MALWINA KRANICH Die Gerechtigkeitsinsel Roman Die Gerechtigkeitsinsel. Roman. Autor: Malwina Kranich Lektor: Maxim Friedrich © Wien MMXIII. 1 Dank an Hildegard. 2 Inhaltsverzeichnis 1. Der Brief. S. 6 2. Die Sitzung. S. 9 3. Der Sprung ins kalte Wasser. S. 12 4. Der Philosoph René. S. 16 5. René arbeitet hauptamtlich. S. 19 6. Eine Diskussion über die Gerechtigkeit. S. 22 7. Die große Auswanderung. S. 24 8. Hilfsbereitschaft. S. 26 9. Die Liebe auf der Insel. S. 28 3 10. Gerechtigkeit und Belesenheit. S. 31 11. Die ausgleichende Gerechtigkeit wird korrigiert. S.33 12. Nicht nur Gerechtigkeit. S. 36 13. Erfahrungen. Ich, Du und die Gesellschaft. S. 38 14. Männliche und weibliche Schriftsteller. 39 S. 15. Lia. 42 S. 16. Langfristige Ziele. 44 S. 17. Lia und ihre Psychoanalytikerin. 46 S. 18. Die graue Maus? 49 S. 19. Dr. Banner. 51 S. 20. Die vierte Tugend. 53 S. 4 21. Abschied. 56 S. 22. Theo kommt zur Gerechtigkeitsinsel. 60 S. 23. Das gerechte Maß oder Gerechtigkeit in allen Lebenslagen; welche Parameter gelten? . 62 S 24. Brief an Theo von Zuhause. S. 64 25. Die Antworten. 66 S. Epilog. 69 S. 5 1. Kapitel: Der Brief. Der Tag war warm und hell. Bei solchem Wetter konnte Lia am besten mit allen Geschehnissen die der Tag mit sich brachte klar kommen. Auch an diesem Tag müsste doch alles klappen! Und zuversichtlich, wie es Lias Art zu handeln war, kam sie zu dem Briefkasten, nahm die beiden einzigen Briefe heraus und ging zurück in die Wohnung. Ein Brief von ihrer Freundin aus Kanada, den sie später lesen würde, aber auch ein Brief von einem merkwürdigem Absender: Rita Ast. Lia kannte sie nicht, und konnte sich auch nicht erklären, wie diese Rita Ast ausgerechnet an ihre Adresse gelangt war. Seltsam. Lia trat in ihr Wohnzimmer und öffnete den Brief. 6 „Liebe Lia! Sie kennen mich noch nicht, aber ich bin sicher, dass wir uns bald kennenlernen. Ihre Adresse habe ich von einem Ihrer (männlichen) Bekannten bekommen, aber seinen Namen werde ich erst dann preisgeben, wenn ich weiß, dass Sie an unserem Projekt Interesse haben. Also, Sie sehen, es handelt sich um eine besondere Angelegenheit. Ich will Sie aber nicht lange auf die Folter spannen und schildere nur kurz, was das konkret bedeutet. Wir suchen Menschen, die bereit sind, eine Insel zu bewohnen. Diese Insel liegt im Schwarzen Meer, klein, aber fein. Das allerwichtigste Merkmal dieser Insel ist, dass wir, die künftigen Bewohner dieser Insel, dort eine gerechte Gesellschaft herausbilden. Bis jetzt haben wir, die Initiatoren (zehn Leute, mich eingeschlossen) bereits etwa zweihundert Menschen gefunden, die entweder unser Projekt direkt unterstützen (d.h. die demnächst dort wohnen werden), oder die zwar so bald nicht übersiedeln können, aber an dem Projekt großes Interesse haben. Wir wollen dort ganz normal leben, wie freie Bürger, wir werden alle arbeiten, solange wir dazu imstande sind. Aber da unsere Inselrepublik von der Gerechtigkeit als Prinzip ausgeht, werden wir einige Regeln aufstellen und uns daran halten: bei 7 Verstoß bleibt nur der Austritt aus dem Projekt. Selbstverständlich sind noch viele Einzelheiten auszuarbeiten, aber die wichtigsten Punkte werden wir bei der ersten allgemeinen Sitzung diskutieren und festlegen. Hiermit lade ich Sie am Samstag, den fünften Februar 2010, um zehn Uhr ins Café Korb ein. Mit freundlichen Grüßen, Rita Ast.“ 8 2.Kapitel Die Sitzung. Lange hatte sie es sich nicht überlegt; das Einzige, was sie zunächst stutzig machte, war dieser „männliche Bekannte“, der ihre Adresse einfach weitergegeben hatte. Wenn es sich um einen „Bekannten“ handelte, wie dies Rita Ast schrieb, warum hatte er sie nicht einfach zuerst gefragt? Und vor allem beschäftigte Lia die brennendste Frage, wer war der ominöse „männliche Bekannte“? Bis zum fünften Februar war Lia so gespannt, dass sie ständig Bilder vor Augen hatte, wie denn diese „erste allgemeine Sitzung“ verlaufen würde. Wie viele Leute würden kommen? Käme auch der unbekannte „männliche Bekannte“? Würde die Sitzung produktiv? Meinten es die Leute am Ende ernst, oder würde die Sitzung doch nur zu einem Geschwätz ausarten ? Und so weiter und so weiter... Endlich kam der fünfte Februar! Lia kam etwas zu früh, und trotzdem waren bereits etwa sechs bis sieben Personen im Café, das sonst um diese Zeit eher verwaist war. Sofort entfernte sich ein Mann von der Gruppe, und Lia musste fast laut seinen Namen rufen: „Dieter! Ach, du bist also der gemeinsame männliche Bekannte von mir und 9 dieser Rita Ast? Ist sie etwa auch hier?“ Bis zuletzt hatte Lia nicht gewusst, was von Rita Ast zu halten warm, denn am Ende hätte es nur ein Pseudonym sein können, doch Dieter stellte Lia Rita vor; sie nahmen zu dritt einen Tisch und fingen endlich an, über das eigentliche Thema der Zusammenkunft, also das „Projekt“ zu diskutieren. Lia hatte diesen Moment in den vergangenen Tagen herbeigesehnt. Das Café hatte sich inzwischen gefüllt, man hörte ein leises Glöckchen, und die „erste allgemeine Sitzung“ wurde eröffnet. Das Publikum war sehr gemischt: Frauen, Männer, Junge, Alte waren vertreten; die Atmosphäre war sehr angenehm. Lia dachte in diesem Moment: „Ja, so ein Leben auf der Gerechtigkeitsinsel könnte ich mir gut vorstellen!“ Am Ende der Sitzung war ein Text vorbereitet, in dem 25 Punkte aufgestellt waren. Nach Woche bekam Lia das Papier per Post bekommen. Man sollte es unterschreiben, wenn man in jeder Hinsicht damit übereinstimmte. Das Wesentliche war: Lia sollte sich verpflichten, innerhalb von zwei Monaten (bis zum ersten Mai) auf die Gerechtigkeitsinsel zu übersiedeln. Sie müsste etwa über fünftausend Euro müsste sie verfügen; Krankenversicherung und andere nötige Papiere mitfahren. Weitere Bestimmungen betrafen die wesentlichen Prinzipien rechtlicher, wirtschaftlicher, medizinischer Art. Langsam 10 wurde Lia bewusst, worauf sie sich eingelassen hatte. Es gab auch zahlreiche Sponsoren für dieses Projekt, deren Namen und die Höhe der jeweils zur Verfügung gestellten Beträge aufgeführt waren. Lia hatte den Text inzwischen sehr gut gelesen. Bis zum Abend war sie sich eigentlich sicher: Sie wollte auf die Gerechtigkeitsinsel umziehen, die Verlockung war zu groß. Am nächsten Tag gegen 11 Uhr traf sie Dieter und Rita wieder, nachdem sie die beiden angerufen hatte. Da alle drei ungefähr im gleichen Alter waren, zwischen 60 und 65 Jahren, war klar, dass sie finanziell abgesichert waren; sie hatten auch keine Angehörigen. Nach ihrer Heimkehr fing Lia sofort an, sich auf die Abreise vorzubereiten. 