Alle geschenkten Worte sind unterstrichen, sodass ihr kontrollieren könnt, ob ich Euer Wort in der Story ohne Namen auch nicht vergessen habe. Teil 1 als Vorgabe: Laut und rhythmisch trommelte der Regen auf das Blechdach über ihm. Durch den Lärm des Regens war er nicht sicher, ob das Pfeifen des Windes nachgelassen hatte. Es schien, als seien bereits Stunden vergangen, die er kauernd und wartend hier verbracht hatte. Sein Rücken, der an der nackten und kahlen Wand lehnte, begann quälende Schmerzen auszusenden. Dabei war es gleich, wie er sich drehte, die Pein blieb die gleiche, zu sehr hatte die Kälte sich in seinen Gliedern breitgemacht. Seine Gedanken kehrten zum Anfang des heutigen Tages zurück, von dem er niemals gedacht hätte, dass er in einem solchen Fiasko enden sollte. Als er heute früh die Augen geöffnet hatte, schien die strahlende Sonne, die sich durch die Ritze seiner Vorhänge schmuggelte, einen wunderbaren Tag zu versprechen. Teil 2 Woche 1/2013 Vom Duft des Milchkaffees angelockt, war er ins Badezimmer geschlurft, wo er sich einen Spritzer Wasser ins Gesicht warf, sein Spiegelbild kontrollierte, zufrieden nickte und die Treppe zum Speisesaal hinunterging. Es waren bereits viele Tische besetzt und die anwesenden Hotelgäste verbreiteten mit ihren Unterhaltungen eine muntere Gesprächskulisse. Er nahm an einem kleinen Tisch nahe der Personaltoilette Platz, lauschte, ein Gähnen unterdrückend, dem Singsang um ihn herum. Das Frühstücksbuffet des noblen Hotels, vor das er einige Minuten später trat, war eine wahre Augenweide. Neben den üblichen Lebensmitteln wie Brötchen, Eier, Wurst, Käse und Zerealien wurden bereits zu dieser frühen Stunde eine große Anzahl an weiteren Köstlichkeiten angeboten. Er fragte sich, wer zum Frühstück Lammbraten oder Gyros essen konnte, ihm drehte sich allein bei der Vorstellung der Magen. Den angebotenen Kuchen und Torten schenkte er einen längeren Blick, bevor er beschloss, dass er im Augenblick keine Gelüste nach Schokoladentorte, Linzer Torte, Cupcakes oder mit Nougatschokolade überzogenem Apfel hatte. Er nahm sich lediglich zwei Scheiben Brot, ein gekochtes Ei sowie eine Butter und zwei Sorten Marmelade in kleinen Plastikverpackungen. Er liebte es, in Hotels, anders als zu Hause beim Frühstück, alles in Einzelportionen zu bekommen, obschon ihm durchaus bewusst war, dass er den Berg Verpackungsmüll, damit mit anwachsen ließ. ‘Sei’s drum’, dachte er, aß seine Brote und genoss sein Frühstücksei in wachsweich. Für den Nachmittag war eine Exkursion in die Berge geplant, zwei Tage Natur pur, die er bereits von Deutschland aus gebucht hatte. Er ging nach oben, packte Kleidung zum Wechseln in seinen kleinen Koffer und überlegte, ob er alles Notwendige dabei hatte. Im Gebirge, das fast ständig in Nebel gehüllt war, konnte es sehr kalt werden. Der zuständige Scout für seine Reisegruppe hatte die Teilnehmer gebeten, für alle Wetterlagen ausgestattet zu sein. Er faltete ein schwarzes Cape, an dem noch das Preisschild baumelte, zusammen, legte es zuoberst ins Gepäck, für Regenwetter gewappnet schloss er den Koffer und machte sich auf den Weg in die Lobby. Einige Mitreisende standen bereits in Grüppchen zusammen und unterhielten sich angeregt. Er gesellte sich zu einem Ehepaar, das schweigend nebeneinanderstand. “Guten Morgen”, begrüßte er die beiden und streckte Ihnen die Hand zur Begrüßung entgegen. “Gehören Sie auch zu der Gruppe, die die Tour in die Anden macht?” Beide nickten zustimmend. “Ich heiße Tom”, stellte er sich vor. “Ursula und Matthias”, antworte die Frau mit grauem Kurzhaarschnitt. “Ja, wir fahren auch mit. Haben Sie alles dabei? Wir haben gehört, dass es heute Nacht sogar Schnee geben könnte” Tim erschrak und ging im Geiste nochmals den Inhalt seines Koffers durch. Ja, die dicke Jacke und der Pullover sollten ausreichen, falls sie tatsächlich Wintertage im Gebirge anstehen sollten. Ein lautes Poltern riss ihn aus dem Resümee des Vormittags. Er starrte auf die eiserne Tür und erkannte, dass von unten Licht durch die Ritze fiel. Sie kamen zurück! Wenn ihm doch nur klar werden würde, warum man ihn ganz alleine in diese Hütte gesperrt hatte. Er vermutete, dass die anderen Tour Teilnehmer noch gar nicht bemerkt hatten, dass er fehlte. Von draußen hörte er, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde, er hielt den Atem an und ließ die Tür nicht aus den Augen. Quietschend schwang sie zurück, er erkannte einen großen in schwarz gekleideten Mann, auf dessen Jacke ein Emblem mit Drache prangte. Eine tief in die Stirn gezogene Mütze und eine Sonnenbrille machten es Tom unmöglich, den Mann zu erkennen. Er zeigte auf ihn und gab ihm ein Zeichen ihm zu folgen. In Toms Kopf flogen die Gedanken wild durcheinander, er war unfähig sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu bewegen. Der Mann wiederholte ungeduldig seine Geste und trat einen Schritt auf ihn zu. Noch immer hielt Panik Tom in ihren Klauen, er versuchte, sich aus dem prickelnden Gefühl zu lösen und auf den Mann zu zugehen. Doch sein Körper blieb regungslos, paralysiert. Die Augen weit aufgerissen erkannte er, dass der Fremde ein Kantholz hinter seinem Rücken hervorholte. Im selben Augenblick spürte er den Schlag an die Schläfe, der ihn zu Boden gehen ließ. Sanfte Bewusstlosigkeit legte sich über ihn. Ursula suchte den Rastplatz mit ihren Augen bereits das dritte Mal ab, um Tom zu entdecken. Er war nicht hier, doch wie konnte das sein? Sie ging vorsichtig zu ihrem Mann, der einige Meter weiter an einer Feuerstelle saß. Der Boden war glatt wie eine Skipiste, am Himmel konnte sie nur einen einzigen Stern erkennen, was bedeutete, dass tatsächlich mit erneutem Schneefall zu rechnen war. “Hast du Tom irgendwo gesehen?”, fragte sie, stellte sich neben Matthias und rieb ihre Hände vor dem Feuer. “Nein, ich glaube nicht, warum?” Sie zuckte die Schultern: “Irgendwie kann ich ihn nirgends entdecken. Er saß doch in dem grünen Jeep am Ende des Konvois, oder?” Matthias nickte, zog fluchend seine Hand von der Feuerstelle und rieb sich den Daumen. “Heiß”, kommentierte er und schaute sich um. “Vielleicht ist er noch ein Stück spazieren gegangen” entgegnete er nickte bekräftigend. “So ein Quatsch“, rief Ursula genervt, “bei diesen Bodenverhältnissen macht man keinen Spaziergang. Ich gehe los und gebe dem Scout Bescheid, wärme Du dich weiter auf!” Sie stapfte in Richtung der Hütten, in dem sie ihren Fremdenführer vermutete und murmelte: “Nur nichts unternehmen oder einen Blick auf Mitmenschen haben. Das sieht dir ähnlich, altes Wurstgewitter, überall und nirgends richtig. Vielleicht noch ein paar Erdäpfel in die Glut, damit Du nicht Hunger leiden musst” Ursula stieß es sauer auf, wenn ihr Mann so scheinbar teilnahmslos durchs Leben segelte. Raoul stand vor einer der Hütten, hielt eine Karte in der Hand und deutete auf einen Punkt. “Dort liegt unser Ziel für morgen”, erklärte er den Umstehenden und kringelte den Punkt mit einem Bleistift ein. “Hat jemand von Ihnen Tom gesehen?” Sein Kopf dröhnte, als er die Augen aufschlug. Selbst der schlimmste Kater in seinem bisherigen Leben hatte es vermocht, ihm solche Schmerzen zu verursachen. Benommen wandte er sich zur Seite und sah sich um. In seiner Nähe erkannte er einen Stuhl und einen Tisch, auf dem ein Schlüsselanhänger in Form einer riesigen Raupe ohne einen einzigen angehängten Schlüssel lag. Daneben standen ein Lehmkrug und ein Becher. Tom stand auf, wankte zum Tisch, goss sich Wasser ins Glas und trank gierig. Er versuchte, sich an die Szene vor seiner Ohnmacht zu erinnern und zu ergründen, was ihn in diese Lage gebracht haben könnte. Er fand keine Lösung, die ihm das Warum annähernd erklärte. Was er wusste, war, dass man ihn gezielt von der Reisegruppe getrennt hatte. Er war der einzige Mitfahrer im grünen Wagen gewesen, die anderen Touristen saßen in den Autos vor ihm, als sein Fahrer an einer Abzweigung scharf nach rechts von ihrer Route herunter fuhr. Nach kurzer Strecke waren sie über eine kleine Brücke an die Hütte gelangt, in die er geschubst und eingesperrt wurde. ‘Konnte es sich um eine Entführung handeln? Bei ihm? Unmöglich, die Kleinigkeiten an Geld, die ihm zur Verfügung standen, passten in jedes größere Spardose. Eine Verwechslung? Schon eher!’ Tom ging zurück in die Zimmerecke und lehnte sich gegen die kalte Wand. ‘Warum war er nun in einen anderen Unterschlupf gebracht worden? Waren sie entdeckt worden und Hilfe nahte?’ Schwindel und Hunger ließen Tom resigniert die Augen schließen. ‘Ich kann nichts tun, nur abwarten’, dachte er und schloss erschöpft die Augen. Ursula ging in die ihnen zugeteilte Hütte, nachdem sie mit Raoul über das Verschwinden von Tom gesprochen hatte. Schnell hatte der Scout erkannt, dass tatsächlich eines der Fahrzeuge nicht auf dem Platz geparkt war. Er versprach, sich sofort auf den Weg zu machen und nach Tom Ausschau zu halten. Ausgerüstet mit einem Satellitentelefon und Walkie-Talkie sprang er in einen der Autos und fuhr davon. “Schauen sie bitte, dass die Gruppe hier zusammenbleibt”, rief er Ursula zu und fuhr davon. Matthias lag in einer Hängematte, die vor einem Ofen aufgehängt war und sah auf ein Blatt Papier in seiner Hand. Ursula zog eine Augenbraue nach oben, sie wusste sofort, was ihr Mann in den Händen hielt. “Du hast es tatsächlich mitgenommen? Nach Chile, in die Anden? Ich glaube, dass du ein wenig übertreibst, oder?” Er zog eine beleidigte Miene und erwiderte: “Und ich glaube, dass du mir diesen Triumph einfach nicht gönnst. Sonst würdest du verstehen, warum ich es mitgenommen habe!” “Mit einem Spielplan der A-Jugend durch die halbe Welt fliegen, nur weil man einen Pokal gewonnen hat? Nein, sorry, es tut mir leid, aber das kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Das ist fast so, als nähme man ein Räuchermännchen mit, um für eventuelle Weihnachtsdekorationen gerüstet zu sein.” Matthias schnaubte: “Klar, das kann man absolut miteinander vergleichen.” Er zeigte ihr den Vogel. “Meine Sache, meinen Stolz darüber wirst Du nie verstehen. Ich versuche auch gar nicht mehr, es Dir zu erklären. Dein Gemaule geht mir auf den Wecker und ich möchte nichts mehr davon hören. Erzähl mir lieber, was Raoul gesagt hat!” “Er hat mir zugestimmt, nachdem er festgestellt hat, dass das grüne Auto fehlt. Er ist losgefahren, um ihn zu suchen”. Matthias ließ sich aus der Hängematte auf den Boden und legte seinen Plan auf dem Tisch ab: “Lass uns auch nochmal nach ihm schauen, was denkst du?” “Nein, Raoul hat ausdrücklich gesagt, dass wir alle hierbleiben und auf ihn warten sollen.” “Es kann doch nicht schaden, wenn wir uns zumindest an den Rand unseres Lagers wagen und schauen, ob wir irgendeine Spur von ihm finden, oder?” Ursula nickte und drehte sich Richtung Tür: “Na dann lass uns los, aber wirklich nur in der nahen Umgebung, versprochen?” “Klar, oder meinst du ich habe Lust mich hier zu verirren und auf irgendwelchen dornigen Pfaden nach dem Nachhauseweg zu suchen.” Gemartert erwachte Tom aus einem unruhigen Schlaf, sein Mund war trocken, es fühlte sich an wie Tapetenkleister auf seiner Zunge, als er versuchte zu schlucken. Mühsam richtete er sich auf, streckte seine Glieder und ging erneut zum Wasserkrug. Nachdem er ein ganzes Glas in einem Zug geleert hatte, erkannte er, dass er sich seine Vorräte ein bisschen besser einteilen sollte. Was, wenn tagelang niemand mehr kam, um nach ihm zu sehen? Er setzte sich auf den Stuhl, griff nach dem Schlüsselhänger und betrachtete ihn eingehender. Warum eine Raupe? War dies in Chile eine Art von Glücksbringer, wie dies bei uns ein Schornsteinfeger, Kleeblatt oder Glücksschwein war? Er wusste es nicht, wunderte sich aber darüber, welchen Gedankengängen er folgte, denn im Zusammenhang mit seiner vielleicht aussichtslose Situation erschienen sie ihm eher abstrus. War dies ein normaler Vorgang im Gehirn, wenn man sich in Extremsituationen befand? Ein Mechanismus der Gedanken um einen Mietvertrag mit der Normalität zu schließen, damit man nicht verrückt wurde und handlungsfähig blieb? Teil 3 Woche 2/2013 Sonderbar, welche Umwege das Gehirn machte, um sich der Aussichtlosigkeit einer Lage zu entziehen. ‚Ich muss nachdenken‘, ermahnte er sich und versuchte, seine Augen offen zu halten. Vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, gingen Ursula und Matthias auf einem der Pfade, der sich hinter dem Camp nach oben schlängelte. Sie riefen Toms Namen und starrten in die Dunkelheit, die sich herab gesenkt hatte. „Lass uns zurück gehen und anderswo nachschauen“, schlug Matthias vor und machte auf dem Absatz kehrt. „Schon? Wir sind doch gerade erst losgegangen?“ „Stimmt, aber wir waren uns einig, dass wir uns nicht so weit vom Camp wegbewegen, und bei dieser Dunkelheit und dem Schnee kommen wir ohnehin nicht viel weiter“, erklärte er entschlossen. „Du hast recht, vielleicht ist Raoul schon zurück und weiß mehr.“ Matthias nickte, was Ursula nur erkennen konnte, weil die Taschenlampe in seiner Hand ebenfalls auf und ab ging. Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her: „Es ist mir ein Rätsel, wie er überhaupt abhandenkommen konnte. Ich meine, das muss Raoul doch bemerkt haben. Ich würde meine Schäfchen durchzählen, wenn ich eine Reisegruppe zu führen hätte, oder?“ „Sicher, aber vermutlich macht er so etwas so oft, dass er einfach nicht dran gedacht hat. Du schaust dir ja auch nicht jedes Mal die Klobrille an, bevor Du Dich darauf niederlässt!“ Sie erreichten das Camp, das von einigen Fackeln erleuchtet wurde. Alle Mitreisenden schienen sich nicht weiter um das Verschwinden von Tom zu kümmern und waren in ihren Hütten verschwunden. Auch von Raoul fehlte jede Spur. „Deine Vergleiche sind wie immer sehr treffend“, rief Ursula und ging in Richtung ihrer eigenen Behausung. „Darauf trinke ich ein Glas Rotwein und nehme mir vor, mein Toilettenverhalten gründlich zu überdenken.“ Matthias grinste breit: “Gute Idee, ich komme mit und hoffe, dass Raoul zu uns kommt, wenn er von seiner Suche zurückgekehrt ist.“ Während Ursula ihre Hüttentür öffnete, setzte Schneefall ein. 4 Monate zuvor Tom freute sich, endlich am Bahnhof zu stehen. Er hatte befürchtet, dass die Diskussion in der Firma zu lange und heftig würde und er seinen Zug verpassen könnte. Doch er hatte es geschafft und freute sich auf das Wochenende. Die Hochzeit seiner kleinen Schwester, das Wiedersehen mit der gesamten Familie, eine schöne Kulisse im Frühling, ja, das hatte er sich nach der langen und anstrengenden Woche verdient. Bevor er zu seiner Familie auf Burg Rabenstein stieß, wo die Feierlichkeiten in und um den Pferdestall stattfinden sollten, wollte er es nicht versäumen, sich den versteinerten Wald in Chemnitz anzuschauen. Er hatte bereits mehrfach darüber gelesen, ihn aber noch nie in natura bestaunt. Seinen zukünftigen Schwager mochte er und freute sich, dass er Tatjana auserwählt hatte. Sie lebte eher zurückgezogen und er war glücklich, dass dieser Bücherwurm seinen Deckel gefunden hatte. Jens, ein eher offener Typ, hatte seine Schwester Tatjana dazu gebracht, der Welt ein wenig mehr von sich zu zeigen. Der Zug rollte ein und riss ihn aus seinen Gedanken. Er stieg ein, suchte seinen reservierten Platz und machte es sich bequem. Das Buch, das ihm seine Kollegin auf die Schnelle geliehen hatte, lag zugeschlagen auf seinem Schoss. Er war keine Leseratte wie seine Schwester, und wie man Gefallen an einem Buch haben konnte, das sich mit Vampirismus beschäftigte, blieb ihm schleierhaft. „Breaking Dawn“, murmelte er sarkastisch und steckte die Leihgabe zurück in seinen Koffer. Müde streckte er die Beine aus und schaute durch das Fenster auf die vorbeifliegende Landschaft. Sie passierten eine von Büschen mit Schneebeeren umringte Skateranlage, die schon bessere Tage gesehen haben musste. Außer einem gelangweilt aussehenden jungen Mann, der auf einer der Bänke Platz genommen hatte, war der Platz verwaist. Einige Minuten später passierte der Zug eine Wohnsiedlung, die sehr nahe an den Gleisen erbaut worden war. In den Fenstern sah er, wie er dachte, Hunderte von Orchideen. Tom musste über die Eigenart mancher Menschen schmunzeln, sich im Orchideenzüchten gegenseitig Konkurrenz zu machen. Im letzten Block der Anlage bemerkte er einen Tulpenstrauß in einem Fenster, der ihn daran erinnerte, dass er noch einen Blumenstrauß für Tamara besorgen musste. Der Bahnhof von Chemnitz kam nach einer weiteren Stunde Fahrt in Sicht. Schon von weitem sah er, dass es hier geregnet haben musste. Viele der abgestellten Räder waren mit einer Fahrradgarage abgedeckt, sodass sie wie bunte Farbkleckse aus dem trüben Grau herausstachen. ‚Hoffentlich haben die beiden morgen nicht so ein Wetter‘, dachte er, nahm seinen kleinen Koffer und ging zum Ausgang des Abteils. Raoul schwitzte, obwohl es um ihn herum immer kälter wurde. ‚Was haben diese Armleuchter sich nur dabei gedacht, ausgerechnet Tom Werner zu entführen? Dass der Wissenschaftler schneller vermisst werden würde, als sie ihre benötigten Informationen aus ihm heraus bekommen konnten, war ihm von Anfang an klar gewesen, dennoch hatte er sich dazu überreden lassen. Während er auf den Platz vor dem alten Haus fuhr bemerkte er, dass die Tanknadel sich bedrohlich nach links neigte. Er hoffte, noch genügend Benzin zu haben, um nach der Unterredung mit Jesus ins Camp zurück zu gelangen. Er stieg aus, stapfte an die Tür und hämmerte mit der Faust dagegen. Nichts regte sich. Genervt schaltete er seine Taschenlampe ein und ging um das Haus, um nach seinen Kameraden Ausschau zu halten. An der Hinterseite fand er ein Fenster, an dem die Vorhänge nicht zugezogen waren. Er richtete den Strahl der Lampe darauf, sah jedoch nichts als sein Taschenlampenlicht, das durch eine Badewannenarmatur zurückreflektiert wurde. Was ging hier vor sich? Wo waren die anderen? Nach ihrem Plan sollte Tom Werner hier festgehalten und befragt werden. War etwas schief gelaufen? Raoul war ratlos, umrundete das kleine Haus ein zweites Mal und hämmert erneut an die Tür. Keine Regung war von innen zu hören oder zu sehen. Lange konnte er nicht mehr verweilen, denn die Reisegruppe war sicher schon beunruhigt über sein Fortbleiben. Zudem schneite es immer heftiger und hier in den Bergen, auf den nicht betonierten Straßen, wurde es rasch schwierig, mit dem Auto voranzukommen. Er ging zurück zum Wagen und fuhr los. Tom schreckte aus seinem unruhigen Schlaf hoch und am ganzen Leib zitternd erinnerte er sich an seinen Traum: Ein Zauberer, der einen Umhang, dessen Farbe an Tannengrün erinnerte, und eine bemooste Brille trug, trat vor ihn und befahl ihm, sich seiner Erinnerungen zu entledigen, indem er sie in ein Glas mit Kumquats warf. Verwirrt hatte er den Magier gefragt, warum er seine Erinnerungen vergessen solle. „Wer nichts weiß, kann nichts weitergeben”, erwiderte dieser, verwandelte sich vor Toms Augen in einen Phantasievogel mit Entenschnabel und Pinselohren, schlug heftig mit seinen Flügeln und war verschwunden. Der wirklich beängstigende Aspekt seines Traumes aber war, dass ihn das Gefühl beschlich zu ahnen, warum er in die Hände dieses Mannes gefallen war. Diese Erinnerung ließ sich aber nicht in sein Bewusstsein heben. „Was will dieser Kerl von mir“, rief er laut durch den Raum und stellte sich langsam und noch immer zittrig auf die Füße. Er schlurfte zum Tisch und nahm den Schlüsselanhänger in die Hände. Während er ihn genauer untersuchte ertastete er etwas Hartes und entdeckte einen auf dem Rücken der Raupe eingelassenen Reißverschluss. Vorsichtig zog er am Zipper und starrte auf einige kleine, zerbrochene Muscheln. Er runzelte die Stirn, steckte seinen Zeigefinger noch tiefer in die Öffnung und warf dann den Anhänger enttäuscht in die Zimmerecke. Es war nichts weiter darin verborgen. Als er sich gerade auf dem Stuhl niedergelassen hatte und überlegte, ob er sich noch einen Schluck seines Wassers gönnen konnte, hörte er das Geräusch eines herannahenden Wagens. Er überlegte kurz, ob er sich auf den Boden legen und schlafend stellen sollte, beschloss aber an Ort und Stelle zu bleiben, denn seine Situation konnte fast nicht verfahrener werden. Er erlauschte zwei zuschlagende Autotüren und Schritte, die sich näherten. Ursula schrak auf und sah zum Fenster. Sie war sicher, dass sie einen Schatten daran vorbei huschen gesehen hatte. Ängstlich stand sie auf und ging in geduckter Haltung zu Matthias, der sich bereits ins Bett zurückgezogen hatte. Vorsichtig schubste sie ihn an seiner Schulter an und wisperte: „Matthias, bist du wach?“ Er murmelte etwas Unverständliches. Ihr zweiter Stoß fiel energischer aus. „Wach auf, da draußen ist irgendjemand!“ Schläfrig öffnete Matthias die Augen und sah sie fragend an: „Was meinst Du?“ „Gerade hat sich jemand an unserem Fenster vorbeigeschlichen.“ Er gähnte und setzte sich auf: „Ja und? Sicher geistert jemand über den Platz und findet den Weg in seine Hütte nicht!“ Ursula hob warnend ihren Zeigefinger an die Lippen und schüttelte den Kopf: „Psst, sei leise, denn das glaube ich ganz und gar nicht. Hier stimmt etwas nicht und ich möchte, dass wir nachschauen gehen!“ Mürrisch wälzte er sich aus dem Bett und schaute sich nach einem Gegenstand um, den er im Notfall zur Verteidigung einsetzten konnte. Doch außer einer Apfeltasche und einem Energy-Drink vom Nachmittag, die noch auf dem Tisch standen, sah er nichts, was ihm weiterhalf. Auch eine aus Wolle gestrickte Handarbeit die ein Eichhörnchen darstellen sollte und auf dem Regal über dem Bett lag erschien ihm nicht nützlich. Zum Glück hatte er seine große Taschenlampe mitgenommen, mit der er zur Not einen schmerzhaften Schlag austeilen konnte. Rasch zog er sich Hose und Pullover über und folgte Ursula zur Tür. Behutsam drückte er die Klinke herunter, um möglichst wenig Lärm zu verursachen. Als er die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte, sah er sich einem Mann mit Maske gegenüber, der ihnen bedeutete ihm zu folgen. Ursula fand, nachdem sie ein paar Schritte hinter dem Mann hergegangen waren, als Erste die Sprache wieder: „Was soll das Ganze eigentlich? Wo gehen wir hin?“ Der Mann drehte den Kopf nach hinten, zischte, befehlsgewohnt: „schweig“ und marschierte weiter in Richtung der Hütte, in der die Küche des Camps untergebracht war. „Warum“, kreischte Ursula laut über den Platz. „Was wollen Sie von uns und wo ist Tom?“ Wütend machte der Mann mit der Maske auf dem Absatz kehrt, kam auf sie zu gerannt und schnappte sie beim Arm: „Wenn Du nicht still bist“, zischte er mit leichtem Akzent, „wirst Du keine Zeit haben, das heraus zu bekommen. Und jetzt kommt!“ Er öffnete die Tür zur Küche und winkte sie hinein. Drinnen war es düster, das Küchenfeuer war erloschen und lediglich zwei kleine Stummelkerzen erleuchteten den Raum. Der Mann wies auf die Stühle am Tisch und befahl ihnen, sich zu setzen. „Wie lange kennen Sie Tom Werner schon?“ „Seit kurz vor unserer Abfahrt vom Hotel“, antwortete Ursula. „Falls Tom Werner der Tom ist, den wir seit einigen Stunden vermissen”. Der Mann nickte und stach mit einem kleinen Taschenmesser in seiner linken Hand in die hölzerne Platte des Tisches. „Was wissen Sie über ihn?“, forschte er weiter und sah sie erwartungsvoll an. Matthias zuckte mit den Schultern: „Ich weiß zwar überhaupt nicht, warum Sie ausgerechnet uns über diesen Tom befragen, aber ich kann Ihnen versichern, dass wir nichts wissen, außer dass er mit zu dieser Reisegruppe gehört.“ Ursula nickte zustimmend: „Genau. Aber nun habe ich auch eine Frage, was ist hier eigentlich los? Ich meine, zuerst verschwindet ein Mann aus unserer Reisegruppe und dann kommen Sie daher und zerren uns hier zum Verhör. Was soll das Ganze?“ Matthias wurde bleich, als er die Worte seiner Frau hörte und sah, wie sich der Mann langsam, ganz langsam auf den Weg zu ihrem Stuhl machte. Raoul stieg fluchend auf die Bremsen und wich einem großen Ast aus, der fast quer über dem Pfad lag. Verfluchter Schnee und wenn das so weiter ging konnte es noch eine halbe Ewigkeit dauern, bis er das Camp erreichte. Und er musste vorsichtig sein, die Rodung an verschiedenen Stellen im Gebirge hatte eine erhöhte Lawinengefahr zur Folge. Er hoffte, es trotz der widrigen Umstände zu schaffen, bei seiner Reisegruppe zu sein, bevor weitere unvorhergesehene Aktionen stattfanden. Teil 4 Woche 3/2013 Tom verharrte regungslos auf seinem Stuhl und starrte zur Eingangstür. Er hörte, dass zwei Personen rasch auf die Hütte zukamen. Entgegen seiner Einstellung zur Religion hob er seine Hand und schlug rasch ein Kreuz vor seinem Gesicht. Die Tür öffnete sich mit einem Rums, die beiden eintretenden Männer postierten sich vor ihm und verschränkten die Arme. „Señor Werner, ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen“, sprach der eine von ihnen in ruhigem Tonfall. Die Unterseite seines Gesichtes war von einem karierten Schal verdeckt, doch seine Augen, ungewöhnlich blau zu seinem schwarzen Haar, brannten sich sofort in Toms Gedächtnis. Der zweite Kerl, von kleiner und bulliger Statur, war nun etwas in den Hintergrund getreten. Er stupste unablässig mit dem rechten bestiefelten Fuß an die Kante des Ofens, der in der Ecke stand. ‚Er ist nervös‘, erkannte Tom, obwohl das Gesicht des Mannes von einer schwarzen Wollmaske komplett verdeckt blieb. ‚Kann kaum stillhalten‘. „Was können Sie uns über die Untersuchungen sagen, die hier oben seit einigen Wochen stattfinden?“ Tom zuckte mit den Schultern: „Ich weiß nicht, wovon sie sprechen!“ „Die Hütte, um die Sie Zelte aufgestellt haben, um zu forschen“, erwiderte der Mann noch immer gelassen. „Sie wissen sehr genau, worüber ich rede.“ Tom zuckte abermals die Schultern: „Keine Ahnung!“ Sein Gegenüber griff in die Manteltasche, förderte ein Bonbon zutage, wickelte es in aller Seelenruhe aus und ließ Tom dabei für keine Sekunde aus den Augen. „Keine Ahnung? Dann will ich Ihrem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen. Wir kennen die Pläne Ihrer Organisation bezüglich der Hölzer, die hier oben wachsen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es von ungefähr kommt, dass es plötzlich ungemein wichtig ist, nur Bäume aus einem ganz bestimmten Areal zu fällen. Und da kommen Sie und Ihre Forschungen ins Spiel. Deshalb frage ich Sie nun zum zweiten Mal, welche Untersuchungen werden dort oben durchgeführt?“ Toms Gedanken vollführten eine wilde Karussellfahrt. Was redete der Kerl da? War es möglich, dass seine Theorien hier oben und ohne sein Wissen überprüft und umgesetzt wurden? Sein Projekt war in die engere Auswahl für die neu erhaltenen Forschungsgelder gekommen, doch er wusste nichts davon, den Zuschlag bekommen zu haben. Zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der ausgewählten Versuche war er bereits auf dem Weg zur Hochzeit seiner Schwester Tamara gewesen. Doch war er davon ausgegangen, dass ihm einer seiner Freunde im Institut Bescheid gegeben hätte: „Hören Sie“, begann er zögernd. „Ich weiß wirklich nicht, was dort oben getrieben wird. Sie haben absolut recht damit, dass ich mich beruflich mit Botanik und deren Verwendung in der Pharmazie beschäftige. Aber was immer hier gemacht wird, ich weiß es nicht!“ Der Mann mit den blauen Augen ging einen Schritt auf ihn zu und trat energisch an den Stuhl, auf dem Tom saß. Der Kerl am Ofen war mit drei Schritten neben ihm und hob drohend eine Faust. „Glauben Sie mir Señor Werner, Sie wissen es sehr genau und ich werde es aus Ihnen heraus holen! Wir werden sehen, wie gesprächsbereit Sie nach einer Nacht mit meinem Partner hier sind. Zu Ihrer Information, er ist nicht besonders gut auf Europäer zu sprechen und wird Sie deshalb nicht wie eine Prinzessin behandeln. Noch haben Sie die Wahl, reden Sie mit mir!“ Tom schüttelte resigniert den Kopf: “Ich müsste selbst erst herausfinden, ob die Arbeiten, von denen Sie sprechen, etwas mit mir zu tun haben. Dazu brauchte ich ein Telefon und ein Fax. Ich kenne die neuen Beschlüsse des Institutes nicht, ich schwöre es Ihnen.“ „Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie schwören, Señor. Ich werde jetzt zurück in unser Lager fahren um die Situation mit meinem Boss zu besprechen. Vielleicht kommt er Ihrer Bitte nach Kommunikationsmitteln nach. Bis dahin haben Sie Zeit nachzudenken und sich mit meinem stachligen Zwerghamster hier“, er berührte die Brust seines Kollegen mit dem Zeigefinger, „anzufreunden“. Er lächelte ihn mit abschätziger Miene zu und ging zur Tür, der zweite Kerl folgte ihm. Tom nahm wahr, dass sie draußen einige hitzige Worte wechselten, bevor sein Bewacher wieder eintrat. Ursulas Vorhang fiel in dem Moment, als ein heftiger Schlag auf ihren Wangenknochen sie erbeben ließ. Bewusstlos sackte sie einige Zentimeter auf ihrem Stuhl nach vorne. Matthias sprang auf und stürzte sich blindlings auf den Angreifer. Mit Fäusten und Fußtritten hämmerte er auf ihn ein, ohne sich auch nur für den Bruchteil einer Sekunde an das Messer in seiner Hand zu erinnern. „Du hast sie geschlagen“, keuchte er fassungslos, während weitere seiner Schläge auf den Gegner herabprasselten: „Du elender Schurke, ich verarbeite Dich zu Vogelfutter“, stieß er wütend hervor, als ihn ein jäher Schmerz in seiner Flanke erstarren ließ. Erschrocken schaute er an sich herunter und sah ein dünnes Rinnsal Blut seitlich unterhalb seiner Brust, das sich langsam auf der Jacke ausbreitete. Der Maskenmann steckte sein Messer ein und lief laut vor sich hin fluchend zum Ausgang der Küche. Matthias versuchte rasch ihn noch einzuholen, doch ein heftiger Schwindel ergriff ihn. Er ging langsam zurück zum Stuhl seiner Frau, die Hüttentür schlug laut ins Schloss. Stöhnend tastete er an ihrem Handgelenk nach einem Puls, den er augenblicklich spüren konnte. Mit einer Woge der Erleichterung streichelte er über ihren Kopf und kuschelte sich müde auf den Stuhl neben sie. Nach einigen Minuten des Durchatmens und Sammelns schob er vorsichtig seine Hand unter die Jacke und seinen Pullover. Er fühlte, dass die Wunde nicht allzu tief zu sein schien, doch sie blutete noch immer. Langsam erhob er sich und ging zu den Schränken der kleinen Küche. Er öffnete Schranktüren und hoffte, irgendetwas zu finden, um seine Verletzung zu versorgen. Im Fach unter der großen Spülschüssel fand er einige Mullbinden und Pflaster, die zwar in keinem Verbandskasten mehr einen Platz gefunden hätten, doch für seine Situation ausreichend erschienen. Er schlüpfte aus Jacke und Pullover, versorgte seine Wunde notdürftig und ging zurück zu Ursula. Ihre Wange schien stark angeschwollen, soweit er dies im Dämmerlicht der Kerzen erkennen konnte. Vorsichtig stieß er sie an. Sie murmelte leise und rutschte auf dem Stuhl hin und her. „Süßes, komm zu Dir, er ist weg“, flüsterte er und schubste sie erneut zärtlich an der Schulter. Sie öffnete die Augen und sah ihn verwirrt an: „Wer ist weg? Wo sind wir?“ „Noch in der Küchenhütte, aber der Kerl mit der Maske ist verschwunden“, flüsterte er sanft. Stöhnend fasste Ursula sich ins Gesicht und erwiderte sarkastisch: „Das muss der gewesen sein, der mir das hier beschert hat, oder?“ „Ja, erinnerst Du Dich nicht?“ „Doch“, sie nickte bekräftigend. „So langsam ist wieder alles da. Er sucht auch nach diesem Tom, stimmts?“ „Stimmt, und es scheint ihm sehr wichtig zu sein, denn er greift zu drastischen Maßnahmen.“ Ursula nickte erneut und bemerkte dem blutbefleckten Pullovers, den Matthias sich wieder angezogen hatte: „Was ist passiert? Ich meine, nachdem ich ohnmächtig wurde?