Gemeinsam für ein stärkeres Europa 20 Jahre Nachbarschaftsvertrag mit der Tschechischen Republik und der Slowakei Markus Meckel Vortrag bei der FES, 27. Februar 2012 Anrede, „für ein stärkeres Europa“ – wurde unsere Veranstaltung überschrieben, die ihren Anlass hat in der Erinnerung an den 20. Jahrestag des Nachbarschaftsvertrages des vereinten Deutschland mit der CSFR. Aus gegenwärtiger Erfahrung kann man allein aus diesem Titel ablesen, dass es sich um eine sozialdemokratische Veranstaltung handeln muss – denn die öffentliche Wahrnehmung der Tschechischen Republik in Deutschland ist mehr durch den Präsidenten Vaclav Klaus bestimmt als durch die Regierung, und mit diesem würde eine solche Überschrift eher weniger verbunden werden. Als ich im August 2011 das letzte Mal mit Jiri Grusa in Bratislava zusammen war (es war die Kuratoriumssitzung des Europäischen Netzwerkes Erinnerung und Solidarität – einer Institution, an der die Slowakei beteiligt ist, aber leider nicht die Tschechische Republik..), ließ er einen Satz fallen, der diese Lage treffend beschreibt : „Die Slowaken haben den Euro – und wir Tschechen haben unseren Klaus!“ Doch zu diesen Fragen kommen wir noch. Zuerst möchte ich einige Schlaglichter auf den Weg werfen, den wir gemeinsam gegangen sind. I. Im Kampf für Freiheit und Demokratie verbunden – Partner in Europa auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Erfahrungen Jede Generation macht ihre eigenen Erfahrungen und wird von ihnen geprägt. Für mich, in protestantischen Kreisen in der DDR aufgewachsen, 1 gehören der Prager Frühling und seine Niederschlagung durch die Panzer der sog. Bruderländer gewissermaßen zu den Erweckungserlebnissen meines politischen Denkens. Wie haben wir damals mit den Tschechen und Slowaken gehofft und waren mit ihnen geschockt durch die Ereignisse des August und der Folgezeit. Der Prager Frühling und die Charta 77 gehören für mich zur eigenen Lebensgeschichte, sind Teil meiner Identität. Prag, Budapest, Krakau, Siebenbürgen – dieses Mitteleuropa, das war in meiner Studentenzeit der erreichbare Teil Europas. Hier fühlten wir uns verbunden unter der Last und dem Druck der kommunistischen Regime – und wir versuchten zu widerstehen. Dazu aber gehörte es dann auch, Verstehen zu lernen, die verschiedenen Erfahrungen und Prägungen. Denn als Deutscher, auch als Jugendlicher, wurde man sich bei diesen Nachbarn der Schuld wie der Verantwortung bewusst, die durch unsere Geschichte auf uns lastet. Ich habe es nicht zu hoffen gewagt, dass es gelingen würde – aber dann wurde es wahr: 1989 gelang in einer mitteleuropäischen friedlichen Revolution der Sieg von Freiheit und Demokratie. Die konkreten Bedingungen und Abläufe waren in jedem Land verschieden, doch sie gehören zusammen. Wir bewunderten in den 80er Jahren die Polen, wo sich Millionen bewegen ließen. Bei uns und in der CSSR beteiligten sich viel weniger, und doch kamen dann Hundertausende auf die Straßen. Und in Ungarn fanden die Veränderungen sogar auch innerhalb der Kommunistischen Partei statt. Auch wenn die Samtene Revolution in der CSSR ihm erst folgte, zum Symbol für diese mitteleuropäische Revolution wurde der Fall der Mauer, wie in der Französischen Revolution 1789 der Sturm auf die Bastille. Deshalb müssen m.E. für diesen Tag, wo immer der Mauerfall gefeiert wird, Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn die Stammgäste sein – und natürlich sind auch die Balten, die Rumänen und viele andere sind willkommen. Denn diese siegreiche Revolution im Zentrum Europas ist der Kontext des Mauerfalls. Die Alliierten gehören als