Die Gerechtigskeits-Insel (61270)

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MALWINA KRANICH
Die Gerechtigkeitsinsel
Roman
Die Gerechtigkeitsinsel.
Roman.
Autor: Malwina Kranich
Lektor: Maxim Friedrich
© Wien MMXIII.
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Dank an Hildegard.
2
Inhaltsverzeichnis
1. Der Brief.
S. 6
2. Die Sitzung.
S. 9
3. Der Sprung ins kalte Wasser.
S. 12
4. Der Philosoph René.
S. 16
5. René arbeitet hauptamtlich.
S. 19
6. Eine Diskussion über die Gerechtigkeit.
S. 22
7. Die große Auswanderung.
S. 24
8. Hilfsbereitschaft.
S. 26
9. Die Liebe auf der Insel.
S. 28
3
10. Gerechtigkeit und Belesenheit.
S. 31
11. Die ausgleichende Gerechtigkeit wird
korrigiert.
S.33
12. Nicht nur Gerechtigkeit.
S. 36
13. Erfahrungen. Ich, Du und die Gesellschaft. S.
38
14. Männliche und weibliche Schriftsteller.
39
S.
15. Lia.
42
S.
16. Langfristige Ziele.
44
S.
17. Lia und ihre Psychoanalytikerin.
46
S.
18. Die graue Maus?
49
S.
19. Dr. Banner.
51
S.
20. Die vierte Tugend.
53
S.
4
21. Abschied.
56
S.
22. Theo kommt zur Gerechtigkeitsinsel.
60
S.
23. Das gerechte Maß oder Gerechtigkeit
in allen Lebenslagen; welche Parameter
gelten?
. 62
S
24. Brief an Theo von
Zuhause.
S. 64
25. Die Antworten.
66
S.
Epilog.
69
S.
5
1. Kapitel:
Der Brief.
Der Tag war warm und hell. Bei solchem Wetter
konnte Lia am besten mit allen Geschehnissen die
der Tag mit sich brachte klar kommen. Auch an
diesem Tag müsste doch alles klappen! Und
zuversichtlich, wie es Lias Art zu handeln war,
kam sie zu dem Briefkasten, nahm die beiden
einzigen Briefe heraus und ging zurück in
die Wohnung. Ein Brief von ihrer Freundin aus
Kanada, den sie später lesen würde, aber auch ein
Brief von einem merkwürdigem Absender: Rita
Ast. Lia kannte sie nicht, und konnte sich auch
nicht erklären, wie diese Rita Ast ausgerechnet an
ihre Adresse gelangt war. Seltsam. Lia trat in ihr
Wohnzimmer und öffnete den Brief.
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„Liebe Lia! Sie kennen mich noch nicht, aber ich
bin sicher, dass wir uns bald kennenlernen. Ihre
Adresse habe ich von einem Ihrer (männlichen)
Bekannten bekommen, aber seinen Namen werde
ich erst dann
preisgeben, wenn ich weiß, dass Sie an unserem
Projekt Interesse haben. Also, Sie sehen, es handelt
sich um eine besondere Angelegenheit. Ich will Sie
aber nicht lange auf die Folter spannen und
schildere nur kurz, was das konkret bedeutet. Wir
suchen Menschen, die bereit sind, eine Insel zu
bewohnen. Diese Insel liegt im Schwarzen Meer,
klein, aber fein. Das allerwichtigste Merkmal
dieser Insel ist, dass wir, die künftigen Bewohner
dieser Insel, dort eine gerechte Gesellschaft
herausbilden. Bis jetzt haben wir, die Initiatoren
(zehn Leute, mich
eingeschlossen) bereits etwa zweihundert
Menschen gefunden, die entweder unser Projekt
direkt unterstützen (d.h. die demnächst dort
wohnen werden), oder die zwar so bald nicht
übersiedeln können, aber an dem Projekt großes
Interesse haben. Wir wollen dort ganz normal
leben, wie freie Bürger, wir werden alle arbeiten,
solange wir dazu imstande sind. Aber da unsere
Inselrepublik von der
Gerechtigkeit als Prinzip ausgeht, werden wir
einige Regeln aufstellen und uns daran halten: bei
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Verstoß bleibt nur der Austritt aus dem Projekt.
Selbstverständlich sind noch viele Einzelheiten
auszuarbeiten, aber die wichtigsten Punkte werden
wir bei der ersten
allgemeinen Sitzung diskutieren und festlegen.
Hiermit lade ich Sie am Samstag, den fünften
Februar 2010, um zehn Uhr ins Café Korb ein. Mit
freundlichen Grüßen, Rita Ast.“
8
2.Kapitel
Die Sitzung.
Lange hatte sie es sich nicht überlegt; das Einzige,
was
sie zunächst stutzig machte, war dieser „männliche
Bekannte“, der ihre Adresse einfach weitergegeben
hatte. Wenn es sich um einen „Bekannten“
handelte, wie dies Rita Ast schrieb, warum hatte er
sie nicht einfach zuerst gefragt? Und vor allem
beschäftigte Lia die brennendste Frage, wer war
der ominöse „männliche Bekannte“? Bis zum
fünften Februar war Lia so gespannt, dass sie
ständig Bilder vor Augen hatte, wie denn diese
„erste allgemeine Sitzung“ verlaufen würde. Wie
viele Leute würden kommen? Käme auch der
unbekannte „männliche Bekannte“? Würde die
Sitzung produktiv? Meinten es die Leute am Ende
ernst, oder würde die Sitzung doch nur zu
einem Geschwätz ausarten ? Und so weiter und so
weiter... Endlich kam der fünfte Februar! Lia kam
etwas zu früh, und trotzdem waren bereits etwa
sechs bis sieben Personen im Café, das sonst um
diese Zeit eher verwaist war. Sofort entfernte sich
ein Mann von der Gruppe, und Lia musste fast laut
seinen Namen rufen: „Dieter! Ach, du bist also der
gemeinsame männliche Bekannte von mir und
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dieser Rita Ast? Ist sie etwa auch hier?“ Bis zuletzt
hatte Lia nicht gewusst, was von Rita Ast zu halten
warm, denn am Ende hätte es nur ein Pseudonym
sein können, doch Dieter stellte Lia Rita vor; sie
nahmen zu dritt einen Tisch und fingen endlich an,
über das eigentliche Thema der Zusammenkunft,
also das „Projekt“ zu diskutieren. Lia hatte diesen
Moment in den vergangenen Tagen herbeigesehnt.
Das Café hatte sich inzwischen gefüllt, man hörte
ein leises Glöckchen, und die „erste allgemeine
Sitzung“ wurde eröffnet. Das Publikum war sehr
gemischt: Frauen, Männer, Junge, Alte waren
vertreten; die Atmosphäre war sehr angenehm. Lia
dachte in diesem Moment: „Ja, so ein Leben auf
der Gerechtigkeitsinsel könnte ich mir gut
vorstellen!“ Am Ende der Sitzung war ein Text
vorbereitet, in dem 25 Punkte aufgestellt waren.
Nach Woche bekam Lia das Papier per Post
bekommen. Man sollte es unterschreiben, wenn
man in jeder Hinsicht damit übereinstimmte. Das
Wesentliche war: Lia sollte sich verpflichten,
innerhalb von zwei Monaten (bis zum ersten Mai)
auf die Gerechtigkeitsinsel zu übersiedeln. Sie
müsste etwa über fünftausend Euro müsste sie
verfügen; Krankenversicherung und andere nötige
Papiere mitfahren. Weitere Bestimmungen
betrafen die wesentlichen Prinzipien rechtlicher,
wirtschaftlicher, medizinischer Art. Langsam
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wurde Lia bewusst, worauf sie sich eingelassen
hatte. Es gab auch zahlreiche Sponsoren für dieses
Projekt, deren Namen und die Höhe der jeweils zur
Verfügung gestellten Beträge aufgeführt waren.
Lia hatte den Text inzwischen sehr gut gelesen.
