1914 bis 1945 Bedrängnis – Bedrohung – Bewährung Als im Sommer 1914 der Weltkrieg ausbrach, eröffnete erstmals ein Sozialdemokrat als CP das nächste Zofingerjahr: der Basler Max Gerwig1, ein Idealzofinger und damit einer, der hinterfragte und konzipierte. Das verriet er mit seiner Schrift “Was sollen wir tun?“, die er 1915 an die Aktiven richtete, von denen er eine intensivere geistige Auseinandersetzung verlangte. So schlug er die Einführung einer ständigen Heimatchronik vor, Referate über die Bundesversammlung und ähnliches, kurz: Neuerungen, die den ersten Akt eines Zofingerabends aufwerteten gegenüber dem zweiten. Ein IZ eben. Der Basler Präsident Paul Dubi wurde konkreter2: “Wer von Anfang an darauf ausgeht, unterzutauchen, der bliebe uns wahrlich lieber fern!“ Und: “Zofinger sein heisst arbeiten!“ Das war eher intellektuell gemeint, denn: “Wer nicht an die Macht der Ideen in der Weltgeschichte glaubt, der soll jetzt schon getrost zum Hammer greifen und das Kreuz zimmern helfen, es aufs Grab eines schweizerischen Vaterlandes zu setzen!“3 Unter dem Centralpräsidium des Genfers Louis Micheli4 schliesslich fasste die Festversammlung 19165 den Beschluss, es möge jede Sektion eine “commission nationale“ bilden, mit deren Hilfe Referenten vermitteln und auch – darauf legte man Wert - öffentliche Vorträge organisieren Vorträge gab es auch 1915 vor den Altzofingern, die sich in Bern versammelt hatten, weil Zofingen vom Militär beansprucht war. Hier sprach ihr neuer Centralpräsident Lucien Gautier6 die Willensnation an: “Nous voulons être unis; nous voulons aussi être libres“7. So habe die kleine Republik sich behaupten können : « manifester son ferme vouloir dans le sens de l’union avec les cantons confédérés ». Karl Scheurer8, welcher der Zofingia Bern angehört und diese auch präsidiert hatte, ab 1919 im Bundesrat, sah genau hin: « Wir sind körperlich vollkommen neutral, wir machen den Krieg aber geistig mit, und zwar in den zwei verschiedenen Lagern »9. Wenn sich die Meinungsverschiedenheit nach der Sprache scheide, könne sie gefährlich werden: “Der Streit greift dann sehr leicht an die Wurzeln unserer staatlichen Existenz, die den Frieden zwischen den verschiedenen Sprachen und Rassen zur unbedingten Voraussetzung hat.“ Er brachte das Problem auf den Punkt: “Wir wollen nicht auf dem Umweg über den Gegner unseres Freundes den Hass Max Gerwig (1889 – 1965), war später Mitbegründer der sozialistischen Wochenzeitung “Der Aufbau“ und wurde Rechtsprofessor an der Universität Basel. Sein Sohn Andreas (1928 – 2014) gehörte als Nationalrat der “Viererbande“ der SP an. 2 Cbl. 1914/15. Maiheft 1915. 574. 3 Unter dem Titel “Zofingia und Nationalgefühl“ kritisierte E. Mange im Centralblatt ein zu schwach ausgebildetes Nationalgefühl. “Der krasse Materialismus der letzten Jahre hat unsere Bestrebungen idealer Natur in den Hintergrund gerückt“. Es gelte zu beweisen, “dass die Zofingia vaterländische Verbindung ist.“ Cbl. 1914/15. 586. 4 Louis Micheli (1893 – 1945) wirkte später im diplomatischen Dienst. 5 Protokoll im Cbl. 1916/17. Oktoberheft 1916. 47. 6 Professor Lucien Gautier (1850 – 1924). Sein Sohn Léopold war Centralpräsident der Aktiven gewesen. 