Akteure in das Jahr 1990 – wenn es um die deutsche Vereinigung geht. Die erkämpfte Freiheit von 1989 ermöglichte die Einheit, für Deutschland wie für Europa. Wir müssen überhaupt in der europäischen Erinnerungstradition viel stärker verankern, dass es in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts so etwas 2 wie eine europäische Freiheitstradition jenseits des Eisernen Vorhangs gibt, die es als Erbe zu erinnern gilt. Nach 1989 und den Wahlen der neuen Demokratien 1990 war es von zentraler Bedeutung, nicht nur die demokratische und wirtschaftliche Transformation zu bewältigen, sondern auch Europa neu zu gestalten. Deshalb war es wichtig, dass Deutschland unter Helmut Kohl schnell zum Anwalt und Fürsprecher für eine möglichst schnelle Integration der Länder Ostmitteleuropas in die EU wurde. Am Anfang all dieser Umbrüche stand die siegreiche Freiheitsrevolution. Und deshalb sind die neuen Mitgliedstaaten der EU auch nicht die Hinzugekommenen, sondern Mitglieder aus eigenem Recht. Deshalb war es gut, dass im Vorfeld des Lissaboner Vertrages zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge in der Berliner Erklärung deutlich ausgesprochen wurde, dass nicht nur diese Verträge, sondern auch der Sieg von Freiheit und Demokratie 1989 eine der wesentlichen Grundlagen für die heutige EU ist. Heute sind die neuen Demokratien nicht mehr wegzudenkende wichtige Akteure in der EU – jeweils mit ihren eigenen Interessen und Prioritäten. Bei allen Unterschieden aber stehen wir heute vor gemeinsamen Herausforderungen und müssen sie gemeinsam bewältigen. II. Friedliche Trennung als Modell Normalerweise wird mit bei den Umbrüchen vor gut 20 Jahren an Freiheit und Demokratie gedacht, an die Vereinigung Deutschlands, den relativ friedlichen Zerfall der Sowjetunion und den europäischen Einigungsprozess mit vielen neuen Mitgliedern in der EU und in der NATO. Doch wir dürfen nicht vergessen, was wir auf dem Balkan oder in Russland erlebten. Blutige Kriege und Konflikte im Zerfall Jugoslawien mit Problemen, die bis in die Gegenwart reichen, einen grausamen Krieg Russlands gegen Tschetschenien, bei dem 1/5 der Bevölkerung umkam, weil es nicht mit Russland zusammenbleiben wollte. 3 Vor diesem Hintergrund wird einem die modellhafte Leistung deutlich, die der Tschechischen Republik und der Slowakei gelungen ist mit der für viele zwar schmerzhaften, aber friedlichen und geordneten Trennung. Heute sind es zwei Staaten mit einer jahrzehntelangen gemeinsamen Geschichte, die unabhängig und doch freundschaftlich verbunden sind, aber jeweils für sich ihre Interessen und Prioritäten in Europa vertreten. III. Neugestaltung der Nachbarschaft – Aufarbeitung der belasteten Geschichte Mit dem Ende des Kalten Krieges war es für Deutschland von zentraler Bedeutung, die Beziehungen zu den östlichen Nachbarn, die in der Zeit des Nationalsozialismus von uns Deutschen Furchtbarstes erlitten hatten, auf eine neue Grundlage zu stellen. Das war in den Jahrzehnten der Teilung und der kommunistischen Regime in der DDR und bei den Nachbarn nicht möglich gewesen, auch wenn mit der neuen Ostpolitik von Willy Brandt und seinen Nachfolgern hier schon erste Schritte gegangen wurden. Die Neugestaltung der Beziehungen begann mit einem Paukenschlag: Der frisch gekürte tschechoslowakische Präsident Vaclav Havel nannte die Vertreibung der Sudetendeutschen und die vielfachen blutigen Exzesse ihnen gegenüber eine „zutiefst unmoralische Tat“ und entschuldigt sich für sein Volk dafür. Diese Aussagen waren für ihn nicht nur ein Akt im bilateralen Verhältnis zu Deutschland, sondern