“ Er ging vor ihr in die Hocke, nahm ihre Hände und erzählte ihr von seinem kurzen Kampf mit dem Maskenmann. Ursula sah ihn fassungslos an und rief erbost: „Was bist Du für ein Esel? Dir hätte klar sein müssen, dass es dem Kerl bitterernst ist. Sein Messer hat er uns sicher nicht umsonst schon vor seinen Fragen so eindrucksvoll präsentiert. Denk dran, was Dir hätte zustoßen können!“ Matthias schaute beschämt zu Boden: “Du hast ja Recht, aber als ich gesehen habe, was er mit Dir gemacht hat, sind meine Sicherungen durchgebrannt, verstehst Du? Niemand schlägt ungestraft meine Frau, das dulde ich von niemandem und würde mich zur Not auch mit einem Velociraptor anlegen“, erklärte er mit einer Mischung aus Ernst und Schalk in der Stimme. Ursula setzte zu einem Lächeln an, das ihr schmerzbedingt nur schwer gelang. „Ich weiß schon, wie ich meinen Helden zu Hause für seinen Mut belohne“, sagte sie, während sie ihm sanft über das Gesicht streichelte. „Das will ich hoffen“, grinste er und nahm sie in die Arme, verwundert darüber, dass sie schon wieder zu Scherzen aufgelegt waren. Sie wand sich sehr schnell wieder aus seiner Umarmung: „Nein, das habe ich nicht gemeint. Ich dachte eher an einen frischgebackenen Mohnstrietzel zu einer schönen Tasse Latte Macciato!“ Er lächelte: „Willst du etwa behaupten, ich hätte je an etwas anderes gedacht? Diesen Stempel lasse ich mir nicht aufdrücken“, spottete er. „Ich muss feststellen, dass die Gedankengänge meiner Frau manchmal wirklich voll abgefahren sind. Und da behauptet man, dass nur Männer immer an das Eine denken würden”. „Ja, ja. Ich weiß, ich weiß Du Ei“, konterte sie in betont gelangweiltem Tonfall. „Wir Damen sind euch in Sachen schmutzige Gedanken um Längen voraus.“ Er nickte heftig: „Sag ich doch, und ich wusste es schon immer. Übrigens das StrietzelAngebot klingt sehr verlockend. Aber jetzt mal im Ernst, ich werde das Gefühl nicht los, dass diese Sache hier noch lange nicht am Ende ist. Was sollen wir tun?“ „Ich wünschte, ich hätte nie etwas über Toms Verschwinden gesagt. Ich und mein loses Mundwerk. Jetzt sitzen wir ganz schön in der Tinte.“ Matthias nahm sie erneut in die Arme: „Nein, dass du etwas über sein Verschwinden gesagt hast, war richtig. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was er gerade durchmacht.“ Sie nickte und schmiegte sich noch fester an ihn: „Lass uns von hier verschwinden!“ Raoul bog mit eingeschaltetem Fernlicht auf dem Parkplatz des Camps ein. Auf den ersten Blick schien alles ruhig und friedlich. Er stieg aus und machte sich auf den Weg zur Hütte von Matthias und Ursula. Er bemerkte Fußspuren, die sich von der Hütte des Ehepaares vorbei am Grillplatz zum Küchenhaus fortsetzten. ‚Zurzeit ist wohl eher Wintergrillen angesagt‘, dachte er zerstreut, und ging trotz der Spuren zuerst an die Hütte von Matthias und Ursula. Als ihm nach zweimaligem Klopfen niemand öffnete knipste er seine Taschenlampe an, öffnete die Tür und ging hinein. Der Raum war verlassen. Auf einem der Betten lag ein aufgeklappter Koffer, aus dem ihm ein Paar Flip Flops, die zuoberst lagen, ins Auge fielen. Er schüttelte verständnislos den Kopf: ‚Was dachten sich diese Schlafmützen von Touristen nur immer von ihren Ausflügen in die Anden? Lasen sie keine Reiseführer? Hier oben ist solches Schuhwerk so sinnvoll wie ein Tapetenbaum auf einer Geburtstagstorte.‘ Nach einem Blick in das Badezimmer, das ebenfalls verwaist war, machte sich Raoul auf den Weg zur Küche. Bevor er die Türe öffnen konnte, trat ihm das Paar entgegen. Raoul erschrakt, als er die Blessuren in Ursulas Gesicht und den Blutfleck auf dem Pullover von Matthias entdeckte: „Um Himmels Willen, was ist passiert?“ „Kein Abendspaziergang und nichts, was Sie verhindert haben, oder? Wo waren Sie, als der Wahnsinnige uns hier in die Küche geschleppt hat? Wir hauen hier ab. Welchen Wagen können wir nehmen?“ Raoul hob beschwichtigend beide Arme: “Langsam, egal was vorgefallen ist, Sie können unmöglich ins Tal fahren. Nicht bei diesem Wetter. Lassen Sie uns hineingehen und reden!“ „Und ob wir können! Freiwillig bleiben wir keine Minute länger hier. Sehen Sie, was meiner Frau widerfahren ist?“ Raoul nickte bekümmert: “Ja, das sehe ich. Darum bitte ich Sie, mir zunächst alles in Ruhe zu berichten. Bei diesem Wetter würde sich noch nicht einmal ein Schneehuhn auf Wanderschaft begeben. Es ist unmöglich, wir müssen den morgigen Tag abwarten.“ Ursula hakte sich bei ihrem Mann unter und zog ihn zurück in die Küche: „Er hat recht, setzten wir uns.“ „In Ordnung“, knurrte Matthias und nahm Platz. Raoul ging an einen der Schränke, klapperte einige Minuten mit Geschirr und stellte dann drei Tassen mit heißem Tee auf den Tisch. „Hagebutte“, erklärte er, „wachsen wie Unkraut hier, seit dem sie irgendwer ins Land gebracht hat.“ Er reichte Ursula eine der Tassen und war erleichtert, dass diese sie ihm dankend abnahm. Dass ihre geplante Aktion mit dem Wissenschaftler dermaßen aus dem Ruder gelaufen war, knabberte sehr an Raoul. Er war fest entschlossen, die Situation am nächsten Tag zu bereinigen . Es hatte nie in seinen Absichten gelegen, unschuldige Touristen mit in die Sache hineinzuziehen. Auch das der Wissenschaftler, den sie angeblich nur befragen wollten, verschwunden war, gefiel ihm ganz und gar nicht. Es musste noch etwas anderes hinter diesem Auftrag stecken, etwas Größeres, von dem er nichts ahnte: „Erzählen Sie“, richtete er das Wort an Ursula und Matthias. 4 Monate zuvor Im Hotel angekommen genehmigte sich Tom eine ausgedehnte Dusche, aß sein Betthupferl und legte sich im gestärkten Hotelbademantel und mit zuvor georderter Wärmflasche aufs Bett. Bei diesem Wetter würde er erst einmal ein wenig entspannen, bevor er seine Erledigungen und seine Sightseeing Tour begann. Nachdem er eingenickt und eine halbe Stunde später erwacht war, stand er auf und trat ans Fenster. Es regnete noch immer, aber lange nicht mehr so heftig. Die Hausfassade gegenüber, grau und abgeblättert, bot ein trostloses Bild. Er zog sich an, nahm seine Jacke und ging nach unten in die Lobby. „Wie komme ich von hier am schnellsten zum Kulturkaufhaus?“, fragte er die Dame an der Rezeption. Die Frau lächelte und holte eine kleine Karte auf den Tresen: „ Nehmen Sie die Linie 1 und fahren sie bis zur Zentralstation. D AS tietz liegt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, orange Fassade, fast wie ein Leuchtturm, und kaum zu verfehlen.“ Sie deutete auf eine rot angekreuzte Stelle auf dem Plan. „Darf ich?“, fragte Tom und nahm die Karte an sich. Sie nickte: „Selbstverständlich! Die Bushaltestelle ist ca. 100 Meter nach rechts. Sie müssen sechs Stationen fahren“ Tom schlenderte zur Bushaltestelle und stieg keine vier Minuten später in die Linie eins ein. ‚Perfektes Timing‘, dachte er und nahm mit einem Stehplatz vorlieb, da der Bus voll besetzt war. Endlich konnte er die verkieselten Stämme selbst in Augenschein nehmen. Sie stellten eine besondere Abart seines Bereiches Botanik dar. Er selbst befasste sich ausschließlich mit lebendigen Pflanzen und Bäumen. Rasch war er an der angegebenen Station angekommen. Er stieg aus, öffnete seinen Schirm und beobachtete amüsiert einen Mann, der verzweifelt versuchte, auf einem der ausgeschilderten Frauenparkplätze einzuparken. Als der Beobachtete nach dem dritten Anlauf in der Parklücke endlich stand und ausstieg wurde Tom klar, warum dieser solche Schwierigkeiten gehabt hatte. Sein beachtlicher Bauch hatte ihm das Zurückschauen sicherlich extrem erschwert. Er wunderte sich, dass der Mann überhaupt in diesen Kleinwagen gepasst hatte. ‚Beachtlich, bei dem Rettungsring‘, überlegte er und ging hinüber zum Kulturkaufhaus. Er bestaunte den versteinerten Wald hypnotisiert und war so vertieft in seinen Anblick, dass er zuerst nicht einmal bemerkte, wie eine Gruppe japanischer Touristen sich leise und unbemerkt wie ein Schwarm Geisterfische um ihn gescharrt hatte. Erst als ein wahres Feuerwerk aus Blitzlichtgewittern um ihn herum aufflammte lies er die verkieselten Stämme aus den Augen. Tom mochte es überhaupt nicht, wenn er in ein Kunstwerk der Natur eingetauchte und eine lärmende Horde ihn dabei störte und ablenkte. Mit raschen Schritten verließ er den Innenhof des Kulturkaufhauses und trat auf die Straße. Bei seiner Ankunft hatte er nicht weit vom Museum ein Restaurant entdeckt und er verspürte Hunger. Rasch nahm er sein Portemonnaie zur Hand und zählte seine Geldscheine. Er trug noch genügend Bargeld bei sich, sodass er sich auf den Weg zum Restaurant Im Ruderboot machen konnte. In der Gaststätte war lediglich ein Tisch besetzt, was ihn zu dieser Tageszeit nicht sonderlich verwunderte. Er setzte sich an einen kleinen Tisch in der Ecke und nahm die Karte zur Hand. Die Empfehlung des Tages, so verriet es ihm die erste Seite, war der Schwarzwälder-KirschEisbecher mit doppelter Portion Kirschlikör á la Chefkoch. Er erschauderte, bei diesem nasskalten Wetter schien es ihm keine gute Idee, Eis zu sich zu nehmen. Er entschied sich für eine Linsensuppe mit Speck, die zwar nicht seine Leibspeise war, aber etwas Wärme von innen versprach. Er gab seine Bestellung auf, ging zur Toilette und belächelte die dort angebrachte Toilettenbürstenbenutzungsanweisung. Auf dem Weg zurück zu seinem Tisch klingelte sein Smartphone. Das Display verriet ihm, das sein Arbeitgeber am anderen Ende der Leitung seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Er stelle das Telefon auf lautlos, steckte es zurück in seine Hosentasche und murmelte entschlossen: „Jetzt nicht, ich hab frei.“ Teil 5 Woche 4/2013 Raoul ging mit Ursula und Matthias zu deren Hütte. Am Dach hingen bereits vereinzelt Eiszapfen herunter, und die Kälte schien noch nicht an ihrem Höhepunkt angelangt zu sein. Die vereinzelten Knospen, die Ursula und Matthias gestern bei Tageslicht entdeckt hatten, waren sicher bereits erfroren. Drinnen setzten sie sich an den Tisch und der Touristenführer fragte traurig: „Also was ist geschehen?“ Matthias erzählte und versuchte, nichts auszulassen. Raoul schüttelte entsetzt den Kopf, als er von dem Angriff mit dem Messer hörte. Er war nun sicher, dass die Beweggründe den Wissenschaftler Tom zu entführen und auszufragen, ganz andere waren, als die, die man ihm vermittelt hatte. Er sah auf seine Armbanduhr, der Sekundenzeiger schien sich sehr langsam zu bewegen. Die Sicherheit der ihm anvertrauten Touristen musste gewährleistet sein, und das ging erst, wenn er sie gleich morgen früh wieder hinunter in die Stadt gebracht hatte: „Schließen Sie Ihre Türen ab und verlassen Sie vor Tagesanbruch auf gar keinen Fall Ihre Hütte. Ich werde versuchen heraus zu bekommen, was da draußen vor sich geht.“ Er stand auf und ging zur Tür: „Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, ich wusste nicht, dass Sie beide in Gefahr sind.“ Matthias folgte ihm und hielt Raoul an der Schulter fest: „Sie sagen uns nicht, was Sie wissen, besser gesagt, sagen Sie gar nichts. Vielleicht stecken Sie mit in der Sache und ich entschuldige mich, falls ich vollkommen daneben liege. Aber Ihre Reaktionen über meinen Bericht des Angriffs vorhin schienen mir nicht sehr überrascht.“ „Matthias, bitte verurteile hier niemanden, bevor du Genaueres weißt. Wir wollen keine Treibjagden die in einer Hexenverbrennung enden, wir wollen in Sicherheit sein. Zumindest kann ich das für mich behaupten. Schlaflos bin ich den Rest dieser Nacht ohnehin, dazu brauche ich keine Mörderpistolen oder Vampirgeschichten!“ Raoul nickte zustimmend: “Ihre Frau hat recht, ich verspreche, mich um die Sache zu kümmern. Aber Sie müssen mir vertrauen und unbedingt hier drinnen bleiben.“ Er fasste in seine Jackentasche und holte einen winzigen Gegenstand heraus, den er Ursula entgegen streckte: „Hier, nehmen Sie das.“ „Was ist das?“ „Das ist mein Sorgenpüppchen, und ich bitte Sie, recht gut darauf aufzupassen. Es ist ein Geschenk meines Freundes aus Guatemala und wird Ihre Sorgen vertreiben. Erzählen Sie ihr Ihr Leid und stecken Sie die Puppe unter Ihr Kissen.“Matthias stemmte die Arme in die Hüften. „Sie sind mir vielleicht ein Clown, statt uns mit einer Waffe auszustatten kommen Sie mit Ihrem magischen Schnickschnack an. Als Nächstes postieren Sie ein Einhorn vor unserer Tür, quasi als Wachposten! Ich will mich nicht hier verschanzen und darauf warten, dass wir flüchten können. Wir kommen mit Ihnen!“ Tom saß mit dem Rücken am Ofen und fror entsetzlich. Sein Bewacher hockte, die Beine auf den Tisch gelegt, auf dem Stuhl und hatte sich seiner Wollmaske entledigt. ‚Kein gutes Zeichen‘, dachte Tom, ‚ jetzt kann ich sie alle identifizieren.’ Der Kerl wackelte auf dem Stuhl hin und her und dabei wackelte sein großer, langer Schnurrbart im Takt. Er schien Tom vergessen zu haben und fingerte unablässig mit einem Zahnstocher im Mund herum. „Wenn Sie so weiter machen“, sprach Tom ihn an, „bekommen Sie Zahnschmerzen.“ „Halt die Klappe, das geht Dich nichts an“, erwiderte er mit grimmigem Gesicht und weit aufgerissenen, aggressiven Augen. Tom ahnte, dass in dem Mann eine Menge Gewaltbereitschaft steckte, doch er wollte endlich wissen, was hier gespielt wurde: „Ich meine ja nur. Aber in Ordnung, dann reden wir über etwas anderes. Warum bin ich hier, Fischauge?“ Mit einem Satz war der Kerl über Tom und zog ihn am Kragen nach oben: „Spiel hier keine Spielchen mit mir! Eigentlich soll ich Dich nur bewachen, aber so federleicht, wie Du bist, kannst Du auch ganz schnell hinaus in den Schnee fliegen. Dann bist Du eisgekühlt und wirst die ersten Tautropfen mit Sicherheit nicht mehr erleben!“ Um die Ernsthaftigkeit seiner Worte zu unterstreichen, schüttelte er Tom so heftig, dass dieser einen Drehwurm bekam. „Okay“, keuchte er, als der Mann von ihm abgelassen hatte. „Ich sage keinen Ton mehr, versprochen.“ Er ließ sich wieder auf den Boden gleiten und schloss die Augen, entschlossen, sich keinen Zentimeter von der Stelle zu rühren. 4 Monate zuvor Am Nachbartisch wurde gerade Erbseneintopf serviert, als Tom wieder Platz nahm. Sein schlechtes Gewissen, den Anruf nicht angenommen zu haben, regte sich bereits heftig. Er versuchte noch einen Augenblick standhaft zu bleiben, dann nahm er sein Handy und rief zurück: „Tom hier, Du hast gerade angerufen!“ „Ja“, antworte sein Chef, „ich wollte Dir kurz über das Auswahlverfahren Bescheid geben.“ „Und“, fragte er neugierig und angespannt. „Noch nichts Neues, es wird sicher noch ein paar Wochen dauern, bis der endgültige Entschluss gefasst wurde. Aber, Deine Medikamentengewinnung aus der Andentanne ist ganz vorne mit dabei. Du darfst dir also ruhig Hoffnung machen.“ Tom jubelte innerlich, vielleicht wurde seiner langen Forschungsarbeit nun bald die Krone aufgesetzt: „Wer ist noch im Rennen?“ „Die Efeuranken von Bettina und natürlich mein Schmuckstück, der Teebaum. Sonst ist nicht mehr so viel am Start, das die Investoren wirklich interessiert. Es gibt da noch eine Sache, die irgendwie mit Kaimanen und Viren zusammenhängt, aber das habe ich ehrlich gesagt nicht ganz verstanden. Okay dann genieß mal dein Wochenende, ich muss Schluss machen.“ Tom aß seine Suppe, die ihm während des Telefongespräches aufgetragen wurde, und überlegte, was er sich noch anschauen konnte, bevor er sich auf den Rückweg zum Hotel machte. Ihm fielen die Pinguine von Peter Kallfels ein, die es auf der Inneren Klosterstraße zu bestaunen gab. Er verspürte jedoch wenig Lust, sich wieder in Horden von Touristen einzureihen, und so beschloss er, noch ein Stück zu Fuß zu gehen. Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Wenn er genug von seinem Spaziergang hatte, würde er sich ein Taxi zum Hotel zu besorgen oder nach einer Bushaltestelle Ausschau halten.. Draußen entdeckte er unweit seines Standortes einen Wegweiser, zu dem er, vorbei an einem Laden, in dem sich ein buntes Sammelsurium an Gegenständen befand, schlenderte. Das Schaufenster war so bunt und witzig dekoriert, dass er stehen bleiben musste, um Bücherstapel, ein Waffeleisen, bunte Geschenktüten und eine Longierpeitsche zu betrachten. Der Wirrwarr hatte bei genauerem Hinsehen sogar eine gewisse Ordnung, erkannte Tom auf den zweiten Blick. Das Geschäft schien eine Mischung aus SecondhandGeräte-Shop und Geschenkboutique zu sein. Ein Schild verriet, dass es hier runde Würfel auf Vorrat gab und man seine überflüssig gewordenen Haushaltsgeräte auf Kommission abgeben konnte. Er schmunzelte: ‚Nette Geschäftsidee‘. Die Hausnummer des Ladens war aus kleinen Kunststoff Cake-Pops zusammengesetzt und setzte dem Fachwerkhaus die Krone auf. Tom hatte Lust, mehr zu erfahren, und trat ein. „Howdy“, begrüßte ihn ein rundlicher Herr in mittlerem Alter. „Abgeben oder Abnehmen?“ Tom stutze: „Wie bitte?“ „Wie ich sehe, haben Sie keine Tasche dabei, also wollen Sie mir hoffentlich etwas von meiner wundersamen Plundersammmlung abkaufen, oder?“ „Ach so“, Tom verstand. „Mal schauen, ob sich etwas für mich findet. Ich muss morgen zu einer Hochzeit. Vielleicht gibt es hier noch ein passendes Geschenk für das Brautpaar.“ „Hochzeit ja? Mal überlegen, mögen Sie die Leute?“ „Ja, sogar sehr.“ Der Mann gluckste: “Dann fällt die Filzklettenkette aus!“ „Allerdings“, erwiderte Tom, und ließ seinen Blick über die Regale schweifen. Nichts von den angebotenen Dingen konnte ihn wirklich überzeugen. Die Auswahl im Schaufenster hatte mehr versprochen, als es tatsächlich zu entdecken gab. Einzig die Fotografie einer Rose, die ihre Blüte in sattem Lila zeigte, sprach ihn einigermaßen an. Er kaufte sie und ging wieder auf die Straße. Raoul blieb energisch: “Sie können nicht mit mir kommen, denn entgegen Ihrer Meinung, habe ich absolut keine Ahnung, was hier los ist. Ich werde Sie kein zweites Mal einer Gefahr aussetzen, und deshalb bleiben Sie bitte hier und warten ab. Ich flehe Sie an, sich bis morgen zu gedulden.“ „Er hat recht Matthias. Ich bin müde und durcheinander von dem, was gerade erst geschehen ist. Ich möchte mich hinlegen, in die Federn schlüpfen und für eine Weile vergessen.” „Aber was ist, wenn der Typ wieder hier auftaucht“, warf Matthias fragend in die Runde: „Ich habe hier nicht einmal etwas, mit dem ich uns im Notfall verteidigen kann. Wie wäre es, wenn wir die anderen wecken und uns alle zusammen einschließen. Ich würde mich besser dabei fühlen.“ Der Scout schüttelte ablehnend den Kopf: „Wir sollten sie nicht erschrecken und Panik verbreiten. Schrecken ist wie der Gestank eines Fisches, er breitet sich aus und bleibt an jedem haften. Ich werde im Küchenhaus schauen, ob ich etwas auftreiben kann, damit Sie sich sicherer fühlen können. Ich bin gleich zurück. Einverstanden?“ „Ja“, Ursula nickte, „gute Idee. Und danach kann ich mich endlich hinlegen.“ „Ich beeile mich“, versprach Raoul und verschwand aus der Hütte. Matthias öffnete seinen Koffer und durchwühlte den Inhalt: „Da ist absolut nichts drin, was uns weiter helfen könnte.“ „Nun warte doch erst einmal, ob Raoul etwas findet“, riet Ursula, während Matthias einen Gegenstand nach dem anderen aus seinem Gepäck auf das Bett beförderte. Mit einem Ping landete sein Schlüsselbund auf dem Boden. „So ein Mist“, rief er zornig und setzte sich resigniert auf das Bett. Sein Koffer war ausgeräumt und er erfolglos geblieben. Raoul durchsuchte alle Schränke und Schubladen des Küchenhauses. Am besten nahm er zwei der Messer mit, denn mit Salzgurken bewaffnet konnten die beiden nicht viel ausrichten. ‚Vielleicht sind die alten, trocknen und sehr harten Schokoladenbrötchen besser geeignet‘, dachte er kurz amüsiert, bevor ihm der Ernst seiner Lage sehr rasch wieder klar wurde. Er musste handeln, und zwar sofort. Teil 6 Woche 5/2013 Wenn Raoul daran dachte, dass seine Komplizen ihn derart hintergangen haben mussten, sah er rot. Voller Wut warf er ein Kinderbesteck zurück in die Schublade und öffnete die letzte Schranktür, in die er noch nicht geschaut hatte. Auch hier war nichts Brauchbares zu finden. Kurzentschlossen ging er zum Auto und nahm einen Hammer aus der Werkzeugkiste im Kofferraum, den er seit dem letzten Frühling darin deponiert hatte. Ursula und Matthias waren in Gefahr, so vermutete er zumindest, und in dieser Einsamkeit würde ihnen niemand zur Hilfe eilen können. Vielleicht sollte er sie doch mit den anderen Touristen zusammenbringen, überlegte er kurz. Doch er verwarf diesen Gedanken sehr schnell, noch konnte er seinen eigenen Kopf vielleicht aus der Schlinge ziehen. Eiligen Schrittes ging er zur Hütte der beiden. Ursula saß auf einem Stuhl und weinte leise. Als sie zu Raoul hinauf blickte, bemerkte er das sie sich heute Morgen geschminkt haben musste. Lange schwarze Rinnsale waren über ihre Wangen gelaufen und hatten deutliche, schwarze Streifen hinterlassen. Er ging vor ihr auf die Knie, streichelte ihr kurz und sanft über den Kopf und fragte: „Was ist los? Ist noch etwas passiert, als ich weg war?“ Sie schüttelte den Kopf: „Nein, nichts. Aber ich habe schreckliche Angst, dass der Kerl wieder hier auftaucht, wenn Sie weg sind“, gab sie unter Tränen zur Antwort. „Man kann ja hier oben noch nicht mal telefonieren. Ich weiß, dass vermutlich heute Nacht nichts mehr passieren wird. Trotzdem bin ich noch wie gelähmt vor Schrecken.“ Matthias trat aus dem Badezimmer: „Wenigstens hat es aufgehört zu schneien. Haben Sie etwas gefunden?“ Raoul hielt ihm den Hammer entgegen und schaute entschuldigend: „Mehr kann ich im Augenblick leider auch nicht bieten. Schließen Sie sich ein und verhalten Sie sich ruhig. Ich versuche, so schnell wie möglich wieder bei Ihnen zu sein.“ „Was haben Sie vor zu tun“, fragte Ursula mit Panik in der Stimme. „Ich werde herauszufinden, was hier los ist. Zuerst einmal fahre ich zu einem Dorf, was nicht allzu weit von hier liegt. Vielleicht kann mir dort irgendwer weiter helfen!“ Matthias kramte erneut in seinem Koffer, warf ein Wörterbuch auf das Bett, nahm seinen Gameboy zur Hand und hob triumphierend sein solar betriebenes Ladegerät in die Höhe: „Voller Saft, ich bin kampfbereit. Ganz ohne Batterie.“ „Spinnst du?“, Ursula sah ihn erschrocken an. Was willst Du denn jetzt damit?“ „Nachtwache halten“, erklärte er entschlossen. Du legst dich hin und ich passe hier auf. Damit ich nicht zu müde werde, versuche ich mich an meiner Affenliebe Donkey Kong. Es wird Zeit einen Rekord zu brechen.“ Raoul erhob sich, tätschelte Ursula die Schulter, nickte Matthias zu und verließ die Hütte. Tom kauerte bewegungslos an die Wand gelehnt und dachte nach. Konnte es tatsächlich sein, dass sein Andentannen-Projekt bereits angelaufen war? Bevor er sich auf den Weg nach Chile gemacht hatte, stand die Entscheidung der Investoren doch noch in den Sternen. Stimmte das überhaupt, oder hatte man ihn Tatsachen vorenthalten, um seine Idee auszuprobieren und selbst Profit daraus zu schlagen? Wenn tatsächlich etwas dran war an seiner Idee und diese Krankheit damit eingedämmt oder gar geheilt werden konnte, war das ein Milliardengeschäft. Er konzentrierte sich auf das letzte Gespräch mit seinem Vorgesetzten Erik: „Die Entscheidung steht kurz vor dem Abschluss. Aber warum solltest Du nicht wie geplant Deinen Urlaub genießen? Ich gebe dir Bescheid, sobald ich etwas Näheres weiß. Ich glaube aber nicht, dass deine Tanne das Rennen machen wird. Du hast zwar eine Theorie, aber für Forschungsgelder noch viel zu wenig Tatsachenprotokolle auf den Tisch gelegt.“ „Allerdings wäre die ganze Welt daran interessiert, wenn sich herausstellt, dass es funktioniert.“ „Da hast du recht, aber die Geldgeber sind nicht daran interessiert ihre Investitionen in ein Vielleicht-Projekt zu stecken. Das Ganze ist kein Kindergeburtstag, und deshalb versuchen sie die Forschung an uns abzutreten und spendieren erst dann etwas, wenn sie wissen, dass der Kuchen auch Kekse abwirft und nicht nur kleine Krümel. Meine Käfer-Teebaum Symbiose ist fortgeschrittener, ich kann damit zwar keinem Human Immundefizienz-Virus die Stirn bieten, aber den Rheumakranken eine Alternative zur Schulmedizin. Denn, dass der Wirkstoff nach dem Verdauungsprozess der Käfer vorhanden ist, habe ich bereits bewiesen. Hattest Du die Ultraschallbilder dazu eigentlich gesehen?“ „Habe ich und ich kenne unsere Projekte. Bettina hat auch beste Chancen, denn ihr ApfelEfeu-Extrakt ist ja bereits in einer pädiatrischen Forschungsreihe aufgenommen. Obwohl ich hier nicht verstehe, warum sie dann noch zusätzliche Gelder bekommen sollte.“ Erik nickte. “Und genau deshalb, wird es sich zwischen dir und mir entscheiden. Mach dir ein paar schöne Tage in Südamerika, genieße den Sonnenuntergang auf einem Boot, iss selbstgemachte Empanadas und erhol dich einfach. Ach ja, und bring so viele Informationen wie möglich von den Einheimischen mit. Vielleicht wissen sie Dinge über die Andentanne, die dir weiterhelfen können. Und in ein paar Jahren wirst du in jedem Fall am Start sein. Deine Vermutung wird, so du richtig damit liegst ein wahrer Segen für die Menschheit sein. Juwelen in der Medizin. Damit haben die Schutzengel in Sachen Aids ausgedient und der Mythos die „Geißel Gottes“ wird ausgemerzt und widerlegt sein. Sozusagen benutztes Toilettenpapier, dass niemand mehr haben möchte“ „Warten wir es einfach ab. Ich muss jetzt los denn ich bin heute Abend noch zum Kartenspiel und Weißwurstessen mit den Jungs verabredet, bevor es morgen früh losgeht.“ „Weißwurst am Abend, ihr seid solche Banausen“, hatte Erik amüsiert geantwortet, ihm auf die Schulter geklopft und sich verabschiedet. Tom sah zu seinem Bewacher, der begonnen hatte leise vor sich hin zu schnarchen. Vorsichtig schob er sich ein Stück von der Wand nach vorne und lauschte angespannt. Der Gorilla regte sich nicht, schien selig zu schlummern. Konnte er es wagen? Er rutschte vorsichtig ein Stück weiter in Richtung Tür. Keine Reaktion. Behutsam stellte er sich auf. Mit dem Blick auf seinen Gegner ging er einen leisen Schritt. Die Lust zu jubeln machte sich in ihm breit, er konnte es schaffen. Noch zwei Meter trennten ihn von der Freiheit. Beherzt rannte er los. Matthias saß, eine Decke auf den Knien, auf dem Stuhl und spielte konzentriert in der Regenbogen-Welt von New Super Mario Bros. Der Marshmallow Mann wollte ihm gerade wieder das Leben schwer machen, als er Ursula spitz aufschreien hörte. Was war denn nun wieder? Er fühlte sich bettreif und wollte eigentlich nur noch schlafen. Matthias stand auf und ging zu seiner Frau: „Was ist los Schatz?“ Sie schüttelte heftig den Kopf, ihr Haar stand wirr in alle Richtungen ab: „Nichts, nur ein Traum. Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“ „Schon gut, was hast du geträumt meine Liebe?“ „Wirres Zeug. Ich habe eine Waschmaschine, die von einer Schiffsschraube angetrieben wird, erfunden. Ihre Anzeige war kunterbunt und irgendwie hübsch.“ Matthias lächelte: „Kein Grund zum Schreien, oder?“ „Nein, das nicht. Aber als ich das Gerät auf einer Messe vorstellen sollte, kam ein Mann, hielt mir einen Spiegel vors Gesicht und behauptete, ich habe seine Idee gestohlen. Er hat mich angeschrien und mich bedroht. Genauso wie der Kerl unten im Küchenhaus!“ „Es war gut, dass der Typ im Traum Dich erschreckt hat, ich wäre eben beinahe eingeschlafen. So hat das Ganze auch seine gute Seite meine kleine Miezekatze. Ich hole jetzt den Hammer vom Tisch, lege mich zu dir und versuche den Schlaf noch für eine Weile zu verscheuchen. Aber ich bräuchte ein Kissen aus Kakteen um es dir zu versprechen.“ Sie lächelte matt: “Ja das wäre schön. Ich glaube nicht, dass jetzt noch etwas passieren wird.“ Er stand auf, schaltete seinen Gameboy aus, nahm den Hammer und legte sich zu seiner Frau: „Schlaf gut mein Knopfauge. Ich wache über Dich, bis wir von Raoul das Signal zum Aufbruch bekommen. Sicher ist er bald zurück.“ Raoul ging auf die Hütte zu und wollte gerade die Türe öffnen, als ihm Tom entgegen gerannt kam und ihn fast von den Füßen riss. ‚Was macht der hier‘, dachte Raoul und hielt den Wissenschaftler am Arm fest. Tom schlug der Länge nach auf den Boden und stöhnte. „Schnell stehen Sie auf“, rief der Touristenführer und zog ihn nach oben. „Da hinten steht mein Wagen. Wir müssen weg hier bevor diese Jecken bemerken, dass Sie entkommen sind.“ Tom sprang auf die Beine und folgte Raoul rasch zu seinem Auto. Hinter ihnen war das Poltern der Schritte seines Bewachers zu hören. Hektisch rissen sie die Türen auf, sprangen ins Wageninnere und Raoul startete augenblicklich. Im aufflammenden Scheinwerferlicht erschien das verdutzte Gesicht des verschlafenen Kerls. Raoul schlug das Lenkrad hart nach rechts und schoss los. „Wie sind Sie da herausgekommen?“ „Der Idiot hat die Tür nicht abgeschlossen. Keine Ahnung warum. Riesen Glück für mich, aber was machen Sie hier?“ Raoul räusperte sich: „Lange Geschichte, ich habe nach Ihnen gesucht. Aber ich muss Ihnen etwas gestehen, was wir in Ruhe besprechen sollten. Wir fahren erst einmal zurück ins Camp, denn das Ehepaar, das Sie als vermisst gemeldet hat, ist ebenfalls in Gefahr.“ Teil 7 Woche 6/2013 „Matthias und Ursula?“ Raoul nickte und lenkte den Wagen entschlossen um einige Bäume, die von Schneelast gedrückt den Weg säumten. „Beeilen wir uns lieber und hoffen, dass sie noch allein in ihrer Hütte sind.“ Als sie nach einigen Minuten auf dem Parkplatz des Camps anhielten, huschte ein Schatten hinter das Küchenhaus. Raoul sprang augenblicklich aus dem Wagen und rannte los. Doch er kam zu spät. An der vom Mond erhellten Stelle hinter der Küche war nichts mehr auszumachen. Laut fluchend ging er ins Gebäude, während Tom im Auto sitzen blieb und ihn beobachtete. Auf dem Tisch lagen Teile des Bestecks und die Reste einer Brezel. Vermutlich war nur einer der Touristen hungrig geworden und hatte sich Zutritt verschafft, um seinen Appetit zu stillen. ‚Hoffentlich‘ ging es Raoul durch den Kopf, als er zum Wagen ging und Tom ansprach: “Kommen Sie, wir müssen nach den anderen sehen.“ Matthias stand mit seinem Rasierer im Bad, er hatte Wort gehalten und den Schlaf von Ursula bewacht. Es war zu keinem weiteren Zwischenfall gekommen. Raoul bat die Touristen erleichtert an den Tisch: „Kommen Sie, alle, wir müssen reden.“ Matthias stupste seine Frau zärtlich an und bat sie aufzustehen. „Es ist an der Zeit, Ihnen etwas zu gestehen“, eröffnete Raoul den drei Anwesenden unsicher: „Ich bin nicht ganz unschuldig an dem, was sich zugetragen hat. Vor einigen Wochen kam ein alter Bekannter zu mir und bot mir einen zusätzlichen Lohn an. Alles, was ich dafür tun sollte, war wegzuschauen.“ „Was meinen Sie damit“, fragte Tom aufgebracht, seine Haltung steif wie die eines Kleiderbügels. Wollen Sie mir sagen, Sie wussten, dass man mich verschleppen will?“ „Nein, so würde ich es nicht ausdrücken. Ich wusste, dass man hinter das Geheimnis eines Wissenschaftlers kommen wollte. Und dass dieser Wissenschaftler“, er blickte in Toms Richtung, „ein Gast auf einer meiner Touren sein würde. Mein Bekannter versicherte mir, dass dieses Wissen bedeutend für die Menschheit werden könnte. Über Einzelheiten wollte er sich partout nicht auslassen, versprach mir aber, dass alles zum Wohle der Beteiligten ausgehen würde.“ Ursula sprang auf und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Scout: “Sie Monster! Zum Wohle der Beteiligten? Sieht das danach aus?