7 Du rôle de la volonté dans notre développement national. In : Pflicht und Wille. Zofinger Stimmen. 8 Karl Scheurer (1872 – 1929). 9 Pflicht und Wille. 5. 1 auch auf unsere eigenen Landsleute ausdehnen, die mit ihren Sympathien auf der Seite dieses Gegners stehen … Nicht fremde Siege und Niederlagen wollen wir in Freud und Leid mitmachen. Um unser Wohl und Wehe sollen sich unsere Gedanken sammeln.“ Die Zofingia sei mit der Absicht gegründet worden, die akademische Jugend des ganzen Landes auf der Grundlage des nationalen Gedankens zu vereinigen. Scheurers Appell war wichtig in einem Land, dessen General als extrem deutschfreundlich galt, was die Romands verärgerte. Diese reagierten auch heftiger als die Deutschschweizer, als der General die Obersten-Affäre1915/16 herunterspielte, nachdem die Obersten immerhin den deutschen Militärattachés die Tagesbulletins des Schweizer Generalstabs zugespielt hatten. 1933 hatten die Zofinger Grund genug, Scheurers Worte im Centralblatt zu wiederholen10. Vor diesem Hintergrund ernannten die Zofinger 1914 Gonzague de Reynold zum Ehrenzofinger. Dieser war mit dem Zofinger Schriftsteller Charles-Ferdinand Ramuz11 befreundet und hatte mit dem Zofinger Philologieprofessor Alexis François12 die Neue Helvetische Gesellschaft13 ins Leben gerufen, die auf ein Zusammengehen aller Sprachgemeinschaften ausgerichtet wurde. Der Berner Zofinger Gerhard Steck14 wurde ihr erster Präsident, auf ihn folgten die Couleurbrüder Maurice Baudat, Léopold Gautier und Hans Peter Zschokke. In der Westschweiz war die Zofingia gut präsent, nun wurde 1916 auch in Bellinzona eine Sektion gegründet, die bis 1970 wirkte. Aber die zofingerische Aufmerksamkeit war abgelenkt. Als im Januar 1916 in Lausanne beim deutschen Konsulat die Fahne herunter gerissen wurde, feuerten 14 Zofinger die Menge an, indem sie “Roulez, tambours!“ intonierten und zum Denkmal Major Davels zogen, was innerhalb der Zofingia Unwillen erzeugte. Es war verständlich, dass beide Vorfälle, Oberstenaffäre und Fahnendemonstration, in der welschen Zofingergeschichte ein Thema hergaben15. Dank Lucien Gautiers Eingreifen konnte ein Bruch innerhalb der Verbindung vermieden werden. Da führte Julius Schmidhauser16, der Zürcher CP 1916/17, zu einer viel stärkeren Kontroverse, indem er ideologischen Pfeffer einstreute. Erneut stand ein Linker, extremer Idealzofinger17, an der Spitze eines Vereins. Zur Centraldiskussion unter dem Titel “Der Imperialismus der Grossmächte und die Schweiz“18 trug er endlose Centralblatt-Seiten bei, deren Lektüre wohl manchem Zofinger einen kalten Schauder über den Rücken jagte: “Es ist der Gedanke der Demokratie, der zusammen mit dem Gedanken des universalen Sozialismus diesem ungeheuerlichen Rattenkönigsystem 10 Cbl. 1932/33. Juniheft 1933. 479. Charles-Ferdinand Ramuz (1878 – 1947). 12 Alexis François (1878 - 1958) war 1896 – 1902 Mitglied der Zofingia Genf. 13 Die Helvetische Gesellschaft, die Vorläuferin, hatte 1761 bis 1858 bestanden. 14 Gerhard Steck (1879 – 1952). 15 Beitrag Louis Junod in Charles Gilliard: La Société de Zofingue. Cent ans d’histoire nationale. 2 ième Edition augmentée par Louis Junod. 1946. 191. 