Ausdruck einer notwendigen „psychischen Hygiene“ des eigenen Volkes, sich der ganzen Geschichte zu stellen, denn einen offenen Diskurs über diese Geschichte hatte es in der kommunistischen Zeit nicht geben können. Vaclav Havel musste für seine Aussagen im eigenen Land viel Kritik einstecken. Leider folgte darauf keine angemessene Reaktion aus Deutschland. Helmut Kohl war – anders als Bundespräsident v. Weizsäcker und Hans-Dietrich Genscher – auch angesichts dieser historischen Situation zu keinem klaren Signal der Versöhnung und des Entgegenkommens an die südöstlichen Nachbarn bereit. 4 Was war der Grund? Die Antipathie Kohls gegenüber Vaclav Klaus, nachdem dieser ihn in europapolitischen Fragen mit den Theorien Margret Thatchers belehren wollte, spielt sicher eine Rolle. Doch der eigentlich Grund ist ein anderer: Ich behaupte, es waren Parteiinteressen! Die Parteienkonstruktion von CDU/CSU hat zur Voraussetzung, dass bei Bundestagswahlen in Bayern hohe Ergebnisse erzielt werden, sonst würde die CSU die 5%-Hürde nicht überwinden. Mit der deutschen Vereinigung aber war Bayern nicht größer geworden – und die CSU steckte nach dem Tode von Franz Josef Strauß mit MP Streibl in der Krise. Vor diesem Hintergrund bekamen die Sudetendeutsche Landsmannschaft, der BdV und ihre Forderungen ein außergewöhnlich großes Gewicht. Für Helmut Kohl stand hier – wie in anderem Zusammenhang, als es um die polnische Westgrenze ging Parteiinteresse vor Versöhnungsbereitschaft. Die Sudetendeutschen eskalierten ihre Forderungen, sie bestanden auf der Rückgabe des mit der Vertreibung enteigneten Eigentums (bzw. auf einer Entschädigung dafür) und auf der Aufhebung der Benes-Dekrete aus dem Jahr 1945. Die Rücksicht darauf erschwerte und verzögerte erst die Verhandlungen und dann die Ratifizierung des Nachbarschaftsvertrages. Dazu kam natürlich die schwierige politische Lage in der Tschechoslowakei, die 1992 dabei war, sich unter Schmerzen zu trennen, sowie die Widerstände von Nationalisten und Kommunisten gegen die von Vaclav Havel immer wieder gegebenen Signale und Überlegungen, deutschen Positionen entgegenzukommen. Kurz vor der völkerrechtlichen Trennung der Slowakei und der Tschechischen Republik trat der Vertrag in Kraft und wurde dann auch von beiden übernommen. Auf seiner Grundlage konnten sich die Beziehungen in vielfältiger Weise entwickeln. Doch blieben Defizite. Während in Polen und in der Sowjetunion Opfer des Nationalsozialismus von Deutschland entschädigt wurden, blieben die Opfer in der Tschechischen Republik und der Slowakei außen vor; während mit Polen ein Deutsch-polnisches Jugendwerk gegründet wurde, blieb dies für diese Länder aus… 5 Beim Nachbarschaftsvertrag hatte es – wie beim dem entsprechenden Vertrag mit Polen – einen Briefwechsel gegeben, in welchem die verschiedenen Rechtspositionen zu den Vermögensfragen und ihrer Entschädigung anerkannt und ausgeklammert wurden. So war für die Folgejahre klar, man würde mit ihnen leben müssen, sie galten als nicht lösbar, da der von den Nachbarn geforderte Verzicht der Bundesregierung zu privatrechtlichen Klagen in Milliardenhöhe gegen die Bundesregierung führen würde. Die Lösung hieß also – politische Nichtthematisierung der Eigentumsfragen. Das wieder klappte halbwegs im Verhältnis zu Polen, nicht im Verhältnis zu den Tschechen. Die Forderungen der Sudetendeutschen und die aggressiven Reaktionen der Nationalisten vergifteten die Atmosphäre. Erst in der nach langen Verhandlungen 1997 abgeschlossenen DeutschTschechischen Erklärung konnte die Priorität der Zukunftsfragen vor den Belastungen mit der