“, fragte sie und zeigte auf ihre ramponierte Wange. „Ich habe keine Lust, mir Ihre fadenscheinigen Versuche anzuhören, sich aus der Sache heraus zu winden, Sie elender Schauspieler. Vermutlich wartet Ihr Kollege schon ums Eck und wird uns das Licht ausblasen, sobald Sie das Kommando geben! Terroristen Pack“ Ihre Stimme klang schrill, fast so wie der höchste Ton auf einem Xylophon. Matthias ging zu seiner Frau und nahm sie in den Arm: “Beruhige Dich, Liebes. Glaubst du, Raoul hätte Tom befreit und wäre zurückgekommen, wenn seine Geschichte nicht der Wahrheit entspräche?“ „Er hat recht“, pflichtete Tom Matthias bei. „Und selbst wenn er uns eine Schmierenkomödie vorspielt, möchte ich schon noch Genaueres dazu erfahren. Fahren Sie fort“, forderte er Raoul auf, während sich das Paar wieder setzte. „Ich möchte jetzt nicht mit der Mitleidstour beginnen und dass ich ein paar Pesos mehr gut gebrauchen konnte, obwohl das nicht gelogen wäre. Eigentlich habe ich zugestimmt, weil ich hoffte, mich mit ein wenig mehr Geld auf der Kante auf meine Prüfungsvorbereitungen stürzen zu können. Ich habe gedacht, dass ich es mit ein paar Touristentouren weniger bis zum nächsten Fasching schaffen könnte. Denn ich wollte nach La Tirana fahren, um endlich einmal den Karneval der Anden mitfeiern zu können. Deshalb …“ Tom sprang auf und griff den Kragen von Raouls Hemd. Er schüttelte ihn heftig und stieß verärgert aus: Tom sprang auf und griff den Kragen von Raouls Hemd. Er schüttelte ihn heftig und stieß verärgert aus: „Um dann Ihre Tarnung fallen zu lassen und eine Büttenrede über den bescheuerten Wissenschaftler zu halten, über den Sie zu dem Geld für Ihr Sparschwein gekommen sind, um die Reise überhaupt finanzieren zu können?“ „Lassen Sie ihn los und beruhigen Sie sich“, bat Matthias in ruhigem Ton. „Wir wissen nun, dass er keine reine Weste hat. Aber wollten nicht Sie die Geschichte bis zu ihrem Ende hören?“ Tom nickte und ließ von dem Scout ab: „Was hat der Kerl genau über mich gesagt?“ Raoul holte tief Luft, zog sein Hemd glatt und zuckte mit den Schultern: „Nicht viel, nur etwas vom Wohle der Menschheit und den Andentannen. Was haben Sie an den Bäumen entdeckt?“ „Eigentlich darf ich Ihnen gar nichts darüber verraten. Aber da ich im Moment nicht einschätzen kann, wer Freund oder Feind ist nur so viel, es geht um ein Medikament!“ Ursula sah erstaunt auf: „Sie sind Pharmakologe? Das wusste ich gar nicht!“ „Bin ich nicht. Ich arbeite mit Pflanzen und bin eher zufällig auf dieses Schatzkästchen der Natur gestoßen. Ich hege die Befürchtung, dass es in unserem Institut eine undichte Stelle gibt und die Forschung bereits in vollem Gange ist“ „Aber was hat diese Tanne mit einem Medikament zu tun?“, fragte Ursula erstaunt. „Es ist der genetische Code des Baumes. Und es scheint, als gelte dies nur für einen sehr begrenzten Lebensraum und der liegt in einem kleinen Areal hier oben. Raoul, haben Sie in den letzten Wochen etwas Auffälliges beobachtet? Hütten, die wieder bewohnt sind, Zelte oder etwas dergleichen?“ Der Befragte schüttelte den Kopf: „Nichts, was ich mit dieser Sache in Verbindung bringen würde.“ „Denken Sie nach! Lieferungen nach hier oben? Mehr Touristen unten im Ort, die sich nicht wie Touristen verhalten.“ „Ja, warten Sie. Vor zwei Wochen ist eine Limousine vor einem der Hotels vorgefahren. Das kommt hier eher selten vor. Eugenio, er arbeitet an der Rezeption, hat mir erzählt, dass ein blasser Herr mit Chihuahua an der Leine ausgestiegen ist. Eigentlich wollte er die einzige Suite des Hauses, aber die war bereits belegt. Er ist ohne ein Wort des Abschiedes wieder abgerauscht.“ Tom überlegte, ob er einen blassen Kerl mit kleinem Hund in seine Erinnerungen einfügen konnte, und blieb ratlos, bis ihm ein Brief im Institut in den Sinn kam. Neben den Eingangsstempel hatte ein Mitarbeiter in roter Schrift „VIP“ auf den Umschlag geschrieben. Auf seine Nachfrage hatte man ihm erklärt, der Brief stamme vom Grafen soundso, den Namen hatte Tom vergessen. Dieser wollte sich ebenfalls die Forschungsreihe einkaufen. Konnte das der beschriebene Mann sein? „Und Sie wissen nicht, wie der Mann hieß“, hakte Tom nach. Er hatte Feuer gefangen und wollte nun ganz genau wissen, was mit seiner Entdeckung getrieben wurde. „Nein, er hat es nicht gesagt, nur nach der Suite gefragt. Eugenio hat gesagt, dass er froh war, diesen Kerl nicht beherbergen zu müssen. Er hätte einen dämonenhaften Blick gehabt, fast wie ein Vampir. Und mein Kollege glaubt an solche Dinge, er hatte wirklich Angst.“ Tom stand auf und begann auf und ab zu gehen: „Ihre Informationen bringen mich nicht weiter. Was machen wir den jetzt?“ „Da ich keine Glaskugel besitze, und der Sonnenaufgang noch auf sich warten lässt, schlage ich praktische Dinge vor“, erklärte Ursula und nahm sich Nagellack und Nagelfeile aus ihrem Kulturbeutel. „Prima“, knurrte Matthias, und was mache ich, mein Herz?“ „Geh nach draußen und sammle Gartenblumen. Ich habe gehört, dass man aus diesen Blumen ganz fantastische Mobile bauen kann“, schlug sie vor und begann zu lachen. „Sehr gute Idee“, konterte Matthias, „ dann schlage ich vor, dass Tom und Raoul derweil mit dem Fahrrad zum See fahren und versuchen den Froschkönig zu angeln. Der hat nämlich eine Kugel und sitzt damit schon Jahre um Teich!“ Die leichte Entspannung im Raum tat allen gut und die Aussicht auf den baldigen Anbruch des Morgens tat ihr Übriges. Raoul stand am Fenster und winkte die anderen herbei: “Sehen Sie mal!“ Vor dem Fenster hatte sich ein Eichhörnchen im Schnee niedergelassen und kaute auf einem Popcorn herum, dass es irgendwo gefunden haben musste. Im Hintergrund wurde der Himmel hell. „Lasst uns verschwinden, da kommt die Sonne und das Blatt des Kalenders von gestern hat ausgedient“, rief Tom und nahm seine Jacke. „Nicht so schnell“, bremste Raoul ihn ein. „Warum, ich habe Hummeln im Hintern und muss unbedingt so schnell wie möglich telefonieren!“ Teil 8 Woche 7/2013 „Die anderen Touristen schlafen noch und die muss ich auch mitnehmen, schon vergessen? „Genau“ warf Matthias ein. „Wie beim Sonntagsausflug, erst alle Schäflein durchzählen und dann starten. Schrecklich diese Warterei, hat jemand Zigaretten?“ Ursula schaute ihn entsetzt an: “Wir rauchen seit drei Jahren nicht mehr!“ „Dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt wieder damit zu beginnen“, grinste er und fummelte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche: „Zubehör hätte ich.“ Tom hielt ihm seine Schachtel hin, die noch zwei etwas zerknautschte Zigaretten enthielt. Matthias haderte einen Moment, sah bedauernd zu Ursula und griff zu: „Zeit zum Chillen. Sei nicht böse mein Schatz, sobald wir zurück in der Zivilisation sind, gibts 20 Euro zusätzlich in die Rauchfrei-Spardose. Ich verwerfe das Märchen „Entspannung durch Rauch“ zu Hause wieder, versprochen.“ „Sicher, das glaube ich dir jetzt schon aufs Wort. Gib mir auch einen Zug. Dich rauchen zu sehen ist wie eine Sitzung beim Zahnarzt. Wenn man weiß, dass das faule Ding gezogen werden muss und auf den Eckenheber wartet, damit es endlich passiert.“ Tom hielt ihr nun auch ihr seine Schachtel hin: „Das ist die Letzte, nehmen Sie, dann ist das Thema gegessen. Was denken Sie Raoul, wann wir hier loskommen?“ Raoul schaute auf die Hütten der anderen Touristen, in denen sich noch nichts regte: “Ich denke wir gehen eine Runde Türenklopfen und sehen zu, die anderen in einer dreiviertel Stunde im Küchenhaus versammelt zu haben.“ „Einverstanden“, gab Tom zurück, „vamos, lassen Sie uns keine Zeit verlieren!“ Er ging zur Hütte, die am nächsten lag. Am Fenster hatten sich wunderschöne Eisblumen gebildet. In das Paar Schuhe, das vor der Tür stand, mochte Tom im Augenblick nicht steigen müssen, Masochismus pur. Er klopfte, zuerst zaghaft, dann immer heftiger. Keine Reaktion. Der Rest der Gruppe hatte sich aufgeteilt. Es schien, als ob sich hinter keiner Tür eine Regung hören ließ. Tom schaute auf seine Armbanduhr, kurz vor halb sechs, sie konnten doch nicht alle wie die Steine im Bett liegen? Vorsichtig drückte er die Klinke der Hüttentür nach unten – unverschlossen. Er trat ein und sah sich um, die Hütte war verlassen. „Hier ist niemand“, rief er den anderen entgegen. „Hier auch nicht“, riefen Matthias und Ursula, die gerade aus einer anderen Hütte heraustraten. „Die können doch nicht alle den Schmetterling gemacht haben. Das hätten wir bemerkt, oder?“, fragte Ursula ängstlich. Raoul trat nun ebenfalls durch eine der Türen, die anderen drei liefen zu ihm. In der Hütte stand eine der Touristinnen im Bad und war gerade dabei ihre Frisur mit Haarspray zu bearbeiten. „Wo ist ihr Mann?“, fragte Raoul sie besorgt. „Oskar?“, erwiderte sie und zog dabei ein Gesicht, das entfernt an einen Entenschnabel erinnerte. „Der ist vor Anbruch des Tages mit diesem Gregor losgezogen. Sie wollten vor dem Frühstück noch ein wenig sportlich werden und haben das Weite gesucht. Ein Wikinger fühlt keine Kälte hat er mir erzählt, seine Kopfhörer geschnappt und mich hier stehen lassen“, erklärte sie mit noch immer beleidigter Miene. „Männer sind beim Sport, beim Sex und beim Autokauf wie die Dinosaurier, kein Blick nach rechts und links und keine andere Meinung zählt. Ist Ihnen das auch schon aufgefallen?“, sie sah fragend in Ursulas Richtung. „Ich meine Fahrspaß hin oder her, bevor er den Mercedes gekauft hat, hätte ich auch schon gerne noch ein Wörtchen mitreden wollen!“, ergänzte sie und griff nach ihrem Make-Up Koffer. „Ich hoffe sie treten ordentlich in Pferdemist, alle beide!“ „In welcher der Hütten wohnt Gregor?“, fragte Matthias und unterbrach den Redeschwall der aufgebrachten Ehefrau. „Gleich nebenan“, nuschelte sie, während sie die Kontur ihrer Lippen gekonnt nachzeichnete. „Wir sehen uns in vierzig Minuten in der Küche“, erklärte Raoul der Tüncherin und nickte in Richtung Tür. Rasch folgten Ursula und Matthias seiner Geste. „Die scheinen ja heute Morgen schon richtig Spaß miteinander gehabt zu haben“, mutmaßte Ursula und verzog das Gesicht. „Kann mir mal jemand diese heulende Audiokassette aus dem Ohr nehmen, die mir der Pfau dort drinnen verpasst hat?“ Matthias grinste breit: “Warum musste ich beim Anblick ihrer Frisur nur ständig an Romanesco denken? Ich bin übrigens froh, dass diese beiden Vögel nur sporteln sind. Als ich niemanden angetroffen habe, war in ganz schön in Sorge.“ „Ist dieser Gregor denn ohne Partnerin angereist?“, erkundigte sich Ursula bei Raoul. „Wenn ich das richtige Bild zu ihm im Kopf habe, glaube ich schon“, er zückte sein Notizbuch warf einen Blick hinein und nickte bejahend. „Das ist der Typ Wichtel, der in kurzen Hosen in den Wagen steigen wollte. Sah aus wie ein Storch im Salat und ließ sich kaum von mir überreden sich umzuziehen. Aber nun wollen wir mal die anderen zusammen trommeln. Er ging zur nächsten Tür und klopfte, fast augenblicklich wurde ihm geöffnet. Erleichtert trat er ein. Eine halbe Stunde später waren alle Reisenden, einschließlich der motivierten Sportler, im Küchenhaus eingetroffen. Der Scout erklärte seiner Gruppe, dass die Tour aufgrund der schlechten Witterungsbedingungen vorzeitig abgebrochen werden müsste. Seine Ausführungen wurden mit unterschiedlichen Reaktionen bedacht. Gregor war wütend und drohte sofort damit, einen Teil seiner Kosten einzuklagen, während andere Teilnehmer eher froh über die Nachricht zu sein schienen. ‚Wie eine Katze aus dem Netz geschlängelt‘, dachte Ursula und bewunderte ihren Reiseführer für seine Redegewandtheit. Zur gleichen Zeit in Deutschland Bettina schwitzte, als sie ihr Telefon zurück in die Station steckte. „Das darf doch alles nicht wahr sein“, rief sie wütend in den leeren Raum und fegte wütend ihren Stiftehalter vom Schreibtisch. „Ausgerechnet jetzt! Ich kann noch nicht mal einschreiten.“ In Rage stand sie auf und verließ ihr Büro in Richtung Labor. Vor einer Tür, auf der der Name Tom Werner prangte, blieb sie stehen und lauschte kurz, bevor sie eintrat. Über Toms Arbeitsplatz hingen gepresste Blumen in Bilderrahmen. Mohnblumen und Tulpen fanden sich genauso wie die Blätter der Weintrauben, die in der Form eines Windrades angeordnet im Rahmen befestigt waren. „Verfluchter Pflanzennarr“, schimpfte sie und zog hektisch die Schubladen am Schreibtisch auf. Doch außer einigen Orangen, die schon bessere Tage gesehen hatten, einem Foto, dass eine Geburtstagstorte zeigte, und einigen losen Blättern fand sie nichts. „Wo hast du die Unterlagen zu deiner Andentanne versteckt?“, murmelte sie und hob die Gießkanne an, die auf der Fensterbank stand. Nichts. Im Regal an der Wand hob sie einen Pappkarton hoch, der ihr als letztes Versteck in den Sinn kam. Sie fand ein aus Draht geflochtenes Fahrrad, einen Prospekt des Fabrikmuseums in Roth, Tom hatte das Bild eines Wasserrades eingekringelt, und einige Plastikschüsseln, die dringend einer Grundreinigung bedurften. „Verfluchter Mist, wo sind deine Aufzeichnungen, Blumenheini?“ Teil 9 Woche 8/2013 Entnervt hob Bettina den Karton zurück auf das Regal und ruckte über einen kleinen Widerstand. Verwundert hielt sie inne, stelle den Pappkarton auf den Fußboden und taste über das Regalbrett. Bald hatten ihre Finger einen kleinen Fleck Masse ertastet, das sich wie Wachs anfühlte. Hatte es hier ein geheimes Versteck gegeben? Falls ja, war sie definitiv zu spät gekommen. Bettina überlegte fieberhaft, wie sie an Toms Aufzeichnungen kommen konnte, ohne sein ganzes Büro auf den Kopf stellen zu müssen. Ob er es gar nicht schriftlich fixiert hatte, sondern nur im Rechner gespeichert? Doch sie wusste, dass ein umfangreiches Blattwerk zur Projektvorstellung auf seinem Platz gelegen hatte. Fraglich war nur, ob er es hier oder zu Hause aufbewahrte. Im Computer war sicherlich alles gespeichert, sortiert und aktualisiert, doch von Toms Passwort hatte sie keinen Schimmer. Sie vermutete etwas für sie so absurdes wie Weihwasserkessel, Frauenkirche oder Katzenjammer, Tom dachte einfach in ganz anderen Dimensionen als sie selbst. Ihre Passwörter setzten sich immer aus Abkürzungen und Geburtstag gepaart mit Sonderzeichen zusammen. Mutlos setzte Bettina sich an den Rechner, schaltete ein, wartete auf die Passworteingabe und begann die erstbesten Worte, die ihr einfielen, in die Tastatur zu hämmern. Ihr Handy, das in der Hosentasche einen Lounge Song anstimmte, ignorierte sie. Vielleicht lag die Lösung doch nahe, denn sie glaubt sich erinnern zu können, Tom einmal von seinem ziemlich schlechten Gedächtnis erzählen gehört zu haben. Nach und nach tippte sie die Namen aller Blumen, die in den Rahmen über ihr hingen abzuchecken. Nachdem die Eingabe des Wortes Rose ihr gerade das x-te Mal Bitte korrektes Passwort angeben auf dem Monitor bescherte, surrte ihr Mobiltelefon erneut. „Ja?, knurrte sie entnervt. „Bettina, wo bist Du verdammt noch mal“? „In seinem Büro. Hast Du irgendeine Ahnung wie sein Passwort lautet?“ „Ja, ich glaube schon. Aber würdest Du mir die Freude bereiten mir zu erklären, was du da machst. Wir haben im Moment wirklich andere Probleme!“ „Ich versuche unseren Arsch zu retten, oder zumindest einen Teil davon, werter Herr Chef“, antwortete Bettina einem Wutanfall nahe. „Falls Du es noch nicht begriffen hast, Tom wird versuchen herauszufinden, warum er dort oben in Chile gekidnappt wurde. Wenn es dumm läuft, stößt er auf unsere Versuchszelle. Tom steht mit seinem Denken zwar nicht immer mitten im Leben, aber er wird eins und eins zusammenrechnen können. Also gibt mir sein verfluchtes Passwort, ich will sehen, wie viel weiter er mit seinen Ergebnissen ist als wir“, sie trommelte nervös mit den Fingern auf den Schreibtisch. „Vor vier Wochen habe ich einen kleinen Zettel an seinem Bildschirm kleben sehen, darauf hatte er WespentaillenWindel007 notiert.“ „WespentaillenWindel007? Hab ich das richtig verstanden?“, fragte sie entgeistert. „Absolut richtig.“ „Geht jetzt die Tierliebe mit ihm durch? Da hätte ich ja auch selbst drauf kommen können.” Sofort glitten Bettinas Finger über die Tastatur: Bitte korrektes Passwort angeben. „Nein, fluchte sie und lauschte ins Handy. „Erik bist du noch dran?“ „Bin ich und das das Wort nicht gestimmt hat, brauchst du nicht extra zu erwähnen, du warst laut genug. Er muss es vor seinem Abflug geändert haben. Und wenn er immer solche seltsamen Worte benutzt, kannst du es dir abschminken, darauf zu kommen.“ „Na jetzt weiß ich ja wenigstens, wie er tickt. Als Nächstes werde ich alle Wortschöpfungen des Tierreiches eingeben, die mir in den Sinn kommen. Igel-Quartett klingt doch sinnig, oder? Und falls es das nicht ist, könnte ich es ja mal mit Käfer-Parade 0815 versuchen.“ „Jetzt regt Dich mal nicht so auf. Ich glaube nicht, dass er da unten in Chile auf unsere Forschungen stößt, dafür sind sie gut genug getarnt.“ „Er wird nicht einfach nach Hause kommen und annehmen, er sei durch einen Zufall in die Hände von Entführern geraten. Tom bohrt nach, ganz sicher, dafür muss man ihn nicht allzu gut kennen. Groß wird seine Freude sein, wenn er herausbekommt, dass du seine Idee geklaut hast, um sie nach Abschluss meistbietend zu verhökern.“ „Was heißt hier du? Darf ich dich daran erinnern, dass du mit in diesem Boot sitzt?“, zischte Erik zornig. Bettina sank in sich zusammen, er hatte vollkommen recht: „Aber ich hatte keine andere Wahl!“ „Doch die hattest du!“ „Sicher, ich hätte mir auch eine andere Stelle suchen können und mein eigenes Projekt einfach in den Wind schreiben. Glaubst du ernsthaft, ich wüsste nicht, dass meine Efeuranken nirgendwo anders angenommen werden. Das hast du dir zunutze gemacht und mich erpresst. So einfach ist das. Eine Wahl würde ich das nicht nennen.“ Ihr Blick wanderte zum Fenster des Büros, das ihr einen wunderbaren Ausblick auf den farbenfrohen Sonnenuntergang bot. Seit Beginn der heimlichen Machenschaften in Südamerika plagte sie ihr schlechtes Gewissen. Das Gewitter war aufgezogen, nun würde alles auffliegen und für diese IdeenAbzocke konnten sie ins Gefängnis wandern, da machte sie sich nichts vor. „Ich bleibe weiter dran, versuch du in Chile zu retten, was du kannst“, erklärte sie resigniert und drückte das Gespräch weg, bevor ihr Chef noch etwas erwidern konnte. Ursula ging mit Matthias zur Hütte, um die Koffer zu holen, als erneuter Schneefall einsetzte. „Das hört hier wohl nie auf zu schneien“, murmelte sie und öffnete die Tür. „Die armen Menschen, die hier oben wohnen, können einem leidtun. Das halbe Jahr Schneegestöber und keine Aussicht auf ein Sonnenbad. Muss ätzend sein, so lange auf den Winterausklang warten zu müssen“, stellte Matthias fest und ging ins Badezimmer. „Sie sind es nicht anders gewohnt. Ich glaube nicht, dass sie sich darüber Gedanken machen. Es ist ihr Lebensrhythmus und fertig.“ „Wir könnten in Erwägung ziehen einen Kunstblumenhandel zu eröffnen, ich glaube wir hätten reißenden Absatz und alle Anwohner Dekorationen im Fenster!“, er grinste, nahm sein Deo und klopfte den Sprühkopf aufs Waschbecken: „Verstopft!“ Ursula lachte auf: „Es gibt Schlimmeres, stink halt eine Weile. Aber deine Ideen sind wie immer göttlich. Vielleicht könnten wir uns dann nebenbei auf die richtige Ernährung für die Andenbewohner stürzen. Denk nur mal, eine Ernährungsberatung würde einschlagen wie eine Bombe. Alle Bewohner kommen zweimal die Woche zu uns und lassen sich belehren, wie wichtig Obst in der kargen Zeit ist. Sie lernen, dass Süßigkeiten keine Hauptmahlzeit sind und man die Buttercreme getrost vom Kuchen lassen kann, ohne dass er danach ungenießbar wird.“ Demonstrativ leckte sie ihren Zeigefinger ab und hob ihn an die Stirn: „Es wird Zeit deinem Vögelchen mal wieder ein wenig Wasser zu geben!“ „Dann benötigt dein eigener Piep Matz aber einen Hydranten“, feixte er zurück und nahm sie in die Arme. „Komm Liebes, schnapp Deine Sachen, gleich geht es zurück in die Sicherheit, Schluss mit Action und Wildwasserbahnfahrt, die Zivilisation ruft. Ich schlage vor, die Leute hier mit unseren Geschäftsideen zu verschonen. Sie werden schon von selbst darauf kommen, ihr Omelett nicht mit Vanillesoße zu genießen, jede Wette.“ „Du bist so herrlich doof und Deine Schubkarre voller Humor hat mir schon so manches Mal das Leben gerettet, weißt du das?“ Sie warf ihm eine Kusshand zu. „Ich dich auch“, erklärte er sanft, nahm sie bei der Hand und zog sie nach draußen. Die Reisegruppe hatte sich bereits auf dem Parkplatz versammelt und Raoul zählte sie durch, als Ursula und Matthias zu ihnen stießen. Sie bemerkten im selben Moment wie ihr Scout, dass Tom nicht da war. „Wo steck er jetzt schon wieder?“, fragte Raoul. „Keine Ahnung sollen wir nachsehen gehen?“, fragte Matthias und drehte sich bereits Richtung Toms Hütte um. „Nein“, erwiderte Raoul, „ich gehe selbst. Verladen Sie schon mal Ihr Gepäck auf die Wagen. Und sichern Sie es ein wenig, die Fahrt wird holprig und glatt. Im Küchenhaus liegt eine Wäscheleine, die Sie benutzen können“, erklärte er und ging zu Toms Behausung. Matthias lief ins Küchenhaus, griff nach der Leine, die auf dem Tisch lag, und flüsterte belustigt: „Ich taufe dich auf den Namen Gepäcksicherungsmaterial.“ Hinter ihm gluckste seine Frau, die ihm gefolgt war. „Hör auf zu lachen, du nimmst diesem magischen Moment seine Ernsthaftigkeit, Weib“, versicherte er und hob die Wäscheleine in die Höhe. „Lasst uns diesem Wunder der Technik huldigen!“ Ursula prustete kopfschüttelnd los: „Gatte, du hast einen universellen Knall. Ich würde zu gerne wissen, was eine Röntgenaufnahme Deines Schädels zeigen würde. Lass eine machen und wir hängen sie mit dem Titel Impressionen des Wahnsinns in unser Wohnzimmer. Teil 10 Woche 9/2013 „Für die Aufnahme von Deinem Schädel sitzt Du ja wohl schon länger im Wartezimmer, oder?“, gluckste Matthias, drückte ihr die Wäscheleine in die Hand und zog sie nach draußen. Dort sprach niemand ein Wort. Fragend schauten die versammelten Touristen in die Richtung, in der Raoul verschwunden war, um nach Tom zu suchen. „Auf geht’s Leute, lasst uns das Gepäck verstauen, damit es losgehen kann, wenn die beiden hier sind. Sicher hat er sich nochmal aufs Ohr gehauen und die Zeit vergessen“, versuchte Matthias die Gruppe aus ihrer Starre zu reißen. Er ging zu einem der Autos, öffnete mit einigen Mühen den Kofferraum, der sich wegen der Eisbildung zuerst störrisch verweigerte, und legte seinen Koffer neben den Benzinkanister. Einen Augenblick später kam Leben in die Gruppe, jeder griff nach seinem Gepäck, brachte es zu einem der Wagen und verstaute es. Von Raoul und Tom fehlte nach Beendigung noch immer jede Spur. „Ich gehe nachschauen, was da los ist“, rief Ursula und lief rasch zu Toms Behausung. „Warte, ich begleite dich, vielleicht brauchen die beiden Hilfe.“ Einige der Umstehenden schlossen sich Matthias an und folgten Ursula, als ein Jeep von der Straße auf den Parkplatz einbog. Zwei ganz in schwarz gekleidete Männer sprangen aus dem Wagen und kamen auf die Gruppe zu: „Wer von Ihnen ist der Wissenschaftler?“ Die Touristen blieben stumm und starrten wie vom Donner gerührt auf den Größeren der Männer. Er hatte sich bedrohlich aufgebaut und ließ ihnen keinen Spielraum an ihm vorbei zu kommen. Ungeduldig erhob der Fragende erneut die Stimme: “Wer?“ Ursula drehte sich zu ihm um und sagte ruhig: „Er ist nicht hier. Und nun möchte ich Sie etwas fragen.“ Ein Entsetztes nach Luftschnappen war von vielen der Gruppe zu vernehmen. „Wer zum Teufel sind Sie und was wollen Sie von Tom?“ Matthias zog Ursula an ihrem Arm zu sich und zischte: „Zieh sofort die Handbremse an! Bist du von Sinnen?“ Sie befreite sich aus seinem Griff: „Nein, bin ich nicht, aber ich bin es leid, dass wir ständig bedroht und ausgefragt werden. Reicht es nicht, das man auf uns eingeprügelt und Tom entführt?“ Die ahnungslosen Urlauber rissen entsetzt die Augen auf. „Nun schien es endlich soweit, dass meine Sehnsucht nach ein bisschen Normalität in Erfüllung geht und jetzt tauchen die auf.“ Wütend zeigte sie auf die beiden Männer in Schwarz. „Ich habe die Nase voll von ihnen herumgeschubst, und terrorisiert zu werden. Was haben wir denn noch zu verlieren, wenn wir diese Vetternwirtschaft mal fragen, was eigentlich ihr Problem ist? Ich will nach Hause im Strandkorb am Kirschbaum sitzen, Badezusatz und Zahnbürste benutzen, und mich sicher fühlen. Nicht wie in einer Zeitreise gefangen auf einer Ritterburg hängen bleiben und ständig um mein Leben fürchten. Ich bin müde und habe überhaupt keine Lust mehr auf Abenteuer! Also frage ich laut und deutlich, was zum Teufel wollen Sie von uns?“ Der Hüne setzte sich in Ursulas Richtung in Bewegung, doch sie blieb scheinbar furchtlos stehen und bewegte sich keinen Millimeter. Erneut zog Matthias an ihrem Arm, dieses Mal viel heftiger: „Sei still jetzt, es ist schon schlimm genug. Du könntest auch gleich Deinen Nischel auf die Gleise legen, so stirbt es sich schneller. Hör auf die Typen zu provozieren, die tanzen doch auf deinem Grab. Hast du noch nicht begriffen, dass es hier um mehr geht, als du dir in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst?“ Der Mann stand nun vor ihnen und warf Ursula auf seine Schulter, als habe sie kein nennenswertes Gewicht. Er trug sie zu seinem Kollegen, setzte sie ab und ging zurück in seine Bewacher Position. Groß, grimmig und unantastbar stand er, wie ein Leuchtturm in der Brandung, und behielt die Gruppe sorgsam im Auge. Ursula drehte sich zu ihrem Mann und rief: „Doch, ich habe sehr wohl begriffen, dass dies hier hoch brisant zu sein scheint. Aber ich habe, wie schon erwähnt, keine Lust mehr zu kriechen und nach deren Pfeife zu tanzen!“ Sie fixierte den Kerl vor sich mit finsterem Blick: „Würden Sie die Freundlichkeit besitzen, mir meine Frage zu beantworten? Was wollen Sie von uns?“ Zur gleichen Zeit in Deutschland Bettina saß in Toms Büro und fingerte gedankenverloren an einem Lesezeichen, dass sie auf dem Schreibtisch gefunden hatte. Sie kam hier einfach nicht weiter. Wütend stand sie auf, öffnete die Tür und schlug den Weg zur Meßanlage des Institutes ein. Vielleicht konnte ihr hier einer der Mitarbeiter weiter helfen. Als sie die Sicherheitsschleuse hinter sich gelassen hatte, stand sie in der großen Halle in der hunderte von Kontrollleuchten blinkten, wie einarmige Banditen in der Spielbank. Es war niemand zu sehen: „Hallo“, rief sie und beobachtete das Farbenspiel an den Konsolen. „Wir sind alle hier hinten. Kommen Sie, das müssen Sie gesehen haben“, rief eine Frau, von der Bettina der Stimme nach annahm, es müsse sich um Roswitha handeln. Sie war im Sektor Insekten- und Reptil Forschung beschäftigt, einem Bereich, den Bettina verabscheute. Widerliches Viehzeug, lästiger als Nasensekret. Sie verstand absolut nicht, wie sich jemand mit einem solchen Enthusiasmus damit beschäftigen konnte, wie Roswitha es tat. In ihrer Freizeit, so hatte sie ihr einmal erzählt, war sie Orgelspielerin in einer Musikgruppe, die bei Feiern auftraten, immer bemüht zu amüsieren und animieren. ‚Nee, das wäre nichts für mich‘, dachte sie verächtlich und ging nach hinten. Drei Mitarbeiter, unter ihnen Roswitha, standen vor einem großen Terrarium, das die neue Behausung einer Vogelspinne war. Schon aus einiger Entfernung erkannte sie, dass ihre Münder vor Entzücken offen standen. „Seht Euch das an. Sie macht keine Anstalten den Marienkäfer zu fressen!“ Ursula trat an den Kasten und schaute durch die blankgeputzte Scheibe. Die Spinne saß am vorderen Rand auf einem Stein und regte sich nicht. Im Hintergrund kletterte auf dichtem Gestrüpp, das von der Decke der Rückwand wucherte, ein Marienkäfer nach unten. Auf dem Boden des Terrariums lag ein Meer von Kokons, von denen sich einige bereits bewegten. „Sie wird satt sein“, vermutete Ursula unbeeindruckt. „Nein, das ist sie keineswegs. Sie mag den Käfer nicht. Er hatte ausgiebigen Kontakt mit unserer neu gezüchteten Hyazinthen-Art. Wir glauben, dass der Geruch die Spinne abschreckt oder irgendwie unsichtbar macht.“ Bettina tat höchst interessiert: „Kann ich eine Gegenprobe sehen?“ „Sicher“, ereiferte sich Roswitha, nahm eine Stabheuschrecke aus einem benachbarten Glaskasten und legte sie in das Terrarium. Die Vogelspinne schlug sofort zu. Angeekelt schaute Bettina auf den Hinterleib des Tieres, der sie an einen Luftballon denken ließ und pulsierte, während die Kauwerkzeuge mahlten. „Scheint wirklich hungrig gewesen zu sein. Sagen Sie, hat irgendjemand von Ihnen eine Ahnung, wie Tom Werner seine Versuche schriftlich fixiert? Wir sind dabei sein Projekt voranzutreiben und brauchen einige weitere Angaben.“ „Warum fragen Sie ihn nicht selbst?“, erkundigte sich ein kleiner Mann mit Glatze, den Bettina nicht kannte. „Er hat Urlaub und ist in Chile. Leider geht er nicht an sein Telefon, dabei wäre es wirklich dringend.” „Dann werden Sie wohl warten müssen, bis er wieder erreichbar ist. Ich kann Ihnen jedenfalls nicht weiterhelfen.“ Roswitha trat neben ihn und erklärte sich ebenfalls außerstande zu helfen: „Wenn nichts mehr weiter zu tun wegen der Theraphosidae ist, würde ich gerne Feierabend machen. Ich muss noch zum Teich im Stadtpark.“ „Ja, ja“, antwortete der Kahlköpfige. „Deine Enten und Kois versorgen. Ich wüsste gerne, was die Viecher ohne dich täten?“ Roswitha errötete: „Dafür liebst du mich, gib es zu.“ „Stimmt genau, dein großes Herz ist sagenumwoben. Ich darf nicht vergessen am Sonntag eine Kerze für dich anzuzünden, damit der liebe Gott dich lange am Leben hält.“ „Tu das“, lachte Roswitha, schlupfte aus ihrem Laborkittel und verließ die Gruppe. Teil 11 Woche 10/2013 Bettina blieb noch eine Weile resigniert vor dem Terrarium stehen, beobachtete die Vogelspinne und den unversehrten Käfer. Sie musste unbedingt an das Passwort für Toms Computer gelangen. Während sie über ihre nächsten Schritte nachdachte, lächelte sie einer der Labormitarbeiter vor der Behausung der Spinne schüchtern an. Sie grinste breit zurück, ihren neuen Plan sekundenschnell im Kopf. Dieser Kerl würde es noch nicht einmal in ihren erweiterten Freundeskreis schaffen, doch mit ein wenig Geschick, war er in Sachen Information vielleicht ein Gewinn für sie. „Wann haben Sie Feierabend“, fragte sie höflich. „Ich hätte Lust drüben im Café Stern ein Stück dieses Kuchens zu essen. Er schmeckt herrlich nach Zitrone, kennen sie ihn?“ Ihr Kollege trat unbehaglich von einem Bein aufs andere, er schien nervös. „Kommen Sie, nur ein Stück Kuchen. Ich sitze nicht gerne allein am Tisch.“ Er tastete errötend in seiner Manteltasche, griff sein Inhaliergerät und nahm einen tiefen Hub: „Entschuldigung“ keuchte er erleichtert. „Ich bin in etwa zehn Minuten fertig. Wenn Sie so lange Geduld haben möchten?“ „Klar, ich kann es kaum erwarten“, erwiderte sie in gehobener Stimmung. Auf manche Männer schien ihre Frauenpower wie ein Magnet zu wirken, sie musste sich nicht einmal anstrengen. „Bin gleich zurück“, erwiderte der Laborant und ging in Richtung Meßanlage davon. Bettina nahm auf einem im Flur aufgestellten Stuhl Platz und wartete. ‚Er muss noch ein Welpe am Institut sein‘, erwog sie amüsiert. ‚Ich habe ihn noch nie gesehen, oder einfach nicht beachtet.‘ Normalerweise stand sie nicht auf Männer, von denen sie annahm, dass sie MickymausUnterwäsche an Mamas Wäscheleine hängen hatten. In Jeans und einem mit dem Wort „Beichtstuhl“ bedruckten T-Shirt kam er zu ihr zurück. „Was ist das?“, fragte Bettina belustigt und zeigte auf den Schriftzug. „Die Band, in der ich spiele, cooler Name, oder?“ „Und welche Art Musik kann man vom Beichtstuhl erwarten? „Auf jeden Fall keine für Samtpfötchen, wir covern Metal Songs, bunt gemischt von vielen Bands. Hat nichts mit dem Glauben zu tun, auch wenn der Name das vermuten ließe“, erklärte er stolz und mit Leidenschaft in der Stimme. Bettina ging voran: „Kommen Sie, Sie können mir im Café mehr davon erzählen. Es klingt, als müsse ich bei einem Ihrer nächsten Auftritte dabei sein. Wie heißen sie eigentlich?