11 3. Kapitel. Der Sprung ins kalte Wasser. Lia, Dieter und Rita waren am siebzehnten April reisefertig. Juristisch war die Sache nicht kompliziert: es schien wie ein Ausflug, aber die Leute, denen es am Herzen lag, die Gerechtigkeitsinsel mitzugestalten, sollten für immer dort bleiben. Eine Rückkehr erschien Lia wie das Eingeständnis einer Niederlage. „Wir werden es schon schaffen, unsere Vorstellungen zu verwirklichen!“ Aus Wien musste man zuerst mit dem Flugzeug nach Bulgarien in die Stadt Terolan, am Schwarzen Meer , fliegen. Von Terolan aus fuhren unsere Freunde mit dem Schiff um spät am Abend auf der Gerechtigkeitsinsel anzukommen. Da Neugier und Ungeduld grösser als die Müdigkeit waren, hatten sie die Reise gut überstanden, und schon waren sie angekommen. Vor ihnen lag eine Stadt, die Kitür hieß. Zwei- bis dreistöckige Häuser, auch ein Hochhaus waren zu sehen, zu dem die einzige Straße führte. Es 12 handelte sich nämlich um das Hotel. Die Gerechtigkeitsinsel existierte bereits seit drei Monaten; sie war aus den Mitteln der Sponsoren bei Bulgaren gekauft worden, einschließlich der Gebäude. Auf dieser Insel befanden sich sowohl ein paar kleine industrielle Anlagen, als auch landwirtschaftliche Betriebe. Im übrigen gab es ein paar Geschäfte, ein Krankenhaus, eine Schule und Ähnliches. In der Vollmondnacht, als Lia, Dieter und Rita ankamen, war es warm, trocken und hell. Sie kamen zu Fuß zum Hotel und nahmen drei Einzelzimmer. Nach einer halben Stunde hatten sie sich wieder im Restaurant getroffen, das glücklicherweise noch offen war. Als die drei sich am Tisch setzten, kam ein Mann zu ihnen, etwa fünfzig Jahre alt, und stellte sich vor: „Mein Name ist Dr. Peter Lehner und ich bin ein Mitglied unseres Empfangskomitees. Ich wusste, dass ihr heute Abend ankommt. Ich lade euch zu einem Drink ein und stehe euch eine Stunde für eure Fragen zur Verfügung.“ Unsere Troika war ziemlich erstaunt, aber bald hatten sie viele Fragen. 13 Dieter fragte: "Herr Dr. Lehner, es würde mich sehr interessieren, was man über die Motive der Neuankömmlinge weiß? Ob die Menschen, die ankommen, wirklich hier leben möchten oder aus ganz anderen Gründen hierhergekommen sind ?“ Dr. Lehner erklärte: „Es gibt verschiedene Kontingente von Menschen, die auf die Insel ankommen. Sie zum Beispiel sind hier, um mitzumischen; ein anderes Kontingent sind Menschen, die einen Arbeitsvertrag mit Firmen auf der Insel haben und nach Hause zurückkehren werden. Es gibt auch Menschen, die auf unsere Insel und unsere Lebensweise neugierig sind. Sie werden nach einer gewissen Zeit nach Hause zurückkehren.“ Die Frage, die Lia beschäftigte, war, ob die Gerechtigkeitsinsel über alles verfügte, was nötig war, um die Kolonisten zu beschäftigen und sie bei einem gesunden Leben zu unterstützen. Darauf entgegnete Dr. Lehner: „An sich hat die Gerechtigkeitsinsel eine ganz normale Gesellschaftsstruktur, und hier leben und arbeiten Menschen wie überall im Westen. Unser politisches System ist natürlich auf Demokratie und Freiheit begründet. Der große Unterschied zur übrigen Rest der Welt besteht darin, dass jedes Mitglied unserer Gesellschaft Gerechtigkeit 14 widerfahren lassen. Jeder ist für seit Tun verantwortlich. Aber unsere Gesellschaft ist offen! Wir sind weder Sekte, noch Kommune. Wir sind frei, aber haben Lebensziele. Die Probleme, die selbstverständlich entstehen, versuchen wir auf gerechte Weise zu lösen. Unsere Presse ist frei und hat Zugang zu allem, was die Öffentlichkeit interessiert, und die Rechte des Einzelnen nicht beschneidet. Es ist klar, dass es auch Bereiche sind, die wir der Öffentlichkeit nicht preisgeben; darüber entscheiden spezielle Komitees.“ 15 4. Kapitel. Der Philosoph René. Nun vergingen drei Wochen, in deren unsere Troika sich den Verhältnissen auf der Gerechtigkeitsinsel anzupassen suchte. Lia und Dieter arbeiteten zu ihrer Zufriedenheit in einer Firma, die landwirtschaftliche Produkte in verschiedene nahe gelegene Länder exportierte. Ein Teil Produkten wurdewurde in Konservendosen verschickt. Als Rita sich als Lehrerin bewarb, sagte man ihr, zurzeit stünde kein freier Arbeitsplatz zur Verfügung. Zuhause bleiben wollte sie nicht und dachte daran, ehrenamtlich zu arbeiten, bis eine Stelle frei würde. Auf der Gerechtigkeitsinsel, in der Stadt Kitür, wo Lia, Dieter und Rita lebten, gab es ein kleines Privatunternehmen, das auch einen sozialen Bereich hatte, wo man auch Ehrenamtliche beschäftigte und Soziale Hilfe anbot. Rita dachte, etwas Besseres könne ihr gar nicht passieren. Die Menschen, die mit 16 verschiedenen Klagen und Problemen zu ihr kamen, in der Hoffnung, dass hier auch geholfen würde. Eines Tages kam ein junger Mann zu ihr, etwa 30 Jahre alt, der - wie sich im Laufe des Gespräches mit Rita herausgestellte - René hieß und Franzose war. Er hatte bis vor zwei Jahren er in Paris gelebt. Als er noch in der Schule war, wollte er unbedingt an der Universität Philosophie Hauptfach studieren. Die Eltern warnten ihn, dass er nach dem Abschluss seiner philosophischen Studien kaum Chancen haben würde, eine Stelle zu finden. René blieb stur, und die Warnung seiner Eltern erwiesen sich als triftig. Er bekam keinen Job. Dann hörte René von der Gerechtigkeitsinsel und entschloss sich, mit seiner Freundin Marie dorthin zu fahren. Da Marie laufend Arbeit hatte, konnte sie sich und René ernähren. Auch die Eintrittsgebühr von je fünftausend Euro konnten sie aufbringen. Auf der Insel lebten, fand wieder nur Marie Arbeit. René arbeitete nur ehrenamtlich in verschiedenen Projekten mit und 17 hielt in in verschiedenen Gruppen philosophische Vorträge. Er wünschte sich aber einen bezahlten Job als Philosoph. Und das erzählte er Lia. „Aber wie soll ja Ihnen helfen? Auch ich bin ohne bezahlte Stelle!", sagte Lia. „Ja, aber Sie erhalten eine Pension aus ihrem Land. Ich aber bin noch jung und muss arbeiten! Sie müssen mir helfen. Ich habe da eine Idee, wie ich zu einem Job kommen könnte, nur brauche ich Ihre Unterstützung!“ 18 5. Kapitel. René arbeitet hauptamtlich. René schilderte Rita sein Vorhaben, eine Privatschule mit ein paar Fächern - wie Philosophie, Literatur, Sport - eröffnen.Er als Philosoph und Rita als Literaturwissenschaftlerin waren qualifizierte Fachkräfte. Für den Sport fände man sicher eine Lehrkraft. Damit die Schule bekannt würde, müsse man Geld in die Werbung investieren. Für die Schule brauche man Räumlichkeiten - und auch dafür müsse man Geld antreiben. Es sei notwendig, einen Kredit aufzunehmen. Wenn man gute Werbung mache, finde man auch Schüler. Der Kredit werde dann später an die Bank zurückgezahlt. Rita fragte: „Lieber René, kannst du mir verraten, welche Rolle in deinem Vorschlag unser wichtigstes Prinzip, die Gerechtigkeit spielt?