Thesen zur Diskussion am 17.1.2016 Heinz Schade Ist das weltweite Einfordern von Demokratie und Menschenrechten Kulturimperialismus? Meine These ist: Was im 19. Jahrhundert die christliche Mission war, ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und verstärkt in den letzten Jahrzehnten das weltweite Einfordern von Demokratie und Menschenrechten. Beides ging weitgehend vom „Westen“, also von Westeuropa und Nordamerika aus, wo die große Mehrheit der festen Überzeugung war bzw. ist, dass die Durchsetzung dieser Ideen dem Wohle aller Menschen dient; beides kann man aber (wie alle weltanschaulichen, politischen und ethischen Überzeugungen) nicht logisch begründen oder beweisen. Mit welchem Recht fordert man etwas ein, was man nicht für jedermann einleuchtend begründen kann? Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, die die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verabschiedet hat, ist, da nicht vom Sicherheitsrat beschlossen, für die Mitglieder der Vereinten Nationen nicht verbindlich. Sie ist auch so umfassend, dass wohl kein Staat sie vollständig einhält, dabei enthält sie z.B. nicht die explizite Ächtung der Todesstrafe. Sie ist teilweise auch deutlich von westlichen Vorstellungen geprägt. Dafür nur zwei Beispiele: „Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft“ (Art.16 Abs.3); warum kann es nicht auch die Wohngemeinschaft oder der Clan sein? Oder: „Der Wille des Volkes ... muss durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen ... zum Ausdruck kommen“ (Art. 21, Abs. 3); warum in bestimmten Kulturen und Situationen z. B. nicht auch durch eine Versammlung der Stammesältesten (Loya Dschirga in Afghanistan)? Außerdem werden die Menschenrechte in Art. 29, Abs. 3 ausdrücklich den „Zielen und Grundsätzen“ der Vereinten Nationen untergeordnet: „Diese Rechte und Freiheiten dürfen in keinem Fall im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen ausgeübt werden.“ Es mag Situationen geben, wo militärisches Eingreifen von außen aus westlicher Sicht gerechtfertigt ist, das ist heute nicht unser Thema. Die Förderung oder gar Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten gehört aus meiner Sicht aber nicht dazu und sollte dabei auch nicht als Nebenzweck betrieben werden. Gerlind Lachenicht Menschenrechte als Kulturimperialismus? Heinz Schade: „Meine These ist: Was im 19. Jahrhundert die christliche Mission war, ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und verstärkt in den letzten Jahrzehnten das weltweite Einfordern von Demokratie und Menschenrechten… Mit welchem Recht fordert man etwas ein, was man nicht für jedermann einleuchtend begründen kann?“ Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) findet 1948 eine wesentliche Begründung und Zielsetzung angesichts der global wahrgenommenen, politisch-moralischen Katastrophe des gerade zurückliegenden Zweiten Weltkriegs, entfacht vom totalitären, Menschen vernichtendem Nationalsozialismus. In der Präambel lautet der zweite Satz: „weil die Verachtung und Verletzung der Menschenwürde zu barbarischen Akten geführt haben, die das Gewissen der Menschheit empörten, und weil der Anbruch einer Welt, in der Meinungs- und Glaubensfreiheit herrschen und in der niemand in Angst und Not leben muss, zum höchsten Ziel aller Menschen erklärt worden ist … verkündet deswegen die Generalversammlung nunmehr ... (es folgen 30 Paragraphen). Bei praktisch allen debattierten Artikeln rief jemand ein spezifisches NS-Unrecht in Erinnerung und schlug Formulierungen vor, die ein solches Unrecht, wenn nicht in Zukunft verhindern, dann doch zumindest als Menschenrechtsverletzung brandmarken sollte (Huhle 2012). Trotz dieses einschneidenden historischen Hintergrundes, aus dem heraus sie verfasst wurde, versteht sich die AEMR als universell in räumlicher, zeitlicher, politischer und kultureller Hinsicht. Sie ist eine