16 Julius Schmidhauser (1893 – 1970). Sein Jahresbericht 1916/17 im Cbl. 1917/18. 9. Werner Kundert: Julius Schmidhauser. Cbl. 1970/71. 254. 17 Seine Dissertation trug den Titel “Vom reinen unmittelbaren Rechtsbewusstsein“. Der Schauspieler Hannes Schmidhauser (1926 – 2000) war sein Sohn. 18 Cbl. 1916/17. Ab 417, 503 und 585. Erörtert in Hans Erbs Dissertation: Geschichte der Studentenschaft an der Universität Zürich 1833 – 1936. 414. 11 der heutigen imperialistischen Politik entgegengesetzt werden muss“. Und: “Befreit euch vom Kleinmut zu einem neuen Glauben … Lasst diesen Willen neue Wege suchen, neue Wege zu einer neuen Schweiz. Vergesst aber nicht das Höhere: Es müssen Wege zu einem neuen Menschentum sein“. Als Schmidhauser während des Generalstreiks für die “Unabhängigen Studenten“ ein Flugblatt an die Arbeiterschaft richtete – “In diesen Tagen grösster Entscheidung treten wir zum Kampf an Eure Seite!“ -, stellten sich 27 Studierende als “überwiegende Mehrheit der Zofingia Zürich“ mit einem offenen Brief an die Studenten hinter ihn. Sie widersetzten sich mit einer Resolution der Kundgebung nationalgesinnter Studenten und der oberflächlichen, geistlosen Begeisterung, aber auch jeglicher Militärgewalt. Dafür bekannten sie sich zu sämtlichen Forderungen des Oltner Aktionskomitees. In Basel verteilten Zofinger den sozialistischen “Vorwärts“, einige IZ traten aus19. Unter den Verbindungen fiel die Zofingia als jene auf, die am deutlichsten links stand, für einige noch zu wenig links. Das alles wurde in der NZZ regelmässig verbreitet20. Die Lausanner Sektion meldete jedoch Widerstand an gegen die Annäherung an die Forderungen des Oltner Komitees21. Etliche Zofinger, Aktive und AZ, gingen auf Distanz zu Schmidhauser22. Die Gegner der Resolution forderten eine Auflösung und Neugründung der Zofingia Zürich, wie man 1984 einer Schilderung des Sektionsarchivars Andres Wysling entnehmen konnte23. Am 6. Februar 1919 bahnte sich jedoch eine Versöhnung an24, in Form einer “Décision de principe“. Die Zofinger anerkannten darin, dass die geltenden Gesetze der Eidgenossenschaft für sie bindend sind, solange nicht eine verfassungskonforme Änderung zustande gekommen ist, und dass sie sich den verfassungsmässigen Grundsätzen unterzogen – auch dem Prinzip der Landesverteidigung. 227 konnten dem zustimmen, 9 waren dagegen, 25 enthielten sich der Stimme25. Aber für die definitive Lösung in den Centralstatuten standen sich mehrere Anträge gegenüber, unter denen der Vorschlag “Union“ obenauf schwang. Er beliess die Neutralität und natürlich auch die Volkssouveränität, was unproblematisch war. Ausserdem stipulierte er die Förderung des Geistes der Gerechtigkeit und des Gemeinschaftsgefühls allen Völkern gegenüber, was ohne Zweifel fortschrittlich gedacht war. Sensibler war die “Achtung der Gewissensfreiheit und der Ansicht der Minderheiten“, die zum neuen Artikel 19 der Centralstatuten passte: “Ein Zofinger, der aus Gewissensgründen den Prinzipien der Verfassung zuwidergehandelt hat, wird nicht eo ipso aus dem Gesamtverein ausgestossen“26. Im Juni 1919 teilte CP 19 Ulrich ImHof: Vor siebzig Jahren. Der Generalstreik. Cbl. 1988/89. 