Bis zum Abend war sie sich eigentlich sicher: Sie
wollte auf die Gerechtigkeitsinsel umziehen, die
Verlockung war zu groß. Am nächsten Tag
gegen 11 Uhr traf sie Dieter und Rita wieder,
nachdem sie die beiden angerufen hatte. Da alle
drei ungefähr im gleichen Alter waren, zwischen
60 und 65 Jahren, war klar, dass sie finanziell
abgesichert waren; sie hatten auch keine
Angehörigen. Nach ihrer Heimkehr fing Lia
sofort an, sich auf die Abreise vorzubereiten.
11
3. Kapitel.
Der Sprung ins kalte Wasser.
Lia, Dieter und Rita waren am siebzehnten April
reisefertig. Juristisch war die Sache nicht
kompliziert: es schien wie ein Ausflug, aber die
Leute, denen es am Herzen lag, die
Gerechtigkeitsinsel mitzugestalten, sollten für
immer
dort
bleiben.
Eine
Rückkehr erschien Lia wie das Eingeständnis
einer
Niederlage.
„Wir
werden
es
schon
schaffen,
unsere
Vorstellungen zu verwirklichen!“ Aus Wien
musste man zuerst mit dem Flugzeug nach
Bulgarien in die Stadt Terolan, am Schwarzen
Meer , fliegen. Von Terolan aus fuhren unsere
Freunde mit dem Schiff um spät am Abend auf der
Gerechtigkeitsinsel anzukommen. Da Neugier und
Ungeduld grösser als die Müdigkeit waren, hatten
sie
die
Reise
gut
überstanden, und schon waren sie angekommen.
Vor ihnen lag eine Stadt, die Kitür hieß. Zwei- bis
dreistöckige Häuser, auch ein Hochhaus waren zu
sehen, zu dem die einzige Straße führte. Es
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handelte sich nämlich um das Hotel. Die
Gerechtigkeitsinsel existierte bereits seit drei
Monaten; sie war aus den Mitteln der Sponsoren
bei Bulgaren gekauft worden, einschließlich der
Gebäude. Auf dieser Insel befanden sich sowohl
ein paar kleine industrielle Anlagen, als auch
landwirtschaftliche Betriebe. Im übrigen
gab es ein paar Geschäfte, ein Krankenhaus, eine
Schule und Ähnliches. In der Vollmondnacht, als
Lia, Dieter und Rita ankamen, war es warm,
trocken
und hell. Sie kamen zu Fuß zum Hotel und nahmen
drei Einzelzimmer. Nach einer halben Stunde
hatten sie sich wieder im Restaurant getroffen, das
glücklicherweise noch offen war. Als die drei sich
am Tisch setzten, kam ein Mann zu ihnen, etwa
fünfzig Jahre alt, und stellte sich
vor: „Mein Name ist Dr. Peter Lehner und ich bin
ein Mitglied unseres Empfangskomitees. Ich
wusste, dass
ihr heute Abend ankommt. Ich lade euch zu einem
Drink ein und stehe euch eine Stunde für eure
Fragen zur Verfügung.“ Unsere Troika war
ziemlich erstaunt, aber bald hatten sie
viele Fragen.
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Dieter fragte: "Herr Dr. Lehner, es würde mich
sehr interessieren, was man über die Motive der
Neuankömmlinge
weiß? Ob die Menschen, die ankommen,
wirklich hier leben möchten oder aus ganz anderen
Gründen hierhergekommen sind ?“ Dr. Lehner
erklärte: „Es gibt verschiedene Kontingente von
Menschen, die auf die Insel ankommen. Sie zum
Beispiel sind hier, um mitzumischen; ein anderes
Kontingent sind Menschen, die einen
Arbeitsvertrag mit Firmen auf der Insel haben und
nach Hause zurückkehren werden. Es gibt auch
Menschen, die auf unsere
Insel und unsere Lebensweise neugierig sind. Sie
werden nach einer gewissen Zeit
nach Hause zurückkehren.“ Die Frage, die Lia
beschäftigte, war, ob die Gerechtigkeitsinsel über
alles verfügte, was nötig war, um
die Kolonisten zu
beschäftigen und sie bei einem gesunden Leben zu
unterstützen. Darauf entgegnete Dr. Lehner: „An
sich hat die Gerechtigkeitsinsel eine ganz normale
Gesellschaftsstruktur, und hier leben und arbeiten
Menschen wie überall im Westen. Unser
politisches System ist natürlich auf Demokratie
und Freiheit begründet. Der große Unterschied zur
übrigen Rest der Welt besteht darin, dass jedes
Mitglied unserer Gesellschaft Gerechtigkeit
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widerfahren lassen. Jeder ist für seit Tun
verantwortlich.
Aber unsere Gesellschaft ist offen! Wir sind weder
Sekte, noch Kommune. Wir sind frei, aber haben
Lebensziele. Die Probleme, die selbstverständlich
entstehen, versuchen wir auf gerechte
Weise zu lösen. Unsere Presse ist frei und hat
Zugang zu allem, was die Öffentlichkeit
interessiert, und die Rechte des Einzelnen nicht
beschneidet. Es ist klar, dass es auch Bereiche
sind, die wir der Öffentlichkeit
nicht preisgeben; darüber entscheiden spezielle
Komitees.“
15
4. Kapitel.
Der Philosoph René.
Nun vergingen drei Wochen, in deren unsere
Troika
sich
den Verhältnissen auf der Gerechtigkeitsinsel
anzupassen suchte. Lia und Dieter arbeiteten zu
ihrer Zufriedenheit in einer Firma, die
landwirtschaftliche Produkte in verschiedene nahe
gelegene Länder exportierte. Ein Teil Produkten
wurdewurde in Konservendosen verschickt. Als
Rita sich als Lehrerin bewarb, sagte man ihr,
zurzeit stünde kein freier Arbeitsplatz zur
Verfügung. Zuhause bleiben wollte sie nicht und
dachte daran, ehrenamtlich zu arbeiten, bis eine
Stelle frei würde. Auf der Gerechtigkeitsinsel, in
der Stadt Kitür, wo Lia, Dieter und Rita lebten, gab
es ein kleines Privatunternehmen, das auch einen
sozialen Bereich hatte, wo man auch
Ehrenamtliche beschäftigte und Soziale Hilfe
anbot. Rita dachte, etwas Besseres könne ihr gar
nicht passieren. Die Menschen, die mit
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verschiedenen Klagen und Problemen zu ihr
kamen, in der Hoffnung, dass hier auch geholfen
würde.
Eines Tages kam ein junger Mann zu ihr, etwa 30
Jahre alt, der - wie sich im Laufe des Gespräches
mit Rita herausgestellte - René hieß und Franzose
war. Er hatte bis vor zwei Jahren er in Paris
gelebt.
Als er noch in der Schule war, wollte er unbedingt
an der Universität Philosophie Hauptfach
studieren. Die Eltern warnten ihn, dass er nach
dem Abschluss seiner philosophischen
Studien kaum Chancen haben würde, eine Stelle zu
finden. René blieb stur, und die Warnung seiner
Eltern erwiesen sich als triftig. Er bekam keinen
Job. Dann hörte René von der Gerechtigkeitsinsel
und entschloss sich, mit seiner Freundin Marie
dorthin zu fahren. Da Marie laufend
Arbeit hatte, konnte sie sich und René ernähren.
Auch
die Eintrittsgebühr von je fünftausend Euro konnten sie aufbringen. Auf der Insel lebten, fand
wieder nur Marie Arbeit. René arbeitete nur
ehrenamtlich in verschiedenen Projekten mit und
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hielt in in verschiedenen Gruppen
philosophische Vorträge. Er wünschte sich aber
einen bezahlten Job als Philosoph. Und
das erzählte er Lia. „Aber wie soll ja Ihnen
helfen? Auch ich bin ohne bezahlte Stelle!", sagte
Lia. „Ja, aber Sie erhalten eine Pension aus ihrem
Land. Ich aber bin noch jung und muss arbeiten!
Sie müssen mir helfen. Ich habe da eine Idee, wie
ich zu einem Job kommen könnte, nur brauche ich
Ihre Unterstützung!“
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5. Kapitel.
René arbeitet hauptamtlich.
