1. Schularbeit 8A 3stündig 2013/14 Textbeilage 4 NAME: Andrej

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1. Schularbeit 8A 3stündig
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2013/14
Textbeilage 4
Andrej Szczypiorski: Menschlichkeit für die Zukunft
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Der Mensch von heute ist überzeugt, es könne alles nach seinem Willen gehen. Er glaubt fest, daß
die Zukunft allein vom solidarischen Zusammenspiel menschlicher Geisteskräfte abhänge. Und weil
die Ratio angeblich grenzenlos ist, müsse die Welt in den Griff zu kriegen sein zugunsten der
Menschheit.
Ein solches Denken, das seit der Aufklärung dem leitenden Prinzip des allmächtigen Verstandes
untergeordnet ist, hängt an uns wie ein riesiger Klotz am Bein. Es behindert uns, lenkt uns vom
Eigentlichen ab, es ist sogar dumm, da es die grundlegende Frage – was bedeutet “zugunsten der
Menschen“? – gar nicht beantwortet. Menschen und Welt einander gegenüberzustellen, halte ich
außerdem für falsch. Ist nicht jeder von uns ein kleines Stückchen Natur?
Die Vernunft ist meiner Meinung nach ein einseitiger Ratgeber. Nehmen wir nur die Wissenschaft,
die für viele die Lösung aller Probleme parat hält. Die Forscher erfanden, ganz zum Nutzen der
Menschheit, die Elektrizität. Aber Strom läßt nicht nur Glühbirnen leuchten, er tötet auch Menschen
auf dem elektrischen Stuhl. Nehmen wir eine einfache Erfindung unserer talentierten Vorfahren –
den Hammer. Mit ihm kann man Nägel in ein Brett klopfen oder dem Nächsten den Schädel
einschlagen.
So war es immer in der Menschheitsgeschichte: Alles ist letztlich eine Frage der Wahl, und die Wahl
ist nicht Sache der Wissenschaft. Sie ist eine Frage moralischer Grundsätze.
Selbst wenn der Verstand noch so tüchtig, innovativ und wißbegierig arbeitet, er kann das
menschliche Dilemma1, wählen zu müssen, nicht lösen. Insofern kann auch die europäische
Aufklärung, die den größten Bruch in unserem Weltverständnis und im Verständnis des
gemeinsamen Schicksals der Menschen darstellt, keine Garantie dafür geben, daß rationale Urteile
und die rationale Beeinflussung der Wirklichkeit lobenswerte Resultate hervorbringen.
Schließlich sind Marx und Lenin nicht vom Himmel gefallen. Beide waren Musterschüler der
Aufklärungsillusionen, beide versuchten, verschiedene Programme der Aufklärung umzusetzen. Das
Ergebnis war mörderisch.
Auch Adolf Hitler ist nicht hinter einem Spiegel hervorgekrochen, wo nach altem Aberglauben
Gespenster wohnen. Er kam aus einem ganz realen österreichischen Städtchen. Hitler war, obwohl
man das vermuten könnte, kein Prophet trüber, verworrener und unheimlicher Geister der
deutschen Romantik. Er war ein nüchtern denkender Nihilist2, der von der im 19. Jahrhundert
weithin vertretenen Idee, daß der Mensch frei die Welt verändern kann, Gebrauch machte.
Es ist einfach nicht wahr, daß der zivilisatorische Fortschritt den Menschen glücklich macht. Die
Technik schafft unsere Probleme, unsere Dramen und unseren Kummer nicht aus der Welt. Ich habe
kein großes Vertrauen in Menschen, die unkritisch dem zivilisatorischen Fortschritt
gegenüberstehen. Letztlich lebte es sich in Europa in der Zeit von Attila ein wenig besser als heute.
Denn Attila hatte keine Gaskammern und Krematorien. Und auch wenn er es unbedingt gewollt
hätte, er konnte nicht Millionen Menschen vernichten. Hitler hatte diese Technik – ich habe sie am
eigenen Leib erfahren. Seither bin ich ein Sonderling. Was die Welt heute mehr als jeden Computer
braucht, ist ein Gewissen. Kein Computer kann die menschliche Sensibilität ersetzen.
