MB4_Vernetzung

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> Vernetzung von Flussökosystemen
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Wörter: ca. 22‘700 Zeichen (inkl. Leerschläge); Unterstrichen: Glossarbegriffe
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Silke Werth, Maria Alp, Julian Junker, Theresa Karpati, Denise Weibel, Armin Peter, Christoph
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Scheidegger
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Eine grundlegende Eigenschaft von Fliessgewässern ist, dass sie hierarchisch gegliedert sind. Jeder
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Abschnitt macht ein Teil des Ganzen aus und wird von anderen beeinflusst. Kenntnis der Vernetzung
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ist die Voraussetzung, um lokale und regionale Prozesse in Fliessgewässern zu verstehen. Die
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Berücksichtigung der Vernetzung ist wichtig für die erfolgreiche Durchführung von
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Flussrevitalisierungen.
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Was ist Vernetzung, und warum ist Vernetzung wichtig?
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Der Begriff Vernetzung beschreibt die Austauschprozesse und Interaktionen zwischen aquatischen
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und/oder terrestrischen Lebensräumen; dazu zählen der Transport von Wasser, Geschiebe, Energie,
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Nährstoffen sowie der aktive oder passive Transport von Organismen. Wir verwenden diesen Begriff
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hier enger gefasst für die Durchgängigkeit von Fliessgewässern für den Transport bzw. die
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Ausbreitung aquatischer und terrestrischer, flussbegleitender Organismen.
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In Bezug auf die Vernetzung ist es wichtig, zwischen struktureller und funktioneller Vernetzung zu
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differenzieren. Lebensräume können rein strukturell miteinander vernetzt sein, etwa durch Korridore –
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Landschaftsstrukturen, die in der Theorie die Wanderung von Organismen von einem Lebensraum
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zum nächsten ermöglichen. Die Lebensräume sind aber erst dann funktionell vernetzt, wenn diese
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Korridore tatsächlich von den Zielorganismen als Wanderungsrouten angenommen werden und wenn
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Genfluss stattfindet. Revitalisierungen haben grundsätzlich zum Ziel, die natürlichen Funktionen der
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Fliessgewässer wiederherzustellen – damit also auch den Grad an Vernetzung, der für natürliche
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Fliessgewässer charakteristisch wäre.
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Die longitudinale Vernetzung bezeichnet den Austausch mit den Lebensräumen flussaufwärts und
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flussabwärts innerhalb desselben Einzugsgebiets, und zwischen Hauptfluss und Zuflüssen (Abb. 1,
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Uehlinger, 2001). Longitudinal vernetzte Fliessgewässer sind durchgängig für verschiedene
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Organismengruppen und ermöglichen die Wanderungen von Fischen wie etwa der Seeforelle, Nase
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oder Barbe ebenso wie die Samenausbreitung von Pflanzen. Auch Fische mit kürzeren
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Wanderungsdistanzen (Bachforelle, Groppe etc.) und andere aquatische, amphibische und
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terrestrische Organismen sind auf eine funktionierende longitudinale Vernetzung angewiesen. Die
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longitudinale Vernetzung von Flusshabitaten ermöglicht den Fortbestand und die Neugründung von
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Populationen und den genetischen Austausch zwischen Populationen entlang von Fliessgewässern
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und ihren Zuflüssen, und ist somit entscheidend für die Populationsentwicklung und das Überleben
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vieler Organismen.
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Unter der lateralen Vernetzung versteht man die seitliche Anbindung eines Fliessgewässers via
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Ökoton (Übergangszone zwischen Lebensräumen, hier zwischen aquatischen und terrestrischen) an
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die Uferzone, die Auenhabitate und andere terrestrische Lebensräume (Abb. 1). Die laterale
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Vernetzung von Flüssen mit terrestrischen Habitaten des Uferbereichs und der weiteren Umgebung
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spielt eine wichtige Rolle für den Austausch zwischen diesen Systemen sowie für einzelne
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Lebensphasen bestimmter Organismengruppen (z.B. Amphibien, Arthropoden, aquatische Insekten).
