden, doch nicht aus mangelnden Manieren.
Das 24-jährige Genie hat schon Satelliten zum Orbit ins Weltall gebracht. Als Kosta einem einäugigen
Kanadier das defekte Aug mit einer winzigen Kamera ersetzte, damit dieser wortwörtlich aus der IchPerspektive filmen konnte, wurde das Projekt „Eyeborg“ von TIME Magazine als eines der Top 50
Erfindungen von 2009 gewählt.
Doch angefangen hat die Geschichte ganz anders. Diese Kompetenzen hätten Lehrer dem ADSJungen nie zugetraut, der nicht länger als ein paar Minuten still sitzen und zuhören kann. Jahrelang
wird Kosta mit Medikamenten vollgepumpt, dessen Nebenwirkungen ihn müde und depressiv
machen, was wiederum Behandlung benötigt.
Irgendwann sind ihm die medizinischen Experimente leid. In seinen späteren Teenie-Jahren weigert
er sich, Tabletten zu schlucken und beschliesst, mit Willenskraft denjenigen zu werden, den er sein
möchte. Er stellt sich bewusst seinen Ängsten, besiegt sie. Stundenlang stapelt er Objekte, um seine
Geduld und Konzentration zu steigern. Sein OCD (Zwangsstörungen) hat heute auch Vorteile, treibt
ihn dazu, den Kühlschrank mit auf den Zentimeter genau gerichteten Flaschen bis ganz Vorne
einzulagern. Einfach herzig.
Wie viel wird zerstört, weil Menschen in Gussformen gegossen werden, und die, die nicht reinpassen
als „krank“ gelten? Still sitzen ist unnatürlich; bitte, lasst die Kostas in Ruhe und behandelt mich!
Most-India Kolumne
Mai 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
www.twins.guptara.net
Schwarz und Weiss
“Meine Tochter hat mir gerade etwas sehr interessantes erzählt.“ Die indische Mutter schaut die
Lehrerin vorwurfsvoll an. „Sie sagten Ihren Schülern, sie sollen sich in den Abschlussprüfungen nicht
beim Schummeln erwischen lassen?“
“Ja! Es ist wichtig, dass wenn jemand erwischt wird, sie auch wissen, wie man sich zu verhalten hat.
Sich absichern.”
„Aber Sie haben nie gesagt, die Schüler sollen nicht schummeln – bloss, sie sollen sich nicht dabei
erwischen lassen?“
Lehrerin hält inne. „Sie deuten an, ich hätte den Schülern allgemein davon abraten müssen?“ Mutter
nickt. „Von welchem Planeten kommen Sie denn?“ ruft Lehrerin aus. „Ich kann den Kindern in der
Schule nichts vormachen. Sie sehen ja, wie Indien funktioniert!“
Dieselben Geschichten hören wir von jeder sozialen Schicht in Delhi, vom Palast bis zum Slum. „Selbst
der Präsident ist korrupt“, gibt der Taxi-Fahrer zur Ausrede, warum er seinen Kunden beschwindelt.
Es ist unmöglich, ein Haus zu kaufen, ohne die Hälfte unter den Tisch zu bezahlen, wie es die
Verkäufer fordern, um Steuern zu hinterziehen.
„Das ist der wahre Grund, warum es Indien in dieser Finanzkrise so gut geht“, verrät mir ein Designer
als eine Kundin eine Brieftasche voll Banknoten über sein Pult ausleert. „Unsere schwarze Wirtschaft
ist ebenso gross wie die Weisse!“
Man gibt gegenseitig an, wie genau man das System neust umgangen ist. Schliesslich hat man gute
Vorbilder: die tausend indischen Götter, die um einiges moralisch verwerflicher sind als die meisten
ihrer Anbeter.
Vielleicht ein Grund, wieso mir der Guru – der soeben aus der heiligen Gita über Ethik gepredigt hat!
– keine Antwort auf meine Frage hat: Warum Indien als religiöseste Land der Welt gleichzeitig auch
das Korrupteste sei?
