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Israel (2009)
Zur Kulturgeschichte des Narzißmus
Die Geschichte Israels und des daraus erwachsenen Christentums sind spezifisch instruktiv für das allgemein
menschliche Problem, das die heutige Psychoanalyse Narzißmus nennt.
Zur Zeit der Entstehung des Christentums befand sich Israel in einer seiner schwersten Krisen; im Jahre 71 wurde,
nach einer quälenden Epoche, Jerusalem von den Römern zerstört. Apokalyptik und Magie1, zwei2 extreme Formen
des Erwähltheitsglaubens3, charakterisieren die geistige Verfassung des unglücklichen Milieus, in dem die jüdische
Sekte "Christentum" entstanden und von dessen Geist sie bleibend geprägt ist.
Es handelt sich - aus gesicherter bürgerlicher Existenz heraus gesagt - um narzißtisch-pathologische Formen der
Verarbeitung eines schrecklichen Schicksals durch eine narzißtisch stark vorbelastete Kultur.
Das alttestamentliche Erbe
Vorangegangen war die durchs Alte Testament dokumentierte langsame Entwicklung des israelischen
Monotheismus. Die Eifersucht4 Jahwes gehört zu den alten Traditionselementen. Man kann den universalgeschichtlich bedeutsamen Wahrheitsgehalt der naiven Reïfizierungen ("Unser Gott ist Herr der Geschichte") in der
schrittweisen Ausarbeitung des Subjekt-Schemas5 sehen.
Jede persönliche, opferbereite Identifikation fordernde sozietale Einheit hat ihre mehr oder minder starren und,
entsprechend, quasi wahnhaften Selbstverständlichkeiten. So hatte Israel seinen Jahweglauben. Dessen endgültige
Ausgestaltung ist als kollektive Trotzreaktion gegen Bedrohungen der Identität zu verstehen.
Es folgte die schreckliche6 Zeit bis zur Zerstörung Jerusalems, in der sich die, weiter bedrängte, religiöse Identität
verhärtete.
Darauf folgte die Neukonstitution einer verengten jüdischen Orthodoxie, die u.a. Apokalyptik, Magie, Gnosis und
Christentum entgültig zurückdrängte bzw. ausschloß.
Judentum
Realgeschichtlich
Die Juden in der Zerstreuung bildeten zunächst einen eigenen Rechtsverband mit völkerrechtlichen Beziehungen
zum Gastland.
Als sie dann formalrechtlich emanzipiert wurden, wurden sie sozial marginal gehalten, entrechtet und asozialisiert.
1.
Siehe MORTON SMITH, Jesus the Magician, 1978. S. 114: "This suggests that magical deification may have been
unusually prominent in Jewish tradition (as exorcism seems to have been)."
2. Etwas später und nicht in solcher Breite wichtig werdend, auch die Gnosis. - Zu Apokalyptik, Gnosis und heidnischer Magie vgl. die entspr. Kapitel in meinem Buch Ursprung und Wesen der christlichen Seelsorge, München
1985.
3. Der Magier sowhl wie der Apokalyptiker hat eine spezielle Beziehung zum höchsten Gott.
4. Gerhard von Rad spricht von "Eiferheiligkeit".
5. Das Subjekt-Prädikat-Schema ist ein anthropologisches Universale!
6. Josephus, Der jüdische Krieg, sollte mehr gelesen werden.
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Ideologisch
Das Judentum hat sich, aus den altisraelitischen, Anfängen den körperlich-kollektiven Sinn des religiösen Narzißmus
erhalten; Jahwes Segen gilt "Abrahams Samen". In die jüdische Geschichte als lehrreiches Stück Kulturgeschichte
des Narzißmus gehören, außer dem (später zu besprechenden) Christentum, die folgenden nicht- bzw.
antichristlichen, reichen Entwicklungen:
Das universalistisch-liberale hellenistische Judentum, wie es klassisch ein Philo repräsentiert, elaborierte den
jüdischen Anspruch, das richtige Gesetz für alle Menschen1 von Gott zu haben. Diese respektable Tradition lebte bis
in unsre Tage immer wieder auf.
Ebenso beachtlich die Entwicklung einer zunehmend die jüdische Volksfrömmigkeit bestimmenden jüdischen
Mystik2. Ich rede nicht von der ältesten, der sog. Merkaba-Mystik, wo es um den himmlischen Palast des Gottes der
unbehausten Nation geht. Der mittelalterliche Chassidismus auf deutschem Boden aber - Reaktion auf die Verfolgungen des 12. Jahrhunderts - trägt viele Züge, die man gemeinhin für gut christlich3 hält. Besonders eindrucksvoll
jedoch ist die als Verarbeitung der furchtbaren Verfolgung in Spanien von 1492 zu verstehende, im 16. Jahrhundert
entstandene, im 17. sich ausbreitende Lurianische Mystik, - die vielleicht mehr von der ursprünglich christlichen
Verarbeitung von Enttäuschungen mitgenommen hat als die Christen, die das Unglück über das Volk gebracht
hatten. Den Eindruck, den die Bubersche Interpretation der polnischen chassidischem Mystik in der christlichen
Welt gemacht hat, muß ich nur in Erinnerung rufen. Endlich verweise ich auf unsern Zeitgenossen Elie Wiesel, seine
Person und sein Werk.
Auch der neue Staat Israel gehört, als Verwirklichung eines Traums, zu diesem Paradigma einer Kulturgeschichte
des Narzißmus.
Humorlosigkeit der Sabres in Israel: Die Flucht ins gelobte Land, in die Heilige Sprache hat die Heilssymbole der
Eltern banalisiert. Down to earth. Den Kindern bleibt nur ein dummer Nationalismus und Rassismus, garniert mit
den Nobelpreisen der Onkel.
Die Banalisierung des "Nächstes Jahr in Jerusalem" durch die Realisierung aber beraubt natürlich auch die Juden in
der Zerstreuung. Was bleibt ihnen?
Jedes menschliche Extrem bietet sich als natürlichen Kern einer sozialen Identität an. Das belastet die jüdische
Identität. Dagegen empfiehlt sich: "low profile".
Magie
Allgemein
Der amerikanische Althistoriker Morton Smith hat vor gut 10 Jahren eine methodisch anfechtbare4, maliziöse, aber
kenntnisreiche und deshalb auch lehrreiche Darstellung der magischen Züge des Neuen Testaments vorgelegt,
deren Bedeutung in der Theologie m.E. doch noch nicht angemessen Rechnung getragen ist. Insbesondere
pastoralpsychologisch scheint mir das Buch anregend.
Smith hat das frühe Christentum auf seine Ähnlichkeit mit sozialen Stereotypen von Zauberei hin abgeleuchtet.
Man darf davon ausgehen, daß einer zum Zaubern begabt sein muß. Die Stereotypen von Begabung sind nun nicht
das geeignetste Vehikel, sich dem Phänomen der Begabung zu nähern. Sie repräsentieren das Bild, das sich
1.
Vgl. Röm 2,19.
GERSHOM SCHOLEM, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, 1957.
3. "Hier wird der Chassid der wahre Herr der magischen Gewalten, der, weil er nichts für sich selber will, alles
erlangen kann." Scholem S. 107f.
4. Trotz der auf dem Buchdeckel der Ausgabe von 1981 abgedruckten Empfehlung von Hugh Trevor-Roper!
2.
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Unbegabte von Begabung machen1. Die Zauberpapyri, an denen sich Smith orientiert, machen mir, verglichen mit
dem Neuen Testament, einen unbegabten Eindruck. Massenware, modischer Kitsch, den man nur armseligen
Geschmacksunsicheren als Kunst verkaufen kann. Allerdings schärft das von Smith dem Neuen Testament
gegenübergestellte Material auch das Auge für den stark zeitgebundenen Kitsch, der sich im Neuen Testament
vermischt mit dem bis heute Bedeutenden, - Aberglauben, dem gewisse Kreise noch heute nicht historischen Respekt, sondern blindes Vertrauen schuldig zu sein meinen2.
Sich psychologisch zum Zauber zu äußern ist immer riskant, weil Psychologie, als Wissenschaft, der Rationalität
verpflichtet ist, wo doch gerade beim Zauber die Tragweite der Rationalität zur Diskussion gestellt ist. Bekanntlich
ist die Kant'sche Erkenntniskritik aus der Auseinandersetzung mit diesem Problem erwachsen; auch Schopenhauer
hat ihm eine längere Studie gewidmet. Die empirische Forschung in diesem Bereich hat bisher nichts
Entscheidendes geleistet. Meiner Meinung nach muß man sich mit einem theoretischen "Ignoramus", einem praktischen "Etsi non daretur" und ästhetisch mit der eigenen Geschmackskultur begnügen.
Wissenschaft kann hier nur Randbemerkungen machen - je wissenschaftlicher, desto marginaler. Immerhin sind
Randbemerkungen oft erhellend.
Soziologisch
Die Abgrenzung des Begriffs Magie ist immer sehr willkürlich. Es geht um Wunder, d.h. Ereignisse, bei denen man
sich wundert, ja, bei denen das Wundern zur Hauptsache gehört. Das Alltagswissen erscheint als unzureichend zum
Verständnis einer Begebenheit, die in den Alltag eintritt. Es erscheint einfach wie ein falscher Schlüssel, - an dem ja
auch nur ein Zahn falsch zu sein braucht3.
Das alte Griechisch unterschied zwischen Magie (μαγεία) und Zauber (γοητεία). Das eine Wort hatte einen besseren
Klang, das andere war eher negativ bewertet. Die Magie war von Hause aus ausländisch(-iranisch)-adlig und
amalgamierte sich mit der prestigiösen Astrologie, die ihrerseits mit der Astronomie weitgehend identisch war. Die
Zaubereien hingegen waren eingeboren-volkstümlich.
Komponenten beider Traditionstypen mischten sich, die Übergänge verflossen. Es war nicht etwa Magie gut und
legal, Zauberei böse und kriminalisiert. Magie hatte wohl mehr Verbindung zur etablierten Rationalität. Aber auch
sie geriet nicht nur rational, sondern auch moralisch ins Zwielicht. Persönliche Sympathie und öffentliche Meinung
spielten beim Urteil eine entscheidende Rolle.