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Weil terrestrische und aquatische Nahrungsketten eng zusammenhängen, hat eine Unterbrechung der
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lateralen Vernetzung negative Auswirkungen auf verschiedenste Organismengruppen – auf
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räuberische Arten (z.B. Vögel, Fische, Wirbellose) sowie auf Arten, die auf einen Eintrag von
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Laubstreu vom Uferbereich angewiesen sind (z.B. Bachflohkrebs).
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Die vertikale Vernetzung beschreibt die Wechselwirkungen zwischen dem Fliessgewässer und dem
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Hohlraumsystem in den vom Fluss abgelagerten Sedimenten dicht unterhalb des Oberflächenwassers
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(„hyporheisches Interstitial“), sowie zwischen bodenbewohnenden und das Freiwasser bewohnenden
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Artengemeinschaften (Abb. 1). Vertikal vernetzte Systeme sind einerseits wichtig für die Entwicklung
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verschiedener Organismen, vor allem für Fische und Wirbellose, und andererseits für die In- und
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Exfiltration des Grundwassers.
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Genfluss, Migration und Populationsmodelle
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Die Vernetzung zwischen Populationen der am und im Fliessgewässer lebenden Lebewesen
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beeinflusst auch den genetischen Austausch (den sogenannten Genfluss) zwischen Populationen
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(Abb. 2). Genfluss findet statt, wenn Individuen sich in einer Population fortpflanzen, in welche sie
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eingewandert sind, und so zum Genpool (zur Gesamtheit der Genotypen in einer Population)
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beitragen. Andererseits hinterlassen viele Ausbreitungsereignisse keine Spuren im Genpool,
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beispielsweise wenn eingewanderte Individuen abwandern oder sterben, bevor sie sich fortgepflanzt
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haben. Da Arten unterschiedliche Ausbreitungsfähigkeiten besitzen und mehr oder weniger spezifisch
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in ihrer Wahl der Lebensräume sind, wurden mehrere theoretische Modelle formuliert, um die
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Vernetzung zwischen Populationen zu beschreiben (Tab. 1).
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Manche Arten bilden in Teilen ihres Verbreitungsgebiets zusammenhängende Populationen, während
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sie an anderen Orten kleine, isolierte Bestände oder Metapopulationen aufweisen – so zum Beispiel
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die Tamariske in der Schweiz.
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Barrieren
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Die Vernetzung von Flusshabitaten aus Sicht der im und am Fliessgewässer lebenden Organismen
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wird durch natürliche und menschgemachte Barrieren beeinträchtigt. Welche Struktur effektiv eine
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Barriere darstellt, hängt von der Organismengruppe ab. Beispielsweise kann eine mehrere Meter hohe
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Staustufe im Fliessgewässer von aquatischen Insekten mit geflügelten Adultstadien problemlos
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überwunden werden, während sie die flussaufwärts gerichtete Wanderung der Fische sowie der
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flügellosen aquatischen Wirbellosen wie etwa der Bachflohkrebse, Muscheln und Egel verunmöglicht
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(MB Blockrampen). Flussabwärts beeinträchtigen manche Barrieretypen die Drift, d.h. den passiven
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Transport von Organismen mit dem Wasser. Diese ist eine wichtige Art der Ausbreitung für das
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Makrozoobenthos, aber auch die Verteilung von Fischen wird von ihr beeinflusst. Die Drift ist
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verantwortlich für die Besiedlung flussabwärts gelegener Standorte nach Hochwasserereignissen, und
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spielt daher eine entscheidende Rolle für die Entwicklung und Strukturierung der Artengemeinschaften
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des Makrozoobenthos. Barrierewirkungen können jedoch auch durch spezielle Situationen im
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Gewässer entstehen, z.B. durch ungenügenden Abfluss oder sehr schnell fliessende Abschnitte
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(meist hart verbaut). Für terrestrische, flussbegleitende Organismen können Staudämme oder
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kanalisierte Flussabschnitte mit fehlenden Auen- und Kiesbankbereichen Barrieren darstellen, die die
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Ausbreitung und den Genfluss dieser Arten behindern (Abb. 4, 5).