“ René wusste sofort die Antwort, da auch er sich schon fragte, was das alles mit Gerechtigkeit zu tun habe. 19 „Ja“, sagte er, „auf diese Frage war ich gefasst. Du weißt (inzwischen waren Rita und René zum Du übergegangen), Gerechtigkeit im einfachen, gewöhnlichen Sinn bedeutet für viele, dass niemand hungert, jeder seine medizinische Betreuung bekommt und für seine Leistung gerecht bezahlt wird. Ich aber persönlich eine erweiterte Vorstellung von Gerechtigkeit. Als Beispiel nenne ich etwas ganz Anderes: Ich finde es ungerecht, wenn ich sehe, dass viele Frauen, die älter als fünfzig Jahre sind, ohne Partner bleiben, weil die Männer nur wesentlich jüngere Partnerinnen suchen und finden. Warum? Ich nenne Dir jetzt ein paar Gründe. Wenn die Frauen jung sind, heiraten sie oft wesentlich ältere Männer. Junge Männer aber wollen ältere Frauen nicht. Das ist ungerecht. Das war nur ein Beispiel. Dass ich keinen bezahlten Job in so wertvollen Fach wie Philosophie finden kann, scheint mir auch ungerecht. Auf diese Weise kann man den Begriff Gerechtigkeit sehr weit ausdehnen. Oft muss man manche bestimmte 20 Begriffe weit auslegen, um sie besser zu verstehen. Gerechtigkeit - das bedeutet auch, so viel Sinn ins Leben einzuführen wie möglich!“ Das waren Renés Argumente. Rita hörte ihm aufmerksam zu und ließ sich schließlich überreden. Wir überspringen schnell nun Zeit und Ereignisse. Renés Projekt mit der Privatschule, wo er als Philosoph arbeiten konnte, wurde relativ leicht realisiert. Kreditaufnahme, Scuhe nach Lehrern, Schülern alles klappte. Fast in allen Fächern waren die "Gerechtigkeitsleute" als Lehrer engagiert, und wo sie keine fanden, wurden sie aus dem "Kontingent" für den 1-Jahres-Vertrag (mit Verlängerungsoption) geholt. 21 6. Kapitel Eine Diskussion über Gerechtigkeit. Eines Tages rief Lia Dieter und Rita an, Rita hatte auch bereits René angerufe, an und die ViererBande, die sich schon lange nicht getroffen hatte, verabredeten sich im Café, zu plaudern. Rita war immer schon darauf aus gewesen, bei solchen Treffen solle etwas "Vernünftiges" herausbekommen. So sprachen sie auch diesmal wieder über die Gerechtigkeit. René - immerhin ein Profi - wusste, dass unter der 2002 verstorbene John Rawls als „Gerechtigkeitsspezialist“ John Rawls bekannt war. René behauptete, laut Rawls müsse ein ein gerechtes System für den Schwächsten von Vorteil sein.„Was?!“, schrie Lia empört, „nein! Kommt nicht in Frage: Wenn die Schwächsten allzu sehr in berücksichtigt werden, werden die Schwächsten die ganze Bevölkerung sozusagen ´runterziehen´, sodass die begabten Menschen mit besonderen Neigungen, die von der Gesellschaft nicht sofort verstanden werden, demotiviert werden. Dabei 22 verliert die ganze Gesellschaft, einschließlich der Schwächsten.“ Am Nebentisch saß eine Frau, die wohl die ganze Diskussion mitangehört hatte, sagte: „Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich ins Gespräch einmische. Ich heiße Helga und bin seit zwei Jahren auf der Gerechtigkeitsinsel. Ich bin sogar im Komitee, das die wichtigsten Entscheidungen trifft. Ich dachte, dass ich zu der These von Lia ein ausgezeichnetes Beispiel beisteuern kann.“ 23 7. Kapitel Die große Auswanderung. Helga erzählte: „Seit zwei Jahren lebe und arbeite ich hier. Damals beschloss das Komitee es sei "gerecht", wenn einer mehr leistete, als andere, ihm entsprechend mehr Lohn zu zahlen. Das führte dazu, dass die talentierten, fleißigen Leute und solche mit Initiative von dieser Regel profitierten. Die anderen, Rest der Menschen, die die unqualifizierte Arbeit verrichteten, so wie Arbeitslose und Kranke, bekamen wesentlich weniger Einkommen. Anfangs wurden das stillschweigend akzeptiert, mit der Zeit aber wuchs die Unzufriedenheit, und sehr viele verließen deshalb die Insel. Das Komitee sah darin keinen Nachteil, weil es parallel zur Auswanderung eine immens größere Zuwanderung gab, und zwar von denjenigen Menschen, die zur Kategorie der Tüchtigen gehörten. Doch dennoch eine große Anzahl von Inselbewohnern empfanden die Situation als 24 ungerecht. Nach vielen, vielen Debatten wurde das Gesetz geändert; Arbeitslose und Kranke erhielten verschiedene Unterstützung - Zahlungen und und hatten daher mehr zum Leben also zuvor. Ihr Einkommen sollte jedoch unterhalb des Verdienstes der aktiven, tüchtigen Menschen bleiben. Außerdem wurde beschlossen, dass alle aktiven Menschen sollten dazu verpflichtet werden, den Schwachen zu helfen. Seitdem gibt es bei uns diese Regelung, und die Massenauswanderung ist gestoppt. Es sieht danach aus, als ob alle damit leben könnten.“ 25 8. Kapitel Hilfsbereitschaft. Als Helga ihre Erzählung beendet hatte, gab es eine Diskussion über die Bedeutung von Gerechtigkeit. Alle hatten natürlich eine eigene Vorstellung davon. Lia sagte, zum Projekt des Lebens auf der Gerechtigkeitsinsel gehörte, dass die besten Voraussetzungen für ein erfülltes, reiches und interessantes Leben geschaffen würde, was aber nicht heißen solle, dass es nur um die gleichmäßige Verteilung materieller Güter gehe. Die Gerechtigkeitsinsel sei inzwischen eine sehr reiche Region. Selbstverständlich sei sie nun verpflichtet, nicht nur den schwachen Menschen hier auf der Insel zu helfen, sondern auch den Schwachen auf der ganzen Welt. Das sei aber äußerst schwierig. Besonders schwierig sei es, zu kontrollieren, ob die von der Gerechtigkeitsinsel geleistete Hilfe an der richtigen Stelle ankomme und effektiv verteilt werde. Die Hilfe sollte so gestaltet werden, dass die schwachen, unterentwickelten Länder schließlich ohne Hilfe 26 auskommen können. „Dafür gibt es auf der Insel eine spezielle Kommission, die Projekte in den unterentwickelten Ländern ins Leben ruft. Bereits existierende Projekte werden fortgeführt, und es wird strikt kontrolliert, daß kein Missbrauch getrieben werden kann." 27 9. Kapitel Die Liebe auf der Insel. Lia war mit viel Arbeit beschäftigt, aber sie hätte sehr gern einen festen Freund gehabt. Zuerst dachte sie, dieses Problem sei unlösbar, und sie wollte sich schon damit abfinden. Dann geschah ein Wunder: Sie verliebte sich und nach einigen Wochen der Ungewissheit wurde der Mann ihrer Träume ihr fester Freund. Lia hatte keine Zeit verloren, sondern nach Möglichkeiten gesucht, ihre vielen Hobbys ausüben zu können. Eines Tages ging sie aus und beim Spazierengehen durch die Stadt bemerkte ein Schild, auf dem stand: „Nachbarschaftszentrum“. Sie schaute durch die Fenster und entdeckte, dass das Zentrum viel für Kinder leistete. Sie wollte schon weitergehen, als eine junge Dame die Tür aufschloss, sich an Lia wandte und fragte: „Haben Sie Interesse an unserem 28 Nachbarschaftszentrum?