Auch ein Grund, wieso junge Inder so gerne im Westen studieren, und gleich bleiben?
Most-India Kolumne
Juni 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
www.twins.guptara.net
Most-Indien
Nachdem wir von Delhi University eingeladen waren, um dort unser viertes Buch zu schreiben, haben
nun wir Besuch aus Indien. Ich erzähle unserem Gast, wieso der Thurgau „Most-Indien“ genannt
wird. Er schaut mich leer an.
Ashish – nicht Haschisch, muss ich schmunzelnde Kumpels klarstellen – wohnt in einem „kleinen
Dorf“ (30‘000 Einwohner). Anstatt ein Job in den USA zu nehmen haben seine Eltern dort eine Schule
gegründet, die auch die unteren sozialen Schichten des (illegalen aber immer noch massgebenden)
Kastensystems unterrichtet. Wir unterstützen ihre Schule und waren dort selber Gäste. Jetzt bin ich
an der Reihe, ihm meine Heimat zu zeigen.
Versuche zu erklären, wieso Thurgau Most-Indien ist – fruchtbar, schön, der beste Kanton eben –
bleiben fruchtlos. Ein verwirrtes „Okay…“ Ich bin enttäuscht, dass er den banalen Witz dieses
Vergleichs nicht versteht.
Zur Analyse besucht Ashish hier etliche Schulen. In Indien sei alles ganz anders. Ehemaliger
Premierminister Rajiv Gandhi schätzte, dass wegen Korruption nur 5% seines Bildungsbudgets
tatsächlich ankam. In öffentliche Schulen tauchen manche Lehrer nur einmal im Monat auf – um den
Lohn abzuholen. Damit Schüler trotzdem Prüfungen bestehen schreiben Lehrer Antworten auf die
Wandtafel.
Als wir Grillen gehen, ist Ashish erstaunt. Öffentliche Plätze brauchen keinen permanenten
Angestellten, da Schweizer (meistens) hinter sich sauber machen. Und Schweizer Autos hupen kaum!
Auf Fussgänger wird gewartet! Fremde begrüssen ohne Hintergedanken von Give and Take. „Grüezi“
hat er schon drauf.
„En Guete!“ Ein passendes Bild: In Indien sind – im Vergleich etwa zu Ananas, Kokosnuss oder Mango
– Äpfel Luxus. Ebenso wie Vertrauenswürdigkeit und unterrichtende Lehrer. Auch wenn ich die
indischen Alltagsfrüchte bevorziehe (sorry Thurgau!), den anderen Alltagsluxus behalten wir lieber
mit dem Most.
Most-India Kolumne
Juli 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
www.twins.guptara.net
Heart Bridges
Nach ihrer Ausbildung in Hawaii reisten 46 Menschen in die Schweiz, um ihr Musical „Coming Home“
vorzuspielen. Ihre Premiere feierten sie ausgerechnet im Thurgau, wo die zwei Auftritte in
Weinfelden und Amriswil 1,100 Personen erreichten. Das Interessante: Während Sponsoren
heimische Kosten decken, so bringen die Jugendliche doch die meisten Finanzen für ihre Weltreise
selber zusammen. Darunter der eine oder andere Profi – etwa ein amerikanischer Schauspieler oder
Opernsänger aus Südkorea. Warum opfern diese internationale Performer sechs Monate ihres
Lebens . . . und bezahlen erst noch dafür?
Sicherlich geht es darum, dass sie ihre Fähigkeiten entwickeln und als Personen wachsen, sowie die
Welt erkunden. Nach dem Montreux Jazz Festival geht es nach Italien, Griechenland und Ägypten.
Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen, so Goethe. Das war schon meine Ausrede,
mit 15 die Schule zu verlassen (und 27 Länder zu besuchen).
Die Geschichte aber spielen sie aus Überzeugung, als lebende Beweise. „Coming Home“ erzählt vom
verlorenen Sohn. Darin geht es um Vergebung und Gottes bedingungslose Liebe, eine Botschaft, die
vor allem im Mittelosten geschätzt wird. Viele der Jugendliche identifizieren sich mit dem verlorenen
Sohn. Manche waren Hooligans, Junkies oder Missbrauchs-Opfer, während andere mit alltäglicheren
Problemen von Sinn und Identität zu kämpfen hatten.