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Distanz und Strahlwirkung
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Die Distanz zwischen Standorten stellt für viele ausbreitungslimitierte Arten eine Art Barriere dar -
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eine sogenannte „weiche Barriere“, die also nicht völlig unüberwindbar ist. Dies kann ein Problem sein
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für Spezialisten, die selten anzutreffende Lebensraumtypen bewohnen, wie zum Beispiel die
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Tamariske, die auf einen räumlichen Verbund von Kiesbänken verschiedener
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Hochwasserwiederkehrzeiten und Sukzessionsstadien der Vegetation angewiesen ist. Diese Habitate
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sind in der vom Menschen veränderten Flusslandschaft selten geworden. Für Arten wie diese sind
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Revitalisierungsprojekte nur dann erfolgversprechend, wenn sie in der Nähe von Quellpopulationen
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durchgeführt werden.
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Die Strahlwirkung beschreibt die positive Wirkung eines Strahlursprungs auf angrenzende
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Gewässerbereiche. Als Strahlursprünge werden Gewässerabschnitte mit Lebensgemeinschaften
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und/oder Populationen bezeichnet, die als Quellpopulationen für die Besiedlung geeigneter
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angrenzender Lebensräume dienen (Abb. 2). Der Ausbreitungsweg der Organismen wird auch
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Strahlweg genannt, welcher durch Massnahmen zur Verbesserung der Vernetzung verlängert oder
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intensiviert werden kann.
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Räumlich-zeitliche Aspekte der Vernetzung
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Die Vernetzung von Fliessgewässern kann sich im Jahreslauf mit dem Abfluss verändern. Wenn
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Flüsse abschnittsweise trockenfallen, sei dies natürlicherweise oder weil Wasser für die Bewässerung
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von Feldern entnommen oder für die Energiegewinnung zurückgehalten oder abgeleitet wird, ist die
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Vernetzung für aquatische Organismen nicht mehr gewährleistet. Dies ist insbesondere dann
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gravierend, wenn Individuen migrieren oder wenn Ausbreitungseinheiten wie z.B. Samen reif sind.
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Fällt die Ausbreitung aufgrund mangelnder Vernetzung aus, unterbleibt die Gründung neuer
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Populationen, die insbesondere für Metapopulationen entscheidend ist, aber auch bei anderer
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Populationsdynamik eine wichtige Rolle spielt. Dies kann im Extremfall langfristig zum lokalen
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Aussterben des Bestandes einer Art in einem Einzugsgebiet führen.
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Vernetzung und Genfluss
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Barrieren können sich stark auf die Genflussmuster der aquatischen und der terrestrischen,
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flussbegleitenden Arten auswirken. Wird der Genfluss über mehrere Generationen unterbunden, kann
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es durch die Isolation vor allem bei Arten, welche in kleinen Populationen auftretenden, rasch zu einer
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genetischen Differenzierung von Teilpopulationen kommen. Während Phasen mit kleiner
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Populationsgrösse kann durch genetische Drift viel der ursprünglichen genetischen Vielfalt von
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Populationen verloren gehen. Bei grossen Populationen dauert es hingegen viele Generationen, bis
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eine genetische Differenzierung nachzuweisen ist und die genetische Vielfalt massgeblich verringert
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wird (Hartl & Clark 1997).
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Genetische Struktur der Populationen zweier aquatischer Arten an der Sense
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An der Sense wurden drei aquatische Arten mit unterschiedlichen Ausbreitungsstrategien untersucht
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(Abb. 3):
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 Ein Bachflohkrebs (Gammarus fossarum), der kleine Distanzen durch kriechen (flussabwärts
und flussaufwärts) oder driften (nur flussabwärts) zurücklegt.
 Eine Eintagsfliege (Baetis rhodani), die sich als Larve wie der Bachflohkrebs ausbreitet, aber
auch eine adulte fliegende Phase hat und somit Barrieren im Fliessgewässer überwinden kann.