René schilderte Rita sein Vorhaben, eine
Privatschule mit ein paar Fächern - wie
Philosophie, Literatur, Sport - eröffnen.Er als
Philosoph und Rita als Literaturwissenschaftlerin
waren qualifizierte Fachkräfte. Für den Sport fände
man sicher eine Lehrkraft. Damit die Schule
bekannt würde, müsse man Geld in die
Werbung investieren. Für die Schule brauche man
Räumlichkeiten - und auch dafür müsse man Geld
antreiben. Es sei notwendig, einen Kredit
aufzunehmen. Wenn man gute Werbung mache,
finde man auch Schüler. Der Kredit werde dann
später an die Bank zurückgezahlt. Rita fragte:
„Lieber René, kannst du mir verraten, welche
Rolle in deinem Vorschlag unser wichtigstes
Prinzip, die Gerechtigkeit spielt?“ René wusste
sofort die Antwort, da auch er sich schon fragte,
was das alles mit Gerechtigkeit zu tun habe.
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„Ja“, sagte er, „auf diese Frage war ich gefasst. Du
weißt (inzwischen waren Rita und René zum Du
übergegangen), Gerechtigkeit im einfachen,
gewöhnlichen Sinn bedeutet für viele, dass
niemand
hungert, jeder seine medizinische Betreuung
bekommt und für seine Leistung gerecht bezahlt
wird.
Ich aber persönlich eine erweiterte Vorstellung von
Gerechtigkeit. Als Beispiel nenne ich etwas
ganz Anderes: Ich finde es ungerecht, wenn ich
sehe, dass viele Frauen, die älter als fünfzig Jahre
sind, ohne Partner bleiben, weil die Männer nur
wesentlich jüngere Partnerinnen suchen und
finden. Warum? Ich nenne Dir jetzt ein paar
Gründe. Wenn die Frauen jung sind, heiraten sie
oft wesentlich ältere Männer. Junge Männer aber
wollen ältere Frauen nicht. Das ist ungerecht. Das
war nur ein Beispiel. Dass ich keinen bezahlten
Job in so wertvollen Fach wie Philosophie finden
kann, scheint mir auch ungerecht. Auf diese Weise
kann man den Begriff Gerechtigkeit sehr weit
ausdehnen. Oft muss man manche bestimmte
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Begriffe weit auslegen, um sie besser zu verstehen.
Gerechtigkeit - das bedeutet auch, so viel Sinn ins
Leben
einzuführen wie möglich!“ Das waren Renés
Argumente. Rita hörte ihm aufmerksam zu und
ließ sich schließlich überreden. Wir überspringen
schnell nun Zeit und Ereignisse. Renés Projekt mit
der Privatschule, wo er als Philosoph arbeiten
konnte,
wurde
relativ
leicht
realisiert.
Kreditaufnahme, Scuhe nach Lehrern, Schülern alles klappte. Fast in allen Fächern waren die
"Gerechtigkeitsleute" als Lehrer engagiert, und wo
sie keine fanden, wurden sie aus dem "Kontingent"
für
den
1-Jahres-Vertrag (mit
Verlängerungsoption) geholt.
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6. Kapitel
Eine Diskussion über Gerechtigkeit.
Eines Tages rief Lia Dieter und Rita an, Rita hatte
auch bereits René angerufe, an und die ViererBande, die sich schon lange nicht getroffen
hatte, verabredeten sich im Café, zu plaudern. Rita
war immer schon darauf aus gewesen, bei solchen
Treffen
solle
etwas
"Vernünftiges"
herausbekommen. So sprachen sie auch diesmal
wieder über die Gerechtigkeit.
René - immerhin ein Profi - wusste, dass unter der
2002
verstorbene
John
Rawls
als
„Gerechtigkeitsspezialist“ John Rawls bekannt
war. René behauptete, laut Rawls müsse ein ein
gerechtes System für den Schwächsten von Vorteil
sein.„Was?!“, schrie Lia empört, „nein! Kommt
nicht in Frage: Wenn die Schwächsten allzu sehr in
berücksichtigt werden, werden die Schwächsten
die ganze Bevölkerung sozusagen ´runterziehen´,
sodass die begabten Menschen mit besonderen
Neigungen, die von der Gesellschaft nicht sofort
verstanden werden, demotiviert werden. Dabei
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verliert die ganze Gesellschaft, einschließlich der
Schwächsten.“
Am Nebentisch saß eine Frau, die wohl die ganze
Diskussion
mitangehört
hatte,
sagte:
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich ins
Gespräch
einmische. Ich heiße Helga und bin seit zwei
Jahren auf der Gerechtigkeitsinsel. Ich bin sogar
im Komitee, das die wichtigsten Entscheidungen
trifft. Ich dachte, dass ich zu der These von Lia ein
ausgezeichnetes Beispiel beisteuern kann.“
23
7. Kapitel
Die große Auswanderung.
Helga erzählte: „Seit zwei Jahren lebe und arbeite
ich hier. Damals beschloss das Komitee es sei
"gerecht", wenn einer mehr leistete, als andere,
ihm entsprechend
mehr Lohn zu zahlen. Das führte dazu, dass die
talentierten, fleißigen Leute und solche mit
Initiative von dieser Regel profitierten. Die
anderen, Rest der Menschen, die die
unqualifizierte Arbeit verrichteten, so wie
Arbeitslose und Kranke, bekamen wesentlich
weniger Einkommen. Anfangs wurden das
stillschweigend akzeptiert, mit der Zeit aber wuchs
die Unzufriedenheit, und sehr viele verließen
deshalb die Insel. Das Komitee sah darin keinen
Nachteil, weil es
parallel zur Auswanderung eine immens größere
Zuwanderung gab, und zwar von denjenigen
Menschen, die zur Kategorie der Tüchtigen
gehörten.
Doch dennoch eine große Anzahl von
Inselbewohnern empfanden die Situation als
24
ungerecht. Nach vielen, vielen Debatten wurde das
Gesetz geändert; Arbeitslose und Kranke
erhielten verschiedene Unterstützung - Zahlungen
und und hatten daher mehr zum Leben also zuvor.
Ihr Einkommen sollte jedoch
unterhalb des Verdienstes der aktiven, tüchtigen
Menschen bleiben. Außerdem wurde
beschlossen, dass alle aktiven Menschen sollten
dazu verpflichtet werden, den Schwachen zu
helfen. Seitdem gibt es bei uns diese Regelung,
und die Massenauswanderung ist gestoppt. Es sieht
danach aus, als ob alle damit leben könnten.“
25
8. Kapitel
Hilfsbereitschaft.
Als Helga ihre Erzählung beendet hatte, gab
es eine Diskussion über die Bedeutung von
Gerechtigkeit. Alle hatten natürlich eine eigene
Vorstellung davon. Lia sagte, zum Projekt des
Lebens auf der Gerechtigkeitsinsel gehörte, dass
die besten Voraussetzungen für ein erfülltes,
reiches und interessantes Leben geschaffen würde,
was aber nicht heißen solle, dass es nur um die
gleichmäßige Verteilung materieller Güter gehe.
Die Gerechtigkeitsinsel sei inzwischen eine sehr
reiche Region. Selbstverständlich sei sie nun
verpflichtet, nicht nur den schwachen Menschen
hier auf der Insel zu helfen, sondern auch den
Schwachen auf der ganzen Welt. Das sei aber
äußerst schwierig. Besonders schwierig sei es, zu
kontrollieren, ob die von der Gerechtigkeitsinsel
geleistete Hilfe an der richtigen Stelle ankomme
und effektiv verteilt werde. Die Hilfe sollte so
gestaltet
werden,
dass
die
schwachen,
unterentwickelten Länder schließlich ohne Hilfe
26
auskommen können. „Dafür gibt es auf der Insel
eine spezielle Kommission, die Projekte in den
unterentwickelten Ländern ins Leben ruft. Bereits
existierende Projekte werden fortgeführt, und es
wird strikt kontrolliert, daß kein Missbrauch
getrieben werden kann."
27
9. Kapitel
Die Liebe auf der Insel.