“ „Nein“, gab Lia zur Antwort. „Die Angebote sind leider alle nur für Kinder!“ Aber die Dame sagte darauf: „Wir sind für alle da, für Junge und Alte!“ „Ja, natürlich interessiert es mich dann!“, rief Lia und betrat das unbekannte Gebäude. Als erstes stellte sich die Dame vor: „Ich heiße Gertrud. Ich bin hier angestellt undfür einige unserer Veranstaltungen verantwortlich. Ich möchte Ihnen unser Zentrum zeigen und gebe Ihnen unser Programm für das nächste Quartal. Wenn Sie etwas finden, das sie interessiert, bitte, kommen Sie zu uns!“ Lia fand tatsächlich etwas. Monatlich an jedem , jeden letzten Donnerstag, gab es eine Buchbesprechung. Das Buch musste man vor der Besprechung gelesen haben. Diesmal war es Georg Kleins Roman „Die Sonne scheint uns." Da Lia dies Buch schon kannte, kam sie zur Besprechung. Ein sehr sympathischer junger Mann von zweiundvierzig Jahren, namens Michael, moderierte, und Lia war begeistert! Von allem, von dem was sie dort erlebte, war sie begeistert! Das Buch gefiel ihr, ebenso wie den anderen 29 Teilnehmern. Da waren acht belesene Männer und Frauen, die alle wussten, wovon sie sprachen. (Lia hatte zuvor in ihrem Leben schon oft gehört, wie Leute, die nichts wussten, eine Menge sagten.) Aber am besten gefiel ihr der Moderator, der auch das Nachbarschaftszentrum leitete. Das war ihr Typ: Belesen, bescheiden, klug, sehr fleißig und so weiter. Von diesem Tag an besuchte Lia, wann immer es ihr möglich war, alle Veranstaltungen, die Michael organisierte, zum Beispiel gab es philosophische Plaudereien und Malkurse. Michael bemerkte, dass Lia nicht nur an seinen Veranstaltungen Interesse hatte. Sie machte sich keine Illusionen und bemühte sich um Zurückhaltung. Aber sie wusste, dass Michael psychologische Hilfe anbot, und bat um einen Termin. Von da an erzählte sie ihm wöchentlich, jeweils eine halbe Stunde lang, von ihren Problemen. Nach einem Jahr verließ Michael das Nachbarschaftszentrum, um anderswo zu arbeiten. Doch schickte er Lia eine E-Mail und bat sie um ein Rendezvous. Sie konnte kaum glauben, dass sie ihm nicht gleichgültig war. So entstand zuerst eine einzigartige Liaison, später wurde daraus eine wunderbare Freundschaft mit allem, wonach Lia sich sehnte. Sie war nun die glücklichste Frau auf der Welt. 30 10. Kapitel Gerechtigkeit und Belesenheit. Lange Zeit arbeitete Rita (zusammen mit Dieter) in der Fabrik für landeseigene erzeugnisse. Es lief alles bestens, doch nach einigen Monaten wurde Rita unruhig: Sie wollte einen Job, in dem sie ihre Möglichkeiten besser zur Zuge kamen. In Wien war sie in der „Sir-Karl-Popper“- PrivatSchule tätig gewesen und hatte Deutsch und Literatur. Nach langer Suche wandte sie sich an René. Doch die einzige Stelle, von der er wußte, war bereits mit einem sehr kundigen Professor besetztt! Sie rief Dieter, Lia und René an und bat um eine Zusammenkunft. Als sie einen Termin gefunden hatten, trafen sie sich wieder im Café. Rita erzählte, sie empfinde es als ungerecht, nicht in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten zu können. "Auf unserer reichen Insel gibt es doch genug Leute gibt, die meine Kenntnisse in deutschsprachiger Literatur gebrauchen könnten. 31 Aber auch hier gibt es viel zu viele Leute, die die Literatur nur als Unterhaltung betrachten. " 32 11.Kapitel Die ausgleichende Gerechtigkeit korrigiert. Als unsere Troika (Rita, Lia und Dieter) wieder einmal im Café saß und über irgendetwas diskutierte, sagte Dieter: „Ich habe zwei Thesen: Erstens, unsere Insel, die ‚Gerechtigkeitsinsel‘ heißt, ist eigentlich wie andere freie Gesellschaften. Ich sehe keinen besonderen Unterschied. Zweitens, es gibt auf der Welt überhaupt keine Gerechtigkeit. Aristoteles sagte, dass die austeilende Gerechtigkeit jedem geben muss, was ihm gemäß seinem Stand zusteht. Die ausgleichende Gerechtigkeit muss die daraus entstandende ungerechte Verteilung korrigieren. Was denkt ihr darüber?“ Lia meinte, auf der Gerechtigkeitsinsel bestehe eine normale Gesellschaft, aber Gerechtigkeit im weitesten Sinne werde doch besonders beachtet, vor allem, wenn ein Bürger sich ungerecht behandelt 33 fühle. „Das haben wir in den Fällen von Rita und René schon erlebt, aber, lieber Dieter - wenn du die Gerechtigkeit hier auf der Insel verbessern willst - steige ein! Du bewirbst dich für das Komitee. Wenn man sich dann an Dich mit Gerechtigkeitsproblemen wendet, dann muss Du helfen. Unsere Abgeordneten sind ständig mit der Ausarbeitung und der Änderung der Auslegung des Begriffs ´Gerechtigkeit´befaßt.“ „Was haben nun Deine zweite These betrifft, muss man zuerst den Satz des Aristoteles genauer untersuchen: Austeilende Gerechtigkeit muss jedem geben, was ihr gemäß seinem Stand zusteht." Die Gesellschaft in der Antike war standisch gegliedert und beruhte auf Sklaverei. In der heutigen Gesellschaft ist der ´Stand´ das, was man seine Herkunft mitbekommt. Einige sind mit Schönheit, Gesundheit, Vermögen beschenkt, die anderen nicht! Aufgabe der Gesellschaft ist es, den Nachteil der Unterprivilegierten zu kompensieren. Das scheint am ehesten durch die Verbesserung der Bildungschansen für alle möglich. Wir behandeln solche Fälle aber nicht pauschal, sondern im Einzelnen, und nicht per 34 Gesetz.“ Die Diskussion dauerte noch lange, und Dieter beschloss, sich für die Arbeit im Komitee zu bewerben. Nach drei Monaten wurde er ins Komitee aufgenommen. 35 12.Kapitel. Nicht nur Gerechtigkeit. Eines Tages, am Freitag, wie immer, ging Lia ins Schwimmbad, um zu schwimmen. Es war noch früh, die Kasse, war noch geschlossen, es hatte sich beträchtliche Schlange gebildet. Da hörte sie (und natürlich auch alle anderen, wie eine Frau ganz laut zu ihrer Nachbarin sagte: „Warst Du beim Arzt, Wilhelmina ?“ „Nein“, kam leise die Antwort. „Aber das ist sehr, sehr schlimm, Wilhelmina!“ „Wirklich?“, wollte Wilhelmina wissen. „Ja, sehr“. „Aber warum denn?“, fragte Wilhelmina zitternd. „Es ist halt schlimm, basta!