 Die Groppe (Cottus gobio), ein aktiv schwimmender Fisch, der Barrieren im Fliessgewässer
(z.B. künstliche Stufen) ab ca. 0.5m nicht überwinden kann.
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Die aquatischen Arten Groppe und Bachflohkrebs zeigten einen viel geringeren genetischen
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Austausch zwischen Populationen als die Eintagsfliege, die in ihrer Ausbreitung im Sensegebiet nicht
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limitiert zu sein scheint und dort eine zusammenhängende Population bildet. Die Barrieren im
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Fliessgewässer manifestieren sich bei dieser Art nicht in der genetischen Struktur (Abb. 4).
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Bei der Groppe stellte man einen Einfluss von in den letzten 100 Jahren in der Sense gebauten
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Barrieren fest (Abb. 4B). Diese verhinderten die Wanderung der Groppen flussaufwärts, was sich in
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einer genetischer Verarmung widerspiegelt – oberhalb der Barrieren wurde eine niedrigere Anzahl
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Allele und ein niedrigerer Heterozygotiegrad gemessen als unterhalb – sowie in einer Differenzierung
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der Groppen oberhalb und unterhalb von Barrieren.
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Der Bachflohkrebs und die Groppe zeigten im Sensegebiet räumlich strukturierte Populationen (Abb.
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4), wo nah bei einander gelegene Populationen einen ähnlicheren genetischen Hintergrund aufweisen
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als solche, die weiter entfernt voneinander sind. Das deutet auf eine geringe Ausbreitungskapazität
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dieser Arten hin.
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Genetische Struktur terrestrischer Arten an der Isar
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An der Oberen Isar in Süddeutschland wurden zwei terrestrische Arten mit unterschiedlicher
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Ausbreitungsstrategie untersucht (Abb. 3).
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 Der Kiesbankgrashüpfer (Chorthippus pullus) ist eine in der Schweiz vom Aussterben bedrohte
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Heuschreckenart. Als Kurzflügler hat der Kiesbankgrashüpfer ein niedriges
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Ausbreitungspotenzial.
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 Die in der Schweiz potentiell gefährdete Tamariske (Myricaria germanica) ist eine
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flussbegleitende Pflanzenart, die auf Kiesbänken und im Auenbereich entlang von
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Fliessgewässern vorkommt und auf dynamische Flussökosysteme angewiesen ist. Diese Art
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pflanzt sich mit kleinen, flugfähigen Samen fort, die weit über Wind oder Wasser ausgebreitet
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werden können.
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Beim Kiesbankgrashüpfer stellten Stauseen Barrieren für den Genfluss zwischen Populationen
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oberhalb und unterhalb von Stauseen dar (Abb. 5A). Der Flussabschnitt zwischen beiden Stauseen
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fiel zwischen 1949 und 1990 jeden Sommer aufgrund von Ausleitungen trocken. Beim
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Kiesbankgrashüpfer wurde in diesem Flussabschnitt eine unerwartet grossräumige genetische
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Durchmischung nachgewiesen. Die geringen Abflussmengen förderten eine Vernetzung der
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terrestrischen Standorte und somit auch die Durchmischung der Populationen dieser Art.
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Für die Tamariske fanden wir deutliche Unterschiede in der genetischen Zusammensetzung von
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Populationen oberhalb und unterhalb von Stauseen (Abb. 5B). Das bedeutet, dass Stauseen für diese
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Pflanzenart schwer überwindbare Barrieren darstellen, obschon die Tamariske dank ihrer durch Wind
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und Wasser verbreiteten Samen ein hohes Ausbreitungspotential hat.
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Förderung der Vernetzung
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Um die Vernetzung zwischen den Lebensräumen am Fliessgewässer zu fördern, ist es entscheidend,
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eine weitgehend naturnahe Dynamik der Abflüsse und des Geschiebehaushalts wiederherzustellen,
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indem dem Fliessgewässer mehr Raum gegeben wird für natürliche Prozesse. Dies wird jedoch nur
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dann zu einer wirklichen Verbesserung des Fliessgewässers führen, wenn genügend Geschiebe
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vorhanden ist. Falls dies nicht der Fall ist, ist zu überprüfen, ob man den Geschiebehaushalt durch die
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Entfernung von Barrieren oder durch andere Massnahmen verbessern kann (MB Dynamik).