Die juristisch vorgesehenen Strafen4 waren extrem: Kreuzigung, den Löwen im Zirkus Vorgeworfenwerden,
Scheiterhaufen, Deportation, Zwangsarbeit in den Metallbergwerken, für Leute von Stand das Privileg, enthauptet
zu werden; öffentliche Bücherverbrennung gehörte dazu.
Offenkundig ging es hier um höchste soziale Werte, um den sozialen "güldnen, edlen, werten Fried", den das
deutsche Kirchenlied im 30-jährigen Religions-Bürgerkrieg besang. Aus den Erfahrungen unsres Jahrhunderts wissen
1.
Wer auf solcher Basis ein Buch schreibt, muß sich der engen Grenzen bewußt sein, die damit der Tragweite seiner
Ergebnisse gezogen sind. Er begibt sich der Möglichkeit, Qualitätsunterschiede angemessen zu berücksichtigen!
2. Das Sacrificium intellectus dient der Identifikation (vorzüglich mit einem Toten), eine zunächst neurotische
Denkhemmung, die dann, besonders unter sozialer Verstärkung, zur Charakterformation werden kann.
3. In diesem Sinne ist auch jede Erfindung und jede wissenschaftliche Entdeckung zunächst ein Wunder. Die Öffnung
der Gesellschaft für wissenschaftliche Forschung (oder gar deren aktive öffentliche Förderung) ist riskant und versteht sich nicht von selbst. Die Moral der Wissenschaft ist bis heute ein beunruhigendes Thema.
4. Siehe die Äußerungen des berühmten klassisch-römischen Juristen Iulius Paulus aus dem 2. Jh.: Sententiae
receptae Paulo attributae, XXI und XXIII,15-18 in: J.BAVIERA, Fontes iuris romani anteiustiniani, II: Auctores, Florenz
1940. Bei M.Smith S.75f.
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wir, wie prekär ein sozialer Friede ist, der so barbarisch verteidigt wird. Magie berührt die Wurzeln der Soziabilität.
Es ging hier, wie auch bei neuen Kulten, entscheidend um das Problem normativer Verunsicherung, um die Basis
öffentlicher Ordnung.
Es geht beim Zauber um Macht und Beherrschung der Umstände. Am Wissen um Machtverhältnisse orientiert sich
auch das verhaltensnormierende Denken hinsichtlich Sitte und Recht. So verunsichern Wunder die soziale Ordnung.
Das Hauptproblem ist nicht die Rationalität, die immer praktisch begrenzt ist. Rationalität dient nur der
Verläßlichkeit. Und es geht um die Verläßlichkeit der sozialen Normen. Diese sind so prekär, daß sie mit Mitteln
tabuiert werden, deren Grausamkeit gerechtfertigt erscheint durch das Grauen, das ihr - auch nur partieller Zusammenbruch nach sich zu ziehen droht.
An der iranischen, ursprünglichen "Magie" sieht man: Ein allgemein anerkanntes Verunsicherungs-Monopol ist auch
eine mögliche Lösung des hier aufblitzenden Grundproblems jeder menschlichen Gesellschaft: der begrenzten
Tragfähigkeit des Alltagswissens. Aber auch sie bleibt prekär. Die Grenzen der Sicherheit sind chaotisch, sie sind
aber auch der Ort kreativer Prozesse.
Psychologie
Es geht im besten Falle um die soziale Freiheit der (auch sozialen) Kreativität des einzelnen. Heinz Kohut1 hat die
Kreativität als reife Form des Narzißmus dargestellt. Der Wundertäter muß zuallererst begabt sein; im übrigen
braucht er Tradition, normalerweise in Form von Schulung in der speziellen, persönlicher Vermittlung (nach
besonderen Kriterien) bedürftigen Überlieferung.
Gottesideen sind immer Ort von Größenphantasien. Sie haben mit Selbstgefühl und Selbstbild zu tun. Die
natürlichen Größengefühle des Menschen suchen sozial Gestalt zu gewinnen. Sie sind zugleich verheißungsvoll und
gefährlich chaotisch. Man kann sie - muß sie unter Umständen - zeitweilig unterdrücken. Auf die Länge solider ist
es, ihnen Raum zu geben. Hier tut sich die ganze Bandbreite auf von Barbarei (Sache vieler) zur Kultur (Sache
weniger2).
Sozialpsychologie hat es mit Stereotypen zu tun. Die (von der Psychoanalyse so genannten) "Mechanismen" der
"Abwehr" von primitiven Triebregungen und Affekten, die die Ich-Organisation bedrohen, haben, eben als
Mechanismen, gute Chancen, für sozialen Erfolg hinreichend klischeehafte Ideen zu produzieren. Wahnbildungen
und Zwangsvorstellungen, Bildungen des Aberglaubens, sind in Situationen der Bedrängnis immer zu fürchten. Es
kommt dann alles an auf den heilsamen Umgang damit.
Das Idealbild des Magiers ist eine soziale Gestaltung der hungernden Größenphantasie. Es wird mehr oder weniger
blind auf mehr oder weniger geeignete Personen übertragen. Deren Umgang mit dieser Übertragung ist wesentlich.
Heinz Kohut hat für die Therapie narzißtischer Störungen statt der klassisch psychoanalytischen Grundregel der
schlechthinnigen Versagung der infantilen Wünsche das weichere Prinzip der optimalen Frustration empfohlen. Das
Christentum will nicht unbedingt vernünftig beurteilt werden. Aber ich weiß kein besseres Kriterium, das frühe Christentum vernünftig zu beurteilen.
Christentum
Wir beschäftigen uns mit dem Problem der Magie im Blick auf den Anfang des Christentums, wo die Wunder Jesu
eine mitentscheidende Rolle gespielt haben. Für alle neutestamentliche Gemeinden gehörten Wunder zu den
Zeichen des rechten Geistes.
1.
The Analysis of the Self, 1971, dt. Narzißmus, 1973.
Kultur bedeutet unter anderm Umsicht. Wehe dem Volk, das Barbaren (auch barbierte) dazu bestellt, es zu
führen (wenn auch nicht jeder kultivierte Mensch Führungsqualitäten hat).
2.
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Im Unterschied zur üblichen kulturgeschichtlichen Sterilität der Zauberei in ihrer üblichen sozialen Abgespaltenheit,
springt die kulturelle Kreativität des frühen Christentums ins Auge. Hier wird, gegen die entfremdende herrschende
gesellschaftliche Überangepaßtheit an, echte soziale und kulturelle Integration geleistet; die christliche
Erbaulichkeit legt das neue Fundament des römischen Weltreichs.
Jesus
Wenn man einen genügend weiten Begriff von Magie zugrundelegt, kann man Jesus mit gleichem Recht einen
Magier nennen, wie man ihn einen König, ja den Messias nennen kann. All dies sind Schemata, wo alles darauf
ankommt, wie das betreffende Individuum in das Schema paßt. Die exklusive Beziehung auf den höchsten Gott und
die Einigkeit mit diesem als Fundament der Wundertätigkeit charakterisieren den Magier sensu stricto. Der
vollkommene Magier, der "göttliche Mann", ein Pythagoras, Apollonius von Tyana, Jesus zeichnen sich darin durch
eine staunenerregende Selbstsicherheit aus.
Jesus' Auftreten und Wandel ist besonders einfach, am wenigsten sakral, ritualisiert1. Jesus erfüllt die Erwartungen
an einen Magier nicht immer, aber mehr als jeder andere - und mit weniger Magierverhalten als jeder andere.
Es sieht mir gar nicht so aus, als ob Jesus mit Magiern vertraut gewesen wäre und Magie gelernt hätte. Aber er war
vertraut mit der geistig-seelischen Disposition des Volkes, und er entsprach dieser nach seiner sehr persönlichen
Weise, - die, nach allem Vergleichsmaterial zu urteilen, in der Tat schlecht und recht an das Schema des Magiers assimiliert werden konnte.
Zu Jesu "persönlicher Weise" gehört: "es jammerte ihn des Volks" (Matth. passim) ebenso wie sein
selbstverständliches, ansteckendes, wissenschaftlich2 betrachtet: wahnhaftes, Vertrauen zu Gott als dem guten Vater. Jesus, ist man versucht, zu sagen, war naiv genug, die Erwählungs-"Botschaft"3 des Alten Testaments von Gott
einfach zu glauben. Das gibt eine gesammelte Persönlichkeit, die einen unerhört starken, faszinierenden Eindruck
macht4. Bedenklichkeiten schwächen den Eindruck, denn auch sie stecken an. Jesus hatte nicht nur, wie jeder
richtige Magier, einen Gott, der, nach Erfüllung gewisser Bedingungen, unbedingt Ja zu ihm sagt. Das wäre einfach
naiv gewesen. Sondern er sagte so unbedingt, so vorbehaltlos Ja zu Gott, daß sein Fall, humanistisch gesehen,
tragisch wurde. Er ist nicht zuletzt in dem Sinn uns zugut gestorben, daß wir an seinem Scheitern gelernt haben,
was Gott nicht ist.
Im Übrigen waren all die genannten "göttlichen Männer" nicht nur Wundertäter, mehr noch waren sie Lehrer und
Prediger. Im Zentrum aller Erscheinungen sahen sie die gute Kraft Gottes. Ihr gutes Wort deutete ihre gute Tat.
Osterglaube
Das historisch wesentliche Ereignis des Lebens Jesu ist sein Tod, der sein ganzes Leben in ein anderes Licht tauchte.
Hier hätte sich normalerweise der Weg der Jünger gabeln müssen in vernünftige Resignation einerseits und
hoffnungslose Wahnbildung anderseits. Das eigentliche Wunder Jesu ist, daß es - erst mehr enthusiastisch
untermischt mit Wahnbildung, dann mehr mit resignierter Amtssäkularität - einen dritten Traditionsstrang gegeben
hat. Ich nenne ihn, im Anschluß an Paulus: den geistgesegneten Glauben an die Offenbarung der Wahrheit Gottes
über dem gekreuzigten Jesus.
1.
Ein von Smith "um des Reimes willen" ignoriertes Charakteristikum.
D.h. im Rahmen des sonst Bekannten und ohne ad-hoc-Hypothesen.
3. Schon dieser Ausdruck verführt zu wahnhafter Reïfizierung.
4. Man kennt so etwas von gewissen Paranoikern wie Hitler.
2.