Identifizieren können sich im Publikum offenbar auch einige; in Ländern mit einer „wärmeren“ Kultur
trifft man nicht selten auf Tränen. Die Produktionsfirma der aus 12 Ländern stammenden Truppe
nennt sich „Heartbridge“, denn sie verstehen sich als Herzensbrücke zwischen Menschen und
Nationen.
Sein Geld in sich und andere zu investieren, das ist nachhaltig, wenn auch nicht unbedingt finanziell.
Wäre ich Weltdiktator, ich meine demokratisch bestimmter Präsident, würde ich allen Jugendlichen
einen globalen Zivildienst aufzwingen, ähm, ermöglichen, in Form eines Auslandaufenthaltes.
Most-India Kolumne
1. August 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
www.twins.guptara.net
Liebe Helvetia
Hiermit gratuliere auch ich herzlich zum Geburtstag. Doch muss eine unhöfliche Frage gestellt
werden, gerade für Damen in Deinem Alter: zum wievielten Wiegenfest bitte? Einige würden Dir am
liebsten zum 719. gratulieren, dem legendären Rütlischwur am 1. August eingedenk. Ich aber weiss,
dass eine alternde Lady empfindlich ist, und giesse eine „162“ auf die Torte. Damals hast Du
schliesslich Deine Verfassung bekommen, wurdest als moderner Bundesstaat gegründet.
Ach, tu nicht so, für ein Land bist Du gar nicht so alt. Schau Dir San Marino an. Seine Verfassung ist
womöglich die Älteste der Welt: er feiert 410. Eigentlich bist Du noch ein Teenager! Klar, das ist ein
schwieriges Alter. Ich hab’s auch erst gerade hinter mir. Vielleicht kann ich Dir ein paar Tipps geben.
(Ja, ganz gratis. Ist das unschweizerisch?)
Du hinterfragst Deine Identität und suchst dauernd nach Deiner Rolle in einer sich immer schneller
verändernden Welt. Egal, was andere sagen, denk daran: Wer Du sein willst, ist eine Entscheidung.
Charakter kennt keine Neutralität. (Was hat das eigentlich auf sich? An der Fussball-WM warst du
auch nicht unparteiisch!)
Du gehörst zu den Reichsten und Schönsten unter den 195 Staaten und bist, unter uns gesagt, ein
gutes Stück besser erzogen. Also, was sollen diese Unsicherheiten? Bedank Dich bei Deinen Eltern
und begrüsse Deine Vorbild-Funktion. Keine falsche Demut!
Wer in der Rekrutenschule war, kann es kaum glauben, aber einst waren Schweizer die besten
Soldaten Europas. „HELVETIORUM FIDEI AC VIRTUTI“ steht über dem Löwendenkmal von Luzern. Der
Treue und Tapferkeit der Schweizer. Ja, Helvetier, so sind Deine Töchter und Söhne: wacker und treu
wie Sackmesser. Rappele Dich auf, verwundeter Löwe! Aber dieses Mal nicht als monarchischer
Söldner, sondern als führende Mitgestalterin der sich globalisierenden Welt.
Dein Adoptivsohn,
Jyoti Guptara
Most-India Kolumne
September 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
www.twins.guptara.net
Ich AG
Schon wieder geht ein Tag zu Ende, ohne etwas beendet zu haben. Und das obwohl ich
ausnahmsweise früh aufgestanden bin, um 09.00 Uhr. Klar, ich habe Rechnungen beglichen, dreizehn
Emails gelesen und die Hälfte davon beantwortet. Wie immer habe ich ein paar als „ungelesen“
markiert, um den Gesamtbetrag der „ungelesenen“ Mails auf 486 zu bringen (darunter Mails von
2007). Man wird sie bestimmt später erledigen können. Oder vielleicht braucht man sie ja wieder.