“ Und damit rigorose Dame endete die Unterhaltung. Im Hallebad war es auch lustig: zwei alte, beleibte Herren waren gerade bei der sogenannten Düsenmassage und einer der beiden war wahrscheinlich schwerhörig, denn er schrie dem anderen über die Köpfe der anderen etwas zu. Lia versuchte den Schwerhörigen zu bremsen, verzichtete dann aber auf die Massage und war sehr sauer! Am nächsten Tag ging sie wieder in die Schwimmhalle. Dort sah sie beim Duschen auf 36 dem Fußboden sitzend ein winziges Baby, ein Mädchen, und war sofort fasziniert von ihm. Das Baby erinnerte sie an Nina, das Töchterchen ihrer Freundin Klava, das inzwischen erwachsen war, eine Ärztin mit zwei Kindern. Lia konnte von dem Kind nicht lassen, und die Mutter hatte nichts dagegen. Doch dann fiel ihr auf, daß das Kind sehr klein war und noch nicht laufen konnte, obwohl es schon eineinhalb Jahre alt war und sich sehr interessiert an seiner Umwelt zeigte. Das Kind war ein „Frühchen“, war mit sechs Monaten auf die Welt gekommen, und hatte drei Monate im Brutkasten verbracht. Aber alle waren zuversichtlich, dass das es noch wachsen würde und zu laufen lernte. Und Lia dachte: „Ich bin so fixiert auf einen Aspekt der Gesellschaft - auf Gerechtigkeit - dass alle andere Momente des Lebens mir total unwichtig scheinen: die kranke Wilhelmine; der schwerhörige Mann; das Baby, das zu früh zur Welt kam - das sind Menschen ‚an sich‘. Die gehen mich überhaupt nicht an! Was hat hier die Gerechtigkeit verloren?!“ Es waren vernünftige Gedanken. 37 13. Kapitel Erfahrungen. Ich, Du und die Gesellschaft. Alte Menschen sind oft sehr stolz auf ihre Erfahrungen und hoffen, dass sie diese Erfahrungen weiter geben können. Leider ist es so, dass die Gesellschaft sich ändert (die Zeiten ändern sich), und frühere Erfahrungen passen nicht in die neue Zeit. Zudem handelt es sich vor allem um individuelle Erfahrungen, die für andere nicht unbedingt von Bedeutung sind. Es gibt eigentlich nur „ich“. Wenn ich sterbe, ist die ganze Welt gleichgültig! 38 14. Kapitel Männliche und weibliche Schriftsteller. Virginia Woolf hat sich einen Ruf als große Schriftstellerin erworben. Sie steht an Bedeutung ihrer männlicher Kollegen nicht nach. Vielleicht ist Virginia Woolf ist eine bedeutende Schriftstellerin, weil Ihr Schreiben typisch weiblich ist. Die Themen, die sie vor allem in „Orlando“ verarbeitet, sind typisch weiblich. Aber es ist nicht nötig zu erkennen, welchem Geschlecht der/die Autor/in zugehört. Sonst ist die Meisterschaft eines Schriftstellers fraglich. Lia dachte in diesem Zusammenhang daran, dass manche weibliche Schriftstellerinnen ihren „Bonus“ sozusagen deshalb gerade erhalten, weil sie Frauen sind! Es gibt in der Literaturgeschichte kaum richtig Große Schriftstellerinnen. Und hier hat die Gerechtigkeit nichts zu suchen: Talent bleibt Talent! Und bitte keine Quote für die Frauen! Eine Woche aus Lias Leben. 39 Lia ist sehr daran interessiert, dass ihre Woche "sinnvoll" verläuft. Meist gelingt ihr dies. Ihre letzte Woche erschien ihr zum Beispiel als "sinnvoll": Am Montag bekam sie männlichen Besuch, der für sie lebenswichtig war. Danach musste sie kurz ihre Schwester treffen, da diese in der Stadt unterwegs war. Das Treffen war wirklich schön. Am Dienstag fand eine immer an diesem Tag stattfindende „Philosophische Plauderei“ mit dem Thema „Was ist Kreativität?“ statt. Dann vereinbarte sie um 12 Uhr ein Treffen mit einem Mann, der voraussichtlich an einem Projekt teilnehmen würde, dessen Teilnehmer etwas dazu tun wollten, daß in Wien Robert Musil mehr geehrt würde. Es lief ganz gut, denn Lia versprach, sie Dr. Hafner den Bericht eines japanischen Architekten besorgenen würde, in dem beschrieben werden haus und Wohnung, in denen Robert Musil einige Jahre gewohnt hatte. Dann ging es bei dieser Besprechung noch um andere Aktionen. Am Mittwoch unterrichtete Lia Spanisch. Am Donnerstag musste sie eine Seniorengruppe betreuen. Am Freitag sie auf einer 40 Reiseveranstaltung. Ihre Freundin Magda lud sie zu einer Reise nach Ägypten! Am Samstag spielte sie mit Peter Schach und am Sonntag arbeitete sie ehrenamtlich im Kolpinghaus. Die Woche war super! Jetzt, wo sie auf der Gerechtigkeitsinsel lebte, dachte sie, dass das vielleicht noch nicht perfekt war, schließlich war sie ja umgezogen also etwas hatte ihr in Wien gefehlt. Ja, die Frage der Gerechtigkeit hat sie dazu gebracht, dass sie ihr Leben total auf dem Kopf stellt. Das war der Preis dafür, dass man das tut, was man für richtig hält, aber sie bereute es nicht! 41 15. Kapitel Lia. Lia hatte einmal ein glückliches Leben gehabt (sie war verheiratet). Ihr Mann hatte ihre Tage schön strukturiert. Sie hatte regelmäßig guten Sex. Mit ihrem Mann konnte sie philosophische Gespräche führen. Um ihre Freizeitgestaltung war die beste. War es wirklich so, oder bildete sie sich das nur rückblickend ein? Lia stand vor einer wichtigen, zugleich aber auch schwierigen Aufgabe: festzustellen, wer sie ist. Was bedeutet diese Frage: Welche Aspekte spielen dabei eine Rolle? Ihre, Lias, Biographie ? Ihr Charakter ? Ihre Wünsche? Ihre "Substanz"? Was macht sie aus, womit unterscheidet sie sich besonders von anderen Menschen? Warum bindetr sie sich (gedanklich, seelisch und aufwertend) so sehr an eine ganz spezielle männliche Person, die sie wertvoller findet als sich selbst? Liebt sie sich? Aber ja! Hier hat Lia überhaupt keine Zweifel. Ab 42 und zu tut es ihr leid, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es sich wünscht. Sie ist meist ein glücklicher Mensch. Nun versucht sie zu klären, was ihre "Substanz" ausmacht. Sie lebt intensiv, denkt viel an Dinge und Geschehnisse, die mit ihr zu tun haben. Wie sie intensiv denkt, fühlt sie auch. Sie lebt sehr bewusst, ja viel zu viel, und denkt, dass ihr das Schlafstörungen verursacht. Hat sie genügend Selbstrespekt? Nein. Aber das bedeutet nicht, dass sie sich nicht liebt! Sie liebt sich, obwohl sie sich nicht genug achtet. 43 16. Kapitel Langfristige Ziele. Lia musste einer Dame langfristigen Ziele sie hat. berichten, welche 1. Lia schreibt an einem Buch; der ursprünglicher Titel lautete: „Gerechtigkeitsinsel“ 2. Sie setzt sich das Ziel, ihr Körpergewicht auf sechsundsechzig Kilo zu reduzieren; zurzeit wiegt sie achtundsechzig Komma fünf Kilo. 3. Sie will weiter Philosophie treiben, egal in welcher Art: in Gruppen, allein oder privat. 4. Sie möchte jeden Tag so gut gestalten, dass sie am Ende des abgelaufenen Tages sagen kann: „Der vergangene Tag war sinnvoll.