“ „Lothar Schröder, und ich weiß bereits, wer Sie sind.“ Sie grinste und ging durch die Drehtür am Ausgang. Der Typ wurde ihr langsam sympathisch. Sie überquerte die Straße und würdigte den älteren Herrn mit Hut, der stumm den Wachturm in die Höhe hielt, keines Blickes. Im Café war nur noch ein Tisch frei, auf den sie zielstrebig zusteuerte und Platz nahm. „Setzen Sie sich“, forderte sie Schröder auf. Bettina kam gerne hierher, die Dekoration lud zu einem längeren Aufenthalt ein. Auf den Tischen, die von Gartenlampen erleuchtet wurden, standen täglich frische Blumen. Heute waren es Märzenbecher in kleinen Zinkeimern. ‚Hübsche Frühlingsboten‘, dachte sie abwesend, bevor sie versuchte das Gespräch in die richtige Richtung zu lenken. „An welchen Veranstaltungsorten spielt ihre Band so?“ Schröder lächelte schüchtern: “Im Moment an keinem, aber wir hatten schon mal einen Auftritt. Im Fischerboot draußen am Waldweg kennen Sie den Club?“ Bettina verneinte, nahm die Karte, warf einen kurzen Blick hinein, und schob sie über den Tisch zu ihm. „Nehmen sie den Schneeball, das ist der Kuchen, von dem ich Ihnen erzählt habe.“ „Wenn es Ihnen nichts ausmacht“, erwiderte er nach kurzem Blick in die Karte, „würde ich lieber das Rennfahrer-Frühstück essen. Wenn ich richtig gelesen habe, gibt’s es das hier während der gesamten Öffnungszeit. Ich habe einen Bärenhunger, bin schon seit sieben Uhr früh im Institut um Toms Ergebnisse zu kontrollieren. Und sehen Sie“, er deutete zum Fenster, „draußen sieht man schon das Abendrot.“ Bettina jubilierte stumm. Die Kellnerin war an ihren Tisch getreten und hatte den letzten Teil ihrer Unterhaltung zwangsläufig mitbekommen: „Entschuldigen Sie, reden Sie über den Pflanzen-Tom, drüben aus dem Institut?“ Bettina sah sie erfreut an, noch eine potenzielle Informationsquelle. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, gab sich dennoch kühl: „Obwohl ich es sehr unhöflich von Ihnen finde, sich in die Unterhaltung fremder Menschen einmischen, ja. Kennen Sie ihn von hier?“ Die junge Frau gab schüchtern zurück: „Es tut mir leid, ich wollte nicht taktlos sein. Aber mein Sohn spielt bei ihm Fußball und er kann es kaum erwarten, dass er wieder zurück ist. Tom ist sein Lieblingstrainer.“ Sie zeigte auf ein Foto, das hinter dem Tresen hing. Die gesamte Mannschaft grinste mit all ihren Zahnlücken glücklich in die Kamera. „Wenn ich sie so fröhlich sehe, bin ich einfach glücklich. Kein Gemälde der Welt ist so schön wie diese Fotografie!“ Bettina konnte die Freude der Frau nicht nachvollziehen. Sie hasste es, wenn Menschen sich nur über ihre Kinder identifizierten. Mit benutztem Präservativ hätte dieses Mädel nichts mehr, worüber sie stundenlang schwärmen konnte. Doch diese Frau konnte mehr über den Wissenschaftler wissen, deshalb tat sie angetan und antwortete:“ Holen Sie es mal rüber. Welcher von diesen süßen Rackern ist denn Ihrer?“ ‚Auf diesem ollen Staubfänger‘, ergänzte sie gedanklich und grinste noch breiter. Ursula stand unter Strom. Es war ihr durchaus bewusst, dass sie mit ihrem Verhalten die gesamte Gruppe in Gefahr brachte. Stumm starrte sie den Kerl, der sich drohend vor ihr aufgebaut hatte, an. „Wir wollen von Ihnen wissen, wo dieser Tom Werner ist! Das habe ich schon mehrfach gefragt.“ Er packte Ursula an ihren Oberarmen und begann sie zu schütteln. Auf seinem rechten Handrücken blitzte ein Eidechsen Tattoo auf. „Nehmen Sie ihre Pfoten weg“, kreischte sie und wand sich heftig: „Wenn Sie glauben, dass wir Ihnen helfen, sind Sie auf dem Holzweg. Zudem wissen wir überhaupt nicht, wo er seit heute früh abgeblieben ist. Ich wüsste das auch gerne, doch zu allererst interessiert es mich brennend, was Sie von ihm wollen?“ Matthias stand fassungslos bei der Gruppe. Was war nur in seine Frau gefahren? So hatte er sie noch nie erlebt. Sonst so sanftmütig musste sie ausgerechnet jetzt ihren weiblichen Rambo entfesseln und sie hatten den Salat. Er ging näher an sie heran, um ihr in der Not beistehen zu können. Der Chilene schüttelte angewidert den Kopf: „Das geht Sie nichts an. Wo haben Sie ihn zuletzt gesehen? Jetzt spucken Sie es endlich aus!“ Ursula heulte auf und streckte die Arme in die Luft und rief: „Sie wollen es nicht kapieren, oder? Wir sagen es Ihnen nicht. Selbst wenn Sie mit einem Panzer vorfahren und mich bedrohen. Nicht bevor ich endlich weiß, warum wir von Ihnen terrorisiert werden. Und versuchen Sie ja nicht uns weiszumachen, dass Sie Tom in irgendeiner Weise helfen wollen. Ich lasse mich nicht von Ihnen täuschen.“ Teil 12 Woche 11/2013 Matthias beobachtete den Chilenen, konnte in seiner Reaktion keine Gefahr für Ursula erkennen, und blieb zunächst regungslos stehen. Ursula stemmte die Arme in die Hüfte: „Keine Antwort von Ihnen? Ich hatte die Hoffnung Genaueres zu erfahren, damit wir eventuell zu einer Kooperation bereit wären. Vielleicht sind Ihre Beweggründe edel und erstrebenswert? Das kann ich allerdings nicht beurteilen, wenn Sie ständig beharrlich schweigen. Wenn wir weiter hier stehen und warten bis Weihnachten, kommen wir nicht voran, sondern erleiden höchstens wegen Trinkwasserknappheit ein Hungerödem“, fügte sie sarkastisch hinzu. „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie mit uns zusammenarbeiten, wenn ich Ihnen die Hintergründe erkläre. Aber weil sie beide“, er deute auf Ursula und Ihren Mann, “solche Sturköpfe sind, wird mir nichts anderes übrig bleiben.“ Er winkte seinen Kumpanen heran und gab ihm tuschelnd eine Anweisung, dann wendete er sich erneut Ursula zu: „Ich werde Ihnen beiden, aber nur Ihnen, etwas in meinem Versteck im Gewächshaus zeigen. Vielleicht kann ich Sie damit umstimmen. Steigen sie in den Wagen bitte.“ Unentschlossen sah sie sich nach Matthias um, der bereits auf dem Weg zu ihr war. „Sollen wir den beiden trauen? Ich habe Angst. Besonders der Riese lässt mich bibbern. Andererseits bin ich neugierig auf das, was er uns zeigen möchte. Was meinst Du?“ „Meine Sorge gilt vor allem Tom und Raoul“, antworte Matthias. „Ich frage mich, wo die beiden abgeblieben sind. Doch wenn wir diese Chance nicht nutzen, Näheres über die ganze Sache in Erfahrung zu bringen, haben wir auch nichts gewonnen. Ursula nickte zustimmend und ergänzte nachdenklich: „Ich denke, sie haben die Typen kommen sehen und verbergen sich irgendwo, bis die Luft wieder rein ist. Tom verheimlicht etwas vor uns. Ich weiß nicht, ob Absicht dahinter steckt oder ob er selbst noch gar nicht überschauen kann, in was er da hineingeraten ist. Ich bin hin-und hergerissen zwischen einem Cocktail im Liegestuhl und am Hotelpool ausruhen oder der Möglichkeit, endlich Licht ins Dunkel zu bringen. Kannst Du verstehen, was ich meine?“ „Absolut, mir geht es ähnlich. Aber wir müssen eine Entscheidung treffen, die Zeit drängt. Lass uns mit Ihnen gehen, Wissbegier ist eine Liebeserklärung an das Leben!“ Ursula ging als Erste rasch zum Wagen, in dem die beiden Männer bereits warteten. Sie war froh, dass nicht sie die Entscheidung, die auch ihre gewesen wäre, zuerst laut ausgesprochen hatte. Tom und Raoul saßen geduckt unter dem Fenster in einer der Hütten. Gerade als die beiden sich der Gruppe wieder anschließen wollten, hatte Raoul die Neuankömmlinge bemerkt und Tom zurück ins Innere gezogen. Gespannt und mucksmäuschenstill beobachteten sie das Geschehen und wagten kaum zu atmen. Die Minuten verstrichen zäh wie Zuckerrübensirup, während sie die Szene beobachteten, aber rein gar nichts hören konnten. Erschrocken stieß Tom Raoul an, als das Ehepaar zum Auto der Männer lief: „Sie gehen mit den Gorillas! Was geht da vor?“ Er sprang auf die Füße: „Kommen Sie, dass dürfen wir auf gar keinen Fall zulassen“, rief er, einem Schlachtruf gleich, und stürmte zur Tür. „Bleiben Sie, wo sie sind“, bremste Raoul ihn mit brüsker Stimme. „Was glauben Sie mit dieser Aktion zu erreichen? Vermutlich hoffen die beiden, dass Sie genau das tun, und versuchen Sie aus der Reserve zu locken. Ich muss auch die restlichen Touristen in Sicherheit wissen. Das gelingt mir am ehesten, wenn ich sie bei nächster Gelegenheit zurück ins Tal bringe. Wenn Sie zur Rettung des Paares den Helden mimen und hinausrennen, weiß niemand, wie es weitergeht. Tun Sie mir den Gefallen und spielen sie nicht den Feuerlöscher. Die Geschichte um Sie und ihre wissenschaftliche Entdeckung ist ohnehin schon angebrannt. Wir bringen die Gruppe nach unten, wenden uns dort an die Polizei und melden Ursula und Matthias als vermisst. Ob wir mit dem Rest der Geschichte herausrücken oder etwas Anderes daraus basteln, können wir immer noch entscheiden.“ Tom blieb unentschlossen an der Tür stehen. Wie sollte er reagieren? Die negativen Erfahrungen seiner Entführung stärkten den Wunsch nach Hilfe der Polizei. Andererseits war das Ehepaar durch ihn in diese brenzlige Situation geraten. Ließ er sie im Stich, brachte ihm das sicher kein Zertifikat für mutige Leistungen ein. Doch er wusste selbst nicht einmal genau, worum es ging und wodurch dieser ganze Schlamassel ausgelöst worden war. Er beschloss die Hilfe der Behörden in Anspruch zu nehmen und sofort im Institut anrufen, wenn sie diesen abscheulichen Jahreszeiten-Ausbruch hier oben in den Anden entkommen waren. „In Ordnung, wir warten ab, bis sie verschwunden sind. Aber Sie müssen mir versprechen mich zur Polizei zu begleiten und alles zu erzählen, was Sie selbst über diese Aktion wissen, einverstanden?“ Raoul nickte zerknirscht, im Wissen keine andere Chance zu haben. Es war wie beim Billard, wenn die schwarze Kugel versehentlich versenkt wurde, war die Partie verloren. Daran konnte nicht einmal mehr das Glück eines Schornsteinfegers etwas ändern. „Wir bringen die Reisegruppe zum Hotel und begeben uns danach sofort zum Polizeirevier. Es ist an der Ecke, das Gebäude mit den Glasbausteinen, vielleicht haben Sie es schon gesehen?“ „Ja ich erinnere mich daran, gegenüber ist eine Bushaltestelle und daneben eine Wiese auf denen ein paar Jungs Basketball gespielt haben. Zwischen den Grashalmen blühten Hunderte von Gänseblümchen. Das kann man sich hier oben kaum vorstellen!“ Zur gleichen Zeit in Deutschland Bettina wartete ungeduldig darauf, dass die Kellnerin mit dem Mannschaftsfoto zurück an ihren Tisch kam. ‚So lahm wie eine Schnecke. Bestimmt ist sie so ein Bücherwurm, vernarrt in Arztromane, in denen Heilberufe in den Himmel gehoben wurden und Hustensaft das Allheilmittel war, weil echte Krankheiten erst gar nicht vorkamen. Oder noch eher Liebesromane, in denen ein Edelstein im Teddybär der Angebeteten versteckt war, Pralinen zum Geschenk eine Selbstverständlichkeit und nichts so sicher war wie ein Happy End.‘ Strahlend hielt sie das Foto vor Ihre Brust und zeigte auf einen Jungen in der zweiten Reihe. „Das ist mein Felix, es bedeutet der Glückliche und trifft durchaus zu.“ Bettina unterdrückte unter großer Anstrengung ein Stöhnen. ‚Wusste ich es doch!‘ „Sehr hübsch und so freundlich schaut er aus. Er ist bestimmt ein wahrer Sonnenschein!“ „Ja“, schwärmte seine Mutter und warf einen raschen Blick zur Küche, aus der ein Brutzeln zu vernehmen war. „Warten Sie eine Sekunde, ich komme gleich noch einmal zu Ihnen. Muss nur rasch die Scampi für die Spaghetti aus der Pfanne nehmen, sonst gibt’s Verkohltes.“ Sie rannte vorbei am geschmückten Buffet, hängte das Bild zurück an die Wand und betrat die Küche. Schmunzelnd folgte Bettinas Kollege ihr mit seinen Blicken, während sie krampfhaft überlegte, wie sie mit diesen beiden Menschen umgehen sollte. Sie vermutete, dass bei beiden eine Unterhaltung mit einem Strommast unterhaltsamer wäre und deshalb vorzuziehen sei. Doch musste sie diplomatisch bleiben, um ihre beiden wichtigsten Informationsquellen nicht zu verärgern. Teil 13 Woche 12/2013 Wenige Minuten später stand die Kellnerin mit stark geröteten Wangen wieder am Tisch: „Wäre wirklich fast ein Desaster geworden. Teufel nochmal, nicht nur die Scampi standen fast in Flammen, sondern auch die Spiegeleier, die ich komplett vergessen habe. Aber es ist ja noch mal gut gegangen. Jetzt habe ich einen Moment und kann kurz bei Ihnen Platz nehmen, wenn es Ihnen recht ist.“ Bettina nickte zustimmend und zweigte auf den Stuhl neben sich: Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt“, entschuldigte sie sich und zeigte auf ihren Kollegen. „Das ist Herr…“, weiter kam sie nicht und war dankbar dafür. Der Laborant war aufgesprungen, rief: „Lothar, nennen Sie mich einfach Lothar „ und streckte der Kellnerin seine Hand entgegen. Bettina stellte sich knapp mit „Diercke“ vor, schüttelte die Hand der Bedienung und wünschte sich an einen anderen Ort. Ihr Kollege, der nur noch Augen für die Kellnerin hatte, die sich soeben als Cornelia Immergrün vorgestellt hatte, was Bettina dazu zwang, ihren lauten Ausbruch einer Lachsalve zu unterdrücken, rückte seinen Stuhl ein wenig vom Tisch ab. „Immergrün“, erklärte er ohne ein Anzeichen von Belustigung im Gesicht, „was für eine interessante Namensgebung. Haben Sie schon einmal Nachforschungen darüber angestellt, wo er seinen Ursprung hat?“ Frau Immergrün schüttelte errötend den Kopf. ‚Oh lieber Gott, lass Hirn vom Himmel, bevor ich die beiden mit einer Häkelnadel ersteche und für immer vom Herzschmerz befreie.‘ Sie begann mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln, ihre Geduld würde sich nicht mehr viel länger strapazieren lassen. Sich räuspernd sprach sie die Bedienung an: „Sagen Sie Frau Immergrün, haben sie außerhalb des Trainings Kontakt zu Herrn Werner?“ Wieder errötete sie bis unter die Haarspitzen: „Einmal sind wir nach dem Training mit Felix zum Eis essen gegangen und danach ist Tom auch mit nachhause gekommen. Er wollte unbedingt die Carrera Bahn meines Sohnes anschauen!“ ‚Ja klar, er wollte mit Deinem Sohn Autorennen fahren und der Osterhase geht jede Woche beim Damwild zur Fußpflege, um nicht als Kaninchenbraten zu enden!‘ „Felix hat eine Carrera Bahn“, mischte sich der Laborant ins Gespräch und verhinderte, dass Frau Immergrün den ungläubigen Blick in Bettinas Gesicht wahrnahm. Resigniert stand sie auf, entschuldigte sich und ging zur Toilette um sich abzuregen. Musste der Kerl ständig dazwischen funken? ‚Ich will doch nur wissen, ob sie mehr über Werner weiß und nicht woher ihr Name stammt, darauf pfeif ich!‘ Sie betrat eine Kabine und atmete tief durch und bereute es in derselben Sekunde. Gerüche aus der Küche mischten sich mit denen menschlicher Ausscheidungen. ‚So hat es hier noch nie gestunken‘, dachte sie irritiert. Eine bessere Variante vom Plumpsklo mit Glasbläserbeteiligung. Oder war sie nur so angespannt, dass sie alles um sich herum viel deutlicher wahrnahm? Auch die Graffitis auf den Kabinenwänden hatte sie bei ihren letzten Besuchen nie bemerkt. Mit zusammengekniffenen Augen entzifferte sie die Botschaft: Mehr Toleranz für Bedürfnisse anderer. Schwimmwesten für Wasserratten. Ungeduldig schraubte sie am Wasserhahn, aus dem kein Tropfen Wasser hervorkam. „Zeit zum Renovieren“, rief sie laut in den Raum, und für Dich wird es Zeit dich zu beruhigen und weiter zu forschen. Nur Mut, Tom kann ja nicht alles vor allen geheim gehalten haben!“ Ursula saß auf der Rückbank, Matthias neben ihr legte schützend seinen Arm um sie. Der Kerl fuhr schnittig, aber er raste nicht. Draußen hatte erneuerter Schneefall eingesetzt, sodass man die Umgebung nur verschwommen erkennen konnte. Außer Bäumen rechts und links des Feldweges gab es jedoch auch nichts Außergewöhnliches zu entdecken. „Was machen wir, wenn noch mehr von den Kerlen auftauchen?“, flüsterte Ursula und legte ihre Hand auf das Bein ihres Mannes. „Das kann ich dir nicht sagen, ich hoffe der Windhund da vorne führt nichts weiter im Schilde, als uns endlich zu zeigen, worum es überhaupt geht. Und nicht schon unsere Beerdigung nebst Grabstein geplant hat.“ Ursula wurde bleich und eine Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper. Sie bereute längst dem Vorschlag zugestimmt zu haben: „Ich hoffe es“, seufzte sie und kuschelte sich an Matthias. Kaum waren die Rücklichter der davonfahrenden Wagen nur noch als kleine Punkte auszumachen, kamen Raoul und Tom aus ihrer Deckung. „Wo waren Sie“, fragten einige Reiseteilnehmer sofort. Raoul winkte ab: „Alles andere später, steigen Sie sofort in die Autos wir fahren nach unten. Vielleicht schaffen wir es noch zum Sonntagsbraten“, versuchte er die Verwirrung der Touristen zu zerstreuen. Gregor, der heute einen Zylinder und Hosenträger zur Schau stellte, stieg als Erster in einen der Wagen und winkte Oskar und seiner Frau zu es ihm gleich zu tun. ‚Unser Liliput wieder einmal in bunter Farbvielfalt, fehlt nur noch ein Lebkuchenherz um seinen Hals’, dachte Tom grinsend. Er stieg auf die Rückbank eines Jeeps und sehr rasch hatte jeder einen Platz in den Autos gefunden. Raoul gab den zusätzlichen Fahrer ein Zeichen zur Abfahrt. Drei Stunden später war das Klima bereits merklich angenehmer. Tom kurbelte die Fensterscheibe nach unten und genoss ein Sonnenbad auf seinem Gesicht. Sehr bald könnte er relaxed am Strand liegen und einen Korb Obst genießen, wenn nicht die Fragen wie aufgescheuchte Monster durch seinen Kopf kreisen würden. Er wusste nicht, was er von einem Besuch bei der örtlichen Polizei erwarten konnte. Von Korruption und Bestechung las man ständig in den News, und ob sie ihm diese verrückte Geschichte abkauften, stand ohnehin auf einem ganz anderen Blatt. Alternativen blieben ihm jedoch nicht, er musste die Bombe platzen lassen. Hoffentlich hielt sich Raoul an sein Versprechen und konnte helfen, Licht ins Dunkel zu bringen. Am Autofenster rauschten die ersten Häuser in sein Blickfeld. In einigen Gärten erkannte er Rosen und Narzissen, die um die Wette zu blühen schienen. Farbenprächtig wie Eierfarbe zu Ostern, reckten sie ihre Köpfchen der Sonne entgegen. „Haben Sie hier eine besondere Blumenerde?“, fragte Tom Raoul, bekam jedoch keine Antwort. In einem stattlichen Anwesen entdeckte er einen Swimmingpool, der fast unter Palmzweigen verschwand. In der Ferne konnte er bereits die Silhouette des Hotels erkennen. Teil 14 Woche 15/2013 Sie schafften es tatsächlich aus den Bergen zurück ins Tal, ohne von seinen Entführern aufgehalten zu werden. Das Postkarten-Panorama des Ortes am Meer kam rasch immer näher. Links neben ihm tauchte ein Wohnwagen auf, vor dem ein dickes Stromkabel auf der Erde lag. Daneben türmten sich bunte Kartons, Autoreifen und eine Tüte, um die Insekten kreisten. Raoul bremste und erklärte, dass er rasch nach drinnen müsse, um etwas zu holen. Tom starrte auf den Vorplatz. Er war überrascht und entsetzt, dass ihr Reiseführer in einer so ärmlichen Behausung lebte. Diese Möglichkeit war ihm bisher nicht in den Sinn gekommen. ‚Jetzt verstehe ich auch, warum er sich in diese Sache mit hineinziehen lassen hat‘, dachte er die Situation erkennend. Hier schien es an der Butter auf dem Brot zu mangeln und Raoul hatte die Gelegenheit genutzt, um sich sein Dasein ein wenig behaglicher zu gestalten. Zweifel darüber, dass der Scout auf dem Polizeirevier mit der Wahrheit herausrücken und seinen Part nicht unter den Teppich kehren würde, machten sich in Tom breit. Er musste verrückt gewesen sein, sich überhaupt auf diesen Deal eingelassen zu haben. Was, wenn Raoul nun mit gezogener Waffe zurückkehrte und alles niedermähte? Er ahnte vielleicht nicht annähernd, was für den Chilenen auf dem Spiel stand. Vielleicht ging es hier um viel mehr als das Verreisen zum Karneval. Musste er eine Familie ernähren und schützen, eine erkrankte Mama pflegen? Unbehaglich und angespannt wartete er darauf, dass er wieder auftauchte. Nur sehr kurze Zeit später trat Raoul mit einem freundlichen Lächeln aus seiner Behausung und schlenderte zum Auto. Tom entspannte sich und grinste erleichtert zurück. „Ich musste nur rasch meine Tasche holen“, erklärte er, als er die Fahrertür öffnete. Er hielt eine Herren-Handtasche in die Luft, die Tom nur von Fotos der siebziger Jahre kannte. Niemand aus seinem Freundeskreis benutzte so etwas heute noch. „Darin bewahre ich alle wichtigen Papiere auf und die hiesige Polizei schaut sich gerne alle Dokumente an, die auch nur im Entferntesten mit einer Sache zu tun haben könnten. Schikanieren ist eine ihrer leichtesten Übungen.“ Tom fasste sich ein Herz und bat Raoul noch einmal mit ihm nach draußen zu gehen. Er musste ihn fragen, ob er bei der Polizei wirklich bei der Wahrheit bleiben würde, mochte dies aber nicht vor den beiden anderen Touristen tun, die ebenfalls im Wagen saßen. Stirnrunzelnd nickte der Reiseführer, stieg aus und ging auf den Platz vor dem Wohnwagen. Tom folgte ihm und fragte mit ernstem Gesicht: „Es ist mir sehr wichtig, dass Sie mir jetzt ehrlich antworten. Werden Sie mir bei der Polizei helfen, meine Entführung und was damit zusammenhängt aufzuklären?“ Raoul schaute stur auf den Jeep, der an der Straße parkte. Tom meinte, während er seine Frage stellte ein leichtes Zucken in seinem Gesicht bemerkt zu haben. Er antwortete nicht ihm nicht, blieb einfach stumm. „Raoul?“ „Entschuldigen Sie. Ich bin mir selbst noch nicht im Klaren darüber, wie ich Ihnen helfen kann, ohne mich selbst zu sehr zu belasten. Verstehen Sie mich nicht falsch. Was mit Ihnen geschehen ist, wollte ich auf gar keinen Fall. Man hat mir nicht die Wahrheit gesagt, als man mich angeheuert hat und nun sitze ich mit Ihnen wie ein Kaninchen in der Falle. Dennoch werde ich versuchen, Sie in jeder Form zu unterstützen. Tun Sie mir nur den Gefallen und fallen Sie bei der Polizei nicht mit der Tür ins Haus. Lassen Sie mich reden.“ „Aber“, widersprach Tom, „ich muss doch die Anzeige tätigen!“ Raoul winkte ab: „Wer beginnt die Geschichte zu erzählen ist doch völlig unerheblich. Vertrauen Sie mir, bitte! Und jetzt ab ins Auto, je länger wir hier rumstehen, umso eher können uns die Typen noch abfangen.“ „Sie haben recht, fahren wir. Ich zähle nachher auf Sie. Vergessen Sie das nicht“, bat Tom ihn inständig. Raouls Worte hatten einen schalen Nachgeschmack hinterlassen. Er war sich absolut nicht sicher, ob er das Richtige tat. Zur gleichen Zeit in Deutschland Als Bettina aus den Toilettenräumen zurück ins Café kam, war die Kellnerin Immergrün mit Gästen an anderen Tischen beschäftigt. Der Laborant saß, seinen Kopf tief über eine Gazette gebeugt, am Tisch. Er sah kurz auf und lächelte Bettina zu, als er sie bemerkte. ‚War wohl nichts mit dem Einstieg in die romantische Zweisamkeit’, dachte Bettina sarkastisch und nahm wieder Platz. „Also, was haben Sie nachher noch vor?“ Ihr Kollege errötete, als er die Zeitung beiseitelegte: „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, habe ich mich nach Feierabend mit Cornelia verabredet. Wir wollen ins Kino gehen.“ Bettina kochte, sie konnte sich unmöglich an diese Verabredung heranhängen und würde nun heute nicht mehr weiterkommen mit ihren Nachforschungen. Die Erkenntnis stach sie wie eine Reißzwecke unter den Fingernägeln. Diesem Künstler der Unscheinbarkeit war es in der kurzen Zeit, die sie auf der Toilette verbracht hatte, tatsächlich gelungen Frau Immergrün zu umgarnen. Eine sehr gehässige Bemerkung wollte sich aus ihrem Mund lösen, doch sie schluckte sie hinunter. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die beiden Turteltäubchen ziehen zu lassen und morgen früh neu anzusetzen. ‚Schlafen wir eine Runde darüber‘, sprach sie sich selbst Mut zu, lächelte freundlich und flötete: “Oh wie schön, dann wünsche ich viel Spaß und gehe mal los.“ „Sorry, es hat sich zufällig passend ergeben. Vielleicht sehen wir uns später noch beim Osterfeuer?“ Betina schüttelte den Kopf: „Eher nicht, ich bin recht müde und möchte lieber noch ein wenig auf der Couch entspannen.“ In ihr brodelte es wie in einem Kraftwerk. Was dachte sich dieser selbsternannte Buddha aus dem Labor eigentlich? Kam in ihrer Begleitung und ging, ohne um Zustimmung zu fragen, mit einer anderen ins Kino. Noch dazu mit einer so naiven Ziege! Und als kleine Widergutmachung bietet er großkotzig einen Osterpunsch und Krokus-Bestaunen am Osterfeuer an. Wie gnädig! Cornelia Immergrün kam am Tisch vorbei, zwinkerte dem Laboranten zu erklärte: „In einer Viertelstunde ist Übergabe!“ „Darf ich Sie kurz um etwas bitten, bevor Sie vielleicht heute Abend mit meinem Kollegen in die Südsee verschwinden?“ „Südsee?“, fragte sie irritiert. „Das war ein Scherz“, erwiderte Bettina genervt. ‚Die ist wirklich ganz schwer von Begriff!‘, fluchte sie lautlos und fügte um Freundlichkeit ringend hörbar hinzu: „Hat Tom einmal mit Ihnen über seine Projekte gesprochen? Bitte, es wäre sehr wichtig für mich!“ Ihr Kollege rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin- und her, während die Kellnerin entschuldigend den Kopf schüttelte: „Nein, über seine Arbeit haben wir eigentlich nie geredet nur über die Fußballjugend und mein Rezept für Schäufele, er liebt sie.“ „So“, mischte sich der Laborant ins Gespräch ein. „Und nun verraten Sie mir doch bitte mal, worum es Ihnen eigentlich geht! Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie nicht nur guten Kuchen essen mochten und einen netten Plausch mit der Kellnerin halten. Was ist passiert? Steckt Tom in Schwierigkeiten?“ „Leise“, zischte Bettina und riss ihren Zeigefinger vor den Mund. “Es muss ja nicht gleich an die Wandzeitung der Stadt stehen, was ich über Tom wissen möchte! Ich gestehe ich bin ein wenig in der Zwickmühle, da ich nicht zu viel Betriebsinterna ausplappern darf“, erklärte sie in bemüht ruhigem Ton. „Aber bei einem von Toms Projekten ist es zu einigen Schwierigkeiten gekommen und ich müsste in seinen Unterlagen etwas nachschauen. Leider habe ich die Zugangsdaten, die er mir vor seiner Abreise anvertraut hat, verbummelt. Und wenn ich nicht sehr bald helfend eingreife, kann man mit seinen Forschungsergebnissen keinen Blumentopf mehr gewinnen. Das möchte ich um jeden Preis verhindern.“ Sie klopfte sich im Geiste auf die Schulter. Das klang doch wirklich plausibel. Der Wagen, auf dessen Rücksitz sich Ursula und Matthias aneinander kuschelten, hoppelte über vereiste Feldwege, die sich durch die sehr winterliche Wetterlage in reine Eispisten verwandelt hatten. Endlich hielten sie vor einem großen Betonkasten, den man in dieser Einöde niemals erwartet hätte. „Steigen Sie aus und folgen Sie mir. Ich zeige Ihnen alles, was Sie wissen müssen. Vielleicht werden Sie danach sehr gerne und freiwillig mit den Informationen herausrücken, die wir so dringend brauchen. Wenn wir alles in den Griff bekommen, ist diese Entdeckung Gold wert. Nicht nur, dass man damit Geld wie Heu verdienen kann“, erklärte er sachlich, während er eine stählerne Tür aufschloss. „Es ist eine Gabe an die gesamte Menschheit. Bisher unentdeckt und doch so einfach. Es ist, als habe man das Präsent nie gesehen, weil es so dick mit Geschenkpapier eingeschlagen war.“ Er winkte Ihnen ihm zu folgen und ließ durch Drücken des Lichtschalters ein grelles Neonlicht aufflammen. Matthias und Ursula sahen sich geblendet um. Im Betonklotz, der einer Badeanstalt gleich von oben bis unten gekachelt war, befanden sich zahlreiche Fotografien von Tieren und Pflanzen an den Wänden. Ein buntes Durcheinander an Bildern, rechter Hand Elefanten, ein Wolf, Schmetterlingen, Wildkatzen der Region, einer wunderschön anzusehenden Qualle sowie einem Langhaardackel, der sich nicht recht in die Reihen einzufügen schien. Links zeigte sich die Pflanzenwelt in Gestalt von Kornblumen, Kürbissen, Kakao-Bohnen und einer Nahaufnahme von Weintrauben, die auf einem Weinberg aufgenommen sein mussten. „Da war aber jemand mächtig fleißig auf seiner Fotosafari“, flüsterte Ursula ihrem Mann zu, der kopfschüttelnd vor dem Dackelbild stehen geblieben war. „Bitte kommen Sie hier hinein“, drängte sie der große Mann und wies auf eine offen stehende Tür. Dass was Sie hier sehen, ist nur schmückendes Beiwerk und sollte Sie nicht weiter interessieren. Wenn Sie der Wahrheit auf die Spur kommen wollen, sollten wir keine Zeit verlieren. Ich nehme an, Ihr Freund Tom wird versuchen sich davon zu stehlen und seine Story an einen Reporter der Tageszeitung verkaufen. Vielleicht liegt er aber verletzt irgendwo herum, weil er Hals-über Kopf getürmt ist, um sich seiner Verantwortung zu entziehen. Sagen Sie mir; wie gut kennen Sie den Kerl eigentlich?“ „Er ist lediglich eine Urlaubsbekanntschaft“, erklärte Matthias. „Von tiefster Verbundenheit kann also nicht die Rede sein.“ Ursula mischte sich energisch ein: „Sicher, wir kennen ihn noch nicht lange. Aber ich habe den Eindruck bekommen, dass er ein sehr netter und ehrlicher Mann ist. Ich mag ihn und nur deshalb sind wir überhaupt mitgekommen. Ich hoffe darauf, ihm irgendwie zu helfen. Ich kann mir nämlich überhaupt nicht vorstellen, dass er ein skrupelloser und böser Mann ist. Und ich bin davon überzeugt, dass sich dieses ganze Ereignis, in das er angeblich verstrickt ist, als völlig harmlos herausstellt.“ Über Matthias Gesicht huschte ein Grinsen: „Du hast wirklich ordentlich Sexappeal, wenn Du so von einer Sache überzeugt bist! Der bringt sogar Pyramiden zum Wanken.“ Zu den Männern blickend ergänzte er: „Aber sie hat vollkommen recht. Auch ich tue mich schwer zu glauben, dass Tom jemals etwas Schlimmes im Schilde geführt hat. Mir schien es, als hat er selbst keine wirkliche Idee, aus welchem Grund er in diese Sache gerutscht ist. Ich bin davon überzeugt, dass in Ihrem Puzzle ein entscheidendes Teilchen fehlt!“ „Sicher haben auch Sie schon die Erfahrung gemacht, dass man nicht in die Köpfe von Menschen schauen kann. Selbst ein EEG hilft da nicht weiter. Wer sich gut verstellt, kann der Menschheit alles Mögliche weismachen. Dafür gibt es zahleiche Beispiele in der Geschichte der Menschheit. Ich an Ihrer Stelle würde für den Kerl nicht meine Hand ins Feuer legen, zumal Sie ihn erst vor Kurzem kennengelernt haben. Wissen Sie, ob er Ihnen nicht die letzte Rettungsweste vor der Nase wegschnappen würde, wenn es hart auf hart kommt?“ „Nein, das weiß ich natürlich nicht“, ereiferte sich Ursula. Dennoch kann ich von mir behaupten, dass ich eine sehr gute Menschenkenntnis besitze und noch nie mit meinen ersten Eindrücken baden gegangen bin. Das erste Gefühl, das er bei mir hinterließ, war besser als ich es von Ihrem behaupten kann.“ Matthias trat ihr ans Bein und blickte sie mahnend an: „Wie dem auch sei, lassen Sie uns wissen, warum wir hier sind.“ Der Chilene nickte zustimmend: „Christobal hol das Notebook her“, mit einer Handbewegung scheuchte er seinen Kumpanen zu einem Schrank in der Ecke. „Während Sie hier über die Eigenschaften von Tom Werner diskutieren, habe ich schon ein paar Informationen zur Verfügung. Als kleine Einführung zu unserer Vorstellung möchte ich Sie bitten einmal das Wort Andentanne zu googlen. Danach reden wir weiter“ Christobal trug das Notebook sehr vorsichtig zu ihnen. Er wirkte fast wie ein Messdiener, der besonders darauf bedacht war, im Gottesdienst keinen Tropfen Weihwasser zu verschütten. „Legen Sie los“, sagte der große Mann und lächelte Ursula und Matthias aufmunternd zu. Aufgeregt stieg Tom aus dem Wagen, als sie vor der Polizeistation anhielten. Er wünschte sich von ganzem Herzen, dass nun endlich Licht in die Angelegenheit kam und er seinen kleinen Rest an Urlaub entspannt verleben konnte. Er würde sich einen Yacht-Ausflug gönnen, wenn er einigermaßen heil aus dieser Sache kam, beschloss er zuversichtlich. Wenn Raoul ihn dort drinnen allerdings hängen ließ, konnte er einpacken und seinen Hintern auf dem Trockenen lassen. Er war nicht scharf darauf zu erfahren, was die Polizisten von einem Touristen dachten, der ihnen von seiner Entführung erzählte, ohne einen Zeugen dafür zu haben. Unsicher betrat er hinter Raoul das Gebäude. In einem hell erleuchteten Flur bat ihn der Chilene Platz zu nehmen: „Ich gehe rein und melde uns an. Mal sehen, ob ich jemanden finden kann, der sich zuständig fühlt.