PREDIGT HILDESHEIM, 2. Advent, 6.12.2015, Jes.63,15-19b 15 So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo sind nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. 16 Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von nichts, und Israel kennt dich nicht. Du, Herr, bist unser Vater; „unser Erlöser“, das ist von alters her dein Name. 17 Warum, Herr, läßt du uns abirren von deinen Wegen und verstocken, daß wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! 18 Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsere Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. 19 Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach, daß du den Himmel zerrissest und führest herab, daß die Berge vor dir zerflössen … Liebe Schwestern und Brüder, was für gewaltiger klagender und berührender Text! Eine ungeheure Anklage, eine bemerkenswerte Erkenntnis und eine flehentliche Bitte in einem. Damit wir nicht vergangene Zeiten problematisieren, beginnen wir mit der Klage: Wer könnte heute so beten? Die Christen im Irak oder Syrien oder Nigeria, die könnten so beten. Bei denen ist der Glaube lebensgefährlich. Da werden Menschen umgebracht, Kirchen zerstört, Klöster geplündert – das ganze widerliche Zerstörungsprogramm religiöser Fanatiker. Diese Brüder und Schwestern sind nun mit einem Mal Freiwild geworden für alle möglichen wildgewordenen islamistischen Mörderbanden. Sie sind allein mit sich und ihrem und unserem Gott, der aber offenkundig keine Initiative ergreift. Allenfalls ein paar Fürbittgebete werden ihnen gewidmet, am Ende eines Gottesdienstes, aber auch das nur am Rande, ansonsten schweigt das christliche Europa zum allergrößten Teil. Ja, ich glaube, die Christen im Irak oder in Syrien, die könnten so beten. „So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo sind nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen uns. Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von nichts, und Israel kennt dich nicht. Du, Herr, bist unser Vater; „unser Erlöser“, das ist von alters her dein Name“. Gottes Macht, sein Eifer werden beschworen. Er sitzt im Himmel und schaut sich das Getümmel vor seinen Augen an. Wenn es überhaupt einen Gott gibt, ist diese Vorstellung ja wirklich schwer auszuhalten. Der die Welt erschaffen hat, wie wir glauben, der sich vorbehalten hat, sein Recht notfalls mit Gewalt durchzusetzen, und in dessen Wahrnehmung die Völker sind wie ein Tropfen am Eimer (so heißt es am Beginn des Jesajabuches), der sieht das alles, die Verheerung und das Leid seines Volkes – und tut nichts. Jedenfalls nichts, was wir vermerken würden. Alles geht seinen normalen, brutalen Gang. Mord und Totschlag kommen, wie sie wollen, junge Schlagetots leben ihren Blutrausch aus, wie sie wollen, es gibt bestenfalls ein paar Fotos und Videos. Das wars. Die paar Flugzeuge am Himmel, die ein politisches Notprogramm darstellen, ändern an dem Schicksal der verfolgten Christen nichts. Die Frage ist zwar naiv, aber auch berechtigt: Was denkt Gott eigentlich im Himmel denkt, wenn er sich das anschaut? Seine Erde, sein Volk, seine Kreatur. Ist er traurig, weil er sich das alles anders gedacht hat und nun selbst fassungslos ob all der Entgleisungen, deren er ansichtig wird? Ist er gelangweilt, weil er dieses Morden und Brennen nun schon ewig und drei Tage mitanhören muß? Bereitet er sich auf einen entscheidenden lösenden oder gar erlösenden Schlag vor, mit dem er dem ganzen Unwesen ein Ende bereiten will? Ist er eingeschlafen oder beschäftigt er sich mit anderen Dingen, vielleicht der Konzeption einer neuen Welt, in der die Dinge besser und anders laufen? Hat er einfach keine Lust mehr? Solche Gedanken kommen einem ja, wenn man sich die Szenerie vor Augen führt. Oder gibt es ihn am Ende gar nicht? Ist der ganze religiöse Aufwand der Jahrtausende doch nur eine Art Selbstüberlistungsmethode der Evolution? Kann der Mensch mit seinem hochentwickelten Bewußtsein die Härte der Realität nicht anders wegstecken und verarbeiten als auf dem Wege einer Illusion, daß am Ende irgendwie alles gut ausgeht, egal wie die Faktenlage ist? Viele Menschen haben diese Frage inzwischen für sich beantwortet und sie bejaht. Diejenigen, die dabei immer gern auf der Kirche und der Religion selbst herumprügeln, weil die nun an allen Grausamkeiten schuld sein sollen, sind dabei weniger interessant. In solchen Fällen handelt es sich ja nur um eine schwächere Form von