Zum Glück kann man SMS nicht als ungelesen markieren!
Um 14.00 Uhr habe ich so etwas Ähnliches wie ein Mittagessen gekocht (mit etwas Hilfe von Frau
Anna S. Best). Bei der Mittagspause wollte ich mich mit einer Folge der Ärzte-Komödie „Scrubs“
belohnen. Daraus wurden zwei. Nach einem gescheiterten Versuch, etwas Leserliches, ähm
Lesenswertes, zu schreiben, habe ich am Nachmittag ein paar Stunden lang „recherchiert“
(willkürlich gesurft). Dann wollte ich, um meine literarische Handwerk zu verbessern, ein paar
Stunden Lesen. Plötzlich ist es zwei Uhr morgens. So kann das nicht weitergehen!
Am nächsten Tag wiederholt sich die ganze Geschichte. Wie sieht also der Alltag eines Schriftstellers
aus? Frage nicht! Wirklich, es ist nicht so, dass ich wenig arbeite, manchmal vierzehn Stunden am
Tag. Aber es ist als Selbständiger Künstler sehr schwierig, zwischen interessant, dringend und wichtig
zu unterscheiden. Welcher meiner Dutzend Visionen soll ich zuerst nachgehen?
Dann kommt mir die Lösung. Viele in meiner Familie haben Firmen aufgebaut. Bin nicht auch ich eine
Firma? Jede Person, die produktiv sein will, kann sich eine persönliche Beratungsausschuss und
Aufsichtsrat zusammensetzen! Einmal im Monat sollen die uns auf den rechten Bahn bringen. Im
Ernst: Einzelpersonen brauchen Ziele, Beratung und Rechenschaft. Ob Aufsichtsräte ein Honorar
kriegen, liegt an euch...
Most-India Kolumne
Oktober 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
www.twins.guptara.net
Die 10 Regeln eines Road Trips
1 Chrysler Minivan (und, kurz, 1 Bär). 4 Freunde (meistens). 7 US-Bundesstaaten. 8‘000 Kilometer.
1‘000‘000 tote Insekten (und 1 toter Hund). Es ist die Art Reise, die während eines Hollywood-Films
entsteht: das sehen, das machen wir auch mal! Zur eigenen Überraschung wird aus Übermut
Vorfreude. Wir finden 3 Wochen, die allen gehen, auch wenn einer dafür eine Woche ETH schwänzen
muss. Weil ich nicht autofahren darf, reise ich mit drei Freunden, die es tun. Zu viert passt es im Auto
mit dem Gepäck, in Zelt und Hotelzimmer. Somit gelangen wir bei der ersten Regel eines Road Trips.
1. Wähle deine Gefährten sorgfältig aus. Man soll sich gut verstehen, da es schnell zu Reibereien
kommt. Darum soll man auch nicht allzu eng befreundet sein, falls die Freundschaft durch die Reise
zu Bruch geht. Hat jemand eine gute Kamera, führt jemand Tagebuch, um die Reise zu
dokumentieren? Muss einer alle 30 Minuten eine Pinkelpause einlegen?
2. Plane. Besser: wähle einer der Gefährten für sein organisatorisches Talent und delegiere diese
Aufgabe. Welche Vorstellungen haben die verschiedenen Akteure? Kurz vor Abflug wird einer
ausgelacht, der Kampfstiefel im Gepäck hat um im Grand Canyon zu wandern. Versichert? Unser
Auto wird in Las Vegas durch Schlüssel zerkratzt (möge Gott den Täter bestrafen). Es empfiehlt sich,
ein paar Stunden vor dem Rückflug den Kreis geschlossen zu haben.
3. Verplane Nicht. Reserviere nie eine Übernachtung im Voraus. Es macht mehr Spass, drei Stunden
rumzufahren, weil in Yellowstone National Park Senioren-Saison ist. Seid flexibel, die besten
Erfahrungen sind ungeplant.