“ „Was soll das denn heißen? Ich will mit einem der Beamten sprechen. Zuständig oder nicht. So etwas muss doch jeder Polizist bearbeiten können. Oder braucht es dazu einen Spezialisten, der vielleicht erst noch eingeflogen werden muss? Dann kann ich mir gratulieren.“ Raoul hob beschwichtigend die Arme in die Luft: „Nun seien Sie nicht gleich so aufgebracht. Ich habe niemals behauptet, dass wir einen Spezialisten bräuchten. Hier in der Kleinstadt haben die Männer ihre eigenen Gebiete. Verstehen Sie, was ich meine? Eine Entführung kommt hier nur alle Jubeljahre vor, wenn es überhaupt schon einen gegeben hat. Ich persönlich wende mich lieber an einen der Polizisten, von dem ich weiß, dass er schon schwerere Verbrechen als Ladendiebstahl oder Falschparken bearbeitet hat. Wie würden Sie das sehen?“ „Entschuldigen Sie, ich bin sehr aufgeregt und nervös. Mein Kopf fühlt sich gerade so an, als würde jemand E-Gitarre darin spielen. Es brennt mir unter den Nägeln endlich voranzukommen. Sie kennen alles viel besser hier, also sollte ich Ihnen vertrauen und nicht wie ein Ochse rumzetern. Tom rutschte sich auf dem Plastikstuhl in eine bequemere Position und deutete auf eine Tür, hinter der der Umriss eines Schreibtisches zu erkennen war. „Nun gehen Sie schon, ich verspreche, mich nicht zu rühren. Während Raoul im Büro verschwand, hing Tom seinen Gedanken nach. An seinem letzten Geburtstag feierte er nicht nur sein Wiegenfest, sondern auch diese wunderbare Entdeckung. In der Bar nahe dem Labor hatten sie die ganze Nacht gefeiert und darüber diskutiert, was man mit diesem Wunder alles in Gang setzen könne. Dabei war allen bewusst, dass die Information nicht für jedermanns Ohren bestimmt sein durfte. In falschen Händen konnte sie zum Fleckenentferner gesunden Lebens werden. Sie schmiedeten whiskeybeseelte Pläne, die nichts mit dem zu tun hatten, was er nun erlebte. Er schüttelte seinen Kopf, um in die Wirklichkeit zu gelangen und schaute sich um. Im Mülleimer neben ihm, bei dem der Lack reichlich abgeblättert war, quetschten sich zahlreiche Joghurtbecher neben Zigarettenschachteln. Die Verpackung eines Guglhupf hing über dem Rand, als ob sie in ihre Freiheit flitzen wolle. Ungeduldig sprang Tom auf die Füße und klopfte an der Tür. „Si“, hörte er die dumpfe Antwort von drinnen. Er öffnete sie und betrat das Büro. Raoul schüttelte ungeduldig den Kopf: „Können Sie nicht wie ausgemacht einen Moment abwarten. Wir wollten Sie ohnehin gleich hinzurufen. Sie Drängler! Nehmen Sie Platz, der Ermittler“, er zeigte auf den Polizisten mit ausgeprägten Aknenarben, „ist sehr interessiert an Ihrem Fall.“ Tom atmete erleichtert auf und nahm auf dem ihm angebotenen Stuhl Platz. In Regalen über ihnen standen zahlreiche Pokale in Form eines Tennisballs. ‚Zumindest ist er gut trainiert‘ dachte er flüchtig, bevor er fragte: „Wo soll ich anfangen?“ Teil 16 Woche 15/2013 Zur gleichen Zeit in Deutschland „Schwierigkeiten bei Toms Projekt?“, fragte der Laborant verdutzt. „Ich dachte, es sei noch gar nicht in die Entwicklung gegangen oder habe ich da etwas verpasst?“ Bettina stöhnte innerlich auf: ‘Ich bin eine dumme Gans. Wie konnte mir das herausrutschen? Mein Hirn muss bei all diesem Liebes-Tamtam Rost angesetzt haben. Und jetzt brauche ich eine sehr gute Idee oder die Feuerwehr um mich aus der bescheuerten Situation hinaus zu manövrieren.‘ Hastig setzte sie ihren inzwischen kalten Kaffee an, um nicht sofort antworten zu müssen. „Gibt’s noch ein bisschen Würfelzucker?“, stammelte sie und sah tief in ihre Tasse. „Der ist nicht süß genug.“ „Lenken Sie jetzt ja nicht von Thema ab“, forderte sie ihr Kollege streng auf. „Der würde sich in dieser kalten Brühe sowieso nicht mehr auflösen.“ „Dann lasse ich mir erst ein Bier zapfen, wenn Sie gestatten, denn ich muss ein wenig weiter ausholen. Haben Sie Sitzfleisch?“ „Allerdings“, brummte er. „Und ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie endlich einmal eine ordentliche Erklärung abgeben könnten, warum Sie plötzlich so interessiert an mir und Toms Projekt sind!“ Panisch versuchte Bettina ihre Gedanken zu ordnen. Sie konnte ihm mit Sicherheit nicht die Wahrheit über ihre Gründe erzählen. Die Mauer des Schweigens musste unter alle Umständen aufrechterhalten werden. Eine plausible und hübsche Lüge, die ihr partout nicht einfallen wollte, musste her. Als Jugendliche drückte sie in Situationen wie dieser ihren Glücksbringer und bat um Hilfe von oben. Doch dieses Prozedere als auch den Glauben daran hatte sie schon vor langer Zeit aufgegeben. Dieser Bart war unwiederbringlich abgeschnitten, sie vertraute nur auf sich selbst allein. „Ich höre“, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen und im selben Moment sprang die Ampel in ihrem Gehirn wieder auf Grün. Sie lächelte freundlich und sagte leise: „Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll, es ist, sagen wir mal ein wenig delikat.“ Sie wünschte sich eine Zwiebel herbei, damit sie ihre rührselige Vorstellung die nun folgen sollte, mit Tränen unterstreichen konnte. „Ich fürchte, Tom ist betrogen worden. Jemand aus dem Institut hat seine Idee gestohlen, sich Samen der Andentanne besorgt und auf eigene Faust weiter geforscht. Leider mit völlig anderem Ziel und genau darin besteht das Problem!" „Wer?“, hauchte der Laborant mit weit aufstehendem Mund. Bettina zuckte entschuldigend die Schultern. „Wie sind Sie darauf aufmerksam geworden?“ „Ich habe zwei Kollegen im Einkaufszentrum gesehen, als sie vertraulich die Köpfe zusammengesteckt hatten. Den einen von ihnen erkannte ich nur, weil er von der Haarmode der letzten dreißig Jahre anscheinend nichts mitbekommen hat. Er sieht heute noch aus, als sei er dem Film Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh entstiegen. Und..“, sie machte eine kurze Pause um den Anschein zu erwecken peinlich berührt zu sein. „Ich habe mich an den Tisch hinter ihnen setzt mir einen Shake mit Erdbeergeschmack bestellt und sie belauscht.“ „Warum? Ich meine, wenn man zwei Kollegen zusammensitzen sieht, ist das doch nichts Verdächtiges, oder?“ „Nein, das nicht. Aber ich hatte im Vorbeigehen das Wort Baumkontrolle aufgeschnappt. Das machte mich stutzig! Außerdem sah man ihnen irgendwie an das sie etwas ausheckten. Ich musste es herausfinden, denn das Wichtigste habe ich Ihnen noch nicht verraten und es ist mir auch ein wenig unangenehm, weil wir immer versucht haben, es für uns zu behalten.“ „Nein“, ihr Kollege schüttelte energisch den Kopf. „Sie wollen mir jetzt nicht erzählen, dass Sie und Tom ein Verhältnis miteinander haben?“ ‚Yes, ins Netz gegangen’, dachte Bettina triumphierende, setzte eine ertappte Mine auf und nickte. „Ob Sie es nun glauben oder nicht, wir sind schon viele Jahre zusammen. Bevor er nach Chile aufbrach, haben wir uns gemeinsam Hochzeitstorten angeschaut. Denn schon sehr bald wollten wir es offiziell machen. Wir haben uns sogar schon eine Braut und Bräutigam Bettwäsche gekauft“, ergänzte sie und fragte sich im selben Moment, ob sie damit nicht ein wenig zu dick auftrug.“ Diese Lügen verursachte Bettina fast körperliche Schmerzen. ‚So was Lächerliches, der Kresse-Zupfer und ich‘, aber sie schienen ihre Wirkung nicht zu verfehlen. ‚Hoffentlich schnapp der Kerl sich jetzt nicht sein Handy und ruft bei Tom an‘ „Das hätten Sie ja auch schon früher sagen können. Und ich dachte Sie wollen Tom auflaufen lassen.“ „Es ist mir ein wenig unangenehm, schließlich habe ich mit Tom besprochen, dass wir es zusammen verkünden. Aber in dieser Notlage musste ich es doch erzählen, oder?“ „In diesem Fall werde ich Ihnen natürlich gerne behilflich sein, soweit mir das möglich ist“, erklärte er und winkte Frau Immergrün herbei. „Lassen Sie uns rasch zahlen, wir gehen nochmal schnell rüber ins Labor, bevor ich mich für meine Verabredung schön mache.“ Die Kellnerin trat an ihren Tisch. Der Laborant erklärte ihr, dass er rasch noch etwas zu erledigen hatte, aber gleich wieder hier sein würde. Das Triumphorchester schallte in Bettinas Kopf laut wie ein Trupp Musikanten mit Vuvuzelas. ‚Ich hab es tatsächlich geschafft, mit einer so rührseligen Nummer die Sache zum Laufen zu bringen. Dabei war sie schlechter und fader als manche Zeitungsente im Sommerloch. Bei so viel Naivität konnte einem doch wirklich der Appetit vergehen‘. Bettina war es in diesem Fall aber nur recht, auf einen Menschen getroffen zu sein, der einer Romanze jeden Vortritt einräumte. „Ich bin kein Botaniker“, raunte Ursula, während sie die verschiedenen Links der Suchmaschine betrachtete. „Woher soll ich wissen, was hier relevant ist und was nicht? Ich kann dir zumindest schon mal erzählen, dass die Andentanne den Spitznamen Monkey Puzzle Tree trägt und ihre Samen als Lebensmittel genutzt werden können. Aber ich glaube, das hilft uns nicht weiter.“ Matthias deutete auf den Bildschirm: “Hier steht, dass diese Bäume vom Kahlschlag bedroht sind und der Handel mit dem Holz weltweit verboten ist. Mit der Rodung ist zum Beispiel der Lebensraum des Magellan-Uhus stark eingeschränkt worden. Vielleicht bringt uns das weiter?“ „Matthias, die beiden Kerle haben uns ohne Unterlass im Auge, wir sollten etwas wirklich Wichtiges finden. Ich glaube nicht, dass sie sich für den Lebensraum von Uhus, Rotwild, Pelikanen oder gar Regenwürmern einsetzen. Da steht ordentlich Kohle hintendran darauf verwette ich meinen antiken Klingenzug! Also lass uns nach nützlichen Informationen suchen.“ Der Mann, der ihnen den Suchauftrag gegeben hatte, kam gelassen auf sie zu: “Und, haben Sie schon etwas entdeckt?“ Beide schüttelten mit dem Kopf. „Dann wird es aber höchste Eisenbahn, denn ich muss endlich wissen, wo sich der Forscher versteckt hält. Wir haben keine Zeit mehr hier eine Parade zu veranstalten, also öffnen Sie Ihre Ohren und hören Sie mir genau zu. Ich werde Ihnen nun ein Bild Ihres Freundes Tom Werner zeichnen, das Sie sicher nicht für möglich gehalten haben. Wie Sie sich sicher schon gedacht haben, befasst sich Tom mit der Andentanne, genauer gesagt mit der Heilwirkung ihres Samens. Durch einen Zufall ist er drauf gestoßen, dass diese, richtig behandelt, einen Grundstoff für ein Medikament abgeben, mit dem zahlreiche ernsthafte Erkrankungen gelindert oder gar geheilt werden könnten.“ Ursula räusperte sich, bevor sie einwarf: „Na über diese Entdeckung hält sich meine Trauer aber in Grenzen. Das ist doch wunderbar, also wo ist Ihr Problem dabei?“ Der Chilene winkte genervt ab: „Wenn Sie mir die Gelegenheit geben würden, Ihnen den Rest der Geschichte zu erzählen, käme Sie am Ende sicher auch zu dem Schluss, dass ihm keineswegs solche Lorbeeren und Fangemeinden zustehen, wie manch berühmten Schauspielern für die Darstellung berühmter Filmfiguren. Ein guter Schauspieler ist er allerdings schon, das muss ich wohl einräumen.“ Er nestelte eine Weile an seinem Jackenaufschlag, als ob er nach den richtigen Worten suchte um fortzufahren. „Sie kennen die Bibel?" Ursula und Matthias nickten verständnislos: "Ja, warum?" „Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel daraus geben. Als das Jesuskind geboren wurde, stand über seiner Krippe der Weihnachtsstern. Matthias grinste kurz, bevor er einwandte: „Entschuldigung, das Ding heißt der Stern von Bethlehem.“ Der Mann knurrte über die erneute Unterbrechung: „Ich möchte wissen, wie es klingen würde, wenn Sie mir die gesamte Geschichte auf Spanisch widergeben müssten.“ Matthias wurde rot bis unter die Haarspitzen: “Sie haben völlig recht, es tut mir leid, fahren Sie fort.“ „Dieser Stern brachte für viele eine frohe Botschaft. Es gab aber auch Menschen, denen die Geburt Christi nicht so sehr in den Kram passte. Nehmen Sie zum Beispiel“, er überlegte kurz, „Herodes. Er sah seine Macht schwinden und setzte alles daran dies zu verhindern. Was ich Ihnen damit sagen will ist, dass alle Dinge zwei Seiten haben. Sicher wäre es hervorragend einige schlimme Krankheiten in den Griff zu bekommen. Die Frage ist dabei aber immer; zu welchem Preis?“ Teil 17 Woche 16/2013 „Worauf wollen Sie eigentlich hinaus“, fragte Ursula skeptisch. „Ich meine, Sie fantasieren sich etwas von Jesus und Herodes zusammen und wir sollen das begreifen? Ich habe bisher nur Bahnhof verstanden!“ Fragend blickte sie zu Matthias, der beschwichtigend die Hand hob: „Nun lass ihn doch erst einmal ausreden.“ Der Chilene schaute auf seine Armbanduhr und nahm der Unterhaltung wieder auf: „Wenn Sie wissen wollen, wo sich Ihr Engel in einen Müllmann und zur Gefahr für die Menschheit entwickeln wird, sollten Sie noch einen Augenblick Geduld haben.“ Matthias und Ursula nickten zustimmend, ohne etwas zu erwidern. „Bevor wir auf die negativen Seiten seiner Entdeckung zu sprechen kommen, möchte ich Ihnen kurz erzählen, welche botanischen Eigenschaften zur Andentanne gehören. Die Tanne wächst sehr langsam. Bis ihre Samen zur Verwendung als Arzneimittelbestandteil genutzt werden können, muss der Baum viele Jahre wachsen, weil der Wirkstoff in den Zapfen erst bei älteren Exemplaren vorhanden ist. So zumindest behauptet es Werner. Dies bedeutet im Gegenzug, dass zur Gewinnung des Medikaments genügend Andentannen zur Verfügung stehen müssen, die geeignete Samen tragen. Das Gleichgewicht älterer zu jungen Bäumen ist, seit das Holz dieser Tanne als Zierholz entdeckt wurde, empfindlich gestört. Das Fällen ist verboten worden, was in erster Linie für Toms Forschungen keine Rolle spielt, da er ja lediglich am Samen interessiert ist….“ Ein Schrei zerriss die vorherige Stille, die Deckenleuchte zersprang, von einem Kugelhagel durchsiebt, war in tausend kleine Teile. Ursula und Matthias ließen sich instinktiv auf den Boden fallen und suchten Deckung unterm Schreibtisch. „Verdammt Nero, wie haben die uns gefunden?“, rief Christobal entsetzt, hielt sich eine Wunde am Arm und krabbelte wie ein Baby auf allen Vieren ebenfalls unter den Schreibtisch. Der von ihm Angesprochene kam nicht mehr dazu, seinem Kollegen seine Vermutungen mitzuteilen. Neuerlich einschlagende Kugeln ließen ihn verletzt zu Boden sinken. Die Schüsse verebbten und eine gespenstische Ruhe legte sich über den Raum, die nur durch Neros entsetzliches Stöhnen unterbrochen wurde. Ursula bewegte sich robbend ein Stück auf den Verletzten zu. „Oh Scheiße, das sieht böse aus. Den hat’s voll erwischt“, rief sie und presste sich schluchzend die Hände vors Gesicht. Matthias griff unter Schreibtisch nach Christobals Kragen und zischte: „Raus mit der Sprache. Wer war das?“ Der Chilene versuchte sich aus dem Würgegriff zu winden, verlor die Balance und landete schwervoll auf seiner Schusswunde am Arm. „Hören Sie auf zu fragen“, keuchte er, wir müssen hier raus, und zwar sofort. Glauben Sie nur nicht, dass die da draußen schon aufgegeben haben!“ „Wo sollen wir denn hin? Und wie haben Sie sich das vorgestellt“, rief Ursula dazwischen, die sich schon wieder gefangen hatte. „Sollen wir den hier Huckepack nach draußen schleppen? Ich glaube, es ist besser, wenn wir versuchen uns hier drinnen zu verschanzen. Wenn die da draußen, wer auch immer das sein mag, noch nicht aufgegeben haben, können wir doch nicht einfach rausspazieren, als ob wir auf einer Spritztour zum AntiquitätenLaden seien. Lassen Sie uns lieber zusehen, dass wir etwas Verbandsmaterial für ihren Kollegen hier finden. Und eine Pinzette für die Kugel in Ihrem Arm wäre auch nicht falsch. Sie steckt noch, ich kann sie von hier aus sehen. Und jetzt sehen Sie zu, dass Sie sich von Ihrer Starre befreien, schließlich haben Sie uns beide in dieses Wartezimmer zur Hölle gelockt.“ Matthias griff erneut zornig nach dem schockierten Mann, der regungslos neben ihm liegen geblieben war, und schüttelte ihn. „Haben Sie nicht gehört, was meine Frau gesagt hat? Es wird Zeit, dass wir etwas unternehmen. Ich habe keine Lust hier tatenlos zu sitzen und auf meine Erschießung zu warten.“ Mühsam raffte sich Christobal auf und wankte zum Papierkorb, dort erbrach er sich mit lauten Würgegeräuschen. „Vergiss den Kerl Matthias, wir müssen jetzt handeln. Lass uns in die anderen Räume schauen, vielleicht findet sich was. Ich muss etwas unternehmen, sonst sterbe ich vor Angst!“ Zur gleichen Zeit in Deutschland Sie betraten das Labor durch den Hintereingang und fuhren mit dem Fahrstuhl in Toms Büro. Als sie eintraten, bemerkte Bettina sofort, dass nach ihr jemand hier gewesen sein musste. Auf der Fensterbank war Erde neben dem Blumentopf aufgehäuft. Es sah so aus, als habe außer ihr noch jemand Interesse an Toms Informationen. Sie sah ihren Kollegen forschend an, konnte aber keine Reaktion über das Gesehene in seiner Mimik ablesen: „Anscheinend hat ihm die Zeit zum Umtopfen gefehlt“, scherzte sie. „Ich glaube, es muss an seinem Fernweh gelegen haben, dass er hier nicht mehr aufgeräumt hat.“ Bettina sammelte die über den ganzen Schreibtisch verteilten Filzstifte ein, und steckte sie zurück in eine Tasse, auf der ein Apfelblütenbild prangte. „Nach was soll ich denn nun für Sie suchen?“ Er warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr. „Cornelia hat gleich Feierabend und ich möchte Sie ungerne lassen. Also Schießen Sie los!“ „Machen wir es kurz, damit Sie Ihren Frühlingsgefühlen freien Lauf lassen können. Kennen Sie Toms Passwort? Er hat es mir zwar schon ein paarmal genannt, aber ich kann mir seine Pflanzenkombinationen nicht merken. Ich meine mich dunkel erinnern zu können, dass das etwas mit Jahresringen zu tun hatte. Aber das Wort allein verschafft mir keinen Zutritt. Vielleicht hat er es in der Zwischenzeit auch schon wieder geändert. Also können Sie mir weiterhelfen?“ Der Laborant knetete nervös seine Handinnenflächen. Bettina registrierte sofort, dass er etwas wusste, aber nicht einschätzen konnte, ob er ihr wirklich traute. Sie sah ihn eindringlich an und setzte eine gehetzte Miene auf: „Wenn Sie mir nicht sagen was Sie wissen, wird seine ganze Forschungsarbeit zum Schornstein herausgeblasen. Die Chance, dass ich alleine auf das Passwort komme, sind geringer, als die Lottozahlen für die nächste Ziehung vorauszusagen. Wenn Sie Tom und seine Arbeit schätzen, sollten Sie mir schnell sagen, was Sie wissen, bevor unsere letzte Gelegenheit seine Forschungen zu retten den Abfluss hinunter gespült werden.“ „Wenn Sie mir endlich verraten würden, warum Sie an seinen Zugangscode kommen müssen, wären wir schon eine Stufe weiter.“ Bettina räusperte sich und starrte ihn nervös an: „Es hat drüben in Chile einen Unfall gegeben. Tom ist von einem Wagen angefahren worden und leidet an einer retrograden Amnesie. So ein bescheuerter Autokorso, der Fahrer wollte den Anschluss nicht verpassen und war unachtsam. Bevor Tom abgereist ist, hat er mich darum gebeten, seine Testreihe im Auge zu behalten, damit alles glatt läuft. Jetzt wollte ich mich noch einmal davon überzeugen, bevor ich ihm nach Chile folge und mir ist vor lauter Aufregung das beschissene Passwort entfallen!“ „Sie wollen erst noch seine Arbeit überprüfen, bevor Sie ihn im Krankenhaus besuchen? Das kann wohl nicht die wahre Liebe sein!“ Bettina schüttelte resigniert den Kopf: „Mir scheint, Sie kennen Tom nicht. Wenn er aufwacht, wird er mich als aller erstes nach seiner Arbeit fragen. Das weiß ich genau. Wenn ich ihm gestehe, dass ich ihm darüber keine Auskunft geben kann, wird er außer sich sein. Deshalb muss ich ihm irgendetwas mitbringen, um ihn zu beruhigen. Ich glaube nicht, dass Aufregung im Augenblick förderlich für seine Genesung wäre. Und erzählen Sie mir nichts von unserer Liebe, das geht Sie absolut nichts an.“ Sie dachte an ihre Lieblingstante, die vor einigen Monaten verstorben war, und schaffte es, Tränen in ihre Augen treten zu lassen. Ihr Kollege kam auf sie zu, legte beruhigend seine Hand auf ihre Schulter und erklärte beschämt: „Entschuldigen Sie, Sie haben vermutlich recht, so gut kenne ich Tom nicht. Es tut mir leid!“ „Ich muss zu ihm, und zwar so schnell wie möglich. Wenn ich Ihre Entschuldigung annehme, können wir dann aufhören uns Honig ums Maul zu schmieren und endlich Tacheles statt Trinksprüchen reden? Oder wollen wir doch noch ein paar Schleifen Höflichkeit fliegen, bevor Sie es mir verraten. Wirklich, ich will nicht unhöflich erscheinen, aber ich stehe mächtig unter Druck und möchte endlich zu ihm, seine Hand halten und ihm versichern können, dass hier alles in bester Ordnung ist. Wenn wir schnell sind, kann ich das Flugzeug morgen in der Frühe erreichen. Bitte helfen Sie mir!“ Zum Unterstreichen ihre Worte legte sie ihre Hände zusammen, als sei sie im Begriff zu beten. Ihr Kollege ging zum Rechner und schaltete ihn ein. Bettina stieß erleichtert die Luft aus. ‚Halleluja, endlich habe ich diese hohle Nuss geknackt. Ein Giraffen Origami wäre fixer fertig geworden. Aber…. Ich habe es wirklich geschafft‘ jubelte sie innerlich. Sie stellte sich hinter ihn und beobachtete seine Finger auf der Tastatur um das Passwort abzulesen. Schaukellstuhl12Pasta33-f. Eines musste sie dem Kollegen Tom lassen, auf diesen Mistkram wäre sie in hundert Jahren nicht gekommen. Teil 18 Woche 17/2013 Mit einem in Bettinas Ohren jubelnd klingendem Ping, wurde Toms Rechner freigegeben. Ihre Augen rasten über den Bildschirm, um das richtige Symbol für sein Programm zu finden. Neben einem Ordner mit dem Namen Fußballverein, einem Facebook Icon und einigen anderen Symbolen, die Bettina nicht kannte, entdeckte sie ein Verzeichnis mit der Aufschrift Tanne, das sie rasch anklickte. Die sich öffnenden Unterdateien enthielten jedoch lediglich wissenschaftliche Arbeiten von anderen Botanikern und Forschern – Fehlanzeige. Schnell klickte sie sich in die Computerübersicht, denn der Laborant war nun hinter sie getreten und beobachtete sie. Er durfte nicht bemerken, dass sie keine Ahnung hatte, wonach genau sie suchte. Ihre Maus huschte über eine Tabelle mit dem Namen Trauerstätten für Gefallenen im Ersten Weltkrieg. ‚Das ist echt aussichtslos, der Typ sammelt alles Mögliche auf seinem Dienstrechner. Es würde mich nicht wundern, wenn er hier auch seine Steuerflucht akribisch geplant und in Tabellen vermerkt hatte. Ich muss unbedingt Zeit gewinnen!‘ „Wollen Sie nicht schon rübergehen zu ihrer Verabredung? Ich schaffe das hier allein und Sie kommen nicht zu spät“, fragte sie vorsichtig und blickte ihn über ihre Schulter an. „Sie könnten sich sogar noch ein Schnäpschen genehmigen, bevor es losgeht.“ „Ein paar Minuten habe ich noch. Vielleicht finden wir zu zweit ja schneller die Informationen, die sie benötigen. Zudem bin ich sehr neugierig, was Sie wirklich suchen, besonders detaillierte Angaben scheint Ihnen Tom ja nicht gegeben zu haben. Und jetzt kommen Sie mir nicht auch noch mit einer Schwangerschaft oder Ähnlichem. Ich denke, Sie haben mich belogen und mein Vertrauen missbraucht! Wenn man das Kind beim Namen nennt, sozusagen in einem Abwasch, wird mir klar, dass Sie nichts Gutes im Schilde führen.“ ‚Ich habe es geahnt‘, dachte Bettina frustriert. ‚Hier endet unser friedliches Zusammenspiel und ich muss etwas tun, damit er nicht zum Chef rennt und mich verpfeift.‘ Sie blickte fieberhaft um sich, suchte nach einem Gegenstand, mit dem sie ihren Kollegen außer Gefecht setzten, konnte. In einer aufgeschobenen Schublade des Schreibtisches blickte sie auf einen hölzernen Knüppel, vielleicht eine Art Treibholz, und griff blitzschnell zu. Von der Schläfe des Laboranten tönte ein abscheuliches Geräusch, bevor er in die Knie sackte und das Holzstück zerbrach. Hektisch sprang Bettina auf die Füße und verschwand aus dem Büro. Draußen pochte ihr Herz noch immer wie wild, als sie im Laufen ihr Handy aus der Tasche fischte und eine Kurzwahlnummer drückte. „Es gibt mächtige Probleme, besser du kommst rüber“, sagte sie flehend, „ich habe gerade etwas Dummes gemacht. Wir müssen uns schleunigst etwas einfallen lassen.“ „Was hast du getan?“ Mit bebender Stimme berichtete Bettina ihrem Gesprächspartner, was passiert war: „Ich glaube, es dauert nicht lange, bis er wieder zu sich kommt. Also beweg dich.“ „Nein, das werde ich nicht tun. Das bleibt allein deine Angelegenheit du Hexe und dein persönlicher Fahrschein zur Hölle. Ich habe dich nie darum gebeten Gewalt anzuwenden, und will verdammt nochmal nichts damit zu tun haben. Außerdem sitze ich in Berlin, kann also gar nicht gleich bei dir sein. Unter diesen Umständen werde ich in Erwägung ziehen, unsere Zusammenarbeit sofort zu beenden.“ Ein Klicken beendete das Gespräch. Bettina fuhr herum, als sie das Geräusch einer sich öffnenden Bürotür vernahm. Blitzschnell huschte sie um die nächste Ecke und verharrte regungslos. „Wie wäre es, wenn Sie ganz zu Anfang beginnen“, erwiderte der Polizist und sah Tom aufmunternd an. „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen alle botanischen Eigenschaften und Testergebnisse vorkauen sollte, um letztendlich zu meiner Entführung zu gelangen. Wenn Sie später Fragen dazu haben, können Sie sie stellen. Ich beginne am Morgen vor dem Ausflug im Hotel, einverstanden?“ „Was hat die Botanik mit ihrem Fall zu tun?“, fragte der Polizist ungläubig und zog eine Augenbraue nach oben. „Sehen Sie, das meinte ich, es stiftet nur Verwirrung. Fragen Sie später nach, ich versuche zuerst einmal Ihnen den Ablauf so genau wie möglich zu schildern. Also…“, er holte tief Lust, ließ sich die einzelnen Szenen nochmals durch den Kopf gehen und begann zuerst stockend: „Ich saß beim Kaffee am Frühstücksbuffet, am Abend zuvor fand ein kleines Fest in der Lobby statt, bei dem ich etwas zu lange geblieben war. Es gab einen Zwischenfall mit den Girlanden, sie wurden von einer Windbö ganz schön durcheinandergewirbelt und kamen von der Decke. Die Hotelangestellten sind wie die Hummeln ausgeschwärmt, um den Schaden zu beheben. Ich hatte am Morgen leichte Kopfschmerzen und holte mir einen zweiten Kaffee. Danach bin ich sofort auf mein Zimmer, denn die Abfahrt zur Tour stand kurz bevor. Ich packte den Rest meiner benötigten Sachen und ging hinunter zum Hoteleingang, wo der Sammelpunkt vereinbart war.“ „So ganz genau müssen Sie es nicht machen, Einzelheiten klären wir nachher“, schlug der Polizist vor. „In Ordnung, ich versuche mich kurz zu fassen. Die Wagen für den Ausflug standen schon bereit. Man erkannte sie sofort an den bunten Buchstaben an ihren Seitentüren, die irgendwie wie Kinderzeichnungen aussahen. Aber ich schweife schon wieder ab. Ich unterhielt mich kurz mit einem Ehepaar, Matthias und Ursula, dann wurden wir den Autos zugeteilt. Man sagte mir, dass eine Familie abgesagt habe, und ich nun alleine im letzten Fahrzeug Platz nehmen könne. Auf dem Weg in die Berge ist unser Wagen irgendwann auf einen kleinen Feldweg ausgeschert und man hat mich in eine Hütte verfrachtet. Dort habe ich etwas über den Schädel geschlagen bekommen und muss eine Zeitlang bewusstlos gewesen sein.“ „Wer?“, fragte der Polizist sofort, sah Tom mit festem Blick an und hörte auf sich Notizen zu machen. „Keine Ahnung wer diese Kerle sind. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich zuerst Sand im Getriebe. Ich meine ich kapierte zuerst überhaupt nicht, wo ich war und was geschah. Es war auch keiner der Typen da sie hatten mich alleine gelassen und eingesperrt. Irgendwann sind sie aufgetaucht. Der eine trug einen Schal um Kinn und Mund, aber ich habe gesehen, dass er stahlblaue Augen hat. Und er war dünn, fast wie ein Zahnstocher.“ Der Polizist nickte, schrieb etwas und fragte dann: „Und der andere?“ „Ziemlich bulliger Typ. Ich glaube das war eher der Handlanger und Mann fürs Grobe. Er trug eine Maske und war ziemlich nervös. Er hat ständig irgendwo dran getreten oder mit den Füßen gewippt. Ein Ton von seinem Anführer und er wäre sofort in Aktion getreten. Das habe ich deutlich gespürt.“ „Inwiefern?“ „Hmm, schwer zu beschreiben. Die Lust war irgendwie aufgeladen. So ähnlich wie bei einem Gewitter, Energie in Schwingung, als habe er einen Gewalt-Chip im Hirn eingepflanzt. Können Sie mir folgen?“ „Nicht so richtig, aber ich denke ich weiß ungefähr, was Sie meinen. Was geschah, als die beiden in der Hütte ankamen?“ „Der Mann mit den blauen Augen fragte mich über mein Projekt aus, von dem er eigentlich gar nichts wissen konnte, denn es ist noch gar nicht zur Forschung im Einsatzgebiet zugelassen.“ Toms Gegenüber standen die Fragezeichen ins Gesicht geschrieben: “Wie meinen Sie das?“ „Ich habe eine Substanz aus den hier im Gebirge wachsenden Andentannen extrahiert, die vermutlich in der Medizin sehr brauchbar gemacht werden kann. Aber meine Forschungen wurden bisher noch nicht freigeben, wie schon erwähnt. Nun vermute ich, dass..“ Der Polizist stand auf und öffnete das Milchglasfenster und blickte auf das Blütenmeer aus Rosen, Hyazinthen und etwas das wie Maiglöckchen aussah hinter dem Haus. Eine Weile blieb es absolut still im Raum. Ursula rüttelte an einer der Türen im Flur: „Abgeschlossen!“ Hektisch rannte sie zur nächsten, deren Klinke sich problemlos herunterdrücken ließ. Sie stolperte in den dunklen Raum und tastete an der Wand entlang um einen Lichtschalter zu finden. Matthias kam hinter ihr in das Zimmer gepoltert und trat auf eine Quitscheente, die sich mit einem schrillen Ton bemerkbar machte. „Was war das? Mach doch mal Licht“, kreischte Ursula erschrocken. „Wenn ich wüsste wo mein Herz, würde ich die Nachtfahrt hier drinnen sofort beenden. Jetzt beruhigt Dich doch mal mein Schatz. Wahrscheinlich sind die Schützen längst im Café und naschen ein Spaghetti-Eis“, versuchte er sie zu beruhigen und aufzumuntern. „Such nach dem Schalter“, befahl sie ängstlich, ich muss sehen, wo wir hier sind und ob wir uns verschanzen können.“ Mit einem leisen Summen erwachten die Neonröhren über ihr zum Leben. Matthias schaute sie triumphierend an: „Siehst du, es hilft immer einen kühlen Kopf zu bewahren!“ Er trat zu ihr und drückte sie kurz fest an sich:“ Alles wird gut, vertrau mir. Und jetzt lass uns mal sehen, ob es außer dem verstreuten Spielzeug auf dem Boden noch ein paar nützliche Dinge zu entdecken gibt.“ Er öffnete einen großen weißen Schrank und erblickte neben einer Heckenschere mit gigantischen Ausmaßen eine weitere Kiste mit Spielsachen. Ein Tischtennisschläger, der schon bessere Tage gesehen hatte, lag obenauf. Darunter konnte man eine Spielzeugwaffe Typ MG erkennen. Teil 19 Woche 18/2013 „Die Spielzeugpistole nehmen wir auf alle Fälle mit, damit kann man aus der Entfernung sicher bluffen. Aber wir müssen irgendetwas in die Hände bekommen, was wir als Schlagwaffe nutzen können, falls die Kerle hier eindringen“, erklärte Matthias und wühlte sich weiter durch den Inhalt des Schrankes. Unbrauchbare Dinge, ein Rechen für den Sandkasten, eine Badekappe und zwei Bilderbücher, warf er in hohem Bogen hinter sich. „Beeil dich“, keuchte Ursula mit ängstlichem Blick zum Fenster. „Ich glaube, ich höre ein Auto da draußen!