Deshalb dürfen wir die Hoffnung auf eine Verbesserung der Conditio humana3 nicht allein auf ihn
richten. Mit dieser Meinung stehe ich nicht alleine da. Jeder von uns hat oft genug erfahren, daß
Einfachheit, sogar ein gewisser Primitivismus des Alltags, dem Menschen sehr viel Genugtuung und
innere Bereicherung bringen kann.
Trotzdem befürworte ich nicht die Rückkehr zur Natur und ich glaube auch nicht an die Ehrlichkeit
etlicher Apostel jener Philosophie. Die Kämpfer der radikalen Umweltbewegungen, wie überhaupt
alle Kämpfer, sind mir sehr verdächtig. Jeder Fundamentalismus, religiöser wie ökologischer Natur,
ist gefährlich und zeugt von tristem emotionalem Nachholbedarf.
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Ich bin kein Gegner der Vernunft. Aber ich bin für Ausgeglichenheit und das richtige Maß aller Dinge
– vielleicht weil ich schon so viel Extremes in meinem Leben erfahren habe. Mir kommt jede
Ideenbesessenheit ein bißchen lächerlich vor, auch jene, die von ehrlichsten Vorsätzen getragen ist.
Zwar sagt die Schrift: „Ich habe euch ausgespuckt, denn ihr seid lau...“ (Offenbarung 3, 16), aber
trotzdem glaube ich, daß eine gewisse Distanz, das Nachdenken und das kritische Urteil über eigene
Möglichkeiten, viel mehr wert sind, als nur die leidenschaftliche Überzeugung, daß heiße Herzen Eis
schmelzen lassen.
Extreme sind tückisch. Das Brisante am Fortschritt ist, daß es eine Schwelle gibt, an der er aufhört,
Mittel, Werkzeug und Lebenshilfe zu sein – es wird zum Selbstzweck. Dieser Schwelle rücken wir seit
ein paar Jahrzehnten gefährlich nah. Die moderne Zivilisation befreit uns langsam aber unerbittlich
von den alten Ängsten vor den Geheimnissen der Welt, die schon fast alle gelüftet und beschrieben
sind. Mehr noch. Die Zivilisation läßt auch unsere ewige Sehnsucht nach der Metaphysik4
einschlummern, ohne die der Mensch kein vollständiger Mensch ist. Diese tief verwurzelte
Sehnsucht läßt uns der eigenen Unvollkommenheit und Gebrechlichkeit gewiß werden und ist
gleichzeitig die einzige Quelle, die uns vermitteln könnte, was gut und was böse ist. Kein Computer
wird uns am Bildschirm moralische Prinzipien anmahnen oder uns moralische Entscheidungen
abnehmen. Kein Zweig der Wissenschaft wird verbindlich und ausreichend ethische Fragen
beantworten können. Kein Experte, auch nicht der beste, kann und darf uns von der Verantwortung
des individuellen Gewissens befreien.
Ich denke aber auch, daß es Moral ohne Furcht nicht gibt, ohne diese uralte Angst, nicht unbedingt
vor der Hölle, sondern vor einer schlaflosen Nacht, die voller Abscheu vor unserem Handeln ist, uns
den ganzen Tag verfolgt, uns keine Ruhe läßt.
Ich bin kein Kanzelredner. Ich habe kein recht andere zu belehren. Aber ich glaube einfach nicht, daß
es bei der Gestaltung der Zukunft ausreicht, auf das Mitleid der Reichen gegenüber den Armen zu
setzen. Daß der Fortschritt nicht dabei hilft, das Unglück aus der Welt zu verbannen, habe ich
dargelegt.
Die Zukunft sollte auf einem alten, mittlerweile ein wenig verstaubten Gedanken, der irgendwo im
Hinterkopf rumort, aufgebaut werden: Jeder Mensch ist gebrechlich, schwach und unreif, daher
braucht er die Unterstützung seines Nächsten. Wir sollten auf die Solidarität unter den Menschen
setzen. Diese Solidarität beginnt immer schon in den eigenen vier Wänden und betrifft ebenso den
Nachbarn, der vielleicht an unserer Gleichgültigkeit zerbricht.