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Nachgeschichte
Kirchen und Synagoge
Apokalyptik, Magie und Gnosis beherrschten vorübergehende Phasen in der Verarbeitungsgeschichte des
Erwählungsglaubens. Das Judentum sowohl wie die Kirchen haben, wie wir sahen, in einer unvermeidlichen
Anpassungsleistung, einen Bruch der naiven Wunschvorstellungen in ihre Substanz aufgenommen. Gebrochen aber
werden sie beihalten. Sie gehören zur Ausstattung der Gemeinden als Zufluchtsort für gebrochene Menschen. Die
Gemeinden sind heute nur zum kleineren Teil personell beständig; für die meisten Menschen sind sie ein Ort, zu
welchen man mit lebensgeschichtlichen Problemen immer wieder einmal kommt.
Säkularisierung
Judentum und Christentum sind zur Zeit noch im Begriff, sich mit wachsender Geschwindigkeit zu säkularisieren.
Diese Entwicklung wird sich verlangsamen und die Zahl der (fluktuierenden) Mitgliedschaft wird dann um niedrigere
Werte schwanken. Das kulturelle Erbe, das hier verwaltet wird, ist von bleibendem Nutzwert, - wenn auch nicht für
alles und nicht so immer für jeden, wie die Eigenwerbung konservativ und flott suggeriert.
Hier ist man mit narzißtischen Problemen nicht allein. Was die gegenwärtige Gemeinde nicht auffängt, findet in
ihrer reichen Geschichte verwandte Geister.
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Zusatz zum Arbeitsblatt "Altes Testament".
Vom Scheitern des Alten Bundes spricht die allgemeinchristliche orthodoxe Tradition. Zuletzt haben als bedeutende
Theologen der verstorbene Neutestamentler Rudolf Bultmann und der Dogmatiker Gerhard Ebeling davon gesprochen. Unter dem Eindruck des Genocids, für den die Mörder sich auf jeden Sinn und Unsinn, und selbstverständlich
auch auf auf die klassischen kirchlichen Argumentationen gegenüber Israel, beriefen, hat die Kirche, statt die umstrittene Gottesvolkigkeit theologisch kritischer zu bedenken, begonnen, sich mit Israel zusammen als Gottesvolk im
alten Sinne weiter zu behaupten. Die radikale Revision der eigenen religiösen Tradition im jüdischen Volk nach dem
Holokaust (ich nenne nur den Nobelpreisträger Isaak B. Singer) aber übertrifft an theologischer Lebendigkeit die
neue christliche Bemühung bei weitem!
So wenig die neutestamentlich-jüdischen antijudaistischen Argumente durch den Genocid erledigt sind, so wenig ist
Biblizismus dadurch gerechtfertigt, daß (auch!) er sich dem Verbrechen widersetzt hat.
Ich gebe noch folgende biblische Hinweise:
1.) Man pocht biblizistisch auf die Treue Gottes zu seinem Wort, den alttestamentlichen Verheißungen. Was aber
heißt Gottes Verheißung? Eine ideologische Antwort wird unmöglich - Dank sei Gott für das Alte Testament! - durch
die Kontradiktion in 1.Sam 2,30: "Ich habe geredet, dein Haus und deines Vaters Haus sollten wandeln vor mir
ewiglich. Aber nun spricht der Herr: 'Es sei fern von mir!'" Gottes ist getreu. Aber man kann Gottes Treue nicht
reïfizieren; sie wird weder unser, noch der Juden Besitz. Sie bleibt Eigentum Gottes im Sinne von 2Mose 3,14.
2.) Amos 9,7 wird der Exodus in eben diesem Sinne relativiert. Vor Gott bleiben Germanen, Kuschiten, Christen und
Juden gleich. Dem Volk Israel ist Gottes Wort anvertraut, daß es darin bleibe; aber keine metaphysische Erbmasse.
Dazu vgl. im Neuen Testament Johannes den Täufer (Mt 3,9 / Lk 3,8) : Gott vermag dem Abraham aus
irgendwelchen Steinen Kinder zu erwecken. Notabene: dem Abraham! Das ist Unsinn; aber das ist Gottes Wort!
3) Die Paulinische eschatologische Hoffnung für das "verstockte" Israel (Röm 11,7.25) bezieht sich auf einen Rest
(11,5), von dem durch einen Rettungsakt Gottes (11,26) die Verstocktheit genommen werden wird. Sie steht neben
1.Thess 4,13ff. und allerlei andern eschatologisches Ausblicken in der Bibel, die nicht als ewiger Kalender, sondern
als Wort Gottes zu ihrer Zeit und an ihrem Ort verstanden werden wollten und wollen.
Was die Bibel von Gottes Gericht über Israel erzählt, ist nach Paulus (1. Kor 10,1ff.) uns Christen zur Warnung
geschrieben. Das jüdische Vorbild ist uns eine Warnung vor christlicher Verstockung, die wir nicht gern hören; eine
Warnung vor kirchlicher Selbstsicherheit (vgl. Barths Auslegung von Röm 9-11!) und Hoffart im Besitz der Schrift
(Rm 2,17ff.).
Das Alte Testament, Israel, Synagoge und Rabbinat, das Judentum und der Staat Israel sind verschiedene Fragen,
die gesondert durchdacht werden müssen.
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Das Erbe des eifersüchtigen Gottes
(Besinnung nach einem deutsch-christlichen Gedenkjahr)
Historisches Urteilen
Der fünfzigste Jahrestag der Reichskristallnacht erinnerte an eine der schlimmsten Schicksalsschläge, die das Volk Israel erlitten hat, und zwar von deutscher, christlicher Seite.
Wenn danach ein Deutscher und Christ sich dazu äußerst, so tut er das als ein, in zwei Hinsichten seiner
soziokulturellen Identität, Mitschuldiger an einem Massenmord. Die Frage nach Schuld in solchen Sachen ist im
Grunde eine Frage des jüngsten Gerichts. Wir sind aber irdisch schuldig, die Frage nach den Ursachen, namentlich
nach dem behebbaren Ursachen, zu verfolgen, und gut zu machen, was menschliche Gerechtigkeit und Billigkeit
verlangt.
Wenn das Problem eines Schuldspruchs mitspielt, liegt der Verdacht mangelnder Objektivität gegenüber Äußerungen von irgendwie Betroffenen nahe. Das gilt sowohl für aktiv wie für passiv Betroffene. Es ist psychisch kaum zu
ertragen, keinen Adressaten zu haben, gegen den der hier natürlicherweise sich erhebende Bestrafungswunsch sich
richten kann; und es ist kaum zu ertragen, hier mitschuldig zu sein.
Das Natürlichste ist deshalb eine intellektuelle Resignation bei einer perennierenden1 Erbfeindschaft2. Gegenseitiger Ideologieverdacht bringt das Gespräch zum Erliegen. Meist erst, wenn weitere katastrophale Folgen drohen
oder gar eingetreten sind, ist der erforderliche Verzicht auf die moralische Selbstsicherheit3, die existentielle
Gefährdung durch das Gespräch, hinlänglich motiviert. - Ein anderer Fluchtweg vor der schuldbeladenen eigenen
Identität führt in illusionäre Identifikation mit dem Opfer. Die Bearbeitung der wesentlichen Konflikte zwischen
Synagoge und Kirche ist zu quälend. So aber werden diese nicht gelöst, sondern verwischt. Das Gespräch ersetzt
dann radikale, einsam zu leistende Besinnung und Arbeit, anstatt diese zu befruchten. - Es kann anderseits kein
Zweifel daran sein, daß die religiöse Besinnung unter dem Eindruck der Katastrophe Juden und Christen in der
Bemühung um je ihre Sache voran und einander nähergebracht hat4.
Die Frage nach Ursachen geschichtlicher Ereignisse pflegt in aller Selbstverständlichkeit nach zu simplen Schemata
vorzugehen. Am Befriedigendsten ist immer die einfachste Lösung; daher die Tendenz zum monokausalen Denken.
Monokausales Denken ist eine pragmatisch oft angemessene Abbreviatur. Im Geflecht historischer
Zusammenhänge aber gibt es keine Monkausalität. Es kann nur darum gehen, ob die historiographische Abbreviatur
dem gegebenen Fragezusammenhang angemessen ist.
Multikausalität aber entlastet den Schuldigen. Ranke hat zwar die Problematik richtender Historiographie sehen gelehrt, hat ihr damit aber kein Ende setzen können. Angesichts krasser Phänomene ist es - jedenfalls bei einem gegebenen Reflexionsstand - einfach unnatürlich, nicht zu urteilen. Die Gerechtigkeit vor Gott und die Gerechtigkeit
1.
"Krieg hat Jahwe mit Amalek von Geschlecht zu Geschlecht" (2.Mose 17,16), ist eine aus dem ältesten Israel uns
durch den biblischen Kanon erhaltene Formulierung. (Unsre eigenen Vorfahren lebten zu jener Zeit noch im Dunkel
der Prähistorie.) - Die Erfeindschaft gegen die Franzosen, die im wilhelminischen Deutschland den Kindern beigebracht wurde, ist ein jüngeres, uns näherliegendes Beispiel.
2. Eine perennierende moralische Unterwerfung ist weniger stabil.
3. Zu unterscheiden von moralischer Unterwerfung! Hier scheint mir in Deutschland oft eine Verwechslung stattzufinden. Und diese führt dann unversehens zu antisemitischer Empörung.
4. Trotz ihrer theologischen Schwächen ist davon die 1980 erschienene, vom Präses herausgegebene "Handreichung
für Mitglieder der Landessynode ... in der Evangelischen Kirche im Rheinland" Nr 39, "Zur Erneuerung des
Verhältnisses von Christen und Juden", ein ernstes, sehr dankenswertes und nützliches Dokument. Es zwingt (wohl
noch tiefer als beabsichtigt!) zur Revision des Selbstverständnisses der Kirche.