“ Hektisch warf Matthias auch die nächsten Gegenstände auf den Boden, bis er ganz unten auf einen Karton stieß, der mit Klebestreifen verschlossen war. Er zerrte an den Plastikstreifen, ohne sie entfernen zu können. Er spürte, dass die Panik ihn zu übermannen drohte: „Liegt dort irgendwas mit dem ich den Mist hier zerschneiden kann?“ Das Motorengeräusch vorm Haus wurde lauter. Ursula ging in die Knie und wühlte sich durch den Haufen der Gegenstände auf dem Fußboden und schüttelte verzweifelt den Kopf: „Ich kann nichts finden!“ Der Wagen war zum Stehen gekommen, kein Laut drang mehr zu ihnen. Matthias hob seinen Zeigefinger an den Mund und wisperte: „Komm hier herüber in den Schrank!“ „Aber sie werden sofort den ganzen Kram hier entdecken“, erwiderte Ursula und zeigte auf den Boden. „Stimmt“, erkannte Matthias, nahm sie bei der Hand und zog sie aus dem Zimmer: „Lass uns hier hinein gehen“. Er rüttelte an der Türklinke - abgeschlossen -. Auf dem Weg zur Tür gegenüber, öffnete sich mit einem leisen Knarren die Eingangstür am Ende des Ganges. Matthias riss Ursula am Arm in den Raum, den er gerade betreten hatte. Drinnen ließ er rasch sein Blick schweifen und erkannte im Dämmerlicht, dass sie sich in der Küche befanden. Er öffnete einen der Unterschränke und winkte seine Frau hinein: „Bleib dort drinnen und rühr sich nicht“, befahl er leise und schloss die Tür hinter ihr. Leise bewegte er sich weiter und zog eine große Schublade heraus. Er ertastete Besteck, einen Schneebesen und einen Fleischklopfer, den er herausnahm und in der Hand behielt. Dann wandte er sich wieder um und postierte sich mit erhobener Waffe hinter die Tür. „Da drüben zwischen den Blumenbeeten steht eine Gartenbank mit Blick auf die Azaleen. Ich sitze in der Pause oft dort und grüble über Fälle nach, die auf meinen Schreibtisch gelandet sind“, erklärte der Polizist und deute aus dem Fenster. „Jetzt wäre ein guter Moment für eine kleine Unterbrechung, denn ich muss zugeben, dass mich Ihre Ausführungen jetzt schon verwirren. Dabei sind wir noch nicht einmal zum Kern der Sache vorgestoßen.“ „Was genau ist Ihnen unklar?“, fragte Tom. Der Polizist trat an ihn heran, beugte sich nahe an sein Ohr und flüsterte: „Sind Sie sicher, dass wir das nicht unter vier Augen besprechen sollten? Wie gut kennen Sie Ihren Begleiter?“, fragte er und schielte auf Raoul, der auf seinem Stuhl eingenickt zu sein schien. „Ich hatte vorhin schon das Gefühl, dass er versucht mir etwas zu verheimlichen!“ Tom zuckte mit den Schultern. „Ich werde ihn für eine Weile hinaus in die Farbenpracht der Blumenbeete schicken, damit Sie mir all Ihre Eindrücke schildern können, ohne rücksichtsvoll sein zu müssen. Soll ich?“ Tom nickte zustimmend, doch dann hielt er den Polizisten zurück: „Wer sagt uns, dass er nicht verschwindet?“ „Ich sage das. Wohin soll er so schnell gehen? Wir haben den Garten im Blick und ich werde zwei Kollegen anweisen, ihn im Auge zu behalten.“ „In Ordnung, so können wir es machen.“ Der Mann ging zu Raoul und stupste ihn mit seinem Finger an der Brust an: „Señor Raoul, wären Sie so freundlich und würden uns für ein paar Minuten allein lassen? Er deute erneut aufs Fenster: „Da draußen steht eine Bank, auf der Sie ihr Nickerchen fortsetzen können. Es ist ein wirklich schöner Ort für eine Siesta. Falls Ihnen langweilig wird, können Sie nach Unkraut Ausschau halten. Aber ich bin sicher, dass Sie keines entdecken werden.“ „Aber warum muss ich nach draußen? Señor Werner und ich haben keine Geheimnisse voreinander?“, fragte Raoul misstrauisch. Der Polizist lächelte milde: „Ich möchte mich trotzdem eine Weile alleine mit ihm unterhalten. Sie hatten dazu vorhin auch die Gelegenheit, oder? Gehen Sie schon, im Garten ist es wie Urlaub, versprochen. Genießen Sie das Wasserspiel am Brunnen, beobachten Sie die Libellen, mehr Lokalkolorit werden Sie nie an einem Fleck bekommen. Und ehe Sie es sich versehen, werde ich Sie schon wieder hereinbitten“. „Aber…“, warf Raoul erneut ein. Doch der Beamte ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen. Er nahm ihn am Arm, pikste dabei hinterlistig in eine kleine Hautfalte, was den Chilenen scharf einatmen ließ, und schob ich zur Tür. „Wir sehen uns nachher und jetzt verschwinden Sie, bevor ich die Samthandschuhe in meinem Schreibtisch verstaue und meine Höflichkeit vermissen lasse!“ Raoul erhob den Kopf und stolzierte eitel wie ein Pfau aus der Tür. Der Polizist wartete, bis er ihn draußen auf der Bank erspähte, bevor er das Wort wieder an Tom wendete: „Er hat mit der Sache zu tun nicht wahr? Das dachte ich schon, als er hier in mein Büro kam. Mein Spürsinn in solchen Dingen hat mich selten getrogen. Wenn Sie nun das Gegenteil behaupten, wäre es eine echte Überraschung für mich.“ Tom nickte: „Er hat mit der Sache zu tun, aber ich weiß nicht, inwieweit er die Hintergründe kennt. Ich glaube, dass er nur als Handlanger missbraucht wurde. Aber er hat mir auch sehr geholfen, deshalb möchte ich nicht, dass Sie ihn zu hart bestrafen, wenn es soweit ist.“ Der Mann deutete auf eine Fotografie auf seinem Schreibtisch. „Sehen Sie sich das an. Das ist meine Frau Layla“, er lächelte stolz. „An diesem Tag waren wir auf einem Ausflug mit einer Luxusjacht. Ein angeblicher Freund hatte uns eingeladen und uns nach Strich und Faden verwöhnt. Später stellte sich heraus, dass er mich mit diesem Event lediglich milde stimmen wollte. Er war fett im Drogengeschäft und wusste von einem Informanten, dass wir kurz davor standen alles auffliegen zu lassen. Als ich ihn zum Verhör hier vor mir sitzen hatte, drehte sich seine Meinung zu unserer Freundschaft wie eine Wetterfahne im Wind. Sie müssen wissen, dass ich sehr viele Macken habe, meine Vergesslichkeit macht mir schwer zu schaffen, ich benutze keine Rolltreppen und Fahrstühle und so weiter. Aber Bestechlichkeit wird man mir nie anhängen können. Ich hasse es, denn ich habe diesen Beruf nur aus dem einzigen Grund ergriffen, das Böse zu eliminieren und die Guten zu schützen. Ich schweife ab. Was ich Ihnen damit deutlich machen will, wenn Señor Raoul Dreck am Stecken hat, werde ich ihn dafür zur Rechenschaft ziehen und nicht versuchen, ihn mit dem Feuerwehrschlauch reinzuwaschen, verstanden?“ „Trotzdem möchte ich…“ „Hören Sie auf“, unterbrach der Polizist Toms Einwände. Mit Arsen gefüllte Schokolinsen werden nicht besser, weil man die süße Schicht darüber gegossen hat. Ob er bestraft wird und wie hart liegt in der Hand des Richters. Aber den wird Señor Raoul zu Gesicht bekommen, so wahr ich hier sitze. Und jetzt kommen wir endlich zu Ihrem Fall zurück, bevor das Bürschchen da draußen unruhig wird.“ Zur gleichen Zeit in Deutschland Bettina lauschte auf die schleppenden Schritte, die sich auf dem Flur in ihre Richtung bewegten. Sie überlegte, ob sie den Laboranten ein zweites Mal außer Gefecht setzen sollte, oder versuchen zu fliehen. Doch der Kollege wusste nun Bescheid, zwar nicht im Detail, aber genug um sich im Institut Gehör zu verschaffen und alles zu verderben. In der Presse breitgetreten würde die Sache mehr Wirbel verursachen als der Euro-Rettungsschirm und dem Institut derart schaden, dass an weitere Forschungen nicht zu denken war. ‚Ich muss ihn für eine Weile kaltstellen, sonst wird alles ans Licht kommen‘, entschied sie entschlossen und trat zurück in den Flur. Der Laborant schien noch leicht benommen, er kam wie auf Storchbeinen auf sie zu, schien sie aber nicht sofort zu realisieren. Bettina nutze ihren Vorteil, nahm Anlauf und rammte ihn mit ihrer gesamten Körperkraft. Er fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden und schaute sie irritiert an: „Sind die Damen an der Ostsee immer so ungestüm?“, plapperte er wirr, während sein Mund sich wie in Zeitlupe bewegte. Er sah aus wie ein Guppy an Land, der nach Luft schnappte. Sie streckte ihm die Hand entgegen und half ihm auf die Beine. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Es tut mir leid, ich habe Sie gar nicht bemerkt“, heuchelte sie, da sie sehr schnell erkannt hatte, dass sie sich seine Verwirrtheit zu Nutzen machen konnte. „Sind Sie auch auf Schnäppchenjagd? Ich suche eine Laterne für meinen Balkon und wollte da vorn in dem kleinen Laden danach schauen.“ Ihr Kollege zeigte keinerlei Reaktion. „Wollen Sie mich dorthin begleiten, damit ich sicher sein kann, dass es Ihnen gutgeht?“ Sie zeigte in Richtung der Tür zum Abstellraum des Institutes und hakte sich bei ihm unter. „Kommen Sie, vielleicht finden wir dort auch das Schnittmuster, das ich für mein neues Kleid brauche.“ Schritt für Schritt zerrte Bettina den Laboranten weiter und redete dabei ohne Unterlass: Mein Objektiv klemmt seit einigen Tagen. Kennen Sie sich mit Fotoapparaten aus und könnten mir behilflich sein, ein gutes und neues Objektiv zu finden? Wie lange sind Sie schon hier an der Ostsee oder wohnen Sie hier?“ Endlich waren sie an der von Bettina angestrebten Tür angelangt und sie zog ihn energisch hinein. Teil 20 Woche 19/2013 Drinnen setzte sie ihren Kollegen auf einen Stuhl und betrachtete ihn genauer. Seine Pupillen waren trotz des hellen Lichtes im Raum beängstigend groß und ein Grinsen schien in sein Gesicht eingemeißelt zu sein. Sie fand einen leeren Plastikbecher, füllte ihn mit Wasser aus der Leitung und hoffte, dass eine kleine Abkühlung den Laboranten wieder fitter machte. In ihrem Kopf schwirrten Filmszenen durcheinander, in denen Patienten ein Schädel-HirnTrauma oder einen Schädelbasisbruch erlitten hatten furchtbaren Operationen ausgesetzt wurden. ‚Verdammt, was soll ich jetzt nur machen? Der Typ muss verschwinden, bis wir die Sache in Chile in Ordnung gebracht haben. Aber wie soll das gehen?‘ Sie nahm ihr Handy, drückte auf Wahlwiederholung und lauschte ungeduldig des sich ständig wiederholenden Freitones in der Leitung. ‚Nimm endlich ab du Schwein!‘, brüllte sie unbeherrscht in den Raum. Der Kollege bewegte seinen Kopf mechanisch und Marionetten gleich in ihre Richtung. Er schien wirklich in keinem sehr guten Zustand zu sein und Bettinas Panik wuchs von Sekunde zu Sekunde. Endlich wurde das Gespräch am anderen Ende angenommen und Dankbarkeit durchflutete sie. „Bitte, du musst mir helfen!“ „Ich habe dir gesagt, dass ich mit Gewalt nichts zu tun haben will. Sieh zu, wie du aus der Sache rauskommst. Allein!“ „Allein“, höhnte sie ins Telefon, „wenn wir auffliegen, bin ich es auch nicht alleine. Du steckst da tief mit drin. Also schwing gefälligst deinen Arsch hierher, bevor ich die Geduld verliere und noch etwas Unüberlegtes tue! Ja, ich bin unten im Büro von.., ach keine Ahnung. Ich lasse die Tür einfach einen Spaltbreit offen, dann wirst du mich schon finden. Beeil dich“, ergänzte sie und drückte erleichtert das Gespräch weg. Der Laborant war vom Stuhl aufgestanden, krabbelte desorientiert und an einen Lurch erinnernd auf dem Fußboden. Seine Finger strichen dabei über den Belag, als lese er Blindenschrift. ‚Verdammt, das sieht nicht gut aus‘, flüsterte Bettina und ließ sich neben ihm auf ihre Knie fallen: „Was suchst du denn hier unten? Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte sie, während sie darum flehte, dass ihre Unterstützung gleich eintreffen würde. Zunächst erhielt sie keine Antwort und ihr Kollege setzte seine verwirrten Runden fort. Dann blieb er auf dem Hosenboden sitzen, schaute sie mit leeren Augen an und fragte: „Wo ist mein Vater? Ich habe ihn schon überall gesucht. Er wollte mir doch eine Zuckerwatte kaufen. Sein Oldtimer steht auch nicht in der Garage, was soll ich tun?“ Sein Gesicht drückte vollkommene Verzweiflung aus, er schien in seiner eigenen Welt gefangen. Entsetzt über das irrationale Verhalten ihres Kollegen, wurde Bettina immer deutlicher, wie groß ihr Problem wirklich war: „Er muss unbedingt zu einem Arzt, ich kann nicht warten!“, sprach sie halblaut und zu sich selbst in den Raum. „Ich meine, bei aller Freundschaft, er hatte schon früher nicht alle Schrauben unter den Locken sortiert, aber das hier? Hier hatte der Wahnsinn zu einhundert Prozent Nachwuchs erhalten und war nicht nur für eine Pause im Ruheraum!“ Ihr Gewissen, von dem sie lange Zeit gedacht hatte, es würde gar nicht mehr existent sein, regte sich heftig. Das geführte Selbstgespräch und der Anblick des verwirrten Laboranten steigerte ihre Qual und Verzweiflung. Sie strich im behutsam über den Kopf und flüsterte beruhigend: „ Dein Papa ist nur rasch zu Dekorateur, es muss etwas klären. Du weißt doch, dass er eure Baumblüten in Kronen-Form geschnitten haben möchte. Er muss gleich zurück sein. Ich rufe ihn an, okay?“, ergänzte sie und nahm ihr Telefon zur Hand. Während sie die Nummer des Rettungsdienstes wählte, klammerte sie sich an den Strohhalm, dass ihr Komplize auftauchte, bevor in der Rettungsleitstelle jemand ihren Anruf entgegen nahm. Der Türgriff bewegte sie langsam nach unten. War ihr Flehen erhört worden? Sie drückte die Beenden-Taste auf dem Handy und starrte zur Tür. Ursula wagte es nicht, sich auch nur einen Millimeter in dem engen Schrank zu bewegen. Obwohl sie schon jetzt das Gefühl hatte durch eine Luftpolsterfolie zu atmen, und ihr rechtes Bein von einem starken Schmerz durchzogen wurde, wahrscheinlich hatte sie sich beim schnellen Einstieg in den Schrank eine Muskelzerrung zugezogen, zwang sich die aufsteigende Panik zu ignorieren. Von draußen hörte sie nichts außer den aufgeregten Atemzügen ihres Mannes. Die Angst in ihrem Kopf begann erneut Achterbahn mit ihr zu fahren. Wilde Phantasien von Vampirwesen und anderen Monstern drohten ihren Blick auf die Realität zu versperren: ‘Tief durchatmen‘, befahl sie sich im Geist und riss die Augen auf. Sie hatte das Gefühl, dass ihre zuvor geschlossenen Lider sie daran gehindert hatten, rational zu denken und handeln. ‚Stell dir eine Aufgabe!‘ ‚Also gut, ich weiß etwas!‘ ‚Wie heißt der Wolf in der Fabel?‘ ‚Isegrim!‘ ‚Richtig und wie nennt sie das Zwergkaninchen?‘ ‚Keine Ahnung, ich weiß nur, dass der Hase Meister Lampe heißt!‘ ‚Wie kommt man bequem auf den höchsten Berg?‘ ‚Also ich mit dem Sessellift, sonst bringen mich keine zehn Pferde hinauf!‘ ‚Was soll dein Spargel von Mann gegen die Angreifer unternehmen? Die werden ihn matschen!‘ Die letzte Frage ihres Gedankenspieles kreischte wie ein Sägeblatt durch ihren Schädel, und sie glaubte, keine Sekunde länger in absoluter Regungslosigkeit verharren zu können. Teil 21 Woche 20/2013 Vorsichtig und leise schob sie die Schranktür ein winziges Stück zu Seite, um einen Blick in die Küche zu erhaschen. Außer den Schemen ihres Mannes, der noch immer regungslos und mit erhobenem Fleischklopfer hinter der Tür stand, konnte sie trotz des hineinscheinenden Vollmondes nicht viel erkennen. Doch, so wurde ihr rasch klar, waren auch keine weiteren Geräusche zu vernehmen gewesen. Vielleicht hatten es sich die Angreifer anders überlegt und waren abgezogen? Sie verbot sich dem Glücksgefühl, das sich in ihr breitmachen wollte, Platz zu machen. Zuerst mussten sie Sicherheit erlangen. „Psst“, wisperte sie in Matthias Richtung. Er schaute sie an, schüttelte mit dem Kopf, legte seinen Zeigefinger an die Lippen und war bleich wie ein Gespenst. Er musste mehr als sie gehört haben, denn die Spannung in seinem Arm, der den Klopfer nach oben hielt, war jetzt, nachdem sich ihre Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, deutlich zu erkennen. Er machte ihr ein Zeichen sich in den Schrank zurückzuziehen und Ursulas neue Hoffnung lag in Scherben. Ängstlich und leise zog sie sich in ihr Versteck zurück. ‚Das ist unfair‘, ging es ihr durch den Kopf. ‚Ich will hier raus, heim und unsere geplante Jubiläumsfeier organisieren. Wir haben so lange darauf gewartet unsere Silberhochzeit zu feiern. Und jetzt soll alles vorbei sein? Keine neuerliche Hochzeitstorte, Grußkarten und ein Bild in der Wochenend-Ausgabe? Nicht einmal ein lächerlicher Zupfkuchen im Kreise von Familie und Freunden? Nein, das lasse ich nicht zu!‘ Energisch schob sie die Schranktür erneut auf, kletterte heraus und stellte ich direkt hinter ihren Matthias. „Hör zu“, wisperte sie entschlossen. „Wir werden es denen zeigen! Wenn sie hier hereinkommen, brätst du ihnen eins über, wir rennen nach draußen und verschwinden. Bis sie sich wieder aufgerappelt haben, sehen sie nur noch unsere Rücklichter! Wir lassen uns das nicht gefallen. Entweder es klappt, oder wir gehen bei der Sache drauf. Besser als wie ein Mäuslein im Loch zu sitzen und darauf zu hoffen, dass das Haustier der Nachbarn einen nicht aufspürt.“ Als Matthias zu einer Antwort ansetzen wollte, vernahmen sie zielstrebige Schritte auf dem Flur, die sich auf sie zubewegten. Der Polizist warf einen kurzen Blick durch das geöffnete Fenster, durch das der Duft von Maiglöckchen und anderen Blumen zu ihnen herüber wehte. Raoul saß auf der Bank, er wirkte nervös in dem Versuch lässig zu erscheinen. Sein Blick war stur auf den Kran auf der anderen Straßenseite gerichtet, und der Beamte vermutete, dass er sich überhaupt nicht für die Baustelle interessierte, sondern lediglich Blickkontakt vermeiden wollte. „Señor Raoul tut alles, um cool zu wirken. Ich weiß, dass Sie genau wissen, dass er in diese Sache involviert ist. Mag sein, dass er nur als Ausführender ausgewählt wurde und ein sich ein paar zusätzliche Pesos verdienen wollte. Auch glaube ich nicht, dass er die wirklichen Drahtzieher kennt, aber er kann uns sicher zu Menschen führen, die etwas über die Köpfe wissen. Deshalb täten Sie gut daran, jetzt die Karten auf den Tisch zu legen. Ich muss wissen, um welches Projekt es sich genau handelt. Versuchen Sie es mir verständlich zu machen, und vereinfachen Sie es meinetwegen nicht zu sehr, ich habe im Sachkundeunterricht immer gut aufgepasst!“ Tom nickte und ordnete seine Gedanken, bevor er zögernd begann: „Ich glaube, dass meine Entdeckungen von Leuten aus meinem eigenen Institut gestohlen worden sind. Sehen Sie, mir hat man erzählt, dass die Auswahl der Versuchsreihen noch ansteht, zumindest die für dieses Jahr. Wenn ich aber davon ausgehe, wie weit die Vorbereitungen und Arbeiten hier schon vorangeschritten sein müssen, muss ich befürchten, dass meine Idee schon lange vor meiner Einreichung gestohlen wurde. Damit kann es nur jemand aus meiner Firma gewesen sein, und glauben Sie mir, ich zerbreche mir den Kopf darüber, wer infrage käme. Aber ich schweife schon wieder aus. Wie ich Ihnen bereits erklärte, kann der Samen der Andentanne unter bestimmten klinischen Umständen zu einem Heilmittel werden. Und ich spreche dabei nicht über das Auskurieren von Bagatellerkrankungen oder Miniaturausgaben gefährlicher und lebensbedrohlicher Krankheiten, sondern von der Behandlung eine der gefürchtetsten Erkrankungen im Bereich der Neurologie!“ „Alzheimer?“ „Exakt, und wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, was ich tue, da bin ich ziemlich sicher, werden wir imstande sein, diese Geisel des Geistes in den Griff zu bekommen. Dabei wird es nicht nur möglich sein, das Unwetter, das im Hirn der Patienten tobt zu beruhigen, sondern es umzukehren. Den Panzer um den Gedankensafe, an den die Betroffenen nicht mehr herankommen aufzubrechen, und verlorene Gedanken wieder zusammenzusetzen. Das Helium ablassen, verstehen Sie? So beschreiben es viele Betroffene, als seien ihre Gedanken in einem Heliumballon gefangen, der sich Richtung Abendröte auf den Weg macht und nicht mehr von ihnen aufgehalten werden kann.“ „Sind Sie sicher? Das würde eine Menge Geld für die Pharmaindustrie einbringen.“ „Absolut richtig, und genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Wenn das bekannt wird, wird sich diese Industrie ein Rennen liefern, wer zuerst auf den Markt kommen kann. Da ist es natürlich von erheblichem Vorteil, die Forschungsreihen bereits so weit vorangetrieben zu haben, dass man direkt mit der klinischen Studie beginnen kann. Wenn ich Ihnen jetzt noch verrate, dass ich glaube, dass noch viel mehr Potenzial in diesem Samen steckt, vor meiner Abreise testete ich seine Wirkung bei anderen Krankheitsbildern. Ich glaube nämlich, dass die Andentanne in ihrer Blütezeit noch einen anderen Wirkstoff freigibt, der steckperlengleich am Blütenstamm angesiedelt ist. Mit dem bloßen Auge fast nicht zu erkennen. Wenn das stimmt, davon habe ich zum Glück noch niemandem etwas erzählt, ist sie wertvoller als jeder Königsschatz. Noch ist es ein Buch mit sieben Siegeln, aber das wird sich sehr bald ändern, wenn man an der Forschung dranbleibt.“ „Das würde bedeuten, dass Chile zumindest in den Höhen vom Anbau dieser Tannen belegt werden würde, richtig?“ „Mit hundertprozentiger Sicherheit. Und nicht nur das, es würde auch das Leben im Tal komplett auf den Kopf stellen. Schon allein wegen der günstigeren Arbeitslöhne in ihrem Land wäre jeder Pharmakonzern absolut geschäftsuntüchtig, wenn er die Verarbeitung nicht hier vor Ort erledigen würde. Das wäre wie genauso unlogisch wie Bootsanhänger für die Wüste zu produzieren“ Der Polizist lächelte einen Augenblick: „ Schöner Gedanke, Arbeitsplätze für uns alle!“ „Verkennen Sie die Lage nicht. Wenn es einmal so weit ist, werden sicher einige Menschen davon profitieren, zumindest zeitweise.“ „Warum denken Sie nur zeitweilig?“ „Zum Beispiel weil niemand voraussagen kann, wie sich die Natur entwickelt, wenn man in den Anden eine Monokultur von Andentannen anlegt. Zudem benötigen klinische Studien freiwillige Teilnehmer, wer sagt Ihnen, dass diese Truppe nicht schon einige Testpersonen aufgetan hat. Ob dies aus freien Stücken geschah, sei dahin gestellt. Immerhin schrecken sie auch vor einer Entführung nicht zurück.“ „Sollten Sie damit recht behalten, müssen wir sofort handeln. Also sagen Sie mir jetzt noch einmal im Detail, was Sie gehört und gesehen haben. Danach bitten wir Señor Raoul wieder zu uns, bevor er alle Pusteblumen ausgerupft und in alle Winde verteilt hat.“ Er grinste kurz und deutete aus dem Fenster. Raoul saß am Rand der Wiese unter einem Olivenbaum und zwischen den Blumenbeeten. Er hielt in einer Hand einen dicken Strauß abgeblühten Löwenzahn. Er nickte Tom aufmunternd zu, nahm seinen Notizblock wieder zur Hand und sagte: „Wie viel haben Sie von dem mitbekommen, was Ihre Entführer sprachen?“ „Nicht besonders viel. Das war kein Spieleabend, sie haben mich aus allem herausgehalten, soweit das möglich war. Eine Zeitlang war ich alle in der Hütte eingesperrt und ohne Bewusstsein. Es gab Trinkwasser auf dem Tisch und einen seltsamen Schlüsselanhänger, in dem sich zerdrückte Muschelschalen befanden. Sonst war da gar nichts. Aber sie wussten genau, wer ich bin und worum es bei meinem Projekt geht. Darüber war ich anfangs sehr verwundert, bis mir dämmerte, dass da schon jemand am Werkeln war und Löschwasser brauchte, weil das Projekt in Flammen aufzugehen drohte. Oder weil er oder sie es verhindern will, dass überhaupt in diese Richtung geforscht wird. Ich weiß es einfach nicht und von den Amigos habe ich wirklich nicht mehr erfahren. Der eine fragte mich immerzu, was ich ihm über den Fortschritt der Arbeiten berichten könnte. Er war fest davon überzeugt, dass ich fett in der Sache drinstecke.“ Der Polizist blickte von seinem Notizblock auf, warf einen Blick aus dem Fenster und sprang auf: „Er ist weg“, rief er und rannte zur Tür. Tom folgte ihm auf den Fersen. Am Eingang sah er nach links und entdeckte Raoul, der bereits auf der Höhe des Straßenschildes angelangt war. Ein weiter Vorsprung, der Beamte setzte zum Sprint an. Teil 22 Woche 21/2013 Tom beobachtete den Polizisten, der sich für die Verfolgung Siebenmeilenstiefel angezogen zu haben schien. In kürzester Zeit hatte er den Anstand zu Raoul beachtlich verkürzt, der augenscheinlich bereits all seine Ressourcen aufgebraucht hatte. Er lächelte erleichtert, als der Polizist nur wenige Minuten später mit ihrem Reiseführer im Schlepptau auf ihn zu kam. Raoul zog eine gehetzte Grimasse und seine Haare klebten ihm feucht vom Schweiß dicht am Kopf und erinnerten entfernt an Schafwolle. Er blickte zerknirscht auf Tom, der neben einer Strichmännchen-Zeichnung an der Wand lehnte und zischte: „In Ordnung, ich habe Mist gebaut. Das weiß ich, aber ich habe Angst vor den Konsequenzen, wenn ich hier auspacke. Die Kerle, von denen ich vermute, dass sie die Hintermänner sind, werden nicht lange fackeln, wenn sie mich in die Hände bekommen. Danach werde ich meine Sonnenblumen sicher nie mehr wässern können. Deshalb bin ich davon gerannt, verstehen Sie?“ Bettina starrte angespannt zur Tür und glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als Frau Immergrün ihren Kopf hereinsteckte: „Lothar, bist du hier?“, fragte diese flüsternd und stieß die Tür einen spaltbreit auf. Bettina sprang auf und stürzte auf sie zu: „Was tun Sie hier und wie sind Sie hereingekommen?“ „Durch die Tür. Der Haupteingang stand weit offen, und weil Lothar nicht zu unserer Verabredung erschienen ist, wollte ich nachsehen. Wo ist er?“ ‚Mist, wie konnte das sein? Wer hatte die Türen geöffnet? Gab es heute Abend eine ProjektVorstellung, die sie vergessen hatte? Was wurde hier eigentlich wirklich gespielt. Sie wurde das Gefühl nicht los, das die Fäden aus einer ganz anderen Ecke gezogen wurden, als es ihr weisgemacht worden war. Oder waren die ihr zur Verfügung stehenden Informationen nur veraltet und es hatte zwischenzeitliche Veränderungen gegeben, über die sie noch nicht aufgeklärt worden war? „Es geht ihm nicht besonders gut“, erklärte sie, sich sammelnd und zeigte auf den Laboranten. In der Hoffnung, die Frau rasch wieder loszuwerden, ergänzte sie: „Genauer gesagt geht es ihm wirklich schlecht, er wollte Ihnen gerade eine SMS schreiben, dass er lieber nach Hause gehen und sich hinlegen wollte. Sein Smartphone bekam hier drinnen allerdings keinen Empfang. Warum warten Sie nicht einfach bis morgen und rufen ihn dann an, um eine neue Verabredung zu treffen?“ Frau Immergrün schubste sie beherzt aus dem Weg und ging auf ihren Kollegen zu, der schlaff auf dem Boden saß und seinen Kopf auf die Brust hängen ließ. „Lothar, was ist mit dir?, fragte sie ängstlich und hob mit ihrem Zeigefinger sein Gesicht am Kinn nach oben. Er starrte sie aus trüben Augen an und sagte matt: „Ich brauche doch die Karten für Bayern, Champions League spielen wir auch nicht alle Tage! Hast du welche ergattern können?“ Frau Immergrün blickte entsetzt auf und schrie angstvoll: „Was ist mit ihm passiert? Raus mit der Sprache! Und noch viel wichtiger haben Sie schon den Notarzt verständigt?“ „Ich war kurz drüben in meinem Büro um etwas zu holen, als ich zurückkam, war das mit ihm passiert“, erklärte Bettina in bemüht ruhigem Ton und zeigte erneut auf den Laboranten. „Ich dachte, er hat vielleicht so eine Art von Anfallsleiden, von dem ich nichts weiß. Ich habe ihn angesprochen, aber er war, wie jetzt auch, in einer Art Tiefenrausch. Ich bekam nur wirres Zeug zur Antwort und wollte gerade die Rettung rufen, als Sie dazu kamen.“ Die Kellnerin drehte sich ruckartig von ihr ab und rannte zur Tür: “Ich gehe nach draußen und hole Hilfe. Bleiben Sie bei ihm!“ Bettina nickte noch, als Frau Immergrün bereits verschwunden war. Das Schattenspiel an der Wand gegenüber wirkte bizarr und eine eiskalte Angst packte mit Klauenhänden nach ihr. Ihr Mund war mit metallischem Geschmack gefüllt, nachdem sie sich ihre Unterlippe blutig gebissen hatte. „Was ist hier nur los?“, wimmerte sie furchtsam in den Raum. „Noch zum Wochenbeginn war doch alles in bester Ordnung. Ich habe schon mein Portrait in voller Schönheit auf einem wissenschaftlichen Magazin gesehen, dass ich triumphierend aus dem Briefkasten ziehe, und nun?“ Ihr Kollege hob einen Moment seinen Kopf, als habe er ihr Selbstgespräch verfolgt: „Klar gehören Schweine zum Borstenvieh“, erklärte er geduldig einer nicht vorhandenen Zuhörerschar. Er ergänzte ein: „Und du hast natürlich recht mein Kleiner an der Ostsee gibt es keine Pinguine“, um danach sofort wieder in seine Lethargie zurückzufallen. Bettina stand in der Ecke des Zimmers, hielt ihren Kopf in beiden Händen und unterdrückte den Wunsch sich einfach nur aus dem Staub zu machen. „Ich komme sowieso nicht weit, sie werden mich sofort schnappen“, erklärte sie laut, als ihr der Hubschrauber auf dem Dach des Institutes in den Sinn kam. Entschlossen riss sie ihr Handy ans Ohr, drückte erneut die Wahlwiederholung und knurrte: „Wo bleibst du denn? Ich geh hoch aufs Dach und genieße den Fernblick. Wir treffen uns dort, hier kann ich nichts mehr ausrichten, aber das erkläre ich dir, wenn du hier bist.“ Sie hob den Kopf des Kollegen und sagte sanft: “Ich hoffe, du kommst wieder in Ordnung. Glaube mir bitte, das habe ich so nicht gewollt.“ Dass dies die reine Wahrheit war, und sie unglaubliche Schuldgefühle hatte, fühlte sie deutlich, als Tränen ihre Wangen herabrannen. Die salzige Flüssigkeit hinterließ schwarze Streifen auf ihrem Gesicht. Sie streichelte über seine Wange: „Verzeihe mir und sei tapfer!“ „Du weißt doch, dass es nicht hilft, Kondome mit Seife auszuwaschen. Man kann sie nur einmal verwenden. Danach glänzen sie zwar wie Bergkristalle, aber sie verhüten nicht mehr. Wundere dich also nicht wenn…“ Bettina sprang auf und lief los, sie konnte das keine Sekunde länger ertragen, und der Krankenwagen ließ sicher auch nicht mehr lange auf sich warten. Teil 23 Woche 22/2013 Sie blieb erst stehen, als sie eine Seitenstraße zum Institut erreicht hatte. ‚Was für eine Katastrophe! Ich muss so schnell wie möglich das Land verlassen. Noch werden sie nicht nach mir suchen. Am besten gleich zum Flughafen und nach Chile. Ich muss mir vor Ort ein Bild machen.‘ Rasch lief sie weiter Richtung Bahnhof, um eines der dort immer auf Kundschaft wartenden Autos zu erhaschen. „Zum Flughafen bitte“, sagte sie atemlos, noch während sie in das Taxi stieg. „Wohin geht denn die Reise so ohne Gepäck?“, fragte der Fahrer und schaute neugierig auf seinen abgehetzten Fahrgast. „Chile“, antwortete Bettina noch immer nach Luft ringend und schloss die Beifahrertür. Der Mann zögerte noch einen Moment seinen Wagen zu starten: “Ganz ohne Gepäck? Noch nicht einmal einen Sonnenhut? Den braucht man im Süden, sonst holt man sich ganz rasch einen Sonnenstich.“ „Guter Mann, ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht, aber seien Sie versichert, an meinem Zielort habe ich alles, was ich benötige. Außerdem ziehe ich es vor einen Strandkorb zu benutzen, da ist der Sonnenhut quasi eingebaut.“ Sie schloss für einen Moment die Augen und überdachte ihre Situation. Glücklicherweise trug sie ihren Reisepass, seit einem Einbruch in ihrer Wohnung, immer bei sich. Wenn es eine Möglichkeit gab, rasch nach Chile zu gelangen, würde die Polizei sie sicher noch nicht suchen. Bis Frau Immergrün den Rettungssanitätern alles erzählt hatte und diese die Polizei verständigten, blieb noch ein wenig Spielraum. Wenn sie Bettina überhaupt in Verdacht hatte. Vielleicht hatte sie ihre Erklärung ja auch für bare Münze gehalten, und erst die Untersuchung ihres Kollegen würde Fragen aufwerfen. So recht daran glauben mochte sie allerdings nicht, es passte einfach nicht in ihr Muster aus Unglück, das ihr derzeit erfuhr. Am Flughafen angelangt, stellte sie sich am Ticketschalter von LAN an, nachdem sie sich einen Whisky an der Bar im Eingangsbereich gegönnt hatte. Während die Dame vom Bodenpersonal dem Mann vor ihr erklärte, dass Flüge nach Lima im Moment etwas riskant seien, weil die Hochwasserlage unverändert sei, schaute Bettina auf die große Wettertafel am Ende der Halle. Für Chile erkannte sie wolkenlosen Himmel und eine Regenwahrscheinlichkeit von 15 %. Mit einer Überschwemmung war also nicht zu rechnen. ‚Wenigstens damit scheine ich einmal Glück zu haben‘, dachte sie, während sie nervös an einem Lederband an ihrer Handtasche zupfte. Endlich kam sie an die Reihe, die Frau am Schalter buchte sie ohne weitere Fragen auf den Flug nach Santiago de Chile ein. Lediglich als Bettina erklärte, sie habe kein Gepäck, stutze sie kurz. „Ich habe Freunde vor Ort und dort einiges an Kleidung. Und was fehlt, kann man ja auch dort kaufen, oder? Chile liegt zwar am anderen Ende der Weltkugel, aber wie im Mittelalter ist es nicht.