“ 44 5. Da Lia unter Schlaflosigkeit leidet, möchte sie versuchen, damit fertig zu werden. 6. Lia beschäftigt sich mit dem Projekt „Robert Musil in Wien“. Inzwischen war, wie bereits erwähnt, etwas ganz Außerordentliches passiert: Von einer Freundin war Lia acht Tage nach Ägypten eingeladen worden. 45 17. Kapitel Lia und ihre Psychoanalytikerin. Lia bekam von ihrer Psychoanalytikerin Gerta die Aufgabe erhalten, darüber nachzudenken, warum sie einerseits Sehnsucht nach einem Leben mit einem wirklichen Partner hatte, andererseits aber froh war, nur Alibi-Lover zu haben. Sie ist froh, dass sie keinen Partner zu suchen braucht. Lia wusste, daß das ein Widerspruch war, denn der Lover war zwar nur ein Lover, nahm aber ein in ihrem Körper kontinuierlich Platz, was ihre Passivität in bezug auf die Partnersuche ermöglichte. Hier könnte man fragen: „Lia, wenn du angeblich froh und glücklich bist mit Deinem Lover, wozu brauchst du einen Psychoanalytikerin?“ Die Antwort ist: Lia suchte Hilfe bei Gerta (der Psychoanalytikerin) um ihre Persönlichkeit zu stärken, unabhängiger von ihrem Lover zu werden. Worin besteht diese Abhängigkeit? Sie besteht darin, dass sie ihr „Ich“ nicht genug schätzt, unabhängig davon, ob der Lover ihr 46 Aufmerksamkeit schenkt oder nicht. Lia spürte ihn in sich und wollte trotzdem so viel wie möglich „Ich“ sein. Inzwischen hatte sie fünf oder sechs Sitzungen mit Gerta und spürte, dass sie ihr gut taten. Nun zurück zum Widerspruch: Trotz des "Alibi-Lovers", war die Partnersuche auch dadurch behindert, dass Lia in ihrem Alter keine Chance sah, jemanden zu finden; und zwar weil: 1. Das Verhältnis von Frauen zu Männern 1:100 ist. 2. Wenn Lia den Partner mit zweiundvierzig und später nicht fand, wieso jetzt auf einmal finden? 3. Partnersuche ist kein Gegenstand der psychoanalytischen Gesprächen , es sollte sie ihn in eine unnötige Sackgasse führen. Aus der Erfahrung mit den Sitzungen von Magister M.O. wusste Lia, dass sie Persönlichkeitsstärkung brauchte und keine Veränderung ihrer Situation.Lia hat Sehnsucht 47 nach manchem Unerreichbaren. Sie hatte diese Sehnsucht schon mit fünfundzwanzig Jahren und sie bleibt ihr wohl bis zu ihrem Tode. Gleichwohl will Lia das Beste aus ihrem Leben machen. 48 18. Kapitel Die graue Maus? Es gibt viele Gründe, dass Lia sich als eine graue Maus gefühlt hat. Zum Beispiel, weil sie alt und weniger wichtig geworden ist. Aber wenn sie sich zusammennahm, um sogenannte schwere Arbeiten zu erledigen, war sie keine graue Maus mehr. Es gab schwere und leichte Sachen. "Sachen" waren das, was Lia interessierte, was aber Willenskraft von ihr verlangte, um es erledigen zu können. Ja, sie wäre ungern eine graue Maus, aber sie fühlte sich oft so, und ihr Ziel war es, es keine zu sein. Wollte sie das erreichen, mußte sie sich überwinden, etwas Wertvolles zu tun, doch fehlte ihr es an Willenskraft. Jede Überwindung dieser Art feierte Lia (hinterher) als einen Sieg. Auch wenn es sich nicht um eine große Sache handelte. Lia hat etwa zehn Hobbies; die meisten gehören in die "Schwierig" Kategorie. Aber oft hatte Lia keine Lust, zu tun was ihren Lebenssinn ausmachte (das waren eben diese zehn Hobbies). Lia wusste, sie 49 musste es tun. Aber von allein ging es nicht. Also musste sie sich überwinden, denn dann würde sie keine graue Maus mehr sein. Die Psychoanalytikerin fragte Lia, ob sie auch in der Vergangenheit, als sie jünger war, das Gefühl gehabt hatte, eine graue Maus zu sein. Ja, das war sie gewesen, aber es bezog sich damals nicht darauf, dass sie nichts Wichtiges machte, sondern dass sie bei den Jungs nicht ankam, keinen Erfolg hatte. Nun sagte die Psychoanalytikerin, dann wird es Lia, da sie alt geworden sei, leichter fallen, aus der Rolle der „Grauen Maus“ auszusteigen. 50 19. Kapitel Dr. Banner. Lia hat einen Mann kennengelernt, der den Titel „Doktor“ trug. Man muss wissen, dass sie eine Schwäche für die Leute hatte, die so einen Titel trugen. Dabei war ihr immer bewusst, dass der Titel keine Garantie war, dass der Mensch tatsächlich auch wirklich klug war. Also mündete eine neue Bekanntschaft in eine neue Enttäuschung. Es lief nämlich so ab: Als Lia nach Wien kam, übernahm sie aus Langweile einige Tätigkeiten, die mehr oder weniger ihren Interessen entsprachen. Literatur, Sprachen etc. Eines Tages musste sie feststellen, dass in Wien ihr Lieblingsschriftsteller Robert Musil, der immerhin siebzehn Jahre in Wien gelebt hatte, zu wenig Anerkennung fand. Nur in Klagenfurt wurde er wirklich geschätzt. „Also“, dachte Lia, „jetzt habe ich neues Feld gefunden, wo ich etwas Gutes und Interessantes machen kann.“ Sie schrieb Briefe, machte persönliche Besuche und wandte sich an Wiener Instanzen, die ihr weiterhelfen 51 könnten. Sie träumte von einem Café mit dem Namen „Robert Musil“, wo regelmäßige Treffen zum Thema "Robert Musil": Lesungen, Die gute Reaktion auf ihre Briefe kam daraufhin aus Klagenfurt. Sie erfuhr, dass in Wien ein Dr. Banner lebte, der Interesse für Robert Musils Andenken in Wien zeigte. Schon beim ersten Treffen wusste sie schon, dass dieser Dr. Banner ein Versager ist; Zu dieser Kategorie zählten diejenigen Leute, die aus Sicht Lias nichts geschafft hatten, obwohl sie schon das reife Alter erreicht haben.Sie ließ aber nicht locker und versuchte mit ihm zu einer Zusammenarbeit zu kommen. Sie trafen sich mehrfach, aber dann zeigte sich, dass Dr. Banner Lia für andere, nämlich seine Projekte gewinnen wollte. Da Dr. Banner ein Historiker war über Richard Wagner recherchierte, wollte er Lia, die kaum vier Jahre in Wien lebte, beantragen, für ihn Vorträge in Frankfurt und im Russischen Kulturinstitut in Wien zu organisieren, wozu sie keine Möglichkeiten hatte. 