37. Die Sozialpolitiker der Zofingia. NZZ vom 1. Dezember 1918. Zofingia Zürich und Generalstreik. NZZ vom 4. Dezember 1918. Studentenverbindung Zofingia. NZZ vom 5. Dezember 1918. 21 Réponse de la section vaudoise de Zofingue aux signataires du manifeste “Aux étudiants de l’Université de Zurich. Cbl. 1918/19. Novemberheft 1918. 22 Das war wohl noch klarer der Fall, als sich Schmidhauser Jahre später der Nationalen Front anschloss, die faschistisches Gedankengut verbreitete. 23 Die Zofingia Zürich während des Landesstreiks 1918. Cbl. 1984/85. Novemberheft 1984. 46. Quellen dazu im Archiv der Zofingia Zürich. 24 Vgl. Rubrik “Vie nationale“ im Cbl. 1918/19. 43. 25 Décision de principe. Cbl. 1918/19. Februarheft 1919. 228. 26 Cbl. 1918/19. Juniheft 1919. 501. 20 Pierre Secrétan mit, dass die Neuregelung mit 222 gegen 84 Stimmen zustande gekommen war27. “Union“ war aber für die Zürcher Altzofinger keine Lösung, die greifen konnte. Wenn das Projekt angenommen werde, erklärten sie an ihrer Sitzung vom 4. Mai28, würden sie den Kontakt mit der Aktivitas abbrechen. Sie hätten zu vielen Angehörigen der Zürcher Mehrheit der Aktivitas nicht das Vertrauen, dass diese sich aufrichtig auf den Boden des Artikels 1 stellen könnten. In Bern traten im Mai 1919 nicht weniger als 31 Zofinger aus, weil sich der Verein “nicht mehr unbedingt zur Entwicklung auf verfassunsgmässigem Weg“ bekannte29. Vorher und parallel dazu hatte sich noch etwas ergeben, was zunächst den General und dann den gesamten Bundesrat auf den Plan holte. Letzterer wurde sogar angehalten, das Centralblatt zu lesen. Der Fall Humbert-Droz. Ein Pazifist provozierte Ulrich Wille und wurde später von den Zofingern ausgestossen. Im Jubiläumsjahr 1919 gehörten 34 Zofinger dem Nationalrat und 6 Zofinger dem Ständerat an. Das waren mehr Couleurbrüder als 1848, aber bereits weniger als 1860, und sie waren jetzt unterschiedlichen Parteilagern zuzuordnen30. Das neue Proporzwahlrecht zeitigte seine Wirkung und viele rächten sich an den Freisinnigen, denen sie die Schuld an der verzögerten Einführung des Proporzes zuschoben. Deren Sitzzahl im Nationalrat fiel denn auch von 114 im Jahr 1911 auf 63. Zweimal zuvor waren Versuche zur Wahlrechtsreform gescheitert, und die Zofinger diskutierten bereits seit geraumer Zeit darüber, so wie man auch über die Volkswahl des Bundesrates nachdachte31. Der Proporz war zwar kein freisinniges Thema, aber dafür ein zofingerisches. Im Sommer hatte man zur Proporzwahl eine CentralfestDiskussion durchgeführt, an welcher der Basler Peter Schmid das bisherige “Wahlsystem des absoluten Mehrs“ als ungerecht und unnatürlich bezeichnete32. Noch 1917 forderte die Sektion Zürich in einer Resolution die Weiterführung der Proporzinitiative33, die ihren Vorstellungen entgegenkam. Der Zofinger Eduard Hagenbach34 erlebte leider die Einführung nicht mehr, die ihm so viel bedeutet hatte. Er war der eigentliche Vater der Proporzwahl, nachdem er mit dem sogenannten Hagenbach-Bischoff-Verfahren die Methode für die Sitzzuteilung entwickelt hatte. Hagenbach war nicht nur der technische Erfinder, sondern auch der ausdauernde Verfechter dieser Idee. Hagenbachs Vater Karl Rudolf35 hatte Gotthelf gut gekannt, und so ergaben sich 1853 in Zofingen auch die Verbindung zwischen Sohn Eduard Hagenbach, der in Basel und Genf der Zofingia angehörte, und Gotthelfs Sohn Albert. 