Ich habe vielleicht Banales, Selbstverständliches gesagt, Gedanken ausgesprochen, denen viele
zustimmen. Zum Schluß noch ein letzter: Den Nächsten zu lieben, ist wohl schwierig, aber
unentbehrlich. Die Nächstenliebe allein garantiert uns eine bessere Zukunft. Ohne Liebe, im
weitesten Sinne, gibt es keine Menschen, und es wird keine Welt geben.
Das ist die Liebe der Mutter zum Kind, des Bruders zu seiner Schwester, der Ehefrau zu ihrem Mann,
das ist die Liebe eines Menschen zu seinen Mitmenschen, unabhängig davon, wer sie sind, wo sie
herkommen und was sie denken. Das ist letztlich auch die Liebe zur Natur, zum Hund, zum Blatt am
Baum, zum Stern, zum Wind, zum Licht und zur Dunkelheit. Das ist die Liebe zu allem, was um mich
herum ist, auch wenn ich selbst nicht geliebt werde.
Ich bin vorsichtig optimistisch hinsichtlich der Zukunft. Denn sie hat größere Chancen als die
Vergangenheit – vielleicht nur deshalb, weil sie noch nicht Wirklichkeit ist.
(Aus: Menschlichkeit für die Zukunft, Zürich, Diogenes, 1995. Zitiert nach: Zeit und Wort, Bd.3, Braumüller, Wien 1997,
Seite 207ff)
1 Dilemma: Zwangslage
2 Nihilist: verleugnet alle gültigen Kenntnisse und allgemeinverbindlichen Werte
3 condition humana: „Lage des Menschen“
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Textbeilage 4
4 Metaphysik: Lehre vom Sein, das über die erfahrbare Wirklichkeit hinausgeht
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Textbeilage 4
INFO-BOX:
Andrzej Szczypiorskis Werk erklärt sich aus seinem Lebensweg: Aufgewachsen in einer vom Bildungsbürgertum geprägten
Familie, erlebte er als 15-Jähriger, wie Deutsche seine Heimat besetzten. Während dieser Zeit studierte er an der
Untergrunduniversität, die sein Vater Adam, ein sozialistischer Historiker und Mathematiker, mitorganisierte. 1944 nahm
Andrzej Szczypiorski am Warschauer Aufstand teil, wurde gefangengenommen und im KZ Sachsenhausen interniert.
Nach dem Krieg arbeitete er zunächst als Journalist, 1955 begann er seine literarische Tätigkeit. Unter dem Pseudonym
Maurice S. Andrews schrieb er einige Kriminalromane. Ab 1977 veröffentlichte er zunehmend in Oppositionszeitungen, was
nach Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 zu seiner zeitweiligen Internierung führte.
Nach der politischen Wende in Polen 1989 bekleidete er als Vertreter der Unia Demokratyczna bis 1991 das Amt eines
Senators in der zweiten Kammer des polnischen Parlaments. 1989 wurde ihm der Nelly-Sachs-Preis und 1995 der AndreasGryphius-Preis verliehen. Bis zu seinem Tode im Jahr 2000 äußerte er sich immer wieder zur politischen und moralischen
Entwicklung der dritten Republik Polens.
Die neusten Forschungen des polnischen Institutes für Nationales Gedenken IPN, das sich mit der Aufarbeitung der
Geschichte der kommunistischen Herrschaft in Polen befasst, haben erbracht, dass Szczypiorski seit 1955 mit dem
polnischen Staatssicherheitsdienst Służba Bezpieczeństwa zusammengearbeitet hat. Die Details dieser Zusammenarbeit
wurden im Film von Grzegorz Braun Errata do biografii (Korrektur zur Biographie) aus dem Jahre 2007 vorgestellt.
(aus: de.wikipedia.org | 14.11.2013)
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