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In der Praxis können gezielte Massnahmen die Vernetzung der Flusslandschaften in der Schweiz
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fördern und verbessern (Tab. 2). Bei der Planung von Revitalisierungen ist die Distanz zu
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Quellpopulationen der Zielorganismen zu beachten, sowie deren Populationsgrösse. Revitalisierte
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Flächen werden nur dann erfolgreich besiedelt, wenn sie innerhalb der maximalen
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Ausbreitungsdistanz der Zielarten gelegen sind. Ausbreitungsdistanzen unterscheiden sich stark
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zwischen Artengruppen (Tab. 3). Wenn eine Zielart im Gebiet, welches revitalisiert werden soll, nur in
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kleinen Populationen vorkommt, ist es zweckmässig, diese Art zunächst lokal zu fördern, bis sie
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grössere Bestände gebildet hat, und erst in einem zweiten Schritt Revitalisierungen nahe bei den
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Quellpopulation durchzuführen.
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Empfehlungen für die Praxis
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Bei Flussrevitalisierungen im Zusammenhang mit der longitudinalen Vernetzung von Gewässern ist
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generell zu berücksichtigen, dass die revitalisierten Strecken mit möglichst naturnahen bzw.
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natürlichen Flussabschnitten vernetzt werden. Zur Verbesserung der longitudinalen Vernetzung
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können in manchen Fällen anstelle von Querbauwerken Blockrampen gebaut werden. Diese helfen,
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bestimmte Flussabschnitte für Fische und andere aquatische Organismen durchgängig zu machen.
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Beim Bau von Blockrampen ist das Gefälle zu beachten, denn Rampen mit steilem Gefälle sind
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aufgrund der hohen Fliessgeschwindigkeiten für schwimmschwächere Fischarten unüberwindbar (MB
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Blockrampen).
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Wichtig für die longitudinale Vernetzung der Fliessgewässer ist eine Anbindung der Seitenzuflüsse
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(MB Seitenzuflüsse). Eine Anbindung der Seitengewässer an naturnahe Hauptgewässer kann bei
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Revitalisierungen zu raschen Erfolgen führen, wie zu einer Erhöhung der Artenzahlen der aquatischen
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Fauna innerhalb kurzer Zeit. So wurde etwa die Anzahl der Fischarten des Liechtensteiner
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Binnenkanals durch die Vernetzung mit dem Hauptgewässer Alpenrhein im Zuge einer Revitalisierung
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von sechs Arten auf 16 erhöht.
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Die Auenstandorte sollten durch Revitalisierungen miteinander vernetzt werden. Dabei ist auf den
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Raumbedarf vieler Auenarten zu achten: Für die vollständige Durchführung ihres Lebenszyklus
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benötigen viele Arten verschiedene Habitate, und dies oft in räumlicher Nähe. Amphibien benötigen
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nicht nur Standorte wie Altarme zur Eiablage und Juvenilentwicklung, sondern auch solche, wo sie
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sich ausserhalb der Reproduktionssaison aufhalten, wie etwa Hecken und Gebüsche beim
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Laubfrosch.
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Die laterale Vernetzung kann gefördert werden, indem den Fliessgewässern Raum für eine
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weitgehend naturnahe Dynamik gegeben wird (MB Dynamik), und indem Uferzonen naturnah
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gestaltet werden durch das Entfernen von Betonstrukturen und Seitenverbauungen, wo immer
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möglich. Ausserdem sollten bei Revitalisierungen die Kiesbänke und Auwälder als wichtige
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Lebensräume gefördert werden. Für die Uferbereiche ausserhalb des Dynamikbereichs ist das
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Tolerieren von Uferbestockung, respektive je nach Standort eine extensive Bewirtschaftung mit einem
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Mosaik von bestockten und offenen Flächen wichtig. Das Instrument dazu ist die Ausscheidung eines
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ausreichenden Gewässerraums mit einem nicht oder extensiv genutzten Uferstreifen, was für die
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Vernetzung zwischen aquatischen und terrestrischen Lebensräumen von grosser Bedeutung ist.