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vor Menschen sind zu unterscheiden. Aus der gleichmäßigen "Unmittelbarkeit zu Gott" darf nicht eine Nacht gemacht werden, wo alle Katzen grau sind. Wir sollen gewiß unsre menschliche Gerechtigkeit in der Besinnung auf
Gottes Gerechtigkeit zu vervollkommnen suchen und unser natürliches Urteil immer wieder revidieren. Zunächst
aber müssen wir so lange zu unserm natürlichen, parteilichen Urteil stehen, bis unsre pflichtgemäße Bemühung um
ein reiferes Urteil dazu geführt hat, daß uns ein solches natürlicher geworden ist. Das reife Urteil macht nicht etwa
unfähig zu pragmatisch abbreviierender Schuldzuweisung! Der Vorbehalt unsrer menschlichen Irrtumsfähigkeit gilt
allgemein und ist immer konkret ernstzunehmen, darf uns aber nicht hindern, zu leben, zu urteilen und zu handeln.
Der religiöse Kern
Im Bemühen, die Ursachenfrage unter der Schuldfrage nicht ersticken zu lassen und gefährliche Ressentiments
durch einen theologischen Beitrag abbauen zu helfen, als Fragezusammenhang, scheint es mir angemessen, die
Frage nach den Ursachen des Antisemitismus bei dem Lehrstück vom eifersüchtigen Gott anzusetzen, das die Jesusleute aus der Synagoge, aus der sie herausgebrochen sind, mitgenommen haben. Es ist ein gemeinsames
alttestamentliches Erbstück von Kirche und Synagoge.
Gerhard von Rad1 hat dieses Lehrstück im Rahmen des Themas "Heiligkeit Jahwes" behandelt und darauf
hingewiesen, daß religionsgeschichtlich eine alttestamentliche Eigentümlichkeit darin besteht, daß Heiligkeit eng an
die Person Jahwes gebunden ist, auch da, wo Jahwe Zeiten, Orte, Sachen geheiligt hat. Auf dieser Linie liegt auch
die sog. Eiferheiligkeit. In der Lehre von der Eifersucht als einer zentralen Eigenschaft Jahwes kommt die
Personalität der Beziehung zu Jahwe drastisch zur Geltung.
Eine solche Gottesidee erwächst aus einer Kultur, wo der Mensch wesentlich als auf Personen bezogene Person
gesehen wird. Im kulturellen Umfeld Israels verstand sich der Mensch noch vielfältig eingewoben in den Widerstreit
der Naturgewalten. Der Israelit aber war durch seine göttliche Bezugsperson in allen Dingen in die immer selbe
persönliche Verantwortung gerufen. Und die Beziehung zu einem solchen Gott stabilisiert und stärkt natürlich die
Ausbildung individueller Personalität. Der griechisch-philosophische Individualismus und Monotheismus ist,
verglichen mit der Monolatrie2 des israelischen Polytheismus, unpersönlich.
Die weltweite Reaktion auf die Gewalttätigkeiten des Staates Israel in den letzten Jahren zeigt, daß Israel nicht mit
gleicher Elle gemessen wird wie andere Völker. Die Besonderheit Israels ist besonderer als die Besonderheit jedes
anderen Volks. Das mosaische Gesetz ist das Gesetz des eifersüchtigen Gottes, Artikulation persönlicher Verantwortlichkeit in allen Lebensbereichen. Für Israel als Religionsgemeinschaft und für den Staat Israel, der deren Erbe
angetreten3 hat, gehört deshalb Moral viel enger zu seiner sozialen Identität als für andere Völker. Der Holokaust
hat das faktisch verstärkt. Er war ein säkularer Frevel. Die Christen können nicht umhin, ihn (nach Jes. 53) überdies
an das Schema des unschuldigen Leidens Christi zu assimilieren4. So hat man Israel beim Aufbau im Land seiner
Väter unterstützt nicht nur aus Billigkeitsgefühl (das pflegt nicht viel zu bringen), sondern in einem Umfang, der sich
aus der Konnotation von Frevel und Sühnung eines Sakrilegs erklärt. So wurde der Aufbau des Staates Israel christlicherseits und deutscherseits ein unter echten Opfern vollbrachter moderner Dombau. Mit dem religiösen Anspruch
auf das alte Territorium hat der Staat Israel das Erbe dieser religiösen Identität (des Volkes mit der vorbildlichen
Moral) übernommen. Adel aber verpflichtet, manchmal fast unerträglich; auch hier. Das wird, mit wie pöbelhaftem
1.
Theologie des Alten Testaments, Bd. I, 1957, S. 203ff.
Verehrung nur eines Gottes, - gegenüber der Überzeugung, daß es nur einen Gott gibt (Monotheismus).
3. Zur komplizierten Geschichte dieser Entscheidung siehe DAN DINER, Nach 40 Jahren: Israel in der Wüste, in:
Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Heft 4, 1988, S. 7 -23.
4. Auch Juden ziehen immer wieder die Parallele zwischen der Passion ihres Volkes und derjenigen des Hauptes der
Kirche. Ich nenne nur Emanuel Lévinas.
2.
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Vergnügen auch immer, von den andern Völkern, in ihrer bezüglich Israels weniger politischen als moralistischen
Beurteilung staatlicher Gewalttätigkeit, wahrgenommen1.
Die kultische Exklusivität war und blieb einerseits die Besonderheit Jahwes. Undenkbar, daß der Jahwekult sich,
auch in postexilisch-jüdisch oder christlich gewandelter Form, bis heute erhalten hätte, wenn man auf sie verzichtet
hätte. So aber war es natürlich, daß im sechsten vorchristlichen Jahrhundert die Mehrzahl der Exulanten in Babylon
über Jahrzehnte hinweg, in Gewohnheit, Schuldgefühl und Hoffnung, an Jahwe festhielten. Es war aber nicht
selbstverständlich, daß dieses Festhalten geschichtlich gerechtfertigt wurde durch eine Erfüllung der Hoffnung auf
eine Rückkehr nach Palästina - und endlich wieder Tempelkult beinahe wie gehabt. Das geschichtliche Modell dieser
Rückkehr hat eschatologische Kraft entwickelt und die sprachgewaltige Dokumentation dieser Hoffnung und
Erfüllung in der Bibel hat zweifellos später das Durchhalten des Jahwekultes in seiner Reinheit über unglaublich
lange Zeiträume hinweg getragen.
Die so bestärkte Exklusivität war anderseits ein Stein des Anstoßes, schon innerhalb des Alten Israel, wo es um die
richtigen Konsequenzen aus dem Ersten Gebot ging. Bereits zwischen den Baals- und Jahweverehrern kam es zu
Mord und Totschlag. Und es ging bis zu den prophetischen Verboten hinsichtlich Rüstung und Bündnispolitik2.
Umso mehr bedeutete es eine Provokation im Umgang mit andern Völkern. THÉODORE REINACH3 faßt die auf dieser
Linie laufende Geschichte im griechisch-römischen Bereich der Antike zusammen. Der antike Antisemitismus soweit er über das zwischen verschiedenen Kulturen übliche Ressentiment und die dabei übliche Streubreite von
Verleumdung hinausgeht - ist Reaktion auf die religiöse, kulturelle und soziale Abkapselung der Juden. Die Christen
hatten ursprünglich weitgehend unter denselben Verleumdungen zu leiden. Die christliche Judenpolemik hat sich
aber nicht entblödet, gleichwohl kritiklos heidnische Judenpolemik zu übernehmen.
Es ist ihr nicht viel Neues eingefallen - außer allerdings der Beschuldigung des Christus-Mordes, der unerschöpflichen Legitimation raubmörderischer Begehren. Diese aber ist so unsinnig, daß auch sie nicht theologisch4,
sondern allein soziologisch interessant ist.
Schon um Jesus hat es in der Synagoge offenbar immer wieder Krach gegeben. Das Todesurteil über Jesus wurde
(mindestens nachträglich, jedenfalls konsequent) im Gehorsam gegen das Erste Gebot begründet. Die Christen sind
dann endgültig aus dem kultisch-bürgerlich verfaßten Judentum hinausgefoult, - auch sie in Treue gegen das Erste
Gebot, wie sie es verstanden.
Das theologische Kernproblem
Nach so viel Blutvergießen von Juden und Christen liegt die Frage nahe, ob nicht, nach (und vielleicht infolge) der
rühmlichen kulturellen Frühreife, seit längerer Zeit im offiziellen Juden- und Christentum eine Störung der Entwicklung der Identität, vergleichbar einer ungelösten Adoleszenzkrise, konserviert wird. Hat die so glückliche alte
Tradition eine so unglückliche Fortführung verdient?
1.
Die Verschärfung der Beurteilungsmaßstäbe gegenüber Christen ist gemäßigt infolge dessen, daß hier, über die
Proklamation der menschlichen Verantwortlichkeit hinausgehend, das menschliche Scheitern in der
Verantwortlichkeit proklamiert wird.
2. G. V. RAD a.a.O.
3. Textes d'auteurs grecs et romains relatifs au judaisme, Paris 1895, Hildesheim 1963.
4. Am Messias-Mord bekennen sich alle Glieder der christlichen Gemeinde schuldig, die glaubt, er sei "um unsrer
Sünden willen" gestorben. Die Abwälzung dieser Schuld und ihre Lokalisierung bei den nichtchristlichen Juden war
allerdings eine, wenn auch unchristliche, so doch ur-eigene Idee der sich als neues Gottesvolk etablierenden Kirche.
- Mag diese Beschuldigung immerhin ursprünglich ihren Ort in gutgemeinter Missionsrhetorik bußprophetischer
Tradition gehabt haben; sie hat sich davon gründlich emanzipiert!
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Wo aber wäre der rechte Weg verfehlt worden? In der Antike war todbereiter Heldenmut, in der Spätantike der
Zeugentod für das Bekenntnis zur erkannten Wahrheit, ein Ideal. Die Ausbildung und Bewährung der autonomen
Persönlichkeit stand auf der kulturgeschichtlichen Tagesordnung1. Das hat sicher die altisraelitischen Traditionen
gestützt2.
Ich meine aber, daß der Kreuzestod Christi auch dem Heilswert solcher guten Werke ein Ende (vgl. Röm. 10,4) gesetzt hat. Ich weiß, daß das Neue Testament da nicht so sicher ist. Aber, wie Nietzsche3 sagt: "Taten brauchen Zeit,
auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden," - große Ereignisse brauchen Zeit, um
anzukommen. Es scheint mir manchmal, daß die volle Bedeutung des Todes Jesu im Neuen Testament noch nicht
überall angekommen ist4. Aufgehalten hat sie die Kultur, in welcher das Heilsereignis ankommen sollte. Die
entscheidende Frage lautet: Welches Zeugnis dient dieser zum Heil?