Lia war mit viel Arbeit beschäftigt, aber sie hätte
sehr gern einen festen Freund gehabt. Zuerst
dachte sie, dieses Problem sei unlösbar, und sie
wollte sich schon damit abfinden. Dann geschah
ein
Wunder:
Sie
verliebte sich und nach einigen Wochen der
Ungewissheit wurde der Mann ihrer Träume ihr
fester Freund. Lia hatte keine Zeit verloren,
sondern nach Möglichkeiten gesucht, ihre vielen
Hobbys ausüben zu können. Eines Tages ging sie
aus und beim Spazierengehen durch die Stadt
bemerkte
ein Schild,
auf dem stand:
„Nachbarschaftszentrum“. Sie schaute durch die
Fenster und entdeckte, dass das Zentrum viel für
Kinder leistete. Sie wollte schon weitergehen, als
eine
junge
Dame die Tür aufschloss, sich an Lia wandte und
fragte: „Haben Sie Interesse an unserem
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Nachbarschaftszentrum?“ „Nein“, gab Lia zur
Antwort. „Die Angebote sind leider alle nur für
Kinder!“ Aber die Dame sagte darauf: „Wir sind
für alle da, für Junge und Alte!“ „Ja, natürlich
interessiert es mich dann!“, rief Lia und betrat das
unbekannte Gebäude. Als erstes stellte sich die
Dame vor: „Ich heiße Gertrud. Ich bin hier
angestellt undfür einige unserer Veranstaltungen
verantwortlich. Ich möchte Ihnen unser Zentrum
zeigen und gebe Ihnen unser Programm für das
nächste Quartal. Wenn Sie etwas finden, das sie
interessiert, bitte, kommen Sie zu uns!“ Lia fand
tatsächlich etwas. Monatlich an jedem , jeden
letzten Donnerstag, gab es eine Buchbesprechung.
Das Buch musste man vor der Besprechung
gelesen haben. Diesmal war es Georg Kleins
Roman
„Die
Sonne scheint uns." Da Lia dies Buch schon
kannte, kam sie zur Besprechung. Ein sehr
sympathischer junger Mann
von zweiundvierzig Jahren, namens Michael,
moderierte, und Lia war begeistert! Von allem, von
dem was sie dort erlebte, war sie begeistert! Das
Buch gefiel ihr, ebenso wie den anderen
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Teilnehmern. Da waren acht belesene Männer und
Frauen, die alle wussten, wovon sie sprachen. (Lia
hatte zuvor in ihrem Leben schon oft gehört, wie
Leute,
die nichts wussten, eine Menge sagten.) Aber am
besten gefiel ihr der Moderator, der auch das
Nachbarschaftszentrum leitete. Das war ihr Typ:
Belesen, bescheiden, klug, sehr fleißig und
so weiter. Von diesem Tag an besuchte Lia, wann
immer es ihr möglich war, alle Veranstaltungen,
die Michael organisierte, zum Beispiel gab es
philosophische Plaudereien und Malkurse. Michael
bemerkte, dass Lia nicht nur an seinen
Veranstaltungen Interesse hatte. Sie machte sich
keine Illusionen und bemühte sich um
Zurückhaltung. Aber sie wusste, dass Michael
psychologische Hilfe anbot, und bat um einen
Termin. Von da an erzählte sie ihm wöchentlich,
jeweils eine halbe Stunde lang, von ihren
Problemen. Nach einem Jahr verließ Michael das
Nachbarschaftszentrum, um anderswo zu arbeiten.
Doch schickte er Lia eine E-Mail und bat sie um
ein Rendezvous. Sie konnte kaum glauben, dass sie
ihm nicht gleichgültig war. So entstand zuerst eine
einzigartige Liaison, später wurde daraus eine
wunderbare Freundschaft mit allem, wonach Lia
sich sehnte. Sie war nun die glücklichste Frau auf
der Welt.
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10. Kapitel
Gerechtigkeit und Belesenheit.
Lange Zeit arbeitete Rita (zusammen mit Dieter) in
der Fabrik für landeseigene erzeugnisse. Es lief
alles bestens, doch nach einigen Monaten wurde
Rita unruhig: Sie wollte einen Job, in dem sie
ihre Möglichkeiten besser zur Zuge kamen. In
Wien war sie in der „Sir-Karl-Popper“- PrivatSchule tätig gewesen und hatte Deutsch und
Literatur. Nach langer Suche wandte sie sich an
René. Doch die einzige Stelle, von der er
wußte, war bereits mit einem sehr kundigen
Professor besetztt! Sie rief Dieter, Lia und René
an und bat um eine Zusammenkunft. Als sie einen
Termin gefunden hatten, trafen sie sich wieder im
Café. Rita erzählte, sie empfinde es als ungerecht,
nicht in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten zu
können. "Auf unserer reichen Insel gibt es
doch genug Leute gibt, die meine Kenntnisse in
deutschsprachiger Literatur gebrauchen könnten.
31
Aber auch hier gibt es viel zu viele Leute, die die
Literatur nur als Unterhaltung betrachten. "
32
11.Kapitel
Die ausgleichende Gerechtigkeit korrigiert.
Als unsere Troika (Rita, Lia und Dieter) wieder
einmal im Café saß und über irgendetwas
diskutierte, sagte Dieter: „Ich habe zwei Thesen:
Erstens, unsere Insel, die ‚Gerechtigkeitsinsel‘
heißt,
ist
eigentlich
wie
andere
freie
Gesellschaften. Ich sehe keinen besonderen
Unterschied. Zweitens, es gibt auf der Welt
überhaupt keine Gerechtigkeit. Aristoteles sagte,
dass die austeilende Gerechtigkeit jedem geben
muss, was ihm gemäß seinem Stand zusteht. Die
ausgleichende Gerechtigkeit muss die daraus
entstandende ungerechte Verteilung korrigieren.
Was denkt ihr darüber?“ Lia meinte, auf der
Gerechtigkeitsinsel
bestehe eine
normale
Gesellschaft, aber Gerechtigkeit im weitesten
Sinne werde doch besonders beachtet, vor
allem, wenn ein Bürger sich ungerecht behandelt
33
fühle. „Das haben wir in den Fällen von Rita und
René schon erlebt, aber, lieber Dieter - wenn du
die Gerechtigkeit hier auf der Insel verbessern
willst - steige ein! Du bewirbst dich für das
Komitee. Wenn man sich dann an Dich mit
Gerechtigkeitsproblemen wendet, dann muss Du
helfen. Unsere Abgeordneten sind ständig mit
der Ausarbeitung und der Änderung der Auslegung
des Begriffs ´Gerechtigkeit´befaßt.“ „Was haben
nun Deine zweite These betrifft, muss man zuerst
den
Satz
des
Aristoteles
genauer
untersuchen: Austeilende
Gerechtigkeit muss
jedem geben, was ihr gemäß seinem Stand
zusteht." Die Gesellschaft in der Antike war
standisch gegliedert und beruhte auf Sklaverei. In
der heutigen Gesellschaft ist der ´Stand´ das, was
man seine Herkunft mitbekommt. Einige sind mit
Schönheit, Gesundheit, Vermögen beschenkt, die
anderen nicht! Aufgabe der Gesellschaft ist
es, den Nachteil der Unterprivilegierten zu
kompensieren. Das scheint am ehesten durch die
Verbesserung der Bildungschansen für alle
möglich. Wir behandeln solche Fälle aber nicht
pauschal, sondern im Einzelnen, und nicht per
34
Gesetz.“ Die Diskussion dauerte noch lange, und
Dieter beschloss, sich für die Arbeit im Komitee zu
bewerben. Nach drei Monaten wurde er ins
Komitee aufgenommen.
35
12.Kapitel.
Nicht nur Gerechtigkeit.
Eines Tages, am Freitag, wie immer, ging
Lia ins Schwimmbad, um zu schwimmen. Es war
noch früh, die Kasse, war noch geschlossen, es
hatte sich beträchtliche Schlange gebildet. Da hörte
sie (und natürlich auch alle anderen, wie eine Frau
ganz laut zu ihrer Nachbarin sagte: „Warst Du
beim Arzt, Wilhelmina ?“ „Nein“, kam leise die
Antwort. „Aber das ist sehr, sehr schlimm,
Wilhelmina!“ „Wirklich?“, wollte Wilhelmina
wissen. „Ja, sehr“. „Aber warum denn?“, fragte
Wilhelmina zitternd. „Es ist halt schlimm, basta!“
Und damit rigorose Dame endete die Unterhaltung.