Uninformiertheit. Nein, gerade die aufmerksamen und sensiblen Menschen sind die eigentlichen harten Skeptiker: an einen Gott zu glauben, der uns gewähren läßt, ohne dem Bösen in den Arm zu fallen – was muß das für ein Charakter sein? Aber so einfach macht sich unser Beter im Text die Sache eben nicht. Das Leid und das Unglück werden bei ihm einer bemerkenswerten Innenansicht unterzogen. Nachdem er kurz wiederholt, welch inniges Verhältnis es zwischen Gott und seinem Volk gegeben hat, schließt er an: Warum läßt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, daß wir dich nicht fürchten? Also nicht: warum gibt es das Unglück und du tust nichts? Sondern: Warum verhinderst du nicht, daß wir tun, was wir tun? Warum läßt du uns einfach laufen und hältst uns nicht auf? Warum dürfen wir unser eigenes Verderben herbeiführen, ohne daß du uns dabei Steine in den Weg legst? Aus welchem Grund mischst du dich nicht ein in unser Wollen und Denken und läßt uns mit uns selbst allein? Wieso bist du so vorsichtig mit uns, obwohl du weißt, daß wir mit den uns anvertrauten Gütern nicht gut umgehen, ja, nicht gut umgehen können? Damit wird in die Betrachtung eine weitere Bezugsebene eingezogen. Es geht nicht nur um Gottes Handeln bzw. Nichthandeln, sondern um unser eigenes, menschliches Handeln, das seinerseits ein gewichtiges Moment in der beschriebenen leidvollen Situation darstellt. Der Vorwurf an Gott wird gebrochen durch eine allerdings niederschmetternde Einsicht über uns selbst. Es ist ja nicht Gott, der das alles anstellt und verursacht – wir sind es. Es ist ja nicht Gott, der die Mordbuben des IS angestellt und beauftragt hat – es waren verblendete oder einfach nur böse Menschen. Es ist ja nicht Gott, der in Paris um sich geschossen hat, sondern es waren Franzosen, Belgier; es sind Deutsche, Briten und Araber, die mit den Maschinenpistolen unsere Städte und Länder terrorisieren. „Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde“ – so fährt der Prophet fort. Als hätte es das Wort Gottes nicht gegeben, so benehmen wir uns. Dabei liegt es uns doch vor, seit Jahrtausenden! Als würden wir nicht wissen, was gut ist und was der Herr von uns fordert, nämlich Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor seinem Gott. Dabei kann das jeder wissen, und es ist mitnichten eine Geheimwissenschaft, die uns irgendwie verborgen gehalten würde. Als würde es keine Wegweisung, keine Rechtleitung, wie die Muslime sagen, geben, so führen wir uns auf. Dabei braucht es in den meisten Fällen nur eine kleine Dosis Anstand und ein bißchen Verstand, um einen menschlichen Umgang miteinander zu ermöglichen. Offenbar ortet der Prophet den Kern des Übels an dieser Stelle. Nicht daß Gott die Dinge zuläßt, also er ein moralisches Problem hat, sondern daß er uns so geschaffen hat, daß uns die Dinge unentwegt so mißraten und unter der Hand verkommen, also wir ein moralisches Problem haben. Und damit verwandelt sich die Anklage, die Gott gegenüber erhoben wird, in eine Bitte, ein Flehen. Aus dem rechtlichen Charakter, den ein Abrechnung mit dem bösen Gott hat, wird wieder ein Beziehungsverhältnis von Parteien, die einander eigentlich sehr nahe stehen, die sich kennen, geliebt haben, einmal ein Herz und eine Seele waren. Es heißt: „Kehr zurück um deiner Kinder willen, um der Menschen willen, die doch dein Eigentum sind“ und: „Ach, daß du den Himmel zerrissest und führest hinab, daß die Berg vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie das Feuer Wasser sieden macht, daß dein Name bekannt würde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müßten“. An dieser Stelle beginnt sozusagen der adventliche Teil unseres Glaubens, nicht nur für den Propheten, sondern ewig, immer wieder. Die Hoffnung, daß Gott kommt und rettet. Egal wie, nur daß er selbst kommt und sich unserer erinnert. Denn, ja, wir sind bestürzt darüber, was Gott alles scheinbar unberührt geschehen läßt. Wir fassen das ganze Elend der Welt einfach nicht, halten es nicht aus. Gleichzeitig erkennen wir, daß wir die Urheber dieser Taten sind. Wir führen Krieg, wir sind gehässig, wir sind voller dunkler Möglichkeiten, diese schöne Welt zu einer Hölle zu machen. Advent ist die entschlossene Haltung, Gott um sein Kommen zu bitten. So sorgen wir dafür, daß wir nicht die Büttel des Teufels oder die Sachwalter der Niedertracht werden. Und so halten wir die Zukunft offen, daß wir es nicht nur mit uns selbst zu tun haben. Amen.