Theologische Folgerungen
Heute gilt es, weil (und insofern!) wir eine verantwortbare Festigung der Persönlichkeit erreicht haben, auch zu
unsern Abhängigkeiten – unter anderm: von den widerstreitenden Gewalten der Natur5 – als mitverantwortliche
Menschen, im Namen des Schöpfers und Erlösers, Ja zu sagen.
Ich empfehle also die (früher den Juden unnütz empfohlene) Assimilation nun auch den Christen. Ich empfehle sie
aber nicht, um primär den Zeugen zu nützen, sondern im Interesse der Wahrheit, um ihrem Wahrheitszeugnis zu
nützen. Dies ist der zentrale, wesentliche Nutzen, den man dem Menschen wünschen kann.
Nach allem Vorangegangenen kann Assimilation nicht bedeuten Charakterlosigkeit und Selbstverleugnung. Es geht
um lebendige Treue zu sich selbst. "Prüfet alles, auch eure Ideale, im Lichte eurer Erfahrungen, immer wieder, wie
beschämend und niederdrückend das auch werden kann - und das Beste behaltet; allein darauf ruht Verheißung!",
wäre 1.Thess.5,21 zu erweitern. Es geht um die Paulinische (Röm.9,3) Bereitschaft, sich, um der Ausbreitung der
göttlichen Wahrheit willen, "enterben"6 zu lassen.
Hier gilt allerdings wieder, was wir schon zur Aufgabe historischen Urteilens feststellten: Auch Treuehalten ist ein
Lebensvorgang, der sein eigenes, langsames Tempo hat7. Assimilation braucht, wie jeder Wandel kultureller Beziehungen, jeder Kulturwandel, Zeit. Gerade, wo, wie im Fall der Juden in Deutschland, eine in Schuld und Leid erstarrte Geschichte vorliegt, kommt alles auf eine ausgewogene Weiterentwicklung an, wenn nicht die gesamte
Reform in einer Katastrophe enden soll8. Im deutschen Judentum ist, ebenso wie im deutschen Christentum beider
Konfessionen, die säkulare Assimilation der religiösen Entwicklung (die doch einen wesentlichen Teil der kulturellen
und damit auch persönlichen Identität ausmacht) davongelaufen.
1.
Vgl. mein: Ursprung und Wesen der christlichen Seelsorge, 1985.
Ich erinnere an die Schauergeschichte vom Märtyrertod der sieben Söhne und ihrer Mutter 2.Makk.7.
3. Fröhliche Wisssenschaft (1882) Nr.125.
4. Gerade, was die Judenfrage betrifft, wird man mir kaum widersprechen.
5. Vgl. oben Teil II. - Über deren Begründung in Gott siehe meine Gotteslehre. Eine pastorapsychologische Zuspitzung, ThLZ 113 (1988), Sp. 865-872
6. Ich möchte mit der Aufnahme dieser Vokabel den Streit um die "Enterbung" Israels zugunsten der Kirche in ein
paulinisches Licht rücken.
7. Man erinnere sich hierbei an die Langsamkeit der Entwicklung Luthers als theologischen und kultischen Reformators.
8. Heute zittern wir um die Revision des Verhältnisses des kommunistischen Machtapparats zu den Völkern des
russischen Imperiums.
2.
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Was die Juden betrifft, hat sich der Schwerpunkt des uralten Problems der Anpassung (Mensch - Volk - Religion)
nun nach Amerika1 und nach Palästina verlagert.
Christliche Theologen pflegen zu übersehen, daß "Judentum", im Unterschied zum Christentum, in erster Linie Stolz
und Last einer Volkszugehörigkeit, und als Religion wesentlich eine Stammesreligion mit fluktuierenden
universalistischen Ausweitungen, war und geblieben ist. Diese wird heute von den meisten Juden selbst nur noch in
historischen Anführungsstrichen ernstgenommen - so aber wirklich ernstgenommen! -, und zwar ohne daß diese
Juden deshalb weniger Juden wären! - Die Konzeption von Kirche in Analogie zum Volk Israel war fatal.
Was die Kirchen in Deutschland betrifft, so haben auch sie mit einer ständigen Erosion ihres volkskirchlichen Bodens
zu tun. Die besten kirchlichen Assimilationsleistungen betreffen Diakonie und Politik. Die theologischen Assimilationsleistungen sind zum Teil intelligent und haben viel mit Ethik, aber wenig - und selten intelligent - mit Religion zu
tun. Man hat oft den Eindruck von Charakterlosigkeit und Untreue und merkt: Die Predigt des eifersüchtigen Gottes
ist noch nicht veraltet!
Eine Sprecherin2 des European Value Systems Study Group3 hat, linear extrapolierend, emphatisch die Stützung der
Kirchen im Interesse von dem empfohlen, was die Demoskopie als Religion und Moral zu fassen bekommen hat.
Sollten wir die Schiiten beneiden? - Die Erosionen der Massenbasis in Judentum und Christentum sind einander
ähnlich. Welche personelle Basis eine Tradition hat und was dann von ihr ausgeht, hängt von der Struktur ihrer
Lebensbedeutung ab. Diese ist, wie die genannte Gruppenarbeit zeigt, zur Zeit in Stereotypen schwer zu fassen. Der
Tradition wachsen einerseits ständig neue Bedeutungen zu, anderseits unterliegt sie ständigen Vereinfachungen.
Sie schafft sich Versteifung durch religiöse Institutionen und Vorstellungen, aber - siehe Jesus - sprengt diese auch
wieder. Die Bedeutung, die Wahrheit des Christentums ist m.E. historisch keineswegs erschöpft. Die Jedermannsund Fachmanns-Theologie, und deshalb auch die Kirchen, haben quälende Gestaltungsprobleme. Sie haben damit
Teil an den Ordnungsproblemen einer hochmobilen Gesellschaft. Um der Sichtbarkeit und der sozialen Macht des
Christentums oder auch der herkömmlichen Moral willen aber die Frage nach seiner Wahrheit einzuklammern,
wäre Verrat.
17.3.1989
1.
Dazu NATHAN GLAZER, American Judaism, Chicago 1957, bes. das Kapitel über The Religion of American Jews.
RENATE KÖCHER, Religiös in einer säkularisierten Welt, in: E.NOELLE-NEUMANN/R.KÖCHER, Die verletzte Nation, 1987,
SS. 164-282.
3. Leitung Fr.J.Kerkhofs S.J., Louvain.
2.
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Jüdische Traditionen
Apokalyptik
Die Apokalyptik ist in einer existenzbedrohenden Situation des Judentums entstanden zur Zeit der
Makkabäeraufstände gegen Antiochus Epiphanes, den Syrerkönig, der das Judentum kulturell und kultisch vereinnahmen wollte. Wir kennen aus der Psychiatrie die Abwehr von Panik durch wahnhaftes Wissen. Dieses ersetzt
die Realitätsprüfung. Wahnhaftes Wissen zeichnet sich durch eine Sicherheit aus, die der gesunden Vernunft
versagt bleibt. Der bedrohte gute Kern der Person und ein minimaler Realitätsbezug wird in einem Wahnsystem in
Sicherheit gebracht. Dieser Abwehrmechanismus kommt hier zum Zuge. Hier bekommt sektiererische Ideologie die
seelsorgerliche Funktion eines Katastrophenschutzes. Wir finden dieselbe Struktur in der neutestamentlichen
Johannesapokalypse. Die Kirche hat, in der Tradition der Synagoge, sich von Anfang an für weltliche Ordnung
verantwortlich gefühlt. Sie hat zwar einen apokalyptischen Horizont ihres Weltbildes übernommen und bewahrt;
sie ging aber sparsam mit dieser disruptiven Problemlösung um. Die Apokalyptik wurde, wie in der Synagoge, so in
der Kirche an den Rand gedrängt.
Gnosis
Die Gnosis ist die religiöse Revolte gegen den Gott der Väter. Jahwe, der Schöpfer dieser scheußlichen Welt, wird
degradiert; die unaussprechliche, wahre Gottheit steht weit über ihm. Ihr gilt die Sehnsucht des Gnostikers. In dieser
Welt fühlt er sich in der Verbannung, in der Fremde. Aber er vernimmt den göttlichen Ruf, sich seiner eigentlichen
Heimat jenseits dieser Welt zu erinnern und den göttlichen Funken in sich zu pflegen. Der seelsorgerliche Rat der
Gnosis ist: innere Emigration. Die Gnosis investiert keine Kraft in Aufbau oder Erhaltung weltlicher Ordnung. Ihre
Erbauung gilt dem inneren Menschen. Und hier wird ernsthaft meditiert, Wichtiges entdeckt, analysiert, kreativ konstruiert und spekuliert. Manches erinnert an die moderne psychoanalytische Theoriebildung. Die Lebendigkeit des
paulinischen Denkens (nicht nur diese oder jene ähnliche Idee) erinnert stark an die Gnosis und ist sicher von dorther
beeinflußt.
Rabbinat
Der Aufruhr des religiösen Denkens in jenen leidvollen Jahrhunderten der jüdischen Geschichte, der zu so
vielgestaltigen Neubildungen führte, blieb letztlich doch machtlos gegen die ruhige Kraft des Rabbinats. Die
Nüchternheit, die Tradition praxisorientierten Nachdenkens über das Gesetz Jahwes für Israel behielt die Oberhand.
Das Rabbinat versuchte, die Anfechtungen der Frommen sehr ernst zu nehmen. Hier wurde nicht im Sinne des
römischen oder des modernen Rechts Jurisprudenz betrieben. Das Gesetz wollte als Heilsgabe, nicht als leidlich
zweckdienliches Regelwerk verstanden werden. Auch hier also wurde ernsthaft meditiert. Aber bei dem Bemühen,
allem gerecht zu werden, wurde die Last der Tradition immer schwerer und bemühender. Das Ergebnis war oft
skurril. Auch hier mußte die Nüchternheit schwere Einbußen hinnehmen.