Im Hallebad war es auch lustig: zwei alte, beleibte
Herren waren gerade bei der sogenannten
Düsenmassage und einer der beiden war
wahrscheinlich schwerhörig, denn er schrie dem
anderen über die Köpfe der anderen etwas zu. Lia
versuchte den Schwerhörigen zu bremsen,
verzichtete dann aber auf die Massage und war
sehr sauer! Am nächsten Tag ging sie wieder in die
Schwimmhalle. Dort sah sie beim Duschen auf
36
dem Fußboden sitzend ein winziges Baby, ein
Mädchen, und war sofort fasziniert von ihm. Das
Baby erinnerte sie an Nina, das Töchterchen ihrer
Freundin Klava, das inzwischen erwachsen war,
eine Ärztin mit zwei Kindern. Lia konnte von dem
Kind nicht lassen, und die Mutter hatte nichts
dagegen. Doch dann fiel ihr auf, daß das Kind sehr
klein war und noch nicht laufen konnte, obwohl es
schon eineinhalb Jahre alt war und sich sehr
interessiert an seiner Umwelt zeigte. Das Kind war
ein „Frühchen“, war mit sechs Monaten auf
die Welt gekommen, und hatte drei Monate im
Brutkasten
verbracht.
Aber
alle
waren
zuversichtlich, dass das es noch wachsen würde
und zu laufen lernte. Und Lia dachte: „Ich bin so
fixiert auf einen Aspekt der Gesellschaft - auf
Gerechtigkeit - dass alle andere Momente des
Lebens mir total unwichtig scheinen: die kranke
Wilhelmine; der schwerhörige Mann; das Baby,
das zu früh zur Welt kam - das sind Menschen ‚an
sich‘. Die gehen mich überhaupt nicht an! Was hat
hier die Gerechtigkeit verloren?!“ Es waren
vernünftige Gedanken.
37
13. Kapitel
Erfahrungen. Ich, Du und die Gesellschaft.
Alte Menschen sind oft sehr stolz auf ihre
Erfahrungen und hoffen, dass sie diese
Erfahrungen weiter geben können. Leider ist es so,
dass die Gesellschaft sich ändert (die Zeiten ändern
sich), und frühere Erfahrungen passen nicht in die
neue Zeit. Zudem handelt es sich vor allem um
individuelle Erfahrungen, die für andere nicht
unbedingt von Bedeutung sind. Es gibt eigentlich
nur „ich“. Wenn ich sterbe, ist die ganze Welt
gleichgültig!
38
14. Kapitel
Männliche und weibliche Schriftsteller.
Virginia Woolf hat sich einen Ruf als große
Schriftstellerin erworben. Sie steht an Bedeutung
ihrer männlicher Kollegen nicht nach. Vielleicht
ist
Virginia
Woolf
ist
eine bedeutende
Schriftstellerin, weil Ihr Schreiben typisch
weiblich ist. Die Themen, die sie vor allem in
„Orlando“ verarbeitet, sind typisch weiblich.
Aber es ist nicht nötig zu erkennen, welchem
Geschlecht der/die Autor/in zugehört. Sonst ist die
Meisterschaft eines Schriftstellers fraglich. Lia
dachte in diesem Zusammenhang daran, dass
manche weibliche Schriftstellerinnen ihren
„Bonus“ sozusagen deshalb gerade erhalten, weil
sie Frauen sind! Es gibt in der Literaturgeschichte
kaum richtig Große Schriftstellerinnen. Und hier
hat die Gerechtigkeit nichts zu suchen: Talent
bleibt Talent! Und bitte keine Quote für die
Frauen!
Eine Woche aus Lias Leben.
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Lia ist sehr daran interessiert, dass ihre Woche
"sinnvoll" verläuft. Meist gelingt ihr dies. Ihre
letzte Woche erschien ihr zum Beispiel
als "sinnvoll": Am Montag bekam sie männlichen
Besuch, der für sie lebenswichtig war. Danach
musste sie kurz ihre Schwester treffen, da diese in
der Stadt unterwegs war. Das Treffen war wirklich
schön. Am Dienstag fand eine immer an diesem
Tag stattfindende „Philosophische Plauderei“ mit
dem Thema „Was ist Kreativität?“ statt. Dann
vereinbarte sie um 12 Uhr ein Treffen mit einem
Mann, der voraussichtlich an einem
Projekt teilnehmen würde, dessen Teilnehmer
etwas dazu tun wollten, daß in Wien Robert Musil
mehr geehrt würde. Es lief ganz gut, denn Lia
versprach, sie Dr. Hafner den Bericht eines
japanischen Architekten besorgenen würde, in dem
beschrieben werden haus und Wohnung, in denen
Robert Musil einige Jahre gewohnt hatte. Dann
ging es bei dieser Besprechung noch um andere
Aktionen. Am Mittwoch unterrichtete Lia
Spanisch. Am Donnerstag musste sie eine
Seniorengruppe betreuen. Am Freitag sie auf einer
40
Reiseveranstaltung. Ihre Freundin Magda lud sie
zu einer Reise nach Ägypten! Am Samstag spielte
sie mit Peter Schach und am Sonntag arbeitete sie
ehrenamtlich im Kolpinghaus. Die Woche war
super! Jetzt, wo sie auf der Gerechtigkeitsinsel
lebte, dachte sie, dass das vielleicht noch nicht
perfekt war, schließlich war sie ja umgezogen also etwas hatte ihr in Wien gefehlt. Ja, die Frage
der Gerechtigkeit hat sie dazu gebracht, dass sie ihr
Leben total auf dem Kopf stellt. Das war der Preis
dafür, dass man das tut, was man für richtig hält,
aber sie bereute es nicht!
41
15. Kapitel
Lia.
Lia hatte einmal ein glückliches Leben gehabt (sie
war verheiratet). Ihr Mann hatte ihre Tage schön
strukturiert. Sie hatte regelmäßig guten Sex. Mit
ihrem Mann konnte sie philosophische Gespräche
führen. Um ihre Freizeitgestaltung war die beste.
War es wirklich so, oder bildete sie sich das
nur rückblickend ein?
Lia stand vor einer wichtigen, zugleich aber auch
schwierigen Aufgabe: festzustellen, wer sie ist.
Was bedeutet diese Frage: Welche Aspekte spielen
dabei eine Rolle? Ihre, Lias, Biographie ? Ihr
Charakter ? Ihre Wünsche? Ihre "Substanz"? Was
macht sie aus, womit unterscheidet sie sich
besonders von anderen Menschen? Warum bindetr
sie sich (gedanklich, seelisch und aufwertend) so
sehr an eine ganz spezielle männliche Person, die
sie wertvoller findet als sich selbst? Liebt sie sich?
Aber ja! Hier hat Lia überhaupt keine Zweifel. Ab
42
und zu tut es ihr leid, wenn etwas nicht so läuft,
wie sie es sich wünscht. Sie ist meist ein
glücklicher Mensch. Nun versucht sie zu klären,
was ihre "Substanz" ausmacht. Sie lebt intensiv,
denkt viel an Dinge und Geschehnisse, die mit ihr
zu tun haben. Wie sie intensiv denkt, fühlt sie
auch. Sie lebt sehr bewusst, ja viel zu viel, und
denkt, dass ihr das Schlafstörungen verursacht. Hat
sie genügend Selbstrespekt? Nein. Aber das
bedeutet nicht, dass sie sich nicht liebt! Sie liebt
sich, obwohl sie sich nicht genug achtet.
43
16. Kapitel
Langfristige Ziele.
Lia musste einer Dame
langfristigen Ziele sie hat.
berichten,
welche
1. Lia schreibt an einem Buch; der ursprünglicher
Titel lautete: „Gerechtigkeitsinsel“
2. Sie setzt sich das Ziel, ihr Körpergewicht auf
sechsundsechzig Kilo zu reduzieren; zurzeit wiegt
sie achtundsechzig Komma fünf Kilo.
3. Sie will weiter Philosophie treiben, egal in
welcher Art: in Gruppen, allein oder privat.
4. Sie möchte jeden Tag so gut gestalten, dass sie
am Ende des abgelaufenen Tages sagen kann:
„Der vergangene Tag war sinnvoll.“
44
5. Da Lia unter Schlaflosigkeit leidet, möchte
sie versuchen, damit fertig zu werden.