27 Cbl. 1918/19. Juniheft 1919. 455. Cbl. 1919/20. Oktoberheft 1919. 94. 29 Wortlaut des Briefes im Cbl. 1918/19. Juniheft 1919. 501. 30 Ronald Roggen: Zofinger in der Bundesversammlung. Cbl. 1969/70. 184 und 271. 31 Max Gmür: Die Wahl des Bundesrathes durch das Volk. Cbl. 1892/93. 157 und 198. Sehr ausführlich G. Chatenay: Zofingue et la Représentation Proportionelle. Cbl. 1910/11. 75. 32 Cbl. 1899/1900. 614. 33 Resolution der Sektion Zürich betr. die gegenwärtige Krisis in der Schweiz. Cbl. 1916/17. Juliheft 1917. 823. 34 Eduard Hagenbach (1833 – 1910). Über ihn orientiert Friedrich Zschokke: Professor Eduard Hagenbach-Bischoff. 35 Karl Rudolf Hagenbach (1801 – 1874). 28 1919 zog ein gewichtiges Thema den Blick auf sich: der Völkerbund. Im August sprach sich der Bundesrat für einen Beitritt aus. “Es gilt zu wählen zwischen Völkerbund und Revolution“, wagte der Zofinger und Bundesrat Felix Calonder vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft zu sagen. Die Romands wünschten eine öffentliche Stellungnahme der Zofinger zu Gunsten des Völkerbundes, was der Gesamtverein bewilligte. Der Souverän folgte der Landesregierung mit Volks- und Ständemehr. Genf wurde Sitz der Organisation. Schon am Centralfest hatte sich eine starke Neigung für einen Beitritt kundgetan36. Der Zofinger Bundesrat Gustave Ador war zu grossen Teilen dafür verantwortlich, dass Genf Hauptsitz des Völkerbundes wurde. Nun wurde im Zofingerverein die Versammlungen berichtet37, auch über die Arbeit dieser Institution ganz allgemein38. War die Schweiz selber ein “Völkerbund im Kleinen“39, wie es einmal im Centralblatt hiess? Am 25. März 1922 führte der Zürcher Centralausschuss unter CP August Schweizer erstmals eine Präsidentenkonferenz durch. Kompetenzen hatte die Versammlung keine, dafür Gelegenheit zum Gedankenaustausch40. Noch konnten die Zofinger 1923 unbelastet etwa über die Schaffung einer eidgenössischen Altersversicherung diskutieren, wobei ihnen der Zofinger Hans Giorgio als Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherung wertvolle Hilfen bot. 1925 kam es zum Bundesbeschluss, 1947 endlich zur Einführung. Brisanter wurde es 1931, als mit Blick auf die Abrüstungskonferenz 1932 eine heftige Armeediskussion geführt wurde41. Dazu gehörte der bemerkenswerte Satz des Neuenburger Altzofingers Georges Béguin: “Notre armée doit exister pour que nous ne conaissions pas la guerre“. Extrem deutlich präsentierten die Basler ihr Conzärtli, das unter dem Titel « Dicke Luft » vor der gefährlichen Entwicklung in Deutschland warnte42. “Darf ein Schweizer die Hitlerbewegung befürworten?“ So fragte Willi Knapp im Centralblatt43 1931. Es zogen dunkle Wolken auf. Und die Juden? 1920 hatte Jules Rochat im Centralblatt über eine “conspiration juive“44 geschrieben und die “Judenfrage“ tauchte auch später immer wieder auf, am klarsten wohl im Schicksalsjahr 1933, in welchem sich der Jude und Altzofinger Otto Brandenburger dazu äusserte45: “Das Schweizertum muss und wird stark genug sein, um auch das Judentum … als mitarbeitendes Element in seiner Gemeinschaft anzuerkennen.