Willenserklärung, die einen internationalen VerständigungsProzess ausgelöst hat zur Umsetzung der allgemeinen Zielsetzung in international verbindliche Regeln. Die Formulierung der Menschenrechte hat der internationalen Verständigung einen Rahmen und ein gemeinsames Vokabular zur Verfügung gestellt, auf das sich alle beziehen können. Neu an der AEMR gegenüber ihren Vorläufern ist neben dem erwähnten universellen Anspruch u.a., individuelle Rechte nicht nur durch den Staat schützen zu lassen, sondern auch vor dem Staat. Artikel XX untersagt es Staaten, seine Bürger zu Staatenlosen zu machen, wie im NS geschehen. Das Recht auf Staatsbürgerschaft gewährleistet ihnen überhaupt erst das „Recht, Rechte zu haben“ (Hannah Arendt). Kein Staat wurde zur Unterzeichnung der AEMR gezwungen. Viele der seit 1948 unabhängig gewordenen Staaten gaben ihre Unterschrift aber in Erinnerung daran, wie sie während ihres Befreiungskampfs auf die die AEMR gepocht und die Kolonialmächte damit in Verlegenheit gebracht hatten. Andererseits enthielt sich 1948 Saudi-Arabien der Stimme bei Artikel 18, der die Religionsfreiheit garantiert. Die Sorge war eine Missionierung von außen, die die religiöse und kulturelle Identität der politischen Gemeinschaft Saudi-Arabiens bedrohen könnte, also in gewisser Weise eine Sorge vor neuer Überfremdung. Diese Sorge verdichtete sich im Laufe der Jahre, in denen die AEMR als Zeichen und Instrument des Herrschafts- bzw. Führungsanspruchs einer westlichen Lebensweise in der Welt gewertet wurden. Die Kairoer Menschenrechtserklärung der Islamischen Konferenz von 1990 1990 kam es zu einem Einschnitt: unter Federführung von Saudi-Arabien und Pakistan unterzeichneten 45 der 57 Staaten der Islamischen Konferenz eine „Kairoer Erklärung“. International sehen die einen in dem Text einen Gegenentwurf zu der AEMR, die andern betrachten ihn als Dokument der Menschenrechte im Islam. Sie ist völkerrechtlich nicht verbindlich, wird aber relevant, wo die Mitglieder der Islamischen Konferenz gemeinsam politisch auf dieser Basis in der UN agieren. Die Präambel der Erklärung lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: Dort heißt es über die kulturelle und historische Rolle der Umma (islamische Gemeinschaft), dass sie „von Gott als die beste Nation geschaffen wurde und der Menschheit eine universale und wohlausgewogene Zivilisation gebracht hat, in der zwischen dem Leben hier auf Erden und dem Jenseits Harmonie besteht und in der Wissen mit Glauben einhergeht. Ferner betont sie „die Rolle, die der Umma bei der Führung der durch Konkurrenzstreben und Ideologien verwirrten Menschheit und bei der Lösung der ständigen Probleme dieser materialistischen Zivilisation zukommt.“ Zwar werden die einzelnen Artikel der AEMR aufgerufen und bekräftigt, aber – und das ist entscheidend – unter den Vorbehalt der Scharia gestellt. Alle Rechte und Freiheiten werden der Scharia unterstellt, welche als „einzig zuständige Quelle für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels“ dient (Art. 25, s. auch Art. 24). So wird in Art.1 zwar betont, dass alle Menschen „gleich an Würde, Pflichten und Verantwortung“ sind. Es wird aber ergänzt, dass der „wahrhafte Glaube ... die Garantie für das Erlangen solcher Würde“ sei. Was ist mit der Menschenwürde der Ungläubigen, der Andersgläubigen, die nicht dem wahrhaften Glauben anhängen? Deutlich wird das Dilemma auch in Bezug auf das in den AEMR verbriefte Recht auf körperliche Unversehrtheit, das den Strafen von Auspeitschung, Amputation und Steinigung in der Scharia krass entgegensteht. Mag der Koran mit der AEMR kompatibel sein, die Scharia ist es so sicher nicht. Das führt zu der Frage: Wie hat sich die AEMR derweil rechtlich konkretisiert? Welche Rechte ergeben sich konkret aus ihr? Entwicklung der Menschenrechte auf Basis der AEMR seit 1948 Heinz