6. Lia beschäftigt sich mit dem Projekt „Robert
Musil in Wien“.
Inzwischen war, wie bereits erwähnt, etwas ganz
Außerordentliches passiert: Von einer Freundin
war Lia acht Tage nach Ägypten eingeladen
worden.
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17. Kapitel
Lia und ihre Psychoanalytikerin.
Lia bekam von ihrer Psychoanalytikerin Gerta die
Aufgabe erhalten, darüber nachzudenken, warum
sie einerseits Sehnsucht nach einem Leben mit
einem wirklichen Partner hatte, andererseits aber
froh war, nur Alibi-Lover zu haben. Sie ist froh,
dass sie keinen Partner zu suchen braucht. Lia
wusste, daß das ein Widerspruch war, denn der
Lover war zwar nur ein Lover, nahm aber ein in
ihrem Körper kontinuierlich Platz, was ihre
Passivität in bezug auf die Partnersuche
ermöglichte. Hier könnte man fragen: „Lia, wenn
du angeblich froh und glücklich bist mit
Deinem Lover, wozu brauchst du einen
Psychoanalytikerin?“
Die Antwort ist: Lia suchte Hilfe bei Gerta (der
Psychoanalytikerin) um ihre Persönlichkeit zu
stärken, unabhängiger von ihrem Lover zu werden.
Worin besteht diese Abhängigkeit? Sie besteht
darin, dass sie ihr „Ich“ nicht genug schätzt,
unabhängig davon, ob
der Lover
ihr
46
Aufmerksamkeit schenkt oder nicht. Lia spürte ihn
in sich und wollte trotzdem so viel wie möglich
„Ich“
sein. Inzwischen hatte sie fünf oder sechs
Sitzungen mit Gerta und spürte, dass sie ihr gut
taten. Nun zurück zum Widerspruch: Trotz des
"Alibi-Lovers", war die Partnersuche auch dadurch
behindert, dass Lia in ihrem Alter keine Chance
sah, jemanden zu finden; und zwar weil:
1. Das Verhältnis von Frauen zu Männern 1:100
ist.
2. Wenn Lia den Partner mit zweiundvierzig und
später nicht fand, wieso jetzt auf einmal finden?
3. Partnersuche ist kein Gegenstand der
psychoanalytischen Gesprächen , es sollte sie ihn
in eine unnötige Sackgasse führen.
Aus der Erfahrung mit den Sitzungen von Magister
M.O. wusste Lia, dass sie Persönlichkeitsstärkung
brauchte
und
keine
Veränderung ihrer Situation.Lia hat Sehnsucht
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nach manchem
Unerreichbaren.
Sie hatte diese Sehnsucht schon mit
fünfundzwanzig Jahren und sie bleibt ihr wohl bis
zu ihrem Tode. Gleichwohl will Lia das Beste aus
ihrem Leben machen.
48
18. Kapitel
Die graue Maus?
Es gibt viele Gründe, dass Lia sich als eine graue
Maus gefühlt hat. Zum Beispiel, weil sie alt und
weniger wichtig geworden ist. Aber wenn sie sich
zusammennahm, um sogenannte schwere Arbeiten
zu
erledigen, war sie keine graue Maus mehr. Es gab
schwere und leichte Sachen. "Sachen" waren das,
was Lia interessierte, was aber Willenskraft von ihr
verlangte, um es erledigen zu können. Ja, sie wäre
ungern eine graue Maus, aber sie fühlte sich oft so,
und ihr Ziel war es, es keine zu sein. Wollte sie
das erreichen, mußte sie sich überwinden, etwas
Wertvolles zu tun, doch fehlte ihr es an
Willenskraft. Jede Überwindung dieser Art feierte
Lia (hinterher) als einen Sieg. Auch wenn es sich
nicht um eine große Sache handelte.
Lia hat etwa zehn Hobbies; die meisten gehören in
die "Schwierig" Kategorie. Aber oft hatte Lia keine
Lust, zu tun was ihren Lebenssinn ausmachte (das
waren eben diese zehn Hobbies). Lia wusste, sie
49
musste es tun. Aber von allein ging es nicht. Also
musste sie sich überwinden, denn dann würde sie
keine
graue
Maus
mehr
sein.
Die
Psychoanalytikerin fragte Lia, ob sie auch in der
Vergangenheit, als sie jünger war, das Gefühl
gehabt hatte, eine graue Maus zu sein. Ja, das war
sie gewesen, aber es bezog sich damals nicht
darauf, dass sie nichts Wichtiges machte, sondern
dass sie bei den Jungs nicht ankam, keinen Erfolg
hatte.
Nun sagte die Psychoanalytikerin, dann wird es
Lia, da sie alt geworden sei, leichter fallen, aus der
Rolle der „Grauen Maus“ auszusteigen.
50
19. Kapitel
Dr. Banner.
Lia hat einen Mann kennengelernt, der den Titel
„Doktor“ trug. Man muss wissen, dass sie eine
Schwäche für die Leute hatte, die so einen Titel
trugen. Dabei war ihr immer bewusst, dass der
Titel keine Garantie war, dass der Mensch
tatsächlich auch wirklich klug war. Also mündete
eine neue Bekanntschaft in eine neue
Enttäuschung. Es lief nämlich so ab: Als Lia nach
Wien kam, übernahm sie aus Langweile einige
Tätigkeiten, die mehr oder weniger ihren
Interessen entsprachen. Literatur, Sprachen etc.
Eines Tages musste sie feststellen, dass in Wien
ihr Lieblingsschriftsteller Robert Musil, der
immerhin siebzehn Jahre in Wien gelebt hatte, zu
wenig Anerkennung fand. Nur in Klagenfurt
wurde er wirklich geschätzt. „Also“, dachte Lia,
„jetzt habe ich neues Feld gefunden, wo ich etwas
Gutes und Interessantes machen kann.“ Sie schrieb
Briefe, machte persönliche Besuche und wandte
sich an Wiener Instanzen, die ihr weiterhelfen
51
könnten. Sie träumte von einem Café mit dem
Namen „Robert Musil“, wo regelmäßige Treffen
zum Thema "Robert Musil": Lesungen, Die gute
Reaktion auf ihre Briefe kam daraufhin aus
Klagenfurt. Sie erfuhr, dass in Wien ein Dr.
Banner lebte, der Interesse für Robert Musils
Andenken in Wien zeigte. Schon beim ersten
Treffen wusste sie schon, dass dieser Dr.
Banner ein Versager ist; Zu dieser Kategorie
zählten diejenigen Leute, die aus Sicht Lias nichts
geschafft hatten, obwohl sie schon das reife Alter
erreicht haben.Sie ließ aber nicht
locker und versuchte mit ihm zu
einer Zusammenarbeit zu kommen. Sie trafen sich
mehrfach, aber dann zeigte sich, dass Dr.
Banner Lia für andere, nämlich seine Projekte
gewinnen wollte. Da Dr. Banner ein Historiker war
über Richard Wagner recherchierte, wollte er Lia,
die kaum vier Jahre in Wien lebte, beantragen, für
ihn Vorträge in Frankfurt und im Russischen
Kulturinstitut in Wien zu organisieren, wozu sie
keine Möglichkeiten hatte.
52
20. Kapitel
Die vierte Tugend.
Gerechtigkeit ist eine vierte Tugend (die ersten
drei: Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung)sind seit
der Antike. Bei Aristoteles ist die Gerechtigkeit
die wichtigste Tugend in Bezug auf die
"Gemeinschaft". Als austeilende sorgt sie für eine
gerechte Verteilung der Güter und Ehren. Als
ausgleichende ist sie Korrektiv für erlittenen
Schaden. Im Zentrum von John Rawls „Theorie
der Gerechtigkeit“ steht die Frage, nach welchen
Grundsätzen die Rechte und Freiheiten der Bürger
zueinander stehen und die Verteilung der Güter in
einer Gesellschaft geregelt werden können. Um
dies
zu
klären, argumentiert
Rawls
vertragstheoretisch: Wir stellen uns einen
Urzustand vor, in dem die Menschen
zusammenkommen, um die Grundregeln ihrer
künftigen Gesellschaft zu entwerfen. Um das
moralische Prinzip der Unparteilichkeit zu
53
gewährleisten, befinden sich die Personen im
Urzustand
hinter
einem
„Schleier
des
Nichtwissens“, das heißt, sie kennen ihre eigenen
Fähigkeiten, sozialen Positionen etc. noch nicht.