52 20. Kapitel Die vierte Tugend. Gerechtigkeit ist eine vierte Tugend (die ersten drei: Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung)sind seit der Antike. Bei Aristoteles ist die Gerechtigkeit die wichtigste Tugend in Bezug auf die "Gemeinschaft". Als austeilende sorgt sie für eine gerechte Verteilung der Güter und Ehren. Als ausgleichende ist sie Korrektiv für erlittenen Schaden. Im Zentrum von John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ steht die Frage, nach welchen Grundsätzen die Rechte und Freiheiten der Bürger zueinander stehen und die Verteilung der Güter in einer Gesellschaft geregelt werden können. Um dies zu klären, argumentiert Rawls vertragstheoretisch: Wir stellen uns einen Urzustand vor, in dem die Menschen zusammenkommen, um die Grundregeln ihrer künftigen Gesellschaft zu entwerfen. Um das moralische Prinzip der Unparteilichkeit zu 53 gewährleisten, befinden sich die Personen im Urzustand hinter einem „Schleier des Nichtwissens“, das heißt, sie kennen ihre eigenen Fähigkeiten, sozialen Positionen etc. noch nicht. Aus diesem Grund würden sie sich für eine Gesellschaftsstruktur entscheiden, die die möglichen Interessen aller berücksichtigt. Set würden zwei Prinzipien festgelen: 1. Jeder soll das gleiche Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem eben diesem System alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und daß b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen. 54 (Das zweite Prinzip, das sogenannte Differenz-Prinzip, legt fest, dass soziale Ungleichheiten nur dann legitim sind, wenn sie für die Schwächsten von Vorteil sind). Es kommt zu einem folgendem Eklat: Das Komitee entscheidet sich für den Gegensatz zu Rowls zweitem Prinzip. Daraufhin wandern die „Schwächeren“ scharenweise aus der Stadt Kitür aus. Die übrigen sind gleichwohl zufrieden, denn die „Schwächeren“ werden durch neue Einwanderer ersetzt, die erstaunlicherweise auf die Insel drängen, und durch „Vertrags-Kräfte“. Dennoch wird das Gesetz geändert. sodass die Schwächeren werden zwar relativ großzügig behandelt, sollen aber nicht besser gestellt sein, als die normalen Bürger. Die Normalen sind verpflichtet, den „Schwächeren“ zu helfen. 55 21. Kapitel Abschied. Gestern gab es ein Abschiedsfest für Theo, er hat einen Job gefunden für die begrenzte Dauer von einem Jahr auf einer entfernten, uns weitgehend unbekannten Insel, deren Namen ich auch nicht behalten habe. Es gab daher Essen, Musik und Tanz; Theo spielte noch auf seiner Klarinette und er erzählte uns von seiner Stimmung: freudvolle Erwartung, Neugierde, Jubel, aber auch Anspannung und Trauer. Jeder von uns gab danach seine eigenen Gefühle zu diesem ungewöhnlichen Ereignis bekannt. Ob mit Worten („Du wirst viel neues erleben und kennenlernen!“, „Nur Mut!“, „Vergiss deine Nase nicht!“ oder „Ja, ich werde dich vermissen!“), ob mit Tönen aus Instrumenten in allen Schattierungen, Lautmalereien wie in einem Tierpark, ob mit Tanz und Komik, jeder, wie er oder sie es eben am besten kann. Zuletzt gab es, wie es in unserer Gegend üblich ist, Sprüche. Jedem, der eine Zeitlang von uns fortgeht (und manch einer blieb es auch dauerhaft) wurde ein 56 Hut voll Sprüchen hingestellt, der von jedem von uns wenigstens einen enthielt: Gute Wünsche, Anregungen, weise Sprüche aus unserer Erfahrung und auch manche Sprüche, die noch nicht von uns erprobt wurden fanden sich darunter. Vielleicht aber gibt die Ferne, nach alter Weise auch gern Fremde genannt, die Gelegenheit dazu. Die Sprüche sollten ihn an uns erinnern, ihm Trost sein im Fremdsein, Hilfestellung in ratlosen Zeiten geben und manchmal einfach vergessen werden, um unbefangen eine neue Erfahrung zu machen. Alle von uns werden von Kind an dazu angeleitet, unsere eigenen Sprüche, Leitlinien, Mantras oder sogar Gebete zu schaffen und sich für eine gewisse Zeit einen dieser Leitsätze davon vorzunehmen und damit von früh bis spät und sogar nächtens zu leben, sie vorzusagen, zu summen, zu singen, zu tanzen, einzubauen ins alltägliche Sein und Tun. Einmal im Monat gibt es einen Sprüchetag, wo jeder seine Erfahrungen damit kundtut: als Erzählung, als Lied darüber, als Kunstwerk, welches die Erfahrung ausdrückt, und so weiter. Niemand wird dazu gedrängt. Jeder aber beschäftigt sich damit; alle richten ihr gesamtes 57 Sein nach Sprüchen aus. Wir denken, jeder braucht seine Zeit, und manchmal dauert es Jahre bis etwas reif geworden ist. Dies sind die Regeln, die das Fundament unserer Gesellschaft ausmachen; ohne sie zu leben wäre uns unmöglich, sie gar umzustoßen völlig undenkbar. Und als Theo, unser Nesthäkchen aus der Handwerkergilde, (er hatte gerade seine Ausbildung zum Installateur abgeschlossen), laut vorlas, was er so gezogen hatte, gab es wie immer ein lautes Gejohle mit all den passenden und unpassenden Kommentaren dazu. Meiner lautete: „Was ist gerecht?“ Die Anmerkung löste eine vergnügliche Darstellung des Wortes aus... alle sprangen gerecht verteilt mit dem rechtem Fuß nach rechts und manch einer fiel dabei auch nach rechts und noch viel anderes Gerechtes fiel vor. Als „Dorfhexe“ (so werde ich genannt) freute ich mich natürlich, dass er die Gerechtigkeit gezogen hatte (ich hatte zur Sicherheit drei dieser Sprüche in den Hut getan), denn die Insel, auf der er ein Jahr arbeiten sollte, hatte als besonderen Schwerpunkt ebendiese... und insgesamt hatten wir schon lang darüber gerätselt, uns darüber lustig gemacht, nachgedacht und 58 vorgedacht... Und dies alles mit Bedacht unbedacht überdacht... und wir waren schon sehr gespannt, welche Erfahrungen unser philosophischer Zu-und Abwasser, Heizungs- und Belüftungsfachmann dort mit der Gerechtigkeit machen würde... 59 22. Kapitel. Theo kommt zur Gerechtigkeitsinsel. Nach einem prachtvollen und gefühligen Abschied von seinen Freunden fiel es Theo gar nicht leicht, endlich alles zur Reise in die weite Welt vorzubereiten und tatsächlich von Wien wegzufahren. „Was kommt auf mich zu?“, dachte er. Sicher, wurde auf der Gerechtigkeitsinsel jemand zum Hafen geschickt, der Theo im Empfang nahm. Diesmal war Lia. Schon auf dem Weg zu seiner Unterkunft wurde über den Begriff "Gerechtigkeit" diskutiert. Es stellte sich heraus, dass Lia und Theo ganz verschiedene Vorstellungen davon hatten. „Na gut“, sagte Lia, „wir haben in der nächsten Woche sowieso eine 60 Diskussion, an der alle, die Interesse haben, teilnehmen. 61 23. Kapitel. Das gerechte Maß oder Gerechtigkeit in allen Lebenslagen; welche Parameter gelten? Als Theo nach ein Tagen auf der Insel zu der Diskussion kam, kamen etwa 50-60 Teilnehmer. Alte, junge, Frauen, Männer - alles war vertreten. Eine Frau, die Teo bisher noch nicht kennengelernt hatte, eröffnete die Diskussion. „Heute haben wir“, sagte sie, „das Thema: Das gerechte Maß oder Gerechtigkeit in allen Lebenslagen; welche Parameter gelten?" wir haben uns schon mit diesem Thema vielleicht beschäftigt, aber man muss immer wieder von neuem anfangen, da neue Leute kommen, sich die Zeiten sich geändert haben. In der letzten Zeit haben wir einige Leute neu aufgenommen und sie haben bestimmt Interesse, zu erfahren, wie die, die bereits ‚Ureinwohner‘ geworden sind, das Thema Gerechtigkeit verstehen und wie sie dementsprechend handeln. Heute“, sagte die Frau, gibt es sozusagen nur um die Theorie, aber wir handeln jeden Tag danach. Falls etwas schiefgeht beim Handeln, haben wir das Kommitee oder die 62 Kommission, die versucht, die Gerechtigkeit zu schaffen. Am Anfang des Abends möchte ich nur ein paar Punkte nennen, die ich persönlich für wichtig halte, und dann kann sich jede zum Thema äußern. Gerecht ist, wenn die Leistung gerecht anerkannt wird (in Geld, in Beförderung, als Dank für etwas, das nicht bezahlt werden kann usw.). Im Wort Leistung ist Vieles verborgen: nicht nur die Leistung am Arbeitsplatz, was am besten zu beurteilen ist, sondern auch die ehrenamtliche Leistung oder alles, was auf unserer Insel gemacht wird.