“ Einen offiziellen Antisemitismus habe die Schweiz nie gekannt, aber den latenten Antisemitismus habe es immer gegeben. Die Schweiz werde ihre Kraft darin beweisen, dass sie den Tendenzen der Unduldsamkeit Widerstand leistet, schrieb Brandenburger und fügte hinzu: “Sie wird sich mit aller Macht der 36 Festbericht im Cbl. 1919/20, Oktoberheft.1919. 37. En français: FC 1919/20, mois de décembre 1919. 232. 37 Henri reymond: La première Assemblée de la Société des Nations. FC 1920/21. 185. 38 Was tut der Völkerbund? Cbl. 1921/22. 602. 39 Hermann Gauss. Cbl. 1925/26. 742. 40 Cbl. 1921/22. Aprilheft 1922. 384. 41 Cbl. 1931/32. Februarheft 1932. 42 Cbl. 1930/31. Märzheft 1931. 43 Cbl. 1930/31. 501. 44 Cbl. 1920/21. Dezemberheft 1920. 165. 45 Otto Brandenburger: Zur Judenfrage. Cbl. 1932/33. Juliheft 1933. 546. Staatsvergottung entgegenstellen müssen.“ Höher als der Staat sei die Humanitas, das seelische Leben des einzelnen Menschen, zu stellen. Inzwischen war Hitler an die Macht gekommen, in der Schweiz gaben die Sozialdemokraten ihren Widerstand gegen die militärische Landesverteidigung auf und in Zofingen setzte die Festversammlung eine Revisionskommission ein46. Hingen diese Dinge so zusammen? Jedenfalls warf die Zofingia 1934 die Formel “Union“ über Bord und hielt den Zweckartikel recht einfach: “Der Zofinger-Verein ist eine schweizerische Studentenverbindung … Er achtet die Gewissensfreiheit und die Ansicht der Minderheiten. Er bekennt sich zur Schweizerischen Eidgenossenschaft als einer geistigen Gemeinschaft und zur Notwendigkeit der schweizerischen Landesverteidigung“. Bundesrat Rudolf Minger47 wurde die Ehrenmitgliedschaft verliehen, womit er später umso besser zu seinem Freund passte, dem künftigen General Henri Guisan. So klar war das jetzt. 1936 wurde der Architekt Armin Meili48 als Direktor der Schweizerischen Landesausstellung 1939 gewählt. Meili war 1907 in die Zofingia Luzern eingetreten, die er später präsidierte, und wechselte für 1911/15 in die Sektion Zürich. Er konnte zunächst eine hervorragende Bewertung der Ausstellung und auch seiner Arbeit erleben. Die “Landi“ gedieh zur kraftvollen nationalen Kundgebung. Sie war ohne Zweifel ein Erfolg, auch wenn der Ausschluss der Avantgarde später den Vorwurf eintrug, man habe damals so eng gedacht wie jene Grössen, deren Haltung man zu bekämpfen vorgab – der geistigen Landesverteidigung zuliebe, was diese auch immer an Inhalten aufweisen mochte. Als die nationalsozialistische Gefahr näher rückte, organisierte Max Imboden, eben noch Zürcher CP, am 2. Dezember 1938 eine studentische Kundgebung, an der er kundtat, dass die Schweiz keine fremden Vögte dulden werde. Paul Ehinger hat am 2. Dezember 2013 in der NZZ über diese notwendige Manifestation berichtet. Er beschrieb auch “Die Zofingia in den Kriegsjahren 1939 – 1945“49, mit dem KriegsCentralfest 1940, die Gedenkfeier auf dem Rütli 1941 und dem grossartigen Jubiläumsfest 1945 in Zofingen, das den Frieden feiern und umso freudiger auf 125 Jahre Zofingia zurückblicken liess. Die Korrespondenz wurde in den Kriegsjahren wichtiger50. Wer von den Zurückgebliebenen nicht bei der Anbauschlacht anpackte, riskierte die Ausstossung aus der Zofingia51. Es gab nicht nur Abwesenheiten, sondern auch Unglücke wie den Handgranatenunfall 1944, der einem Zofinger das Leben kostete52. Und den Zofingern war Gelegenheit geboten, sich solidarisch zu zeigen, so im Rahmen der Jubiläumsspende 194553, die notleidenden Studenten und Dozenten in jenen Ländern galt, die vom Krieg besonders betroffen waren. 