Aus diesem Grund würden sie sich für eine
Gesellschaftsstruktur
entscheiden,
die
die
möglichen Interessen aller berücksichtigt. Set
würden zwei Prinzipien festgelen:
1. Jeder soll das gleiche Recht auf das
umfangreichste
System
gleicher
Grundfreiheiten haben, das mit
dem eben diesem System alle anderen
verträglich ist.
2.
Soziale
und
wirtschaftliche
Ungleichheiten sind so zu gestalten,
dass
a) vernünftigerweise zu erwarten ist,
dass sie zu jedermanns Vorteil dienen,
und daß
b) sie mit Positionen und Ämtern
verbunden sind, die jedem offenstehen.
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(Das zweite Prinzip, das sogenannte
Differenz-Prinzip, legt fest, dass
soziale Ungleichheiten nur dann
legitim sind, wenn sie für die
Schwächsten von Vorteil sind).
Es kommt zu einem folgendem Eklat: Das
Komitee entscheidet sich für den Gegensatz zu
Rowls zweitem Prinzip. Daraufhin wandern die
„Schwächeren“ scharenweise aus der Stadt Kitür
aus. Die übrigen sind gleichwohl zufrieden, denn
die
„Schwächeren“
werden durch
neue
Einwanderer ersetzt, die erstaunlicherweise auf die
Insel drängen, und durch „Vertrags-Kräfte“.
Dennoch wird das Gesetz geändert. sodass die
Schwächeren werden
zwar relativ großzügig behandelt, sollen aber nicht
besser gestellt sein, als die normalen
Bürger. Die Normalen sind verpflichtet, den
„Schwächeren“ zu helfen.
55
21. Kapitel
Abschied.
Gestern gab es ein Abschiedsfest für Theo, er hat
einen Job gefunden für die begrenzte Dauer von
einem Jahr auf einer entfernten, uns weitgehend
unbekannten Insel, deren Namen ich auch nicht
behalten habe. Es gab daher Essen, Musik und
Tanz; Theo spielte noch auf seiner Klarinette und
er erzählte uns von seiner Stimmung: freudvolle
Erwartung, Neugierde, Jubel, aber auch
Anspannung und Trauer. Jeder von uns gab danach
seine eigenen Gefühle zu diesem ungewöhnlichen
Ereignis bekannt. Ob mit Worten („Du wirst viel
neues erleben und kennenlernen!“, „Nur Mut!“,
„Vergiss deine Nase nicht!“ oder „Ja, ich werde
dich vermissen!“), ob mit Tönen aus Instrumenten
in allen Schattierungen, Lautmalereien wie in
einem Tierpark, ob mit Tanz und Komik, jeder,
wie er oder sie es eben am besten kann. Zuletzt gab
es, wie es in unserer Gegend üblich ist, Sprüche.
Jedem, der eine Zeitlang von uns fortgeht (und
manch einer blieb es auch dauerhaft) wurde ein
56
Hut voll Sprüchen hingestellt, der von jedem von
uns wenigstens einen enthielt: Gute Wünsche,
Anregungen, weise Sprüche aus unserer Erfahrung
und auch manche Sprüche, die noch nicht von uns
erprobt wurden fanden sich darunter. Vielleicht
aber gibt die Ferne, nach alter Weise auch gern
Fremde genannt, die Gelegenheit dazu. Die
Sprüche sollten ihn an uns erinnern, ihm Trost sein
im Fremdsein, Hilfestellung in ratlosen Zeiten
geben und manchmal einfach vergessen werden,
um unbefangen eine neue Erfahrung zu machen.
Alle von uns werden von Kind an dazu angeleitet,
unsere eigenen Sprüche, Leitlinien, Mantras oder
sogar Gebete zu schaffen und sich für eine gewisse
Zeit einen dieser Leitsätze davon vorzunehmen
und damit von früh bis spät und sogar nächtens zu
leben, sie vorzusagen, zu summen, zu singen, zu
tanzen, einzubauen ins alltägliche Sein und Tun.
Einmal im Monat gibt es einen Sprüchetag, wo
jeder seine Erfahrungen damit kundtut: als
Erzählung, als Lied darüber, als Kunstwerk,
welches die Erfahrung ausdrückt, und so weiter.
Niemand wird dazu gedrängt. Jeder aber
beschäftigt sich damit; alle richten ihr gesamtes
57
Sein nach Sprüchen aus. Wir denken, jeder braucht
seine Zeit, und manchmal dauert es Jahre bis etwas
reif geworden ist. Dies sind die Regeln, die das
Fundament unserer Gesellschaft ausmachen; ohne
sie zu leben wäre uns unmöglich, sie gar
umzustoßen völlig undenkbar. Und als Theo, unser
Nesthäkchen aus der Handwerkergilde, (er hatte
gerade seine Ausbildung zum Installateur
abgeschlossen), laut vorlas, was er so gezogen
hatte, gab es wie immer ein lautes Gejohle mit all
den passenden und unpassenden Kommentaren
dazu. Meiner lautete: „Was ist gerecht?“ Die
Anmerkung löste eine vergnügliche Darstellung
des Wortes aus... alle sprangen gerecht verteilt mit
dem rechtem Fuß nach rechts und manch einer fiel
dabei auch nach rechts und noch viel anderes
Gerechtes fiel vor. Als „Dorfhexe“ (so werde ich
genannt) freute ich mich natürlich, dass er die
Gerechtigkeit gezogen hatte (ich hatte zur
Sicherheit drei dieser Sprüche in den Hut getan),
denn die Insel, auf der er ein Jahr arbeiten sollte,
hatte als besonderen Schwerpunkt ebendiese... und
insgesamt hatten wir schon lang darüber gerätselt,
uns darüber lustig gemacht, nachgedacht und
58
vorgedacht... Und dies alles mit Bedacht unbedacht
überdacht... und wir waren schon sehr gespannt,
welche Erfahrungen unser philosophischer Zu-und
Abwasser, Heizungs- und Belüftungsfachmann
dort mit der Gerechtigkeit machen würde...
59
22. Kapitel.
Theo kommt zur Gerechtigkeitsinsel.
Nach einem prachtvollen und gefühligen Abschied
von seinen Freunden fiel es Theo gar nicht
leicht, endlich alles zur Reise in die weite Welt
vorzubereiten und tatsächlich von Wien
wegzufahren. „Was kommt auf mich zu?“, dachte
er. Sicher, wurde auf der Gerechtigkeitsinsel
jemand zum Hafen geschickt, der Theo im
Empfang nahm. Diesmal war Lia. Schon auf dem
Weg zu seiner Unterkunft wurde über den Begriff
"Gerechtigkeit" diskutiert. Es stellte sich heraus,
dass Lia und Theo ganz
verschiedene
Vorstellungen davon hatten. „Na gut“, sagte Lia,
„wir haben in der nächsten Woche sowieso eine
60
Diskussion, an der alle, die Interesse haben,
teilnehmen.
61
23. Kapitel.
Das gerechte Maß oder Gerechtigkeit in allen
Lebenslagen; welche Parameter gelten?
Als Theo nach ein Tagen auf der Insel zu der
Diskussion kam, kamen etwa 50-60 Teilnehmer.
Alte, junge, Frauen, Männer - alles war vertreten.
Eine Frau, die Teo bisher noch nicht kennengelernt
hatte, eröffnete die Diskussion. „Heute haben wir“,
sagte sie, „das Thema: Das gerechte Maß oder
Gerechtigkeit in allen Lebenslagen; welche
Parameter gelten?" wir haben uns schon mit
diesem Thema vielleicht beschäftigt, aber man
muss immer wieder von neuem anfangen, da neue
Leute kommen, sich die Zeiten sich geändert
haben. In der letzten Zeit haben wir einige Leute
neu aufgenommen und sie haben bestimmt
Interesse, zu erfahren, wie die, die bereits
‚Ureinwohner‘ geworden sind, das Thema
Gerechtigkeit
verstehen
und
wie
sie
dementsprechend handeln. Heute“, sagte die Frau,
gibt es sozusagen nur um die Theorie, aber wir
handeln jeden Tag danach. Falls etwas schiefgeht
beim Handeln, haben wir das Kommitee oder die
62
Kommission, die versucht, die Gerechtigkeit zu
schaffen.