Schade: Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, die die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verabschiedet hat, ist, da nicht vom Sicherheitsrat beschlossen, für die Mitglieder der Vereinten Nationen nicht verbindlich. Sie ist auch so umfassend, dass wohl kein Staat sie vollständig einhält, dabei enthält sie z.B. nicht die explizite Ächtung der Todesstrafe. Tatsächlich ist die Allgemeine Erklärung völkerrechtlich nicht verbindlich, sondern hat den Charakter einer politischen Willenserklärung der UN-Generalversammlung. Diese erteilte ihrer Menschenrechtskommission deswegen den Auftrag, auf der Basis der Allgemeinen Erklärung bindende multilaterale Verträge auszuarbeiten. 1966 konnte sie den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) und den Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) verabschieden, die beide 1976 in Kraft traten. Diese drei Elemente bilden seitdem die Internationale Charta der Menschenrechte. Ihnen folgten sieben weitere Menschenrechtsabkommen, z. B. zu den Kinderrechten oder den Rechten von Wanderarbeitern. Die Pakte und Abkommen können durch Zusatzprotokolle verändert werden, die ebenfalls bindend werden durch Ratifizierung. Staaten, die ein Abkommen und /oder die beiden Pakte ratifiziert haben1, verpflichten sich zur Umsetzung und Gewährung der im Vertrag genannten MR. Sie unterwerfen sich damit einer periodischen Berichtspflicht und räumen den aus Experten bestehenden Fachausschüssen der UN Kontrollrechte ein. Das Expertengremium verfasst einen Bericht, in dem auch Parallelberichte von Nichtregierungs- Organisationen berücksichtigt werden. Er wird – möglichst im „konstruktiven Dialog“ - in einer öffentlichen Sitzung mit Regierungsvertretern des kontrollierten Staates diskutiert. Da es keinen Weltgerichtshof für Menschenrechte gibt, können Verletzungen auf der internationalen Ebene nicht eingeklagt werden, sondern nur nach Prüfung von Individualbeschwerden gerügt werden. (vgl. z. B. 1. Zusatzprotokoll zum Zivilpakt). Anders sieht es auf den regionalen Ebenen aus. Die europäischen, amerikanischen und afrikanischen Staaten (nicht aber die asiatischen und arabischen) haben sich eigene Menschenrechtskonventionen gegeben und betreiben Gerichtshöfe zu deren Überwachung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg behandelt Verletzungen bezüglich aller 47 im Europarat vertretenen Staaten, die die Konvention unterschrieben haben. Fast ein Drittel der 100 tsd eingereichten Klagen wandten sich 2010 gegen Russland, gefolgt von der Türkei und Rumänien. Individualklagen sind zulässig. Urteile auf Basis der Europäischen Menschrechtskonvention haben in einigen Fällen zu Veränderungen im nationalen Recht geführt, z. B. zur Entkriminalisierung von Homosexualität in Nordirland. In Deutschland steht die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) im Rang unter dem Grundgesetz auf Ebene des einfachen Bundesgesetzes. Sie kann daher vor deutschen Gerichten wie jedes andere Gesetz geltend gemacht werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 2004 sind alle staatlichen Organe der Bundesrepublik Deutschland an die Konvention und die für Deutschland in Kraft getretenen Zusatzprotokolle im Rahmen ihrer Zuständigkeit kraft Gesetzes gebunden. Will ein deutsches Gericht anders als der EGMR entscheiden, muss es dies ausführlich begründen und sich mit der Rechtsprechung des EGMR eingehend auseinandersetzen. Der Europäische Gerichtshof hat auch schon gegen deutsche Rechtsprechung entschieden, wie z.B. im recht bekannten „Fall Emily“. Die Gegenpartei musste eine Entschädigung an die Kassiererin zahlen, der zuvor wegen (angeblicher) Unterschlagung eines Pfandbons fristlos gekündigt worden war. Verbot der Todesstrafe Der Zivilpakt von 1966 erlaubte in Art. 2, 2 die Verhängung der Todesstrafe für schwerste Verbrechen. Das Zusatzprotokoll zum Zivilpakt von 1989 bestimmt jedoch: „Niemand, der der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaats dieses Fakultativprotokolls untersteht, darf hingerichtet werden.