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Die vertikale Vernetzung wird durch Massnahmen verbessert, die den Bächen und Flüssen zu einem
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naturnahen Geschiebehaushalt verhelfen und die einer „Verklebung“ der Sohle durch feinkörnige
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Sedimentablagerungen entgegenwirken – zu viel Feinsedimente führen zu einer verringerten
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Durchlässigkeit der Sohle, so dass kein Austausch mit dem hyporheischen Interstitial möglich ist. Bei
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Fliessgewässern, die aufgrund von Wasserkraftwerken im Oberlauf ein verändertes Abflussregime
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und dadurch eine durch Feinsedimente verklebte Sohle besitzen, können "künstliche Hochwasser" in
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Erwägung gezogen werden; es muss jedoch beachtet werden, dass es dann zu einem allmählichen
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An- und Absteigen des Wasserstandes kommt, so wie es in Wildflüssen mit entsprechender Breite
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des Flussbetts der Fall ist. Fliessgewässer mit betonierter Sohle können aus ihrem „Korsett“ befreit
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werden, so dass sie wieder Geschiebe führen, und eine vertikale Vernetzung mit dem hyporheischen
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Interstitial ermöglicht wird. Diese Massnahmen können den Wasserhaushalt zwischen Fliessgewässer
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und Umland verbessern und sie fördern auch Fischarten, die eine kiesige Sohle zum Laichen
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brauchen wie die Bachforelle.
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Literatur
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Hartl DL, Clark AG (1997) Principles of population genetics. Sinauer, Sunderland.
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Pollux BJA, Luteijn A, Van Groenendael JM, Ouborg NJ (2009) Gene flow and genetic structure of the
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aquatic macrophyte Sparganium emersum in a linear unidirectional river. Freshw. Biol., 54, 64-76.
Tero N, Aspi J, Siikamaki P, Jakalaniemi A, Tuomi J (2003) Genetic structure and gene flow in a
metapopulation of an endangered plant species, Silene tatarica. Mol. Ecol., 12, 2073-2085.
Uehlinger U (2001) Vom Bachabschnitt zum Einzugsgebiet. Die ökologische Bedeutung räumlicher
und zeitlicher Heterogenität. EAWAG news 51, 16-17. Link:
http://www.eawag.ch/publications/eawagnews/www_en51/en51d_pdf/en51d_uehl.pdf
Werth S, Weibel D, Alp M, Junker J, Karpati T, Peter A, Scheidegger C (eingereicht)
Lebensraumverbund Fliessgewässer: Die Bedeutung der Vernetzung. Wasser Energie Luft.
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4 Vernetzung von Flussökosystemen
# TABELLEN#
Tabelle 1. Populationsmodelle für terrestrische und aquatische Organismen der Flusslandschaften. Die Abbildungen folgen Tero et al. (2003) und Pollux et al.
(2009).
Modell
Bild
Charakteristik
Beispiele
Priorisierung von
Massnahmen
 Tamariske im
Isolierte
Entlang eines Flussabschnitts können die Populationen einer
Populationen
Art genetisch völlig isoliert sein; kein genetischer Austausch
Schweizer Mittelland
findet statt. Dieses Populationsmodell gilt für extrem seltene
 Kiesbankgrashüpfer am
Arten, die an Flussläufen in kleinen Beständen anzutreffen
sind.
Räumlich
Gene und Individuen der Arten, die diesem Populationsmodell
strukturierte
folgen, bewegen sich vornehmlich zwischen räumlich
Populationen
benachbarten Beständen. An verschiedenen Flussabschnitten
kommen daher genetisch unterschiedliche Bestände vor.
1. Förderung der Arten, dort
wo sie noch vorkommen.
2. Evtl. Wiederansiedlungen,
Vorderrhein
aber nur wenn geeignete
 Bachforellen in
Lebensräume vorhanden
abgekoppelten
sind, und nur mit lokalem
Seitengewässern
Material.