46 Cbl. 1933/34. 565. Rudolf Minger (1881 – 1955), Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartementes. 48 Armin Meili (1892 – 1981). 49 Cbl. 1988/89. 511. 50 Als Beispiel: BAR J.1.354.2008/213 über die Briefe von und an Ulrich ImHof. 51 Mitteilung der Sektion Basel am 6. März 1942 über ihren Beschluss vom 4. März. BAR. J1. 354. 2008/213. Bd. 3. Schweizerischer Zofingerverein 1941 – 1942. 52 BAR. J1.354.2008/213. Zirkular der Sektion Basel vom 12. November. 53 Urkunde im Zofinger Stadtmuseum. 47 “Die Zeiten sind wieder ernst geworden“, hielt Bundesrat von Steiger am Zofingertag 1941 auf dem Rütli fest, “vorbei ist die Romantik“54. Wohl noch nie habe der Zofingerverein die Gründung der Eidgenossenschaft “so wirklichkeitsnah“ gefeiert. Im französischen Teil seiner Rede sprach er der Zofingia seine Anerkennung aus : “La Société de Zofingue a fait plus pour le bien de la Patrie qu’on ne pouvait le prévoir et que plusieurs ne le supposent“. 1930/35 war von Steiger Berner AZ-Centralpräsident gewesen. Im Krieg fiel Bundesrat Eduard von Steiger55 die undankbare Rolle zu, die restriktive Flüchtlingspolitik des Bundes zu erklären. Er tat dies am 30. August 1942 vor der “Jungen Kirche“ in Zürich-Oerlikon, wobei er in erster Linie die Widerstandskraft thematisierte, die eben Einsatz und Unnachgiebigkeit verlangte. Hier fiel das Wort vom bereits besetzten kleinen Rettungsboot, das man nicht überladen dürfe. Bundespräsident Philipp Etter56 hatte, was nur wenige erfuhren, diese Rede mitgetragen. Er war vorgängig um Zensur gebeten worden und er nahm diese auch vor, aber nicht dort, wo die Rede die Flüchtlingsfrage berührte.57 Ob Bundesrat von Steiger den Passus “Das Boot ist voll“ gesagt hat oder nicht, kann heute niemand sagen. Im Manuskript steht er nicht, aber man weiss, dass von Steiger bei dieser Rede mehrmals vom Manuskript abgewichen ist. “Wäre es nicht ein Zeichen von staatsmännischer Selbständigkeit und Grösse“, kritisierte darauf Sebastian Barth58, “wenn unsere Regierung, anstatt das Volk in seiner wenig opferbereiten Wesensart zu vertreten und abzuspiegeln, in aufmunternder Weise … vorangehen würde in der Opferbereitschaft, ihm Möglichkeiten zeigen würde, wie es sich noch mehr einschränken könnte zugunsten derer, die in ihrer Todesbedrängnis auf unsere Brüderlichkeit hoffen …“. In der gleichen Centralblatt-Ausgabe bezeichnete Andreas Lindt59 die “allgemeine Empörung“, mit der das Schweizervolk auf die Massnahmen und Verfügungen der Fremdenpolizei reagiert hat, als “eine der erfreulichsten und ermutigendsten Erscheinungen der letzten Zeit“60. Aktive und Altzofinger waren stolz auf “ihren“ General, der als Oberbefehlshaber seine höheren Offiziere auf der Rütliwiese zum Rapport versammelt hatte. Das war nach dem Zusammenbruch Frankreichs, als die Schweiz besonders gefährdet schien. Seit dem Tag seiner Wahl am 30. August 1939 erkannte die Schweiz in ihm die eigentliche Integrationsfigur. Hat seit 1819 jemand eine Aufgabe wahrgenommen, die zofingerischer war als jene, die Henri Guisan erfüllte? 