Vergangenheit von beiden Seiten bekräftigt werden, außerdem wurden nun endlich die NS-Opfer entschädigt und mit dem Zukunftsfond gab es Geld für zivilgesellschaftliche Kontakte und Projekte sowie für den Jugendaustausch. Mit dem Regierungsantritt der rot-grünen Koalition in Deutschland normalisierten sich dann die Beziehungen erheblich. Doch erhob der BdV weiterhin die Forderung, die Aufhebung der Benes-Dekrete und die Eigentumsfrage zur Bedingung für die Mitgliedschaft Tschechiens in der EU zu machen. Gerhard Schröder war es dann auch, der die – früher für unabänderlich gehaltene – Rechtsposition der Bundesregierung zu Eigentumsfragen veränderte: In seiner Rede zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes erklärte er 2004 in Warschau, dass die Bundesregierung von der Unrechtmäßigkeit solcher zivilrechtlichen Rückgabe- und Entschädigungsforderungen ausgeht und dies vor jedem Gericht vertreten wird. Das war ein Durchbruch, auch für die Tschechische Republik. IV Gemeinsam für ein stärkeres Europa 6 Seit 1999 sind die Tschechische Republik und die Slowakei Mitglied der NATO und seit 2004 Mitglied der EU. Beides wäre ohne das deutsche Engagement so nicht möglich gewesen. Die der Slowakei aber auch nicht ohne die Abwahl Meciars als Regierungschef 1998 – doch das kann ich hier nicht weiter ausführen. Beide Länder gingen in diesen Jahren recht unterschiedliche Wege. Wie das Bonmot Jiri Grusa ausdrückt, hat die Slowakei in den letzten 10 Jahren große Schritte nach vorn gemacht und ist nun auch Teil der Eurozone – mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten. Die letzte Regierungskoalition ist an den damit verbundenen Fragen zerbrochen. In Deutschland schafft für die tschechische Republik der euroskeptische Kurs von Präsident Klaus immer wieder Aufmerksamkeit. In allen unseren drei Ländern hat die Euroskepsis zugenommen. Gleichzeitig scheint Europa immer mehr etwas für Fachleute zu werden – denn wer versteht schon die währungspolitischen Diskussionen. Die Gefahr von Populismus und Nationalismus, ja, von Rechtsextremismus und der Anfeindung von Ausländern und Minderheiten ist nicht auf ein Land und nur eine Partei beschränkt. Doch ist sie in allen unseren Ländern virulent. Gleichzeitig aber scheint mir in Deutschland noch der Wille zur verstärkten Integration recht groß zu sein. Im bilateralen Verhältnis dagegen habe ich den Eindruck, dass nach den Schwierigkeiten der Vergangenheit mit einer zunehmenden Politikverdrossenheit auch der gesellschaftliche Elan zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit etwas zu erlahmen scheint. Früher waren es ja doch gerade bei den vergangenen Schwierigkeiten gesellschaftliche Initiativen, etwa der Kirchen, die Bewegung in die Politik brachten und Prozesse angestoßen haben. Doch vielleicht ist das auch ein Zeichen der Normalität in schwierigen Zeiten. Wir werden darüber sprechen. 7 Vaclav Havel hat in seiner berühmten Reden vom Februar 1995 über das ambivalente Verhältnis zu Deutschland gesagt: „Das Verhältnis zu Deutschland (…) ist ein Teil unseres Schicksals, sogar ein Teil unserer Identität. Deutschland ist unsere Inspiration wie unser Schmerz; eine Quell von verständlichen Traumata und vielen Vorurteilen und Irrglauben sowie von Maßstäben, auf die wir uns beziehen; einige sehen Deutschland als unsere größte Hoffnung, andere als unsere größte Gefahr.“ Und ich möchte dafür werben, dass wir uns gegenseitig nicht nur als Hoffnung oder Gefahr ansehen, sondern als wichtige und, auch als kleine Länder, als ernstzunehmende Partner für die Gestaltung des gemeinsamen Europa. 8