“ „Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen“, erwiderte die Dame und man sah ihr an, dass sie ein wenig pikiert über Bettinas Aussage war. „Mein Mann kommt aus Chile! Und er arbeitet, wie modern in einer Bücherei.“ „Na dann sind Sie ja bestens im Bilde. Schönes Land nicht wahr“, versuchte sie die Situation zu entschärfen. „Allerdings! Gehen Sie zu Ausgang B43, wenn Sie sich wirklich sicher sind, dass Sie nicht doch lieber zum Ballermann wollen. Das Boarding beginnt in etwa fünfzehn Minuten“, knurrte sie und wandte sich dem nächsten Passagier zu. Ursula und Matthias traten hinter die Tür und starrten nervös auf die sich nach unten bewegende Türklinke. Die Zeit schien zäh geworden zu sein, es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ein Mann seinen Kopf durch den Rahmen steckte. Matthias nickte grimmig und holte zum Schlag aus. Sie hörten noch das Wort: “Ursula?“, bevor er zu Boden sackte. „Rasch, hilf mir ihn hier hineinzuziehen.“ Ursula rührte sich nicht vom Fleck und ließ ihren Blick ununterbrochen über den Mann am Boden gleiten. „Was ist? Mach schon, die anderen werden sicher auch gleich hier sein!“ Ursula schüttelte den Kopf: „ Das glaube ich nicht. Hast du nicht gehört, dass er nach uns gesucht hat. Ich glaube nicht, dass er zu den Schützen von vorhin gehört!“ „Wer meinst du, soll das sein?“ „Sieh mal genauer hin, ich glaube, wir kennen ihn aus dem Camp. Vielleicht hat Raoul jemanden hinter dem Wagen hergeschickt, mit dem wir herkamen.“ Matthias packte den Mann unter den Armen und versuchte ihn in den Raum zu zerren: „Da bist du auf dem falschen Dampfer, glaube ich. Und jetzt hilf mir erst einmal, quatschen können wir auch später noch.“ Sie nickte und packte beherzt mit an. Gemeinsam schafften sie es, den Mann unter großer Anstrengung ins Zimmer zu ziehen. „Schau nach, ob er Papiere bei sich hat“, schlug Matthias vor, während er sich die tropfnasse Stirn abwischte. „Bist du verrückt? Ich gehe dem nicht an die Wäsche, was ist, wenn er aufwacht?“ „Das wäre umso besser, dann könnten wir ihn direkt fragen und müssten nicht mutmaßen.“ Wie auf ein Stichwort öffnete der Mann die Augen und blinzelte irritiert. Matthias trat zu ihm und stellte seinen Fuß auf dessen Brust: „Schön stillhalten!“, knurrte er drohend. Der Mann ruderte windmühlengleich mit den Armen und erwidertet: „Ist das Ihre Art jemandem zu danken, der helfen will?“ „Helfen?“, Ursula gab Matthias ein Zeichen, den Mann nicht weiter festzuhalten und fragte weiter: „Wer sind Sie und wie haben Sie uns gefunden?“ „Ich bin Johannes und war mit Ihnen im Camp“, eröffnete er und hustete keuchend, bevor er fortfuhr: „Sie haben mich ganz ordentlich erwischt würde ich sagen. Meine Atmung fühlt sich an wie eine Luftpumpe, das Ausatmen geht irgendwie schwer.“ Er grinste schief: „Aber ich bin ja auch hier eingedrungen als habe ich noch nie einen Krimi geschaut und könnte mir nicht vorstellen, wie Sie beide sich gefühlt haben müssen. Dass ich mir keine Kuhglocke umgehängt habe, um noch mehr auf mich aufmerksam zu machen, ist gerade alles!“ „Ich muss mich entschuldigen“, unterbrach Matthias ihn verlegen. „Ich dachte, die Leute die vorhin geschossen haben, wären zurück. Wir waren wirklich in Panik. Zur großen Not hätte ich die ganze Hütte hier in Schutt und Asche gelegt.“ „Kann ich mir so ungefähr vorstellen, aber jetzt lassen Sie uns sehen, dass wir von hier verschwinden. Ich bin nicht sicher, ob die Kerle nicht doch noch einmal zurückkommen.“ Ursula sah ihn herausfordernd an: „Zuerst möchte ich erfahren, warum Sie hier sind!“ „Um ganz ehrlich zu sein, war ich nicht im Lager um Urlaub zu machen. Ich war auf Anordnung dort.“ „Mit welchem Auftrag? Ich verstehe nicht“, ihr Blick war weiterhin skeptisch auf Johannes gerichtet. „Hören Sie, ich verstehe durchaus, dass Sie verunsichert sind und aufgeklärt werden möchten. Doch ich bitte Sie, mir fürs Erste zu vertrauen und mit mir zu kommen. Wir müssen hier verschwinden. Ich schwöre, dass ich mit keinerlei bösen Absichten zu Ihnen gestoßen bin, ganz im Gegenteil. Auf der Fahrt zum Hotel am Markt, in das ich Sie bringen soll, werde ich für Ihre Fragen zur Verfügung stehen!“ Matthias nickte zustimmend: „Er hat recht, wenn er zu den Guten gehört, wovon ich einfach mal ausgehe, sollte wir flott die Kurve kratzen, denn hier zu bleiben ist absolut unverantwortlich. Dass diese Männer nicht lange fackeln, haben sie unmissverständlich klar gemacht, und ich habe keine Lust, das letzte Opfer im Mord-Triple zu werden. Lass uns verschwinden!“ Leise verließen sie den Raum und gingen zur Eingangstür, die nur angelehnt war, sodass sie einen spähenden Blick nach draußen werfen konnte, bevor sie ins Freie traten. Alles war ruhig und verlassen. Matthias schaute entgeistert auf den Wagen, mit dem Johannes zu ihnen gestoßen war: „Was ist das?“ „Was meinen Sie?“ „Na das Gummibärchen, das dort drüben parkt! Sieht aus als wollte ein Fiat mit Motorschaden zum Monstertruck mutieren.“ Er lachte schallend, als sich der Druck der vergangenen Stunden von ihm zu lösen schien. „Ich habe den Kleinen hier etwas umgebaut, aber nicht um ihn zum Monster zu machen. Ich gehe hier oft zum Kitesurfen, und irgendwie muss ich mein Board ja von A nach B transportieren. Ich weiß, dass es unmöglich aussieht, aber neben dem Job, den ich hier zu erledigen habe, bleibt wenig Zeit mich nach einem geeigneteren Wagen umzusehen. Steigen Sie ein!“ Im Auto lehnte sich Ursula vom Rücksitz, auf dem sie Platz genommen hatte nach vorne: „Warum fahren wir ins Markthotel, da sind wir doch gar nicht untergebracht?“ „Weil sie dort fürs Erste sicherer sind, und mein Boss mit Ihnen reden möchte.“ „Ihr Chef?“ „Ja, aber keine Angst, er ist einer von den Guten!“ „Verzeihen Sie, wenn ich wage zu zweifeln. Ich fühle mich zurzeit wie in einer Fotomontage, einer, in der gut und schlecht wild ineinander geblendet worden sind. Ich weiß nichts mehr und kann nicht unterscheiden. Früher dachte ich immer die Kreiszahlbestimmung wäre ein riesen Problem für meinen Verstand, aber es gibt Dinge, die sie um Längen übertrumpfen!“ Johannes drehte ihr den Kopf zu, lächelte und sagte mit beruhigender Stimme: „Vertrauen Sie mir, ab jetzt wird alles leichter!“ Teil 24 Woche 23/2013 Ursula wischte eine einzelne Träne, die ihr die Wange herunterlief ab und nickte: „Ich glaube Ihnen, was bleibt mir auch für eine Wahl? Matthias überlege dir das Mal. Falls wir irgendwann doch wieder daheim ankommen, glaubt uns das doch kein Mensch. Ich meine, wir stecken selbst mitten in einem Schmöker, einem Krimi um genau zu sein. Ich glaube, ich habe das ganze Ausmaß überhaupt noch nicht begriffen. Sonst würde ich doch nicht hier sitzen und mit Gedanken über die Geschichten machen, die wir unseren Freunden erzählen werden. Logo, dass es euch auf den Geist geht. Ich habe geschnattert, als habe ich einen Schwips, statt hier zu sitzen und noch immer vor Angst zu schlottern. Mein Gehirn scheint sich auf diese Art einen Weg zu suchen, das Geschehen irgendwie zu verdauen und sich nicht weiter damit beschäftigen zu müssen. Das war wirklich wie in eine Fahrt auf der Wildwasserbahn, oder? Rummel bis zum Abwinken, überall ging es hoch und runter und weiter im Kreis. Einfach nur abgefahren, ich meine, der Kerl ist einfach so erschossen worden, und wenn wir nicht in Deckung gegangen wären..“ Matthias blickte auf Johannes und bat ihn kurz anzuhalten. „Ich komme nach hinten zu dir mein Schatz. Beruhige dich und lass deine echten Gefühle zu. Wir stecken tief in der Scheiße. Es kann dir wirklich egal sein, was du zuhause erzählst. Wir sind dort nicht im Klassenzimmer, indem du etwas Falsches sagen könntest, oder gestehen musst, dass du deine Hausaufgaben nicht gemacht hast. Hier sind wir vielleicht noch in Gefahr. Mach dir das klar und versuche nicht, es zu verdrängen. Und jetzt lass dich in den Arm nehmen, bevor wir von deinem Geschwafel noch Pusteln kriegen.“ „Du bist unmöglich, aber einzigartig und was noch viel wichtiger ist, meine Insel im Sturm, mein Gedanken-Zwilling, mein Sparkassenbuch für Gefühle und die Liebe meines Lebens!“ Sie schmiegte sich an ihn. „Oh, oh, meine Frau wird emotional wie nie zuvor“, scherzte er und küsste sie auf die Stirn. „Das kann nur bedeuten, dass du wieder im echten Leben gelandet bist, oder?“ Sie nickte. „Ich bin froh, obwohl die Umstände alles andere als erfreulich sind. Ich könnte es nicht ertragen, dich wegen des ganzen Mists auch noch krank und verzweifelt wissen zu müssen. Schau mal“, er deutete aus dem Wagenfenster: „Die Abendsonne, ist es nicht wunderschön?“ „Ja es sieht fantastisch aus. Allerdings würde ich jetzt lieber mit dir im Heu liegen und den Anblick genießen, statt zu einem Ziel zu fahren, von dem wir mal wieder nicht wissen, weshalb wir es überhaupt ansteuern. Irgendwie wie wandern auf den Bahngleisen und hoffen, dass alles gut wird.“ „Es wird schon. Was meinen Sie“, fragte er in Johannes Richtung. „Sie sollten damit beginnen uns einzuweihen, ich für meinen Teil brauche sehr bald Streichhölzer, um meine Augen offen zu halten. Ich bin wirklich erledigt. Glauben Sie, dass wir uns Hotel ein wenig aufs Ohr hauen können, bevor wir mit Ihrem Chef reden?“ Johannes zuckte mit den Schultern: „Ich weiß nicht, was in der Zwischenzeit alles passiert ist. Wenn keine weiteren Zwischenfälle stattgefunden haben, können wir das sicher arrangieren. Aber nun möchte ich Ihnen erst einmal erzählen, warum ich zu Ihnen gekommen bin. Meine Firma stieß eher zufällig auf Informationen zur Forschung von Tom Werner. Unser Ziel, Getreide so zu präparieren, dass es mindestens das Doppelte an Fruchtstand erreichen kann, schien mit seiner Entdeckung greifbar geworden zu sein. Ich habe, als er noch nicht hier in Chile war, einige Male mit ihm telefoniert, wir haben uns ausgetauscht. Dabei hielt er mit seinen Auskünften und Ratschlägen nicht hinter dem Berg, denn er verfolgte ja ganz andere Ziele. Wir wollten uns nach seinem Urlaub treffen, um eine eventuelle Parallelforschung zu planen. Kurz nach seinem Abflug erhielt ich die Nachricht, dass er hier von seinem eigenen Institut hinters Licht geführt wird, und seine Forschungsreihe bereits sehr fleißig vorangetrieben wurde. Ich ahnte, dass sein Auftauchen hier auf keinerlei Gegenliebe stoßen würde, und machte mich ebenfalls auf den Weg.“ „Haben Sie sich Tom zu erkennen gegeben?“ „Nein, wo denken Sie hin. Es war ja auch gleichzeitig meine Chance ihn ein wenig zu beleuchten, um sicherzugehen, dass er auf der Seite der Guten steht. Es war durchaus denkbar, dass er mich nur als Werkzeug benutzt hatte, um leichter an neue Ideen zu kommen. Ich habe jedoch sehr schnell erkannt, dass er ahnungslos über das Treiben seiner Firma war, sonst hätte man ihn wohl kaum entführt. Kommen Sie einigermaßen mit?“ Matthias gähnte mit weit geöffnetem Mund: „Ehrlich gesagt fällt es mir wirklich schwer. Ich bin so müde. Wann sind wir da?“ „Ich schätze in etwa einer Stunde.“ „Würde dann etwas dagegen sprechen, wenn ich mich auf ihre Fahrkünste verlasse und mich ein wenig aufs Ohr lege, während Sie ihren Kitesurf Trabi zum Hotel bringen?“ „Korrigiere Fiat. Aber das können Sie gerne machen, falls Sie überhaupt ein Auge schließen können.“ „Verlassen Sie sich darauf. Schauen Sie mal“, er zeigte auf seine Frau. „Ursula hat es auch schon geschafft, eingerollt wie ein Kugelfisch. Und so wie es aussieht, bekommt sie noch nicht einmal mehr eine Nachtglocke wieder wach. Und auch wenn die Rückbank hier so eng ist, dass wir nachher sicher einen Schuhanzieher brauchen, um uns hier wieder heraus zu bekommen, werde auch ich nun mein Glück versuchen.“ Er kuschelte sich neben Ursula, versuchte eine einigermaßen bequeme Stellung zu finden und schlief fast augenblicklich ein. Johannes fuhr weiter konzentriert in Richtung Tal. Seine Augen blickten sehr oft in den Rückspiegel, um eventuelle Verfolger sofort entdecken zu können. Die Fahrt verlief jedoch ohne Zwischenfälle und eine Stunde später fuhr er auf den Parkplatz des Hotels, auf dessen Mitte ein Springbrunnen stand. Ursula öffnete die Augen, setzte sich wieder nach oben und schaute hinaus. Sie blickte auf ein Beet, auf dem sich farbenfreudig Pfingstrosen zur Schau stellten, als seien sie Bestand eines Bouquets, das ein Florist liebevoll zusammengestellt hatte. Teil 25/26/27 und 28 /Wochen: 24/2013/25/2013/26/2013/27/2013 Johannes stellte den Wagen auf den Parkplatz, zog die Schlüssel aus dem Zündschloss und zeigte auf die Seite des Hotelgebäudes, wo ein Biergarten zum Verweilen einlud. „Lassen Sie uns erst einmal eine kurze Rast einlegen, Sie müssen durstig sein!“ Kurz über den Namen des Lokals „Barbarossa“ schmunzelnd, der in riesige Lettern über der Eingangsranke prangte, antworte Ursula: „Ja danke, das ist eine gute Idee, ich komme um vor Durst. Sie ging schnurstracks zum Biergaten und machte es sich auf einem der Stühle mit niedlichen, blauen Sitzkissen bequem. „Es ist schön hier, ich könnte mir vorstellen, dass es ein guter Ort ist, um seine Freizeit zu verbringen“, stellte sie fest und lies ihren Blick verliebt über die kleine Oase schweifen. „Im Frühjahr und Sommer finden hier oft Veranstaltungen statt, auch große Feste. Sie grillen Spanferkel, bieten riesige Salatbuffets und haben sehr oft tolle Live-Acts, denen man in entspannter Runde zusehen kann.“ Matthias räusperte sich unbehaglich: „Ist ja alles sehr nett, aber haben wir nicht wichtigere Dinge zu besprechen? Es brennt mir auf der Seele, nun endlich mal auf den Grund von Toms Geschichte und seiner Entführung zu kommen. Ich meine, wir hatten wirklich unseren Kampf am Leben zu bleiben, ich darf gar nicht daran denken. Wenn Sie es mir also nicht verübeln wollen, habe ich keine Lust hier mit einem Strohhut in der Sonne zu sitzen und so zu tun, als sei alles in Butter, während über Tom immer noch schwarze Wolken aufziehen.“ Johannes nickte zustimmend: „Sie haben völlig recht und gleich werde ich versuchen, Ihnen Einblick in die ganze Sache zu geben. Leider müssen wir aber noch auf meinen Boss warten, denn er scheint nicht hier zu sein. Vielleicht konnte er noch nicht vom Einsatzort wegkommen. Sein Auto steht jedenfalls nicht auf dem Parkplatz und ich frage mich, wo zum Geier er bleibt. Ich werde rasch hineingehen, Ihnen etwas zu trinken bestellen und nachsehen, ob er vielleicht im Hotel auf uns wartet.“ „Ist gut,“ erwiderte Matthias und erhob sich ebenfalls von seinem Stuhl. „Wenn es Ihnen recht ist, komme ich mit hinein, eine Pinkelpause täte mir gut! Was ist mit dir?“, fragte er Ursula, die sich mit einem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn wischte. „Nein, geht ihr ruhig, ich muss nicht. Ich bleibe und warte auf euch.“ „Bist du sicher? Ich meine du lieber Harry, wir sind vor Stunden in ein Abenteuer geraten und nun können wir endlich einmal durchatmen und du musst nicht Pinkeln?“ Sie stand auf und grinste: “Ich habe noch Übung aus dem Kloster, weiß doch noch, als ich mich ewig lange nirgendwo erleichtern konnte? Das trainiert“, erklärte Ursula noch immer amüsiert und winke mit der Hand, um die Männer ins Gebäude zu dirigieren. Nachdem die beiden im Hotel verschwunden waren, verstaute sie ihr Taschentuch in der Hosentasche und hob ihr Gesicht in die Sonne. ‚Endlich mal für zwei Minuten durchatmen‘, dachte sie und versuchte sich zu entspannen. Doch die Bilder von den Ereignissen der letzten Stunden tauchten sofort vor ihrem inneren Auge auf. Es wurde ihr allzu deutlich, wie viel Glück sie bis hierhin gehabt hatten. Nicht auszudenken, was vielleicht geschehen wäre, wenn Johannes nicht zu ihnen gestoßen wäre. Aber war er überhaupt ein Freund? Wie konnte sie bei all dem Wirrwarr, was sich um sie herum abspielte überhaupt noch sicher sein, wem sie trauen konnte? Das Geräusch eines Wagens, der auf den Parkplatz fuhr, ließ sie aus ihren Gedanken hochfahren. Sie zwinkerte gegen die Sonne und beobachtete einen Schulbus, der dort zum Stehen gekommen war. Verwundert sah sie zu, wie zwei Männer die hintere Tür öffneten und etwas Wuchtiges, das in einer Decke eingeschlagen war, nach draußen hoben. Es schien sich um einen schweren Gegenstand zu handeln, denn der Entgegennehmende machte einen ordentlichen Katzenbuckel, als das Gewicht des Objekts in seinen Armen lag. Der zweite Mann ging erneut in den Bus und kam mit einem zweiten Gegenstand in der Hand aus dem Wagen. Keuchend näherten sie sich dem Biergarten und Ursula erkannte, dass die beiden Männer Lichtquellen in das Gasthaus trugen. Aus der Decke des ersten Mannes sah sie vereinzelt kleine Glasspitzen schauen, wie sie immer am Unterteil eines Kronleuchters baumelten. Dem zweiten Kerl rutsche die Umhüllung herunter, als er versuchte die Eingangstür mit dem Fuß offen zu halten. Er trug eine Tiffanylampe, die Ursula immer entfernt an bunten Kinderschmuck erinnerten. ‚Das Hotel scheint bei der letzten Unternehmensbesteuerung gut weggekommen zu sein, oder über beträchtliche Einlagen zu verfügen‘, dachte sie verwundert, ‚so ein Deckenschmuck kostet ein kleines Vermögen. ‚Ich bin ganz von den Socken, dass die Kerle diese kostbare Fracht in einem Schulbus transportieren. Gibt es hier keine Speditionen?‘, überlegte sie, als sie aus den Augenwinkeln registrierte, dass einer der Männer zurückgekommen war, und sich an sie heranschlich. Sie vernahm ein leises Klickgeräusch wie von einem Heftapparat und die Welt um sie herum versank in Schwärze. Bettina ging strammen Schrittes in Richtung des angegebenen Gates, als ihr Blick auf eine Reklame über der Gaststätte Die Kaffeestube fiel, die ihre Schwarzwild-Gerichte anpries. Ihr Magen machte sich unmissverständlich bemerkbar. Sie hatte seit ihrem Aufenthalt im Café mit ihrem Kollegen weder gegessen noch etwas getrunken. Gegen jede Vernunft setzte sie sich in die Kaffeestube und bestellte einen Hirschbraten. ‚Wieso eigentlich Kaffeestube‘, fragte sie sich, ‚das passt so gar nicht zu den angebotenen Speisen und Getränken in der Karte. Ein wenig mehr Kreativität hätte hier gutgetan. Vermutlich hat irgendeine Familienbande sich zusammengetan, um aus dem nichts ein Restaurant zu betreiben. Man wusste, wie man Kronkorken aus einer Flasche entfernt, dass gratinierter Schafskäse mit geschmolzenen Strauchtomaten hervorragend zusammenpasste, und man Walderdbeeren vorzüglich in kleinen Küchlein einbacken konnte. Was lag also näher, als sich als Gastronom zu versuchen. Gescheitere Anläufe konnte man sich zuhauf in diversen Fernsehsendungen á la Kochprofis und so weiter anschauen.‘ Die Kellnerin kam sehr rasch an den Tisch und brachte den bestellten Braten, der wider Bettinas Erwartungen duftete und ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. ‚Sieh an, dann habe ich mich wohl doch täuschen lassen. Die können wirklich kochen in dieser Pappschachtel hier. Die Küche muss winzig sein‘, vermutete sie weiter und nahm einen großen Bissen auf ihre Gabel. Als sie ihre Portion restlos aufgegessen hatte, griff sie nach ihrem Portemonnaie und rief nach der Bedienung. „War alles zu ihrer Zufriedenheit?“, fragte diese höflich und schob ihr die Rechnung entgegen. „Dankeschön, es hat mir sehr gut geschmeckt. Dass man in der Kaffeestube so gut essen kann, würde man dem Namen nach nie vermuten. Haben Sie noch nie daran gedacht, sich einen passenderen Namen auszudenken?“ Die Kellnerin lächelte: „Als mein Mann und ich hier übernommen haben, hieß es Koppheister. Wir waren mehr damit beschäftigt den Leuten zu erklären, was das bedeutet, als ihnen Essen zu servieren. Außerdem wollten wir zu Anfang wirklich nur ein Café, aber mein Mann schaut so gerne Kochsendungen und wurde immer besser, weil er alles ausprobierte. Nach einem anderen Namen suchen wir schon länger, aber etwas mit echtem Knalleffekt ist uns noch nicht eingefallen. Mein Udo ist für Sinnesfeuerwerk, aber das finde ich zu hochtrabend. Was meinen Sie?“ Bettina schüttelte den Kopf: “Nein, da muss ich Ihnen leider rechtgeben. Ihr Mann kocht gut, keine Frage, aber für diesen Namen braucht es ein paar Sterne. Ich würde mir hier am Flughafen irgendetwas mit Fernweh oder etwas mit paradiesischem Touch ausdenken.“ Die Frau nickte zustimmend: „In diese Richtung habe ich auch schon überlegt, und mir den Kopf zerbrochen. Ich meine das hier“, sie zeigte auf die wenigen umliegenden Tische, „ist ja nur eine Miniatur-Ausgabe eines Restaurants, da würde es albern klingen einen großen Namen wie Gourmet-Cruising zu wählen.“ „Wie wäre es mit Grashüpfer? Das ist unverfänglich und man könnte sich alles Mögliche auf der Karte vorstellen? Ein wenig mehr grün in die Dekoration und schon passt es.“ „Gute Idee“, erwiderte die Kellnerin, schien aber wenig begeistert. Sie nahm ihren Taschenrechner aus der Schürze und zählte Bettinas Rückgeld ab. „Danke für Ihre Tipps, ergänzte sie, und gab einem Ehepaar am anderen Tisch durch ihr Nicken zu verstehen, dass sie auf dem Weg zu ihnen war. „Schönen Tag noch, wo fliegen Sie überhaupt hin, wenn ich so neugierig fragen darf?“ „Nach Chile. Wir haben dort eine Abschlussfeier von unserem Institut und extra auf die Sonnenwendfeuer-Zeit gelegt, weil das so herrlich sein soll. Sie machen in Santiago de Chile ein riesiges Stadtfest draus.“ „Klingt toll. Ich hatte schon befürchtet, dass Sie auch eine derjenigen sind, die Deutschland den Rücken kehren wollen, um sich irgendwo in der Welt als Erntehelfer den Buckel wund zu arbeiten. Auswanderer und so kennen Sie ja sicher auch aus dem Fernsehen. Ich falle immer fast in Ohnmacht, wenn ich in den Sendungen sehe. Wie naiv die Leute an so etwas rangehen. Nix auf der Kette, null Sprachkenntnisse und los geht das Abenteuer. Da braucht man sich echt nicht zu wundern, dass so mancher als Streuner auf den Straßen endet und sich im schlimmsten Fall von Nagetieren und Abfällen ernährt. Ja, ja, ich komme“, rief sie dem Paar zu und winkte Bettina zum Abschied. „Schade, dass Sie schon weiter müssen. Falls sie an einem Postbriefkasten vorbeikommen, denken Sie mal an mich. Wenn Sie Kaffeestube am Flughafen schreiben, kommt es an. Haben wir alles schon gehabt.“ „Mal sehen, was sich machen lässt. Schönen Tag noch“, verabschiedete sich Bettina. „Warten Sie noch eine Sekunde“, rief die Bedienung, und beeilte sich dem Ehepaar das Wechselgeld in die Hand zu drücken. „Ich habe etwas für Sie“, sagte sie, als sie kurz darauf aus der Küche erneut auf Bettina zukam. „Nehmen Sie den mit, ich kann nichts damit anfangen, zumindest nicht, solange ich hier jeden Tag bedienen muss.“ Verdutzt nahm Bettina den E-Reader entgegen, den die Frau ihr überreichte. „Viel ist noch nicht drauf, aber für den Flug nach Chile und zurück wird es hoffentlich ausreichen.“ „Aber“, warf Bettina ein und schaute ihr Gegenüber fragend an. „Bringen Sie ihn einfach irgendwann mal wieder vorbei. Keine Angst, Sie haben damit jetzt keinen Leasing-Vertrag unterzeichnet. Ich mag Sie und vertraue Ihnen. Es ist nur ein günstiges Modell, nicht so eines von den Hochzeitskutschen der Technik, die alle Funktionen vereinen. Kein Problem, wirklich. Wenn Sie mögen, können Sie sich ja während Ihres Fluges noch ein paar Gedanken über den Namen für unser kleines Restaurant machen, das wäre mir Leihgebühr genug.“ Bettina war von der Freundlichkeit der Frau gerührt, sie konnte sich an niemanden aus ihrer Vergangenheit erinnern, der jemals gleich so offenherzig mit ihr umgegangen war. Es tat ihr gut zu erkennen, dass es durchaus Menschen gab, die warmherzig sein konnten, ohne große Gegenleistungen zu erwarten. „Ich werde mich den ganzen Flug über mit nichts anderem als meinem neuen, kleinen elektronischen Spielzeug und einem passenden Namen befassen, Ehrenwort. Sobald mein Sitz in Rückenlage gebracht ist, lege ich los. Ich werde Ihnen schreiben, sobald mir eine zündende Idee gekommen ist. Wenn ich wieder sicher hier gelandet bin, komme ich sehr gerne zurück und nicht nur, um Ihnen ihren Reader zurückzubringen.“ „Das freut mich sehr, ich mag Sie. Wie heißen Sie?“ Bettina überlegte einen kurzen Augenblick, ob es sinnvoller war ihr einen falschen Namen zu nennen, beschloss jedoch bei der Wahrheit zu bleiben. „Bettina.“ „Freut mich sehr Bettina, ich bin Angie“, sie nahm ihre Hand und schüttelte sie kräftig. „Aber nun muss ich zurück in die Küche. Udo sitzt sicher schon auf heißen Kohlen. Guten Flug und komm bald wieder! Dann bekommst du eine Kostprobe von unseren Weinen, die sind unglaublich.“ Sie lief in Richtung Küche davon, blieb noch einmal kurz stehen und rief: „Was hältst du von Kleine Möwe?“ Bettina schüttelte ihren Kopf. „Mir gefällt es auch nicht“, rief Angie über ihre Schulter und verschwand in der Küche. An ihrem Gate nahm Bettina den E-Reader zur Hand und versuchte mit der Steuerung zurechtzukommen. Alles musste über eine kleine Tastatur gesteuert werden und sie klickte mehr als einmal ihre imaginäre Computermaus, bevor sie sich einigermaßen mit der Bedienung im Einklang befand. Begeistert klickte sie sich durch die Bibliothek und bemerkte, dass Angie und sie einen fast identischen Buchgeschmack besaßen. Als das Boarding begann, blieb ihr Blick an einer Markierung hängen, die Angie eingefügt zu haben schien. ‚Hoffentlich ist sie nicht sauer, wenn ich mir das Mal genauer anschaue‘, dachte sie, bevor sie den Reader fürs Erste ausschaltete. Sie schaute nach oben zur Uhr. Wie lange war es her, dass sie vom Tatort geflüchtet war? Ob die Polizei ihr schon auf den Fersen war? Vermutlich nicht, denn sie sah niemanden in ihrer Nähe, der nach einem Ordnungshüter aussah. Sie kramte ihr Ticket aus der Tasche und stellte sich an die Reihe der Passagiere, die das Flugzeug bestiegen. Am liebsten würde ich jetzt wieder zurück in die Kaffeestube und mit Angie quatschen, statt Hals über Kopf nach Chile durchzustarten. Das Mädel ist wirklich nett, ich könnte sie mögen. Verflucht, warum muss ich solche Menschen immer kennenlernen, wenn ich keine Möglichkeit habe, die Beziehung auszubauen und zu pflegen? Nadelholz wäre doch ganz passend zur Wildkarte, oder?‘ Als sie den Eingang der mobilen Gangway betrat, registrierte sie am Eingang des Gates die Silhouette eines Polizisten und sog scharf die Luft ein. ‚Nichts wie weg‘, dachte sie und drängelte sich ungeduldig an einigen anderen Passagieren vorbei. ‚Wenn er wegen mir hier ist, weiß er hoffentlich noch nicht, in welcher Maschine ich sitze. Das Risiko geschnappt zu werden, steigt mit jeder Minute. Lieber Gott, hol mich aus diesem Schlamassel‘, betete sie leise vor sich hin, erschrocken über sich selbst, dass sie diese Maßnahme überhaupt in Betracht zog. Bisher hatte sie noch nie um himmlischen Beistand gebeten, doch schien es ihr in dieser Situation unentbehrlich auch nach ungewöhnlichen Strohhalmen zu greifen. ‚Wenn es dort oben wirklich so etwas wie einen Aufpasser für die Menschheit gibt, wäre jetzt seine Möglichkeit gekommen, sein Schweigen zu brechen. Und entschuldige bitte, dass ich mir die Rutscherei auf den Knien erspare, ich will hier in keinem Fall auffallen‘, fügte sie im Geiste belustigt über sich selbst hinzu. Kaum hatte sie sich auf ihren Platz im Flugzeug gesetzt, als die Maschine sich bereits Richtung Startbahn auf den Weg machte. ‚Danke, an wen auch immer‘, flüsterte Bettina und atmete erleichtert aus. Ihr Sitznachbar beäugte sie misstrauisch und rutsche auf seinem Stuhl ein wenig von ihr ab. Dann strecke er seinen Hals so nahe zum Fenster, dass Bettina unwillkürlich an einen Schwan denken musste. ‚Das Fossil neben mir, macht sicher in Versicherungen, Glupschaugen wie eine Kaulquappe und tut so, als habe er noch nie jemanden mit sich selbst flüstern hören. ‚Obschon ich zugeben muss, dass ich vor einigen Stunden sicher auch noch ziemlich pikiert gewesen wäre.‘ Mit einem Schnapp schloss sie den Sicherheitsgurt um ihren Bauch. Alle Aufregung der letzten Stunden fielen von ihr ab, und noch bevor der Pilot das Flugzeug in die Luft gebracht hatte, war Bettina in Tiefschlaf versunken. Sie verschlief fast den gesamten Flug, wurde einmal wach, als ihr Sitznachbar die Stewardess um einen weiteren Teebeutel bat, weil er die Sorte Beeren nicht mochte. ‚So ein Rindvieh’, dachte Bettina ärgerlich und schlummerte fast augenblicklich wieder ein. Das zweite Mal weckte sie eine Fliege, die es irgendwie geschafft hatte ins Flugzeuginnere zu gelangen und ihr nun ständig um die Nase flog. „Ich bin doch hier nicht auf der Pferdekoppel oder im Streichelzoo“, rief sie zornig aus. Komm nur nochmal näher, dann lernst du meine Art von Insekten-Recycling kennen. Dann ist für dich saure Kirschenzeit!“ „Saure Gurkenzeit“, erwiderte der Sitznachbar grinsend. „Es heißt saure Gurkenzeit!“ „Von mir aus“, gab Bettina genervt zurück. Warum fliegt das blöde Vieh überhaupt hier herum? Muss Sie doch auch zur Weißglut getrieben haben“ „Keineswegs“, er zeigte auf einen kleinen Fleck auf ihrer Kleidung. „Sie scheint sich nur für den Klecks hier zu interessieren, scheint Kuhmilch oder Ähnliches zu sein.“ Erschrocken schaute Bettina an sich herab: „Oh, stotterte sie verlegen, „ich habe vor dem Abflug noch Semmelknödel für meine Familie gemacht. Dabei muss ich wohl gekleckert haben.“ ‚Lass es nicht das sein, was ich vermute‘, flehte sie in Gedanken. ‚Wenn ein Stück Hirn von Lothar an mir klebt, kann ich mich auch gleich öffentlich an den Totempfahl binden. Aber er hatte doch gar keine offene Wunde, beruhigte sie sich selbst. Die Maschine ging in den Sinkflug und unter ihr konnte sie kleine Häuser erkennen, die aus dieser Höhe wie Hexenhäuser aussahen, auch eine Kirchturmspitze kam in ihr Sichtfeld. Die Anschnallzeichen wurden eingeschaltet und der Kapitän teilte ihnen mit, dass sie in wenigen Minuten in Chile landen würden. ‚Noch nicht einmal einen Bikini dabei, schade‘, kam es Bettina in den Sinn, ‚ aber ich bin ja leider nicht zum Urlaub machen hier. Also werde ich mein Gehirn jetzt wieder hübsch auf Autofokus stellen. Das hilft beim Einputten der Gedanken und gegen das Bauen von Luftschlössern, hat zumindest mein alter Chef immer behauptet!“ Im Polizeirevier Raoul schaute betreten unter sich, während der Polizist ihn zurück ins Gebäude führte. „Wenn Sie noch einmal versuchen, mir zu entkommen, werde ich dafür sorgen, dass sie danach einen Treppenlift in ihrem Haus brauchen. „Das dürfen Sie nicht“, zischte der Reiseführer dem Beamten zu. „Da haben Sie vollkommen recht, ich darf das nicht und meine Kollegen auch nicht. Allerdings kenne ich ein paar Rocker aus der Stadt, schwere Jungs, die immer gerne bereit sind, mir einen Gefallen zu tun. Und die werden Sie finden, glauben sie mir. Einmal unachtsam in der U-Bahn und die haben Sie am Arsch. Falten Sie, bis Sie unter ein Wischerblatt passen. Nicht dass ich Ihnen Angst einjagen will. Wenn Sie ab jetzt kooperativ sind und mir helfen, die Entführung von Tom Werner aufzuklären, brauchen Sie keine Angst zu haben!