“ 63 24. Kapitel. Brief an Theo von Zuhause. „Lieber Theo, wir finden es sehr spannend, wie du uns im Dunklen lässt, worüber man ja streiten könnte, ob dies gerecht ist. Bei uns herrscht nur mehr Rätselraten ob der Frage, unter welche Form der Gerechtigkeit dein derzeitiges Domizil gefallen ist. Soweit wir (richtig?) verstanden haben, gibt es eine Oberhoheit, ein Konsortium, Hüter der gerechten Ordnung, Gerechtigkeitspolizei, oder was deren Namen noch alles sein könnte... Aber sonst? Bekommt ihr alle gleichviel Lohn, oder gibt es nach wie vor die Mehrwertigen? Wenn ja, mit welcher Begründung? Oder habt ihr vielleicht schon das grundeinkommen, wo wir gerade dabei sind? Und natürlich kann jeder dazuverdienen, soviel er will, aber nicht ohne Reflexion...das 64 tägliche Leben ist vielleicht ein Rollenspiel? Kannst du dich noch an Max erinnern: Er wollte unbedingt Banker werden in der großen weiten Welt. Da wir seine Ausbildung aus unserem Gemeinschaftstopf bezahlt haben, darf er einen Teil seines Gehalts wieder zurückzahlen. Wir klagen nicht, ordern kein Gericht, sondern hoffen einfach, dass er seinen Verpflichtungen irgendwann nachkommt, außer es gibt einen Notfall, da werden er und andere einfach kontaktiert und an ihre Verpflichtungen erinnert. Manche halten dies für ziemlich rigoros, ein bisschen borniert dürfen auch wir sein. Sind die Versammlungen ähnlich unseren? Sind sie auch so kreativ gestaltet? Wie auch immer, es braucht keiner woanders hinzugehen, wenn er dort dasselbe hätte wie zu Haus. und wir sind immer bereit, unser Gemeinschaftsleben mit neuen Eindrücken zu bereichern. Wann schickst du uns endlich welche? 65 25. Kapitel. Die Antworten. Theo hörte all dem zu, was geredet wurde. Aber irgendwie war es ihm unbehaglich, denn die Fragen, die auf der Seele lagen, blieben ihm unbeantwortet. Er meldete sich zum Wort und sagte: „Sehr geehrte Damen und Herren! Es war sehr schön Ihnen zuzuhören, aber ich habe einige Fragen, die ich gerne stellen würde in der Hoffnung, dass sie direkt beantwortet werden.“ Danach stellte er seine Fragen und erhielt auch Antworten von verschiedenen Inselbewohnern, nicht nur von Kommissionsmitgliedern. Er erfuhr, daß es auf der Gerechtigkeitinsel eine Kommission gibt, die sich einschaltet, wenn jemand sich beschwert. Die Kommission versucht selbst eine Entscheidung zu treffen, aber manchmal wird auf demokratischer Ebene die Lösung gesucht: Dann erläutert die Kommission den Sachverhalt und bittet um Hilfe bei der Entscheidung. 66 Auf der Gerechtigkeitsinsel gibt es kein Grundeinkommen. Man darf dazuverdienen, kein Problem, aber die Steuer muss bezahlt werden! Die Grenze des Möglichen wird eingehalten. Theo übrigens kam auf die Insel, nur um Geld zu verdienen, ohne großes Interesse an der Gerechtigkeit. Inzwischen jedoch will er hier bleiben! Er fand somit großen Gefallen an den gesellschaftlichen Verhältnissen auf der Insel. Die Gerechtigkeit beschränkt sich nicht nur auf Geldverteilung, sondern auf andere Bereiche des Lebens, wie schon während der ersten Kapitel des Buches mit Hilfe von Beispielen mitgeteilt wurde. Was die Pflicht oder auch Verpflichtungen betrifft, so ist es selbstverständlich, dass diese bestehen, und die, die ihnen nicht nachgehen, aus diesem Grund entweder in Pools für soziale Arbeiten landen, oder schlussendlich gebeten werden, die Insel zu verlassen. 67 Epilog. Alles hat ein Ende - so hat auch dieser Roman ein gutes Ende. Lia hat noch an unzähligen Tätigkeiten auf der Insel teilgenommen. Ihr Leben war so aufregend, dass sie oft vergaß sich zu fragen: „Hallo, Liebe Lia, und was ist mit dem Sinn des Lebens? Ist wirklich alles, wie es sinnbringend sein sollte? Bist du auf deinem Platz? Vielleicht müsstest du eigentlich etwas anderes und das woanders tun?“ Eines Tages kam Lia tatsächlich zu dem Schluss, dass etwas Anderes passieren muss! Ja, sie hatte eine neue Idee entwickelt: sie dachte, es wäre nicht verkehrt, dass sie eine neue Firma gründet, die zwar eine Produktion abliefern würde (es mussten nicht unbedingt Gegenstände 68 sein; ihre Firma konnte auch ein reiner Dienstleistungsbetrieb werden); wichtig aber war Folgendes: Von Anfang an, bei der Gründung schon, würde groß erklärt und geschrieben, dass für die neue Firma die Gerechtigkeit als Hauptmotivation am wichtigsten, als Arbeitsprinzip, als Ziel ist. „Ich möchte“, dachte sich Lia, „dass alle Mitarbeiter die Kunden gerecht bedienen und dass sie ebenso miteinander gerecht umgehen. Das ist überhaupt nicht selbstverständlich auf unserer Insel. Klar ist, dass die Insel eine Gerechtigkeitsinsel ist, aber dennoch gibt es Infrastruktur für unsere Inselgesellschaft, und dort ist noch nicht alles so funktionell, dass man sagen könnte, es sei perfekt (im Sinne der Gerechtigkeit). Meine Firma dagegen wird alles aus dem Aspekt der Gerechtigkeit tun!“ So dachte Lia. Und sie begann, die Projektdetails auszuarbeiten; als sie wusste, was das Wesentliche (Außer Gerechtigkeit als dem wichtigsten Prinzip) war, und zwar, was die neue Firma bestimmte (wird unterschiedliche Dienstleistungen anbieten, von Putzdiensten, Krankenpflege bis Managerberatung), hatte Lia schon den ersten 69 Schritt gemacht: Sie hatte an alle Firmen auf der Insel, die auch Dienstleistungen anboten, Briefe und Emails abgeschickt, in denen sie die Eröffnung angekündigt, das Prinzip der Gerechtigkeit unterstrichen, und darum gebeten hatte, dass die anderen Firmen ihre Firma nicht als Konkurrenz betrachten sollten. „Wir werden nur das machen, was die anderen Firmen noch nicht gemacht haben!“ So versprach es Lia. Ja, das Leben ging immer weiter. Die Firma hatte sich entwickelt, schrieb schwarze Zahlen. Auch das Privatleben Lias lief gut. Alles hatte sich zu Lias Zufriedenheit entwickelt. 70 71