Rabbinat sowie Episkopat hatten in der Tradition Israels als eines normalen Staatsvolkes ein wirkliches Volk, wenn
auch kein Staatsvolk, das Judentum in der Zerstreuung bzw. das Kirchenvolk, zu regieren, und zwar so, daß ihr Volk
allen Völkern als Vorbild leuchten konnte. Auf beiden Seiten ist das Ergebnis im ganzen, trotz einiger Lichtblicke,
nicht erhebend1. Zur Synagoge und Kirche gemeinsamen israelischen Tradition gehörte, daß Geschichtserfahrung
religiös reflektiert wurde. Für Israel wurde das babylonische Exil im 6. vorchr. Jh. zum brennenden Brennpunkt
eigenster Besinnung. (Im Christentum nahm die Kreuzigung Jesu diese Stelle ein.) Für beide wichtig wurde, wenn
auch in verschiedener Deutung, das Ende Judäas und die Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahre 70.
Auch das jüdische Gottesbild wandelte sich. Das Schuldgefühl wurde immer stärker. Gleichzeitig aber wurde der
1.
Daß uns heute, auf der Folie des Islam, die an biblischer Tradition orientierten Religionen auch als Momente
politischer Moral wieder mehr Respekt zu verdienen scheinen, ist doch eher dem griechisch-philosophischen Erbe
(es hat auch das Judentum tief beeinflußt) des Abendlandes als dem spezifisch biblischen zuzuschreiben.
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Trost der Herablassung Gottes stärker empfunden. Es hatte einen seelsorgerlichen Wert, wenn - auch im Judentum
- vom Leiden Gottes geredet wurde.
Echte religiöse Impulse machen nicht Halt an Institutionsgrenzen. Die Lektüre von GERSHOM SCHOLEMs Die
jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1957) hat mich zu der Vermutung gebracht, daß zwischen
Judentum und Christentum in aller Stille immer wieder inoffizieller Austausch stattgefunden hat.
Die kaschrut wurde nötig als Talisman zur Angstabwehr der Besiegten in ihrer wahnhaften Sicherheit ihres
Endsieges. Das ist die Struktur des im Jahre 71 von Jochanan ben Sakkai begründeten (der Symbolik der Legende
zufolge: von den Toten auferstandenen) Judentums.
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Notizen
Judenwahn, Hexenwahn u.dgl. machen das archetypische Angstschema „Reich des Bösen“ an Realitäten fest, deren
man Herr werden kann.
Die Kirche ist stärker griechisch als jüdisch geprägt. Das hat seinen Grund in der Krise, die Jesus unter den Juden
hervorgerufen hat. Die Kirche hat sich gleichwohl nach dem Vorbild Israels als Gottesvolk verstehen wollen, und
kann deshalb auch nicht aufhören, von Israel zu lernen.
Nach KLAUS WENGST besteht die historische Wirkung Jesu in der Möglichkeit für die Angehörigen anderer Völker,
ohne Beschneidung teilhaftig zu werden des Bundes Gottes mit dem Volk Israel. Die jüdische Mission aber und der
große Kreis der „gottesfürchtigen“ Nichtjuden, die sich zur Zeit Jesu zur Synagoge hielten, relativiert das: Ohne den
Eklat um Jesus wäre es wohl mit der Zeit und durch ein paar andere, weisere Rabbiner ohne so viel Haß und Gewalt,
wie die Entstehung des Christentums mit sich brachte, auch dahin gekommen.
Die Bedeutung Jesu für die folgende Geschichte läßt sich nicht schon in den Begriffen der neutestamentlichen
Kontroversen erschöpfend fassen. Ihre Artikulation in jenen Begriffen ist heute nur höchst innerkirchlich noch
diskutabel.
Dem modernen Durchschnittsmenschen geht es, nach Golgatha, nach dem Fall Jerusalems, nach Auschwitz, primär
um die Möglichkeit einer Gotteslehre, einer Gottesbeziehung, ja von Gottvertrauen, nicht um Privilegien Israels,
nicht um ethnische Probleme, nicht um religiöse Gesetze bezüglich kleiner Chirurgie. Da stehen alle Erzählungen
von alten Verheißungen neu zur Disposition. (Das beginnt deutlich mit dem neutestamentlichen freien1 Umgang
mit dem Alten Testament.) Die über das Erbe jener Verheißungen sich heute noch streitenden Kirche und Synagoge
sind in der heutigen Öffentlichkeit gleichermaßen tragikomisch. Welcher moderne Mensch kann glauben, daß es
Gott um die richtige Zugehörigkeit zum richtigen Volk gehe?! So gerät die Verheißung unter das Vorzeichen eines
Gesetzes! Es geht uns um Gott selbst sowohl für Juden wie für Nichtjuden in ihrer Gottlosigkeit!
Das ist das Ergebnis des Alten Bundes nach Golgatha, nach der Zerstörung des Tempels, – spätestens nach der
Katastrophe des Bar-Kochba-Aufstandes. Nach diesen Katastrophen des Bundesvolkes hatte ja auch vielen Juden
doch etwas von der (zunächst abgelehnten) christlichen Reaktion auf die Kreuzigung Jesu eingeleuchtet. Sie wurden
Christen. Die anderen haben in antichristlicher Tradition eine doch so unverkennbar ähnliche jüdische Theologie
entwickelt, daß man in beiden Traditionen ein komplementäres Bemühen, aus Gottes seltsamer Bundestreue den
richtigen Schluß zu ziehen, erkennen muß. Die Banalisierung der Erlösung, die im Christentum Platz gegriffen hat,
hat, Gott sei Dank, im Judentum ihr notwendiges Korrektiv, – wieviel immer auch hier im Namen Gottes
einzuwenden bleibt.
Juden und Christen haben ein gebrochenes Verhältnis zur Normalität. Die Juden als sozial definierte Fremdlinge
aber können das nicht vergessen wie die eingeborenen, platonisierten Christen.
Zutrauen zur Normalität setzt als Assimilationsschema eine Normalverteilung der Zufälle des Lebens voraus, mit
Mittelwert und endlicher Streuung.
Nehmen die Extremwerte so zu, daß die Streuung unendlich wird, so verflacht die Glockenkurve der GaußVerteilung zur Cauchy-Verteilung! Wir haben es mit chaotischen Vorgängen zu tun, die (der Jude) Benoît
Mandelbrot an der Pareto-Verteilung zu studieren begann.
Die jüdische Geschichte ist ein durch seine Chaotik selbstverstärkender Prozeß der Besonderung. Das von Tacitus
und dann Luther behauptete jüdische odium generis humani ist die natürliche Reaktion des immer nur prekär
assimilierten Volkes auf die immer neue Marginalisierung.
Diese hat auch eine besondere Einstellung zur Moral zur Folge. Die Thora ist nicht natürlich einsichtig; sie ist durch
einen grundlosen Willensakt gegeben. Und das (nach Paulus auch den Heiden) ins Herz geschriebene Gesetz, das
(mit Heinz Hartmann zu reden) auf "durchschnittlich zu erwartender Umwelt"-Erfahrung beruht, bezieht sich auf
1 Diese Freiheit ist eine Variante der jüdischen Freiheit im Umgang mit dem Alten
Testament.
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Mittelwerte, die aber, bei (wie für die Juden) gegen unendlich tendierender Streuung, praktisch keine Evidenz mehr
haben. Alle Moral ist deshalb im Grunde willkürlich.
Diese Lebensgefühl greift in der Postmoderne allgemein um sich.
R. RUBENSTEIN: Der Messias, der Erlöser, ist, entmythologisiert, der Tod.
Judentum ist Schicksalgemeinschaft – mit allen immer dazugehörigen Dissozialitäten und überdies den besonderen
unter dem Schicksal sozialer Diskrimination. (Welcher Jude ist welches Juden Jude?)
Der Holokaust hat die Menschen in ihrer Menschlichkeit verunsichert. Er darf um der Wahrheit der Menschlichkeit
willen nicht vergessen werden.
Für die jüdische Religion ist er ein ähnliches Problem wie der Tod Jesu für dessen Jünger: Das Verständnis von Gott
und Mensch ist gebrochen. Die Erwählung ist Berufung zur Bescheidenheit.
Der Schock des Holokaust ist Grund für eine vertiefte Theo-, Hamartio- und Anthropologie. RUBENSTEIN hat gezeigt:
Gerechtigkeit, Schuld und Strafe sind keine theologischen Begriffe. Stattdessen Chaos der Ordnungen; Berufung zu
(in je seiner Vielfalt einmaligem) Exemplar-Sein und dessen Verantwortung. ("Exemplar" ist man neben anderen,
"Repräsentant" ist einer für andere.)
Die Selektion im jüdischen Stetl geschah durch Heiratsgenehmigung. Wer erlangt sie? Der Clevere. Die Christen
haben unter den Juden eine darwinistische Zuchtwahl getrieben, vor denen ihnen dann selbst Angst wurde.
Die rabbinische Orthodoxie stagnierte unter der ständigen Not. Innovation gab es nur als Auslegung heiliger Texte.
Nach R.RUBENSTEIN war das orthodoxe Rabbinat ein zwischen Jochanan ben Zakkai und dem römischen Sieger nach
dem Fall Jerusalems im Jahre 70 geschlossener Kompromiß, der dem Judentum ein Überleben ermöglichte, – ein
Servitut, dem sich die Juden erst in der Neuzeit unter großen inneren und äußeren Widerständen und Rückschlägen
entwinden konnten.
Das Reformjudentum (DAVID FRIEDLÄNDER mit den Gedanken von MOSES MENDELSSOHN) kam auf erst mit der
Emanzipation.
Der Messias, der pünktlich weissagungsgetreu gekommen ist, aber als Bettler vor den Toren Roms an der Straße
sitzt und für die Sünden seines Volkes büßt, ist eine antichristliche jüdische Parallelphantasie, aber ernste theologia
crucis, möchte man sagen. Unbegreiflich, daß Luther (1543) sie für Hohn hielt.
Das Schicksal des jüdischen Volks muß nicht nur Angst, sondern unheilsschwangere jüdische Ressentiments
hervorgebracht haben! Die jüdische Eschatologie wartet wie die christliche auf den Tag der Rache. Seit TACITUS
redet die Judenpolemik von dem jüdischen odium generis humani. Ein so gewichtiges, echt tragisches
Schuldproblem wird perenniert, wenn nicht offen darüber nachgedacht werden kann. Es ist aber wohl noch zu
affektbesetzt – eine chronifizierte Sozialphathologie.