Am Anfang des Abends möchte ich nur ein paar
Punkte nennen, die ich persönlich für wichtig
halte, und dann kann sich jede zum Thema äußern.
Gerecht ist, wenn die Leistung gerecht anerkannt
wird (in Geld, in Beförderung, als Dank für etwas,
das nicht bezahlt werden kann usw.). Im Wort
Leistung ist Vieles verborgen: nicht nur die
Leistung am Arbeitsplatz, was
am besten zu beurteilen ist, sondern auch die
ehrenamtliche Leistung oder alles, was auf unserer
Insel gemacht wird.“
63
24. Kapitel.
Brief an Theo von Zuhause.
„Lieber Theo,
wir finden es sehr spannend, wie du uns im
Dunklen lässt, worüber man ja streiten könnte, ob
dies gerecht ist.
Bei uns herrscht nur mehr Rätselraten ob der
Frage, unter welche Form der Gerechtigkeit dein
derzeitiges Domizil gefallen ist. Soweit wir
(richtig?) verstanden haben, gibt es eine
Oberhoheit, ein Konsortium, Hüter der gerechten
Ordnung, Gerechtigkeitspolizei, oder was deren
Namen noch alles sein könnte... Aber sonst?
Bekommt ihr alle gleichviel Lohn, oder gibt es
nach wie vor die Mehrwertigen? Wenn ja, mit
welcher Begründung? Oder habt ihr vielleicht
schon das grundeinkommen, wo wir gerade dabei
sind? Und natürlich kann jeder dazuverdienen,
soviel er will, aber nicht ohne Reflexion...das
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tägliche Leben ist vielleicht ein Rollenspiel?
Kannst du dich noch an Max erinnern: Er wollte
unbedingt Banker werden in der großen weiten
Welt. Da wir seine Ausbildung aus unserem
Gemeinschaftstopf bezahlt haben, darf er einen
Teil seines Gehalts wieder zurückzahlen. Wir
klagen nicht, ordern kein Gericht, sondern hoffen
einfach, dass er seinen Verpflichtungen
irgendwann nachkommt, außer es gibt einen
Notfall, da werden er und andere einfach
kontaktiert und an ihre Verpflichtungen erinnert.
Manche halten dies für ziemlich rigoros, ein
bisschen borniert dürfen auch wir sein. Sind die
Versammlungen ähnlich unseren? Sind sie auch so
kreativ gestaltet? Wie auch immer, es braucht
keiner woanders hinzugehen, wenn er
dort dasselbe hätte wie zu Haus. und wir sind
immer bereit, unser Gemeinschaftsleben mit neuen
Eindrücken zu bereichern. Wann schickst du uns
endlich welche?
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25. Kapitel.
Die Antworten.
Theo hörte all dem zu, was geredet wurde. Aber
irgendwie war es ihm unbehaglich, denn die
Fragen, die auf der Seele lagen, blieben ihm
unbeantwortet. Er meldete sich zum Wort und
sagte: „Sehr geehrte Damen und Herren!
Es war sehr schön Ihnen zuzuhören, aber ich habe
einige Fragen, die ich gerne stellen würde in der
Hoffnung, dass sie direkt beantwortet werden.“
Danach stellte er seine Fragen und erhielt
auch
Antworten
von
verschiedenen
Inselbewohnern,
nicht
nur
von
Kommissionsmitgliedern. Er erfuhr, daß es auf der
Gerechtigkeitinsel eine Kommission gibt, die sich
einschaltet, wenn jemand sich beschwert. Die
Kommission versucht selbst eine Entscheidung zu
treffen, aber manchmal wird auf demokratischer
Ebene die Lösung gesucht: Dann erläutert die
Kommission den Sachverhalt und bittet um Hilfe
bei der Entscheidung.
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Auf der Gerechtigkeitsinsel gibt es kein
Grundeinkommen. Man darf dazuverdienen, kein
Problem, aber die Steuer muss bezahlt werden! Die
Grenze des Möglichen wird eingehalten. Theo
übrigens kam auf die Insel, nur um Geld zu
verdienen, ohne großes Interesse an der
Gerechtigkeit. Inzwischen jedoch will er hier
bleiben! Er fand somit großen Gefallen an den
gesellschaftlichen Verhältnissen auf der Insel. Die
Gerechtigkeit beschränkt sich nicht nur auf
Geldverteilung, sondern auf andere Bereiche des
Lebens, wie schon während der ersten Kapitel des
Buches mit Hilfe von Beispielen mitgeteilt wurde.
Was die Pflicht oder auch Verpflichtungen betrifft,
so ist es selbstverständlich, dass diese bestehen,
und die, die ihnen nicht nachgehen, aus diesem
Grund entweder in Pools für soziale Arbeiten
landen, oder schlussendlich gebeten werden, die
Insel zu verlassen.
67
Epilog.
Alles hat ein Ende - so hat auch dieser Roman ein
gutes Ende. Lia hat noch an unzähligen Tätigkeiten
auf der Insel teilgenommen. Ihr Leben war so
aufregend, dass sie oft vergaß sich zu fragen:
„Hallo, Liebe Lia, und was ist mit dem Sinn des
Lebens? Ist wirklich alles, wie es sinnbringend sein
sollte? Bist du auf deinem Platz? Vielleicht
müsstest du eigentlich etwas anderes und das
woanders tun?“ Eines Tages kam Lia tatsächlich
zu dem Schluss, dass etwas Anderes passieren
muss! Ja, sie hatte eine neue Idee entwickelt: sie
dachte, es wäre nicht verkehrt, dass sie eine neue
Firma gründet, die zwar eine Produktion abliefern
würde (es mussten nicht unbedingt Gegenstände
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sein; ihre Firma konnte auch ein reiner
Dienstleistungsbetrieb werden); wichtig aber war
Folgendes: Von Anfang an, bei der Gründung
schon, würde groß erklärt und geschrieben, dass
für die neue Firma die Gerechtigkeit als
Hauptmotivation
am
wichtigsten,
als
Arbeitsprinzip, als Ziel ist. „Ich möchte“, dachte
sich Lia, „dass alle Mitarbeiter die Kunden gerecht
bedienen und dass sie ebenso miteinander gerecht
umgehen.
Das
ist
überhaupt
nicht
selbstverständlich auf unserer Insel. Klar ist, dass
die Insel eine Gerechtigkeitsinsel ist, aber dennoch
gibt es Infrastruktur für unsere Inselgesellschaft,
und dort ist noch nicht alles so funktionell, dass
man sagen könnte, es sei perfekt (im Sinne der
Gerechtigkeit). Meine Firma dagegen wird alles
aus dem Aspekt der Gerechtigkeit tun!“ So dachte
Lia. Und sie begann, die Projektdetails
auszuarbeiten; als sie wusste, was das Wesentliche
(Außer Gerechtigkeit als dem wichtigsten Prinzip)
war, und zwar, was die neue Firma bestimmte
(wird unterschiedliche Dienstleistungen anbieten,
von
Putzdiensten,
Krankenpflege
bis
Managerberatung), hatte Lia schon den ersten
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Schritt gemacht: Sie hatte an alle Firmen auf der
Insel, die auch Dienstleistungen anboten, Briefe
und Emails abgeschickt, in denen sie die Eröffnung
angekündigt, das Prinzip der Gerechtigkeit
unterstrichen, und darum gebeten hatte, dass die
anderen Firmen ihre Firma nicht als Konkurrenz
betrachten sollten. „Wir werden nur das machen,
was die anderen Firmen noch nicht gemacht
haben!“ So versprach es Lia. Ja, das Leben ging
immer weiter. Die Firma hatte sich entwickelt,
schrieb schwarze Zahlen. Auch das Privatleben
Lias lief gut. Alles hatte sich zu Lias Zufriedenheit
entwickelt.
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