54 BAR. E4001. C#1000/783# 1761. Eduard von Steiger (1881 – 1962). 56 Philipp Etter (1891 – 1977). 57 Alfred Häsler (1921 – 2009) trug mit seinem Buch “Das Boot ist voll“ (1967) und seinem gleichnamigen Film zur Verbreitung der Flüchtlingsthematik stark bei. Wichtig wurden die Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Von Kurt Imhof, Patrik Ettinger und Boris Boller. Details finden sich bei Gaston Haas: “Wenn man gewusst hätte, was sich drüben im Reich abspielte …“. Was man in der Schweiz von der Judenvernichtung wusste. 58 Cbl. 1941/42. Oktoberheft 1942. 664. 59 Andreas Lindt (1920 – 1985). 1971 – 1974 ordentlicher Professor für neuere Kirchengeschichte in Münster/Westfalen, 1974 – 1985 ordentlicher Professor für neuere Kirchengeschichte, Konfessionskunde und Theologiegeschichte in Bern. 60 Cbl. 1941/42. 659. 55 Nun konnte man aber auch der Spur Minister Walter Stuckis61 folgen, dessen Zofingertum im Centralblatt eingehend beschrieben wurde62. Er war Berner Zofinger und Sektionspräsident gewesen. Was Stucki63 im Zweiten Weltkrieg leistete, erfuhren die Neuenburger Altzofinger 1949 von ihm selber64. Sie konnten nacherleben, wie Stucki 1937 Gesandter in Frankreich wurde, dort die Gesandtschaft neu organisierte und 1939 Pétain traf. Stucki folgte der französischen Regierung nach Touraine, Bordeaux und Vichy. Fortan vertrat er in Vichy ausser den Schweizer Interessen auch jene zwanzig anderer Staaten inklusive USA und Grossbritannien. Nach dem Ende des Regimes Pétain führte Stucki Verhandlungen mit der deutschen Wehrmacht, um Vichy vor deutschen Luftangriffen zu schützen, was ihm auch gelang und die Ehrenbürgerschaft der Stadt einbrachte65. Faszinierend und streckenweise bedrückend wirkten jene Erinnerungen, die Philippe Mottu66 erst sehr spät, im April 1995, im Centralblatt festhielt67. Die Nähe zu den deutschen Widerstandskämpfern, die der Zofinger Mottu persönlich erlebt hatte, zeugte nicht nur von Mut, sondern auch vom Willen, diesen Kreisen zu helfen. Für viele bedeutete das Centralfest 1945 mit dem General und den Bundesräten Eduard von Steiger und Max Petitpierre einen Höhepunkt der Freude und Freiheit. Bei anderen setzten die ersten Fragen zur Zukunft ein, wie sie auch in Churchill laut seinen Memoiren schon früh aufgekommen waren. Gar manches von dem, was die kommenden Jahrzehnte an Spannungen brachten, lauerte sprungbereit in jener Gegenwart. Walter Stucki (1888 – 1963). Paul Ehinger: Minister Walter Stucki (1888 – 1963). Unter besonderer Berücksichtigung seiner Zugehörigkeit zur Zofingia Bern. Cbl. 2013/14. 235. Interessantes findet sich auch im Dossier Zofingerverein. BAR J1.131#1000/1395#3. 1940 – 1950. 63 Konrad Stamm hat 2013 ein Buch zu seiner Biografie veröffentlicht. 64 Die Notizen zu seinem Vortrag 1949 blieben erhalten. BAR J.1.131/3 und 11. 65 Vgl. Walter Stucki: Von Pétain zur Vierten Republik. 66 Philippe Mottu (1923 – 2010). 67 Récit de mes contacts avec la résistance allemande (1940 – 1945). Cbl. 1994/95. 188. 61 62