Die liberal-jüdische Transformation der Erwählung in die Berufung zur Vorbildlichkeit ist vermessen.
RUBENSTEIN hingegen vermeidet mit dem Thema Erwählung ein anthropologisches Grundproblem.
Israel ist das größte Lehrstück der Weltgeschichte zum Thema Narzißmus.
Antisemitismus ist weltgeschichtlich ein selbstverstärkender Prozeß. Im Antisemitismus kann man, je länger desto
besser, als Projektionsfigur für das verhaßte Böse, ein bereitliegendes Omega*-Klischee benutzen.
Das kann nicht ohne Folgen für die Eigenart der Juden bleiben.
Reichsbruderrat, Ein Wort zur Judenfrage, Darmstadt 1948: Holokaust göttliche Strafe.
Der normale Jude kann kaum normal sein. Er hat hauptsächlich lebensgefährlich trügerische Pseudo-Normalität
kennengelernt.
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Mitmenschlichkeit ist universell, aber wenig tragfähig und unverläßlich. Das kommt immer wieder erschreckend an
den Tag an Stellen, wo keine zusätzlichen (nationalen, religiösen, familialen) Verbindlichkeiten bestehen.
Roosevelt rief für den 6.-15. Juli 1938 eine Konferenz zur Regelung von Einwandererquoten für Flüchtlinge in
fremde Länder nach Evian zusammen. England verlangte Ausklammerung der Palästinafrage und Vorsitz des
Flüchtlingskomitees für einen notorischen englischen Antisemiten. Nur Trujillo erklärte sich bereit, Flüchtlinge
aufzunehmen.
Alle Menschen sind von früh an durch ihr Milieu geprägt – begünstigt und geschädigt. Verdienst und Schuld sind
deshalb nur in verengtem Problemhorizont befriedigend zurechenbar.
Israel hat, in Bezug auf sein eigenes Schicksal, die Frage nach zurechenbarer Schuld vor Gott, also in weitestem
Problemhorizont, in wohl einzigartiger Schärfe gestellt. Als fromme Juden haben die frühen Judenchristen mit
Furcht un Zittern (später, weniger angefochten, auch die Heidenchristen) die Katastrophen Isaels der Jahre 70/71
und 135 als Strafe verstanden. Die Umwelt der meisten Juden wurde christlich; die Juden wurden entsprechend
schlecht behandelt. Sie wurden natürlicherweise milieugeschädigt. Nur wenige konnten das Schicksal (nach dem
berühmten Wort des Meisters Eckehart: „Das Leid ist das schnellste Tier, das den Menschen zur Vollkommenheit
trägt“) zur eigenen Reifung verarbeiten, – unter Anleitung ihrer Heiligen Schriften vielleicht mehr als Heiden, die
vergleichbares Unglück getroffen hat.
Das setzte sich fort in einer jahrtausendelangen Geschichte der Polarisierung.
Da man sich in der Not (und auch ohne Not) immer noch, zur Heiligung tierischen Verhaltens, gern auch der
Religion erinnert, ist kein Ende abzusehen.
Unrecht produziert Ressentiments. Wo monströse Schuld vorliegt, ist der Wunsch nach Rache natürlich – wie
unfein, wie inhuman das immer sein mag. (Was heißt in der Geschichte des jüdischen Volkes „menschlich“?! Die
manifeste Inhumanität der Mächtigeren hat nach Kräften den Juden inhumane Gefühle eingebleut.) Chuzpe,
Respektlosigkeit und die Vorurteilslosigkeit, welche so viele Juden zu Pionieren der Neuzeit gemacht hat, sind mehr
oder weniger sublime Andeutungen des angesammelten zerstörerischen Potentials.
Das müssen die Christen den Juden zugute halten und das muß eines Tages offen ausgesprochen werden dürfen!
Zwar haben schlechte Eltern kein Recht, ihre Kinder anzuklagen. Aber keine Sprachregelung und kein
Verhaltenskodex kann Schuld und Ressentiment beheben. Die Heuchelei der political correctness ist ekelhaft und
auf die Länge kontraproduktiv. Sie kann Konflikte bestenfalls hinausschieben in Hoffnung auf eine derzeit noch
fehlende Kreativität – ratlos subjektiv ausgedrückt: Kreativität von Gott, Hoffnung auf Gott.
Das transzendiert die Größenordnung des Freudschen Therapieziels, Aggression in Arbeit zu sublimieren.
Nach ihrer völlig aus dem Rahmen der Normaltät fallenden Geschichte ist es schier ein Zeichen von Normalität,
wenn Juden verrückt sind.1
Die Geschichte der Zigeuner ist m.W. nicht so chaotisch, aber ebenfalls unglücklich. Und manche Zigeuner
empfinden ein Recht, gegenüber der alt eingesessenen Bevölkerung kriminell zu sein. Wenn sie es nicht sind, sind
sie vermutlich wertvollere Menschen als die Normalbürger.
Das Judentum hat eine besonders eigenartige Geschichte. Einem Juden ist infolgedessen unter normalen
Umständen seine Geschichte als Fremdkörper bewußtseinsnäher als seinen nichtjüdischen Mitmenschen (diese
waren davon nicht so stark betroffen). Das wirkt sich immer befremdend, zeitweise quälend aus, und es ruft
Vermeidung und Abwehr wach – ein Teufelskreis.
1
„Wer über gewissen Dingen den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“ LESSING, Emilia Galotti, IV/7 und
V/5
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Emigrantenkinder haben Eltern in chronischer Angst gehabt. Oft bestimmten dann die Geschlechterrollen das
Verhalten am Scheidewege: Während die Söhne in der Fremde, sozusagen mit zusammengebissenen Zähnen, ein
neues Leben anfingen, blieben die Töchter der Welt der Eltern verhaftet.
Wegen ihrer historisch bedingten, kritischen Distanz zur jeweiligen gesellschaftlich konstituierten Wirklichkeit ihre
Gastvölker ("religiöse" Unterschiede) haben die Juden insgesamt, über die ganze Breite der Geschichte, mehr
Unglück. Aber das gabelt sich außerordentlich: Es gibt ungewöhnlich viele sehr unglückliche und ungewöhnlich viele
sehr glückliche Judenschicksale! Das Mittelfeld ist ausgedünnt.
Die beiden Extreme ziehen natürlicherweise die Aufmerksamkeit an und erregen Neid bzw. Mitleid. Beides wird
pauschal allen Juden entgegengebracht, und zwar von Nichtjuden direkt in dieser Form, von Juden als
identifikatorische Selbstgefälligkeit und Mitleid.
Jeder ist einzig, und jeder hofft, im Spiel der Zufälle nicht schließlich zu verlieren, sondern endlich zu gewinnen; die
Erwählung1 im biblischen Sinne ist eine Einengung des Problems der Einzigkeit in den Schematismus eines
Konstantsummenspiels*.
Das Alte Testament ist eine Beispielerzählung zum Problem der Einzigkeit; Judentum einerseits, Neues Testament
und Christentum andrerseits sind die beiden Zweige der weiteren Geschichte, die mit einander die Erwählungsidee
relativieren und die Einzigkeit tiefer verstehen lehren. Eben dazu sind sie erwählt.
Daß das religiöse Erbe Israels (mit seiner Thematisierung und paradigmatischen Antwort auf die
allgemeinmenschliche Frage How to be special) auch ethnisch anderen Menschen zugänglich wurde, war zur Zeit
des Paulus, gewiß umstritten, aber schon im Gang2 und konnte nicht ausbleiben. Das Christentum hat es nur
beschleunigt und gestaltet.
Die Juden sind, wegen ihrer Geschichte und wegen der Geschichte der anderen mit ihnen, je länger desto weniger
ein Volk wie jedes andere, – noch weniger als jedes andere! Die uralte Verheißung war verhängnisvoll
verführerisch. Immer wieder nur um den Preis von so etwas wie der Kreuzigung Jesu kann (!) sie zum Segen
werden.
Die großdeutsche Judenvernichtung geht, als Offenbarung dessen, was im Menschen steckt, alle an. Das MILGRAMExperiment gehört dazu.
Der Mensch fragt bei großen Ereignissen nach Ursachen. Im Rahmen einer Gerechtigkeitskosmologie ist Unglück
Strafe; man fragt nach Schuld. Im Rahmen einer streng monotheistisch-kosmologischen Gerechtigkeitstheologie
war die Versuchung, den Fall Jerusalems im Jahre 70 als Strafe Gottes zu deuten, groß; auch die Juden sind ihr
erlegen. Sie ist im Alten Testament (in größter Breite 5Mose 28,15-68, Schrecken von Holokaust-Dimensionen)
vorgezeichnet. Den Christen galt er als Strafe für die Verurteilung Jesu durch die Juden.
Der Antisemitismus wuchs mit dem durch den modernen Kapitalismus beschleunigten gesellschaftlichen Wandel, –
dem in der Tat vieles lang bewährte Gute zum Opfer fällt, bevor überzeugendes Neues dasteht.
Das Ressentiment konzentrierte sich auf "den Juden" als Symbol des Zersetzenden und wurde zu einer neuen
dualistischen Religion. Gott und Teufel kann man nur fühlen, ihr Wesen prophetisch entschlüsseln und die
Forderungen der „Vorsehung“ verkündigen. Ein blutiger Spuk.
1
Vgl. „Das Los ist (durch Gottes unerforschlichen Ratschluß) mir gefallen aufs Liebliche“ (Ps 16,6). Ohne den
starren Rahmen einer Alternative zeugt doch von einer ähnlichen Zuversicht auch etwa das von PLUTARCH
überlieferte Wort Caesars (noch im Kampf gegen Pompeius) an den auf stürmischer See verzagenden Bootsmann:
„Du trägst (φέρεις) Caesar und sein Glück (τύχην)!“
2 Der Status der „Gottesfürchtigen“ (welche Teile des mosaischen Gesetzes, oft die sog. „noachitischen Gebote“,
halten) wurd im palästinensischen und hellenistischen Judentum und Christentum diskutiert.
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Gott, der Allmächtige, ist Symbol für die unübersehbare Fülle der nächsten und weiteren Möglichkeiten –
besonders der menschlichen Weiterentwicklung.