 Bachflohkrebs und
Groppe an der Sense
 Schwarzpappel im
Schweizer Mittelland
1. Bestände müssen entlang
der gesamten Länge des
Fliessgewässers erhalten
bleiben.
2. Longitudinale Vernetzung.
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4 Vernetzung von Flussökosystemen
Metapopulationen
Wenn die Bestandsentwicklung einer Art von häufigem
Erlöschen alter Bestände und Populationsneugründungen
gekennzeichnet ist, spricht man von einer Metapopulation
(oben). Bei Metapopulationen muss die Zahl der
Neugründungen von Beständen das lokale Erlöschen von
 Tamariske am Vorderund Alpenrhein
 Kleiner Rohrkolben im
Rheindelta
 Alpen-Knorpelsalat
Beständen übersteigen, sonst sterben die Arten lokal aus.
(Chondrilla
Bei durch Wasser ausgebreiteten Arten ist es möglich, dass
chondrilloides)
die Ausbreitung vermehrt flussab erfolgt (unten). In diesem Fall
sind die Quellpopulationen an den Oberläufen zu schützen.
 Kiesbankgrashüpfer
(Chorthippus pullus)
1. Soviele grosse Bestände
einer Art wie möglich im
Einzugsgebiet erhalten.
2. Revitalisierungen nah bei
existierenden Beständen.
3. Longitudinale Vernetzung
beachten.
4. Dynamik beachten.
5. Quellpopulationen erhalten
und ggf. fördern.
Zusammen-
Die Arten, die diesem Populationsmodell folgen, sind gute
 Purpurweide
hängende
Ausbreiter, die neue Standorte über grosse Distanzen hinweg
 Silberweide
weitgehend intakt sind, sind
Populationen
kolonisieren können. Viele dieser häufigen Arten können auch
 Eintagsfliege an der
keine Massnahmen nötig;
dann von Revitalisierungsmassnahmen profitieren, wenn diese
weit von anderen Beständen durchgeführt werden.
Sense (Baetis rhodani)
 Schwarzpappel an der
1. Solange die Habitate
ansonsten Massnahmen zur
Habitatverbesserung.
Rhone (Wallis)
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4 Vernetzung von Flussökosystemen
Tabelle 2. Massnahmen, die zur Verbesserung der Vernetzung führen.
Ziel
Massnahme
Zu beachten
Profitierende Arten
Longitudinale
Ersetzen von
Gefälle;
 Fische
Vernetzung
Querverbauungen durch
Anbindung an
 Makrozoobenthos
Blockrampen;
naturnahe
 Arten der Aue und
Revitalisierung von
Flussabschnitte
Kiesbänke
 Der Mensch
Flussabschnitten
Laterale
Ufer und ufernahe
Raumbedarf des
 Fische
Vernetzung
aquatische Standorte
Fliessgewässers
 Makrozoobenthos Arten
naturnah gestalten;
der Aue und Kiesbänke
 Der Mensch
Verbauungen entfernen;
Auwald wiederherstellen
Vertikale
„Ökologisches Fluten“ von
Dynamischer
 Fische
Vernetzung
Restwasserstrecken;
Abfluss;
 Makrozoobenthos
Entfernen der künstlichen
Raumbedarf des
Sohlenverbauungen
Fliessgewässers
Wasserpflanzen
 Evtl. Arten
nahgelegenener
Feuchtgebiete
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4 Vernetzung von Flussökosystemen
Tabelle 3. Maximale Ausbreitungsdistanzen verschiedener Artengruppen (Werth et al. eingereicht).
Gruppe
Artengruppe
Maximaldistanz
Amphibien
Frösche, Kröten und Unken
Amphibien
Molche
Fische
Karpfenartige
Fische
Lachsfische
Insekten
Heuschrecken
1km
Insekten
Libellen
5km
Mollusken
Muscheln
Mollusken
Schnecken
0.9-3km
Pflanzen
Blütenpflanzen
8-50km
1-4km
0.5-1km
58-446km
126km
10km
13
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