“ Seit 1990 haben 86 Staaten dieses Protokoll unterzeichnet und die Todesstrafe abgeschafft, so dass es zusammen mit 16 Staaten, die dies schon zuvor taten, 102 Staaten ohne Todesstrafe gibt. 34 haben einen Hinrichtungsstopp. These Lachenicht: Die Menschenrechte der AEMR, ihre Kodifizierung und die Instrumente zu ihrer Implementierung und Kontrolle entwickeln und konkretisieren sich in komplizierten 1 Den Zivilpakt hatten bis 2006 168 von 199 Staaten ratifiziert, den Sozialpakt 162. internationalen Diskursen und Abstimmungsprozessen. Sie gewinnen dabei an Gültigkeit und Verbindlichkeit und sind z.T. schon heute einklagbar. Bedenkt man, dass erst seit 1966 bzw. 1976 von Menschenrechten im juristischen Sinn gesprochen werden kann, ist das bisher Erreichte beachtlich, vor allem in Europa. Vorstellungen des MR-Universalisten Habermas Im Focus der Kontroversen zwischen Universalisten und Kulturrelativisten stehen die Rechte des Individuums und der säkulare Charakter der Menschenrechte, vertreten von den Universalisten auf der einen Seite, und der Vorrang von Gemeinschaft und ein sich zumeist fundamentalistisch gebärdender Anti-Säkularismus in anderen Kulturen auf der anderen. Jürgen Habermas formuliert in seinem Artikel: „Der interkulturelle Diskurs über die Menschenrechte“ (1999) die Hypothese, dass die Menschenrechtsstandards sich auf spezifische Herausforderungen der inzwischen global ausgebreiteten Moderne beziehen. Er sieht die entscheidende Alternative nicht auf der kulturellen, sondern auf der sozioökonomischen Ebene: „Die asiatischen Gesellschaften können sich nicht auf die kapitalistische Modernisierung einlassen, ohne die Leistungen einer individualistischen Rechtsordnung in Anspruch zu nehmen.“ (221) Unter diesen Umständen gehe es nicht um die Rechtfertigung der bestehenden Menschenrechte, sondern nur um Interpretationen, die auch der Sicht anderer Kulturen gerecht werden. Habermas glaubt an einen möglichen interkulturellen Diskurs in symmetrischen Beziehungen der gegenseitigen Anerkennung, der wechselseitigen Perspektivübernahme und der Bereitschaft, voneinander zu lernen. In dem Sinne betont er – westliche Vorstellungen vom voll autonomen Individuum korrigierend – die Einheit von Individuierungs- und Vergesellschaftungsprozessen und schlägt vor, diese Einheit in den Menschenrechten zum Ausdruck zu bringen, ohne dabei konkret zu werden. Dabei müssten sich aber asiatische Gesellschaften anderseits die Frage stellen, ob die bisherigen Formen ihrer gesellschaftlichen und politischen Integration an die Imperative kapitalistischer Modernisierung angepasst werden oder gegen diese behauptet werden können. Die Integrationsprobleme hochkomplexer Gesellschaften lassen sich nur durch eine staatsbürgerliche Solidarität lösen, die nach Habermas mit der Verwirklichung von Grundrechten steht und fällt. Die Säkularisierung der Politik sei nur die Kehrseite der politischen Autonomie von Bürgern in den Menschenrechten, denn die Selbstgesetzgebung in einer demokratischen Willensbildung mache eine metaphysische Begründung überflüssig. Habermas setzt sich nicht mit der Kairoer Erklärung der Islamischen Konferenz von 1990 auseinander. Sonst wäre seine Logik womöglich an der Empirie zerschellt. These Lachenicht: Sowohl die Islamische Konferenz wie auch Vertreter des „westlichen Modells“ wie Habermas vertreten einen Hegemonieanspruch, der auf einen „Clash of Cultures“ hinausläuft. Der Umschlag von Universalismus in Barbarei ist die Folge und spielt sich ja auch vor unseren Augen ab als genau das, was zu verhindern oberstes Ziel der AEMR gewesen war. Frage: Wäre die Entwicklung von (Welt-) wirtschaftlichen Alternativen zur Kapitalistischen Marktwirtschaft nicht vorrangig?