Israel kannte Gebote Gottes für alle Menschen (Gen-pool) und Gebote für die eigene partikulare
Rechtsgemeinschaft. In Israels unglücklicher Geschichte entwickelten sich letztere teils zu einem Ritualgesetz. Das
alttestamentliche Gesetz repräsentiert aber im Großen und Ganzen, den augenblicklichen realen Interessen des
Individuums gegenüber, die wohlverstandene Forderung der Gesellschaft – und, dieser gegenüber, die Interessen
des Gen-pools.
Das monarchische Gottesbild gehört zum Kostbarsten, was die Menschheit je hatte.
Es bekam, wie sich viel später zeigen sollte, seinen entscheidenden Knacks beim Tod Jesu. (Rabbi Elisa ben Abuja,
ein persönlicher Freund der großen Rabbinen Aqiba und Mëir, fiel in der Hadrianischen Verfolgung, als Augenzeuge
des Martyriums eines verehrten Kollegen, vom Glauben ab.) Die Nachwirkungen des Gotteszeugnisses Jesu
überblendeten diese Krise nachhaltig zunächst mit Ostererlebnissen.
Es folgte die Umarbeitung des Gottesverständnisses in eine Trinitätslehre. Diese Konstruktion verlor seit der
Reformationszeit zunehmend an Boden. Die Krise brach Mitte des vorigen Jahrhunderts aus und fand dann durch
den lutherischen Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche prophetischen Ausdruck mit wachsender Resonanz.
Im Judentum führen die breite messianische Bewegung des Sabbathai Zwi, dessen Konversion zum Islam, sodann
die (an christlich-dogmatische Denkfiguren gemahnende) theologische Verarbeitung dieser Enttäuschung und
endlich die manifeste moralische Entartung der Bewegung, zu einer breiten Säkularisierungswelle.
Die Erschütterung durch den Holokaust hat, vergleichbar mit der christlichen Reaktion auf den Tod Jesu, eher eine
paradoxe Wirkung gehabt.
Heute entdecken Christen im jüdischen Volk so etwas wie ältere Brüder. In deren Glaubensgeschichte gehören ja
schon mehrere Enttäuschungen. Und diese haben die meisten von ihnen in die gleiche Richtung weitergewiesen
wie die ersten, die der Schock der Kreuzigung Jesu aus dem synagogalen Konsens hinausstieß.
Tragischerweise haben die Christen schnell ihrerseits eine anfechtungsfeste Orthodoxie aufgebaut, die zwar der
völkischen Basis entraten konnte, aber eine zivilisatorische und gesellschaftliche Rolle und dann auch staatliche
Basis bekam, die erst in der Neuzeit allmählich wegbrach.
Nicht die Synagogen und Kirchen, sondern die Frucht jüdischer und christlicher Trauerarbeit*, welche Kirchen und
Synagogen nicht leisten können, ist heute noch ein Segen, der im Westen auch auf das kirchliche Denken vertiefend
zurückgewirkt hat, – eine zivilisatorische Führungsmacht! (Die Ostkirchen haben in ihrer Rechtgläubigkeit die
Trauerarbeit, die das Leben verlangt, als Kollektiv bislang strikt verweigert.)
Die Kirche erkennt sich in Israel als einem Symbol ihrer eigenen Existenz.
Die Geschichte des Judentums in der Family of men ist nur nach der Logik der systemischen Familientherapie zu
verstehen.
Das Judentum hat seine Frustrationsaggressionen in der verheißungsvollen Selbstbestrafung des
Gesetzesgehorsams untergebracht.
Das Christentum ist sensationeller als das Judentum, weil es durch die Verkündigung der Auferstehung Jesu die
Apokalyptik integrierte, die das Rabbinat ausgeschieden hat.
Nach allem, was den Juden widerfahren ist, kann man bei ihnen nicht das soziale Urvertrauen voraussetzen, das
eine „allgemeine Gesetzgebung“ (sensu Kant) allererst verpflichtend machen könnte. Sie sind, als Marginale,
geprägt durch die Erfahrung der chaotischen Randphänomene der real existierenden Rechtskulturen. Diese
stimulieren die Entwicklung von einerseits Asozialität und anderseits höchster Kultur.
Was hat Gottes Volk aus allen Schicksalsschläge gelernt? – : Daß es sich Illusionen gemacht hat! Zum Kummer
seines Lehramtes, ist es nüchtern und skeptisch geworden.
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Das jüdisch-christliche Dilemma der Auslegung des Alten Testaments ist theologisch und religionsphilosophisch
ernst. Es gibt heute christliche Exegeten, die die christologische Orthodoxie ersetzen durch fetischistische
Inanspruchnahme des „Volkes Israel“ (was immer das wäre. Intern tobt auch hier ein Erbfolgestreit). Es geht aber,
im Nebeneinander der beiden Zentralsymbole Volk bzw. Jesus, paradigmatisch um das Problem der Fetischisierung
von Symbolen und damit um das Verhältnis von Wahrheit und Existenzsymbolik.
Nationale (entsprechend auch familiale) Selbst-Idealisierung sagt: Wir sind das auserwählte Volk.
Schon das Alte Testament setzt eine Menge Fragezeichen hinter das daraus folgende „Wir sind von Geburt OK“.
Das Schicksal des modernen Israel ist die Realisierung einer Illusion (Verheißung des Landes). Deren
Rationalisierung hat zu Wahnbildung geführt. Das verheißt Unheil.
Zur Zeit Jesu fand Ähnliches statt.
Das Judentum ist ein wild chaotisches Phänomen sensu Mandelbrot: die Extremwerte überwiegen die mittleren bei
weitem. (Das macht die "Judenfrage" in der Tat gemeingefährlich. Die andern Völker müßten mit den Juden
umgehen wie mit einem marginalisierten Familienmitglied.)
Das Judentum ist, als berechtigte Trotzreaktion, aus Niederlagen einer humanitär fortschrittlichen, ja
richtungweisenden Nationalreligion entstanden. In der Zerstreuung wurde der Kampf ums Dasein immer wieder
verschärft; Solidarität wurde zum Überlebensgebot für alle. Abgrenzungsprobleme gegenüber den andern Völkern
verstärkten sich selbst. Kulturelle Identität, ein unerläßliches Anliegen jeder Kultur, wurde verabsolutiert und zur
überwertigen, lebensfeindlichen Idee.
Das Überlegenheitsgefühl der zu Höherem Berufenen, Auserwählten, hat das Christentum in allen seinen Spielarten
aus dem Judentum, und der Amerikanismus und der Nationalsozialismus aus dem Christentum übernommen.
Das Christentum war die beste „real existierende“ religiöse Lösung des Judentums.
Auch die Emanzipierten verteidigen die Synagoge nach außen als eigenes Identitätssymbol, – gegen oberflächlichen
Wechsel zu neuen (christlichen) Symbolen der Hoffart völlig zu Recht.
Nicht nur das alte Israel, nicht nur Jesus, sondern auch die heutigen Juden sind Zeugen dessen, wie es einem mit
unserem Gott, dem Gott Israels, geht. So gehören sie in die Offenbarungsgeschichte unseres Gottes.
So hat Paulus ausdrücklich auch die Ungehorsamsgeschichten des Alten Testaments seinen Christen ins Stammbuch
geschrieben (1Kor 10,1-13).
Das gesetzestreue Judentum hat, als Volk, Jesu Weg der Treue ins Chaos gehen müssen.
Der Begriff der "Banalität des Bösen" ist eine reife Frucht der Entwicklung der biblischen Religionen, konzipiert von
einer Jüdin (Hannah Arendt).
Israel war ein geeigneter Nährboden des Christentums. Schon hier war die Erfahrung von Gottes Zurückhaltung
bescheiden bedacht und zur Sprache gebracht worden.
Die christliche Lehre von Gottes Offenbarung in einem Gekreuzigten fand im Judentum aber erst nach dem
Zusammenbruch des jüdischen Widerstands unter den Römern im Jahre 70 breitere Aufmerksamkeit.
Das Christentum triumphierte – und vergaß weithin den Sinn seiner Besonderheit. Stattdessen wurde die
theologische Einsicht, die das Christentum ausgezeichnet hatte, im unterdrückten Judentum weiterentwickelt. Im
Gefolge der Vernichtung des spanischen Judentums (so Gershom Scholem) entwickelt Isaak Luria die Lehre von der
Schöpfung dank eines raumgebenden Rückzugs Gottes.
Heute, im Niedergang der institutionalisierten biblischen Frömmigkeit in Europa, bekommt der Lurianische Gedanke
im Christentum Resonanz und hat mir die Idee von der Bescheidenheit Gottes nahegelegt.
NAHUM GOLDMANN (Paradox) zufolge, erfanden die Juden, zur Sicherung ihres Selbstwertgefühls, die
Rationalisierung: Unsre Peiniger sind „eine minderwertige Rasse“!
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Judentum ist die Selbstsakralisierung eines Volkes,
säkularisiert: Berufung zur kulturellen Führung (so Fritz Strich, Nahum Goldmann).
Reifung des primären Narzißmus: Rückkehr der would be auserwählten Gotteskinder in die Welt via Jesus (et homo
factus est) und Heiligen Geist. Auch der christliche Glaube hofft in der prekären Allerwelts-Kette der kleinen
Hoffnungen und versteht diese als Geschenk des Schöpfers. Immer wieder schmerzlicher Schluss mit der
imaginären Herrlichkeit.
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Inhalt
I.
Zur Kulturgeschichte des Narzißmus
A.
B.
1.
2.
C.
1.
2.
3.
D.
1.
2.
E.
1.
2.
Das alttestamentliche Erbe
Judentum
Realgeschichtlich
Ideologisch
Magie
Allgemein
Soziologisch
Psychologie
Christentum
Jesus
Osterglaube
Nachgeschichte
Kirchen und Synagoge
Säkularisierung
1
1
1
1
2
2
2
3
4
4
5
5
6
6
6
II.
Zusatz zum Arbeitsblatt "Altes Testament".
7
III.
Das Erbe des eifersüchtigen Gottes
8
Historisches Urteilen
Der religiöse Kern
Das theologische Kernproblem
Theologische Folgerungen
8
9
10
11
A.
B.
C.
D.
IV.
Jüdische Traditionen
A.
B.
C.
Apokalyptik
Gnosis
Rabbinat
13
13
13
13
V.
Notizen
15
VI.
Inhalt
22
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