4. Befreunde die Einheimischen. Es kann zu gratis Übernachtungen führen.
5. Verschicke Postkarten. Ja, richtig zu-spammen sollst du sie, deine besorgte (eifersüchtige) Familie,
Freunde und Kollegen. Vergiss nicht deine Feinde. Nutze diese einmalige Gelegenheit, sie mit
Angeberei zu quälen!
6. Learn the Lingo (lerne die Sprache). In Amerika sagt man zur Begrüssung „how ya doin?“ und will
nicht wissen, wie es dir geht. Mit der falschen Aussprache kann Yosemite plötzlich Joe-Is-Mighty
heissen.
7.-10. Höre nicht auf Jyoti. Besorgt euch einen besseren Ratgeber.
Jyoti Guptaras 3. Buch, „Calaspia. Das Erbe der Apheristen“ erscheint Oktober 2010 bei Rowohlt
Most-India Kolumne
29. Oktober 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
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Postmoderne Private Öffentliche Intimität
Geständnis: Kürzlich blätterte ich in einer Boulevardzeitung. Ehrlich, es sass ganz zufällig auf meinem
Sitz im Zug. Ich wollte diese ultraliberale, mit mehr Soft Porn als Text bedruckter Monstrosität
natürlich sofort beiseite legen, um mich ernster Literatur zu widmen, bevor mich jemand damit
erwischte und ich gleich selber zum Opfer der Regenbogenpresse wurde.
Da fiel mein Auge, natürlich wieder ganz zufällig, auf ein Interview mit der „neuen“ Miss Schweiz. Mit
einer Amtszeit von einem Jahr scheint es immer eine neue Miss Schweiz zu geben, bevor die Alte alt
geworden ist. Warum dieses Ausziehen und Ausplaudern junger Mädchen an sich nie alt wird, wurde
mir am Schluss des Interviews klar.
Nachdem die Belle etliche Fragen über ihr Intimleben beantwortet hat, eine Frage zur Religion. Ihre
banale aber höchst aufschlussreiche Antwort: Sie will sich dazu nicht äussern, denn Glaube sei etwas
Privates, Intimes.
Diese Einstellung ist eine perfekte Repräsentation der Perversion der Postmoderne. Alles wird auf
den Kopf gestellt. Denn „privat“ und „intim“ sind ja eigentlich Wörter, die den Rest des Interviews
beschreiben!
Vielleicht leuchtet es noch nicht jedem ein, dass privat zu treffende Überzeugungen von grösster
öffentlicher Bedeutung sind (und damit meine ich nicht sexuelle Präferenzen). Das wäre auch
vorhersehbar, denn wo Absolute verloren gehen, folgt bald auch Logik.
Ideen haben Konsequenzen. Wenn eine Gesellschaft glaubt, diese Welt sei Illusion (z.B. Buddhismus),
hat sie andere Prioritäten als die Freiheiten und Gerechtigkeit ihrer – imaginären – Menschen! Ein
Gottesbild führt zu einem Menschenbild; verschiedene Menschenbilder führen entweder zu
Menschenrechte, oder zu Sklaverei.
Aber diese unbequeme Thematik ist uns zu wenig tolerant. Widmen wir uns also unseren Fantasien.
Auch ich will mal zur Miss Schweiz Wahl eingeladen werden. Um zu Networken, versteht sich.
Most-India Kolumne
Nov 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
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Beruht die Zukunft der Schweiz auf Zahlenmystik?
Dieses Jahr feierten mein Zwillingsbruder und ich unseren 22. Geburtstag am 22. Die beste Zahl, seit
unserem 1. Geburtstag in November 1988, was uns die optimalen Zwillings-Zahlen sicherte: 22.11.88.
Was steckt in einer Zahl? Anscheinend ganz schön viel Marketingpotenzial! Leider habe ich es
versäumt, die Presse über „22 am 22.“ zu informieren. Ich glaube, es wäre auch gedruckt worden,
denn obwohl Platz für Bücher-Rezensionen immer knapper wird, stehen heutige Medien auf solche
Zahlenmystik. Da wäre wieder ein Schriftsteller in die News gekommen, der nicht gerade einen
internationalen Buchpreis gewonnen hat. (Stell dir vor, nur Schauspieler würden in die News
kommen, die soeben einen Oscar gewonnen hätten!)
Ein Freund von mir, der Zukunftsforscher ist, hat sich sehr über den 1.-August-Ansprache der
Bundespräsidentin gefreut, als diese eine Debatte über die ferne Zukunft der Schweiz forderte.
Sofort hat er sich bei einigen Medienkollegen gemeldet, um herauszufinden, was die Zeitungen
geplant hatten, welche unqualifizierte (alte Experten) und qualifizierte (Kinder, die in der zukünftigen
Schweiz leben werden müssen) sich dazu äussern.
So funktioniere das ganze leider nicht, bekam er zur Antwort. Man müsse das richtig umrahmen.
Man könnte zum Beispiel am 11.11.2011 mit 111 Patrioten auf den Rütli hiken, um ein Foto zu
schiessen – das würde man auf jeden Fall drucken! Und das nicht etwa von Gratis-, sondern seriösen
Zeitungen.
Wir haben also noch ein Jahr Zeit, um uns vorzubereiten. Wenn es endlich richtig umrahmt ist, was
wird dann der Inhalt wohl sein? Mein Vorschlag: Die Schweiz solle ihre Einwohnerzahl auf 7,77
Millionen beschränken, nicht etwa, wegen Überbevölkerung, oder wegen der Ausländer – nein, das
wäre zu rational. Besser begründen könnte man’s, indem man sagt, drei mal die 7 seien symbolisch
die biblischen Zahlen der absoluten Vollkommenheit.
Most-India Kolumne
24. Dezember 2010 in der Thurgauer Zeitung
Jyoti Guptara
www.twins.guptara.net
Konsequenzen des Christkinds
Ich bin in Indien, wo heute auch gefeiert wird. Inder halten Weihnachten als christliches Fest für ein
westliches Symbol, was gespaltene Gefühle zur Folge hat. Einerseits steht es für die Globalisierung
mit ihren Vorteilen für Indien; andererseits auch für christlichen Imperialismus. Man denkt an die
„schreckliche Kolonialzeit“ der englischen Herrscher.
Lustigerweise liegt die Realität bei keiner der beiden Gedankengänge. Indien kannte die Botschaft
von Jesus vor England (und auch der Schweiz!), denn im 1. Jahrhundert nach Christus bekehrte der
Apostel Thomas allein in Kerala hunderttausende Nachfolger, darunter einer meiner Vorfahren. Und
ausserdem hat Indien der Kolonialzeit viel zu verdanken.
Mehrere Phasen zeichneten sich im britischen Kolonialismus ab. Anfangs war es wilde Plünderei
durch die East India Trading Company. Missionare waren verboten. Nicht, wie von den Meisten
angenommen, weil sie die indische Kultur und Religionen subvertieren könnten, sondern vielmehr
weil man wusste, dass sie für Gerechtigkeit sorgen und das Land aufbauen würden. Im Parlament
tobte also ein langer Kampf, Missionare zu erlauben! Als sie siegten, wurde der Kolonialismus nach
und nach vom Fluch zum Segen.
Fakt: Jesus hat gelebt. Nicht mal seine Kritiker zweifelten daran (bis erstmals Ende 18. Jahrhundert,
laut Encyclopedia Britannica). Er hat die Welt geprägt wie kein Anderer. War er der langersehnte
Messias? Leider kennen nicht einmal die, die daran glauben, die weitreichenden Konsequenzen
dieser Geburt.
Der Missionar William Carey zum Beispiel, ein einfacher Schuhmacher, hat fast jeden
Gesellschaftsbereich positiv geprägt. Unter anderem begann er die erste Zeitung Asiens; übersetzte
sowohl biblische als auch indogene Schriften; bildete Mädchen und die unteren Sozialschichten aus
und dokumentierte die reichhaltige Botanik. Das sind einige der wahren Segen von Weihnachten für
Indien – und für die ganze Welt.
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