“ „Vor ihren Helfern vielleicht nicht, aber was ist mit den Kerlen, die mich beauftragt haben. Meinen Sie wirklich, ich käme nach einer Aussage bei Ihnen mit heiler Haut davon?“ Wenn mehr dahinter steckt als eine kleine Entführung, mit der man Geld für Herrn Werner erpressen wollte, und davon gehe ich aus, stecken Sie vermutlich in argen Schwierigkeiten. Wenn wir das alles besprochen haben, gibt es die Möglichkeit, Sie in ein Zeugenschutzprogramm zu nehmen.“ Raoul schüttelte energisch den Kopf: „Das geht nicht, was ist mit meiner Familie?“ In der Ferne hörte Tom eine Schiffsglocke läuten. Teil 29 Woche 28/2013 Im Polizeirevier „Ihre Familie würden sie selbstverständlich mitnehmen können. Ich kann verstehen, dass Sie voller Angst sind und die Aussicht auf ein neues Leben Sie erschrecken muss. Aber Sie sind nun mal der Pechvogel, der sich für die Entführung anwerben ließ“, erklärte der Polizist betont ruhig. „Bingo, ich bin der Dummkopf, dass sehen Sie richtig. Natürlich auch, dass ich mit allen Mitteln versuchen werde, meine Familie zu schützen!“ „Sie müssen uns vertrauen. Wenn Sie ihre Aussage machen, werden die Kerle für einige Jahre hinter Gitter wandern, und es besteht keine Gefahr mehr für Sie.“ Raoul schüttelte verzweifelt den Kopf: „Ich versuche Ihnen zu glauben. Aber wenn ich mir vorstelle, dass die Typen herausbekommen, dass ich sie Rotkehlchengleich verpfiffen habe, werden sie keine Sekunde faulenzen. Wenn ich richtiges Glück habe, werden sie mir nur das Gesicht neu modellieren. Oder ich lande tot auf der Mülldeponie neben dem Hausmüll, dem Fressplatz der Ratten und Truthahngeier, leckere Vorstellung!“ „Haben Sie mir nicht zugehört? Das wird nicht passieren, wenn wir sie in unser Schutzprogramm aufnehmen, die Kerle werden sie nicht finden.“ „Es gibt keinen Ort auf der Welt, der nicht gefunden werden kann. Glauben Sie mir, ich kenne so einige Fälle, bei denen der Zeugenschutz nicht funktioniert hat!“ Der Beamte beugte sich sehr nah an Raouls Gesicht und antwortete leise, fast flüsternd: „Ich will Ihnen hier keinen Bären aufbinden. Wenn ich sage, ich bringe Sie und ihre Familie in Sicherheit, dann meine ich das genau so.“ „Denken Sie eigentlich außer an Ihre eigene Sicherheit auch einmal daran, wie es mir im Augenblick geht?“, zischte Tom und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Reisebegleiter. „Sie haben mir versichert, dass Sie mir aus der Sache heraushelfen. Und nun sitzen Sie nur da und wimmern wie ein kleines Kind. Wo bleibt denn Ihr Ehrgefühl für die Sache einzustehen, die Sie mir angetan haben? Wirklich“, ergänzte er aufbrausend in Richtung des Polizisten, „ es geht hier um mich, aber irgendwie scheint sich alles auf Raoul zu fokussieren, und ich komme mir bei der ganzen Geschichte nur noch wie ein Reserverad vor. Bis die Herren sich geeinigt haben, könnte ich ja ein wenig an den Strand gehen und Seeungeheuer einsalzen. Das scheint mir im Augenblick sinnvoller, als Ihrer Diskussion zu lauschen. Es geht hier nicht nur darum, dass ich Opfer einer Entführung wurde. Ich würde auch zu gerne herausbekommen warum, und ob vielleicht sogar meine ganze Existenz auf dem Spiel steht, weil jemand sich an meiner Forschungsarbeit bereichert hat. Geht das in Ihre gottverdammten Schädel?“ Sekundenlang herrschte betretenes Schweigen. „Meine Herren“, erhob Tom erneut die Stimme. „Es wäre ausgesprochen nett, wenn Sie nun mit dem Verhör beginnen könnten, oder soll ich Ihnen erst noch einen Fruchtbecher servieren, um die allgemeine Stimmung ein wenig anzuheben?“ „Piano Señor Werner“, erwiderte der Beamte und hob beschwichtigend seine rechte Hand. „Ganz im Ernst, ich hab die Schnauze voll, wenn hier nichts passiert, werde ich versuche auf eigene Faust ein wenig Licht ins Dunkel zu bekommen!“ Der Polizist ging zu einem kleinen Kühlschrank, der neben der Fensterbank stand, nahm eine Flasche Wasser heraus und schenkte in drei Gläser ein: „Hier“, sagte er und verteilte das Getränk an Raoul und Tom. „Trinken Sie einen Schluck und dann sehen wir weiter.“ „Nein ich bin nicht durstig, und mit einem Schluck Gänsewein, bekommen Sie mich nicht ruhiggestellt, da reicht nicht mal eine Badewanne voll Whiskey. Ich will, dass jetzt sofort etwas passiert, oder ich verabschiede mich!“ Energisch ließ der Beamte seine Faust auf den Schreibtisch krachen: „Hier geht gar niemand, damit das klar ist. Und sie Freundchen, er schaute Raoul mit verärgertem Blick an, „werden jetzt auspacken. Ansonsten stecke in Sie in eine Zelle, und glauben Sie nicht, dass die Typen Ihnen Glauben schenken, wenn Sie hinterher erzählen, Sie hätten dich gehalten. Das können Sie ganz getrost vergessen. Wahrscheinlich lauern sie schon seit geraumer Zeit vor dem Präsidium, ausgerüstet mit Stahlrohren oder Schlimmerem. Ganz geduldig, bis einer von Ihnen nach draußen spaziert. Sie ziehen Ihnen etwas über den Schädel, da hinten gleich hinter der Litfaßsäule“, er zeigte aus dem Fenster, um seine Worte zu unterstreichen. „Das ist dann für Sie ihr letzter Sommer gewesen, das kann ich Ihnen garantieren.“ „In Ordnung“, Raoul kaute nervös an seinen Fingernägeln. Können Sie mir nur noch einmal grob umreißen, was nach meiner Aussage passieren wird?“ Tom stöhnte auf. „Bitte“, flehte der Reiseführer in seine Richtung. „Wir werden Ihre Aussage zu Protokoll nehmen, dann bleiben Sie solange hier auf dem Präsidium, bis meine Kollegen einen geeigneten Aufenthaltsort für Sie und ihre Familie gefunden haben. Ihre versichere Ihnen, dass diese Unterkunft auf keiner Straßenkarte zu finden ist. Wir machen das nicht zum ersten Mal.“ „Aber was ist, wenn die Typen jetzt schon bei meiner Familie sind?“ „Das sind Sie sicherlich nicht, denn die Kerle wollen ja auch nicht geschnappt werden. Ich rufe jetzt sofort einen Kollegen, der Ihre Angehörigen hier aufs Revier bringen wird. Nur zur Sicherheit. Diese Gangster werden nicht einmal mehr die Bommel einer Mütze in ihrem Haushalt finden, wenn die Kollegen fertig sind. Einverstanden?“ Der Beamte und Tom sahen erwartungsvoll in Raouls Richtung. Dieser nickte resigniert und erwiderte: „Also los, fragen Sie.“ Ein gleichmäßiges Summen in den Ohren ließ Ursula erwachen und die Augen öffnen. Im ersten Moment wusste sie nicht, was geschehen war. In einem dämmrigen Raum blickte sie auf eine verblichene Tapete mit Mohnblumen-Muster. Vor ihr standen ein alter Tisch und ein Schemel. Das sirrende Geräusch ließ nicht nach, es schien sich im Gegenteil noch zu verstärken, seit sie wach geworden war. Sie lauschte angespannt, ob sie daneben noch andere Geräusche wahrnehmen konnte. „Das sind die Rotoren der Windkraftanlage, die solche Krach machen. Windenergie ist laut, zumindest wenn man genau daneben hockt“, erklärte eine dunkle Stimme aus der Zimmerecke. Ursula zuckte erschrocken zusammen. Im Dämmerlicht hatte sie den Mann neben einem Schrank in der Ecke überhaupt nicht wahrgenommen. Teil 30 Woche 29/2013 Die einzige Lichtquelle, ein schmaler Spalt in den Vorhängen, die auch aus den 1960 zu stammen schienen, ließ Bettina erkennen, dass ihr Bewacher ein sehr großer Kerl war. Ein richtiger Brummer, mit dem man sich besser nicht anlegte. Auch die Auswahl der Gegenstände, die sich in ihrem düsteren Gefängnis ausmachen ließen, war sehr beschränkt. ‚Versuch ein Gespräch mit ihm zu beginnen, schoss es ihr durch den Kopf. ‚Damit er dich als Menschen wahrnimmt und nicht gleich seine Kanone auf dich richtet.‘ Sie räusperte sich ängstlich und fragte: „Warum bin ich hier?“ Ihr Bewacher erwiderte in ruhigem Ton: „Eigentlich waren du und dein Mann ein Außenseiter in der Geschichte, um die es geht. Aber seit dem ihr draußen auf unserem Gelände wart, seid ihr ein Teil davon. Wie viel hat euch Christobal erzählt?“ „Christobal? Wer soll das sein?“ „Der Mann, der euch mit ins Quartier genommen hat?“ Ursula schnaubte verächtlich: „Was soll er uns schon erzählt haben, er kam ja zu nichts. Ihre Männer haben ja fast sofort in voller Action alles kurz und klein geschossen. Weit sind wir mit unserer Unterhaltung jedenfalls nicht gekommen.“ „Warum hat er euch überhaupt mitgenommen?“ „Das frage ich mich auch. Ich wollte mit meinem Mann ein paar erlebnisreiche Tage in Chile verbringen. Wenn ich gewusst hätte, dass es in einem solchen Abenteuer endet, hätte ich mich den Kondensstreifen der Maschine am Himmel begnügt und wäre hübsch daheimgeblieben.“ Der Mann stand auf, trat zu ihr und zeigte ihr gedankenverloren einen Stein: „Der gehörte meinem Bruder“, erklärte er und strich zart darüber. „Es ist ein Stückchen, dass er sich von einem der Externsteine, das er sich von seinem Aufenthalt in Deutschland mitgebracht hat.“ Ursula schaute ihn fragend an: „Ich verstehe nicht.“ „Das kannst du auch nicht. Mein Bruder war Geologe, viel in der Welt unterwegs. Am allermeisten konnte er sich für Eishöhlen faszinieren. Ich meine so richtig. Er ist fast ausgeflippt, wenn er wusste, dass er bald wieder zu einer aufbrechen konnte. Und eines Tages kam der Auftrag zur Andentanne auf seinen Schreibtisch. Er war sofort Feuer und Flamme für dass, was Tom Werner herausbekommen hat. Er war ein guter Mensch und hätte viel dafür gegeben dabei zu sein, wenn ein neues Heilmittel seinen Anfang findet.“ „Hätte?“, warf Ursula matt ein. „Ja. Er ist vor einem halben Jahr überfahren worden. An die Geschichte mit dem Unfall habe ich keine Sekunde geglaubt. Da steckt das Institut dahinter, für das Tom arbeitet. Ich bin mir sicher.“ Ursula beobachtete ihr Gegenüber angespannt. Seitdem er vom Unfall seines Bruders gesprochen hatte, schien seine Stimmung zu kippen. Hatte sie ihn zuerst als nicht sehr bedrohlich empfunden, machte ihr das feurige Glimmen in seinen Augen nun Angst. „Es tut mir leid“, sagte sie leise und senkte ihren Blick. Draußen hörte sie Hunde bellen, und flehte darum, dass dies ihre Rettung bedeutete. ‚Lieber Gott, lass es Matthias und Johannes sein. Wenn der Typ sich weiter in die Geschichte reinsteigert, dann Prost. Ich werde erledigt sein, bevor ich überhaupt kapiert habe, warum ich hier bin. Streng dein Hirn an. Verwickle ihn weiter in ein Gespräch und versuche es in eine andere Richtung zu lenken‘, befahl sie sich in Gedanken. „Ich werde dich jetzt fesseln müssen“, stellte er nüchtern fest und hielt ein Seil in die Luft. „Wenn mein Boss gleich hier ankommt und sieht, dass ich dich nicht geknebelt habe, blüht mir was.“ „Ihr Boss? Was will er von mir?“ „Informationen“, er griff nach Ursulas Beinen und wickelte das Seil birnenförmig darum. „Aber ich habe keine Ahnung, was da läuft. Sie müssen mir glauben. Lassen Sie mich laufen, vielleicht können wir zusammen mit Johannes etwas herausfinden. Tun Sie es für ihren Bruder. Er hätte sicher nicht gewollt, dass sie einen Menschen gegen seinen Willen festhalten.“ „Da hast du recht, aber das unterscheidet meinen Bruder und mich. Ich habe nicht die Eier mich gegen meinen Boss zu stellen, nur um der Menschheit einen Gefallen zu tun. Dafür hänge ich zu sehr an meinem Leben und dem Teil meiner Familie, die noch lebt. Das ist hier kein Spielplatz, aber ich bin sicher, dass du das schon kapiert hast. Wer nicht mitspielt, bekommt eine Kugel in den Kopf, oder wird von der Decke eines Hotelzimmers geschnitten, weil er angeblich Selbstmord begangen hat. Oder es läuft wie bei meinem Bruder, der total betrunken über die Schnellstraße gelaufen ist, obwohl er zuvor in seinem Leben niemals auch nur ein Glas Wein getrunken hat. Schon merkwürdig, oder?“ Ursula nickte und hielt dem Mann ihre Handgelenke entgegen: „Vergessen Sie meine Arme nicht. Ich glaube nicht, dass ich Sie noch davon überzeugen kann, mir meine Freiheit zu schenken. Aber bevor sie mir einen Knebel verpassen, will ich Ihnen noch verraten, dass ich glaube, Johannes weiß weit mehr über die Forschung, als Sie und ihr Boss zusammen.“ „Kann sein, aber diese Information kommt zu spät für mich. Der Chef wird gleich von seinem Abstecher in die Weinberge zurück sein. Ist schon verrückt, dass er seiner Liebe zum Weinanbau immer noch so beharrlich treu bleibt. Wo ihn doch jetzt ganz andere Einnahmequellen locken, holt er sich doch immer wieder einen Sonnenbrand bei der Inspektion seiner Reben. Ich vermute, dass er im Grunde seines Herzens genauso wenig Spaß an der Sache hat wie ich selbst. Aber wir machen eben mit, weil da ganz andere Leute die Strippen ziehen. Er ist am Ende auch nur eine kleine Nummer im Planschbecken dieses Geflechts. Doch das ist nur meine Vermutung, sicher kann ich mir nicht sein“ Ursula sah ihre Chance gekommen und erwiderte: “Es wäre einen Versuch wert. Sie fesseln mich jetzt und erklären dann ihrem Boss, was Sie über Johannes herausgefunden haben. Vielleicht können wir dann gemeinsam zurückfahren und Johannes einfach fragen?“ Er schüttelte den Kopf: “Geht nicht. Ich hatte die Order kein einziges Wort mit dir zu sprechen. Du kannst höchstens versuchen es dem Boss genauso zu erzählen wie mir, vielleicht beißt er an. Aber jetzt mach den Mund auf, ich höre ein Auto kommen!“ Bettina sah aus dem Fenster auf die Männer in Warnwesten, die das Flugzeug in seine Parkposition winkten. Ihr Magen kämpfte noch mit den wenigen Löffeln Gulaschsuppe, die sie während des Fluges gegessen hatte. ‚Hör endlich auf mit mir zu sprechen, du elende Suppe. Ich wette, in dir ist ein Pferd oder Lama verarbeitet worden‘, dachte sie grimmig und ließ ihren Blick weiter wandern. Neben der Rollbahn waren Blumenbeete angelegt worden, doch schien man die Bewässerung sehr vernachlässigt zu haben. Die verwelkten Blumen, deren Schreie nach Wasser nicht erhört worden waren, boten ein trauriges Bild. Teil 31 Woche 30/2013 Als sie die Parkposition eingenommen hatten und alle Passagiere den Gang verstopften, weil jeder als Erster aus dem Flugzeug steigen wollte, entdeckte Bettina zwei Reihen vor sich einen Jungen, der ein aufgeplatztes Kuscheltier fest an sich gedrückt hielt. Die Zunge des Stoffhundes hing nur noch an einem einzigen Faden aus dem Maul und aus dem Bauch quoll ein breiter Streifen Füllmaterial. ‚Ein grotesker Anblick, das Stofftier im Todeskampf. Sicher hat der kleine Angsthase ihn während des Fluges zerrissen. Aber kaum festen Boden unter den Füßen hat er schon wieder Lust den Kasper zu machen. Lieber Gott mach, dass wir bald hier rauskönnen oder gib mir einen Streifen Hansaplast um ihn zu knebeln‘, dachte sie und trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Nachdem sie am Gepäckband endlich ihren Koffer vom Band gehoben hatte, beschloss sie erst einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen, bevor sie sich in ein Taxi setzte. Die Suppe machte ihr noch immer zu schaffen, und es gab keinerlei Termindruck, der sie daran hindern könnte. ‚Überhaupt sollte ich mir Gedanken darüber machen, wie ich vorgehen soll. Ich weiß ja überhaupt nicht, wo ich Tom Werner oder die Kollegen vor Ort finden kann. Zudem brauche ich einen Köderfisch, um den Kollegen Werner auf meine Seite zu bringen. Er wird mich nicht gerade königlich empfangen, wenn er ahnt, dass ich mit an seiner prekären Situation schuld bin. Könnte ein Wespennest werden, in das ich langen muss, um doch noch ans Ziel zu kommen‘, überlegte sie, während sie den Flughafen verließ und die angezeigte Richtung Hauptbahnhof einschlug. Auf einer langen Straße in Richtung Stadt passierte sie Beete mit blühenden Wiesenblumen, die vor prächtigen Häusern angelegt waren. Ganz anders als jene, die sie durch ihr Fenster im Flieger gesehen hatte. In einer der prächtigen Parzellen steckte eine Vogeltränke in Form eines Heißluftballons, die zahlreicher Nutzer angelockt hatte. Sie sah hinauf in den Himmel und erkannte einen kunterbunten Heißluftballon, der sich stadtauswärts bewegte. Wenig später, als die Wohngegend in Ladenzeilen wechselte, kam sie an einem Schaufenster vorbei, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. An dem nobel erscheinenden Lebensmittelladen drückte sie sich die Nase platt, um die gesamten Auslagen begutachten zu können. Neben einem alten Butterfass lagen Berge frischer Trauben und Äpfel so rot und glänzend, wie sie sie nur selten zu Gesicht bekommen hatte. Dahinter erkannte sie Galgant der noch am Strauch hängend dekoriert war. Das Grummeln im Magen war endgültig vergessen, als sie die vielen geräucherten Salamis und Schinken entdeckte, die von der Decke des Geschäftes hingen. ‚Vor wichtigen Entscheidungen sollte der Bauch keinen Hunger leiden müssen. Und das ist keine Weisheit der Schamanen, sondern deine eigene Erfahrung, also rein mit dir‘, flüsterte sie leise zu sich selbst und betrat den Laden. Angezogen vom Duft des Schinkens trat sie unter eine der herabhängenden Keulen und drückte gegen das Fleisch. „He Sie da, wir sind hier doch nicht im Freilichtmuseum. Die Waren sind echt, also bitte nicht anfassen. Errötend nahm zog sie ihre Hand zurück: „Verzeihung, ich konnte nicht widerstehen.“ „In Ordnung, aber Sie müssen zugeben, dass ich recht habe. Oder wollen sie Lebensmittel kaufen und essen, die schon durch Hunderte von Händen gegangen sind?“ „Nein, natürlich nicht, Sie haben recht! Muss ich den ganzen Schinken kaufen, oder gibt’s den auch scheibchenweise?“ Der Verkäufer grinste und sah sie herausfordernd an: „Wo denken Sie hin, wenn ich nur ganze Keule verkaufen würde, könnte ich den Laden auch gleich dichtmachen. Sind Sie auch jemand aus der Truppe von dieser Schiffsreise?“ Bettina schüttelte den Kopf: „Nein, ich bin vorhin mit dem Flugzeug gelandet.“ Teil 32 Woche 31/2013 „Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten, während Sie meine Köstlichkeiten anschauen und nicht mehr anfassen?“, fragte der Mann hinter der Verkaufstheke und goss ein weißes und dickflüssiges Getränk in ein Glas. „Mit Figurproblemen habe Sie ja dem Augenschein nach nicht zu kämpfen. Also schlage ich vor, Sie nehmen auch den einen oder anderen Probebissen. In meiner Sammlung an Delikatessen werden Sie so manches entdecken, was Sie niemals an einem Frühstücksbuffet ergattern können. Nicht mal im nobelsten Schuppen“, er zwinkerte Bettina zu und lächelte breit. Mit einem schmaler Streifen Schinken zwischen den Fingern erwiderte sie: „Habe ich Halluzinationen, oder flirten Sie hier wirklich auf Teufel komm raus mit mir?“ „Faszinierend wie schnell Sie das herausgefunden haben!“ „Nun, so manches Mal habe auch ich einen Geistesblitz“, sie musste wider Willen grinsen. „Ich werde allerdings nicht auf Ihre Versuche eingehen, nachdem Sie mich so grob an den Pranger gestellt haben, nur weil ich den ach so kostbaren Schinken berührt habe.“ Er trat hinter dem Tresen hervor und ging schnurstracks auf Bettina zu: „Hätten Sie eine Umarmung für mich übrig gehabt, statt sich an der Keule zu vergreifen, wären wir beide schon einen Schritt weiter.“ Sie hob drohend ihren Zeigefinger und schubste ihn unsanft ein Stück von ihr weg: „Was erlauben Sie sich? Bleiben Sie mir ja von der Pelle!“ Sie drehte sich Richtung Ladentür, als er sie von hinten festhielt: „Nicht so schnell gnädige Frau. Tun Sie mir den Gefallen, und lassen hier nicht die Zicke raushängen. Das mögen wir südamerikanischen Männer so gar nicht. Ich weiß wohl, dass in Europa die Frauen den Männern die Flötentöne beibringen, und den Takt angeben, aber hier läuft das ein klein wenig anders. Sie geben sich so kalt wie ein Gletschertopf, aber ihre Augen haben Sie längst verraten. Gehen Sie an den Spiegel dort hinten, selbst Sie werden bemerken, wie sie funkeln und glänzen.“ Bettina löste sich nur langsam aus der Starre, die die Worte des Mannes in ihr ausgelöst hatten. Er hatte, Zufall oder nicht, voll ins Schwarze getroffen. Seit sie den Laden betreten hatte, war er ihr sehr positiv aufgefallen. ‚Das liegt sicher daran, dass ich wegen der Sache völlig durch den Wind bin, oder einen Hormon-Stau erlebe. Schließlich ist es eine ganze Weile her, dass ich so etwas wie traute Zweisamkeit erlebt habe.‘ „Lassen Sie uns noch einmal von vorne anfangen.“ Bettina sah ihn verwirrt an. „Das Gespräch meine ich. Ich muss zugeben, dass ich wirklich mit der Tür ins Haus gefallen bin. Ich gehe wieder hinter den Tresen und biete Ihnen etwas zu trinken an, einverstanden?“ Er ging mit steifen Beinen, einem Stelzvogel gleich, zu den Gläsern und ihr war die leichte Schwellung unterhalb seines Nabels keineswegs entgangen. ‚Großer Gott, er hat sein Triebwerk schon ausgefahren‘, dachte sie und stellte fest, dass sie sich diebisch darüber freute. Betont lässig lief sie zur Verkaufstheke, stütze sich mit einem Ellenbogen darauf und erklärte: „Ich würde wirklich gerne ein paar Ihrer Köstlichkeiten versuchen!“ Er lächelte und überreichte ihr das Glas und hob sein eigenes an, um ihr zu zuprosten: „Ich fühle mich wie ein Geburtstagskind, dem endlich erlaubt wurde, seine Geschenke auszupacken. Meine Delikatessen werden Sie sicher nicht enttäuschen, und Sie mir, wenn ich Glück habe mir näher bringen. Sie müssen wissen, wir sind nicht nur ein Drehkreuz für Drogen, was ich persönlich sehr bedaure, sondern auch für exzellente Lebensmittel. Wir produzieren hervorragende Weine, die wir Containerweise nach Europa exportieren, aber das wissen Sie sicherlich. Aber ich rede total am eigentlichen Thema vorbei, entschuldigen Sie vielmals. Ich muss mich erst einmal von dem Blitzschlag erholen, der mich traf, als ich Sie in der Ladentür erblickte!“ „Jetzt geht es aber schon wieder ein wenig hurtig, meinen Sie nicht“, erwiderte Bettina errötend und innerlich hoffend, dass dieser Mann noch eine Weile länger auf dieser Schiene weiterfuhr. „Keineswegs meine Hübsche. Ich möchte lediglich vermeiden, dass Sie gleich wieder aus meinem Leben schweben, ohne dass ich die Gelegenheit genutzt habe, dies mit allen Mitteln zu verhindern.“ „Ich bleibe zumindest solange, bis mein Magen aufhört zu knurren“, erklärte Bettina lachend. „Und einen Tipp dazu möchte ich gleich mit auf den Weg schicken; ich bin unerträglich, wenn ich Hunger habe. Besser Sie bewegen sich und besorgen mir eine Kleinigkeit, um mich zu besänftigen. Nahrungsmittel sind die Mechaniker erster Wahl, die man zur Hilfe ruft, wenn man meine schlechte Laune reparieren möchte.“ „Sind Sie in Eile?“, erkundigte er sich leise. „Nein eigentlich nicht. Warum fragen Sie?“ Mit glücklicher Mine erwiderte er: „Dann mache ich Ihnen einen Vorschlag. Mein Cousin besitzt einen Katamaran, den er gewiss für heute entbehren kann. Ich packe rasch einen Korb zusammen, und wir essen gemeinsam auf dem Boot. Vielleicht haben wir sogar Glück und können ein paar Gleitschirmflieger sehen. Das Wetter und die Windverhältnisse sprechen dafür. Lust?“ Skeptisch fragte Bettina: „Aber was ist mit Ihrem Geschäft? Ist noch lange nicht die Zeit um es zu schließen!“ „Weißt du, wenn es um alles oder nichts geht, können mich ein paar nicht eingenommene Peso nicht davon abhalten, mein Ziel zu erreichen.“ Er schaute sie einen Moment lang stumm an, als ob er auf einen Protest wegen des Duzens erwartete, dann ergänzte er: „Was nutzt es mir, wenn du wieder verschwindest, ohne dass ich dich wirklich kennenlernen durfte? Alles, was mir bliebe, wäre dir eine Flaschenpost zu schreiben und zu hoffen, dass du sie eines Tages findest. Nein, das kann und will ich nicht riskieren.“ „Wenn wir nun bei den Vertraulichkeiten angekommen sind, möchte ich nicht versäumen, mich dir vorzustellen. Mein Name ist Bettina, und du wirst es bereuen mir jemals begegnet zu sein, wenn du mich erst näher kennengelernt hast. Trotzdem würde ich sehr gerne mit dir zu diesem Ausflug starten.“ Teil 33 Woche 32/2013 Matthias blieb wie angewurzelt stehen, als er auf den leeren Stuhl im Garten des Hotelrestaurants blickte. Er rannte zum Parkplatz und musste feststellen, dass Ursula nicht wie er gehofft hatte, am Wagen auf ihn wartete. Johannes näherte sich keuchend und fragte verblüfft: „Wo kann sie sein?“ „Laufen Sie nach drinnen und kontrollieren Sie die Damentoilette“, rief Matthias mit panischem Gesicht und begann eine Runde um das gesamte Gebäude zu laufen. Er bemerkte, dass seine Beine ihm nicht mehr die Standfestigkeit boten, die er gewohnt war. Seine Angst, die ihn explosionsartig erfasste, drohte ihn handlungsunfähig zu machen. Laut ihren Namen rufend kämpfe er sich Meter um Meter weiter, ohne eine Spur von Ursula zu entdecken. Johannes klopfte an alle Türen der Damentoiletten, ohne eine Antwort zu erhalten. „Sind Sie da drin?“, fragte er immer wieder ergebnislos in die Stille. Im Toilettenbereich der Herren hörte er eine Klospülung. ‚Vielleicht hat sie die Türen verwechselt und ist dort hineingegangen‘, versuchte er sich zu beruhigen und ging nach nebenan. Er älterer Herr kam ihm freundlich grüßend entgegen und empfahl ihm das Salatbüffet unbedingt auszuprobieren. „Ursula sind Sie da?“, hallte sein Ruf von den Wänden, auch hier Fehlanzeige. „Das darf doch alles nicht wahr sein“, fluchte er laut und ging zurück in den Hotelgarten. „Wie können die so schnell herausbekommen haben, wo wir sind?“, rief ihm Matthias verzweifelt entgegen. Auf seiner Stirn standen dicke Schweißperlen, sein Gesicht war aschfahl. „Sind Sie sicher, dass wir ihr Team zu unseren Freunden zählen können? Meine Frau ist verschwunden, vermutlich gekidnappt und es kommt mir sehr merkwürdig vor, dass man von unserem jetzigen Aufenthaltsort wissen konnte. Es sei denn, es gibt einen Maulwurf in Ihrer Truppe und man hat Sie lediglich als Werkzeug benutzt, um uns zu schnappen.“ Johannes legte beschwichtigend einen Arm auf Matthias Schulter: „Nun gehen wir doch zuerst einmal nicht vom allerschlimmsten aus. Vielleicht ist Ihre Frau nur zu einem Spaziergang aufgebrochen. Ein Stück hinter dem Hotel ist ein riesiges Sonnenblumen-Feld.“ „Alter Sie haben Nerven. Meine Frau schlottert vor Angst. Haben Sie vergessen, welche Mühe es sie vorhin im Wagen gekostet hat, einen Satz herauszubringen, ohne vor Furcht zu sabbern? Und da glauben Sie, sie geht mal eben mir nichts dir nichts fort, um sich einen Termin Nagelstudio zu besorgen oder einen Spaziergang zu machen. So ein Käse! Werden Sie wach und machen sich nicht zum Hampelmann, sie ist entführt worden. Ich schlage vor, Sie hören auf zu fantasieren und werden aktiv. Rufen Sie ihren Chef an, ob er etwas weiß, informieren sie die Polizisten am Ort, tun Sie gefälligst irgendetwas! Aber hören Sie endlich auf mich mit offenem Mund anzustarren und sich fadenscheinige Erklärungen aus dem Hut zu zaubern.“ Johannes nickte und nahm sein Mobiltelefon zur Hand. Aus dem Augenwinkel beobachtete Matthias auf einem der Tische im Garten eine Dohle, die versuchte an die Reste eines Cocktails zu gelangen, den ein Gast stehengelassen hatte. Was für ein Kontrast, dachte er kurz und zusammenhangslos, bevor er versuchte dem Gespräch von Johannes zu folgen. „Ja, rufen Sie alle an, die etwas über den Verbleib von Ursula wissen könnten.“ Johannes nickte heftig. „Das ist eine sehr gute Idee, aber ich fürchte, dass Sie das in der Kürze der zur Verfügung stehen Zeit nicht hinbekommen werden.“ Er zuckte mit den Schultern, lauschte einen Moment angespannt und erwiderte dann: „Meinen Sie wirklich, dass ich die Rettungsschwimmer in ihren Kanus losschicken sollte? Wie kommen Sie darauf, dass sie auf einem Boot gefangen gehalten wird?“ Matthias zog ungeduldig am Ärmel von Johannes Hemd. Dieser drehte sich kurz zu ihm um und deute mit einer Handbewegung an, dass es noch einen Moment dauern würde. „Tatsächlich? Und es war der Kapitän des Sandtigerhais, der das beobachtet hat? Ist das nicht der mit der schrägen Galionsfigur dem Affen?“ Er grinste für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er besorgt weiter fragte: „Und da ist er sich sicher?“ Ich meine auf die Entfernung kann er unmöglich erkannt haben, dass an dem dusseligen Orang-Utan am Bug eine gefesselte Person steht. Das halte ich für unmöglich, aber ich werde Enrique trotzdem sofort darauf ansetzen.“ Erneutes Nicken. „Ja machen Sie das und dann kommen Sie so schnell als möglich her, damit wir unsere weiteren Suchaktionen ankurbeln können.“ Er lege auf und sah Matthias ernst an: „Wie Sie sicher schon mitbekommen haben, hat einer unserer Fischer, die für uns ein Auge offen halten, etwas entdeckt, dass mit der Entführung Ihrer Frau im Zusammenhang stehen könnte. Ich rufe rasch jemanden an, der das für uns überprüfen wird. Danach werden wir auf meinen Boss warten, der versprochen hat, sofort zu kommen.“ „Soll heißen, ich sitze solange hier herum und tue gar nichts?“, rief Matthias entsetzt und mit hochrotem Gesicht. „Das kommt überhaupt nicht infrage! Jede Minute zählt. Wer weiß, ob nicht schon so ein chilenischer Kobold dabei ist einen Reißverschluss in meine Frau zu schneiden. Vielleicht liegt sie irgendwo gehäutet, in der Hoffnung eine brauchbare Information aus ihr heraus zu bekommen“, schluchzte er und schlug die Hände vors Gesicht. „Hier ist schon so viel passiert, dass ich mir alles vorstellen kann. Ich will nicht untätig herumsitzen. Also rufen Sie den Mann an, der auf dem Boot nachschauen soll, und danach machen wir beide uns auf eigene Faust auf dem Weg. Wenn Sie sich weigern, suche ich alleine. Und ich werde sie finden, das schwöre ich Ihnen. Das werden die mir zahlen, mein Liebstes aus meinem Leben zu reißen. Wenn ich mit denen fertig bin, braucht jeder Einzelne einen Defibrillator, falls der überhaupt noch hilft. Aber vorher werden mir die Kerle die Füße schlecken und um Gnade winseln. Mir steht die Opferrolle bis hier oben.“ Er zeigte mit ausgeklappter flacher Hand in die Höhe seiner Stirn. „Ich wechsle ins Täterlager, und ich werde keine Sekunde mit dem Höhenunterschied zu kämpfen habe. So war ich hier stehe und Gott mir helfe! Darauf dürfen Sie alle verfügbaren Bierkasten der Welt verwetten!“ Johannes trat dicht neben Matthias und blies im sacht ins Ohr. „Was soll das?“ „Anders hätte ich Sie nicht dazu bewegen können wieder runter zu kommen. Ich weiß, dass Sie furchtbar erregt und besorgt sind. Allerdings bringen uns Ihre wutdurchtränkten und unkoordinierten Einsätze keinen Millimeter weiter. Also tun Sie mir den Gefallen und nehmen Sie sich noch für ein paar Minuten zusammen. Wir werden alles tun, um Ihre Ursula so schnell wie möglich zu finden und zu befreien. Das ist schließlich auch in unserem Interesse. Ich habe Sie beide vorhin nicht aus dieser brenzligen Situation geholt, damit ich Sie jetzt schon wieder aus den Augen verliere.“ Teil 34 Woche 33/2013 „Sie haben gut reden Mann! Wir haben Ihnen vertraut, als wir mit Ihnen hierhergekommen sind. Und nun ist Ursula verschwunden, und ich muss zusehen, wie Sie hier seelenruhig stehen, statt alle Hebel in Bewegung zu setzten und los zu düsen. Ich werde hier an der Leine gehalten, obwohl ich weiß, dass meine Frau sehnsuchtsvoll auf mich wartet und Höllenqualen durchmacht!“ Während sich Matthias weiter in Rage redete, war das Brummen eines Motorrads zu hören. Johannes tippte auf die Harley Davidson von seinem zur Hilfe gerufenen Kameraden. Denn die beiden galten im Ort als so unzertrennlich wie ein Lied zum Zumba-Workout. Tatsächlich sauste Enrique in der nächsten Sekunde um die Ecke, blieb vor den beiden stehen und zog seinen sicherlich vom Flohmarkt stammenden Stahlhelm vom Kopf. „Ich habe schon die Fotos vom Fischer angesehen, ich glaube nicht, dass das eine wirklich heiße Spur ist“, erklärte er mit ernster Miene. „Aber Zeit für eine Pause haben wir nicht. Ich will gleich mal die Verstecke abchecken, die mir von ein paar Informanten gesteckt worden sind.“ Vom Eingangsportal des Hotels winkte ein Kellner zu und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, dass er ihnen etwas mitteilen wollte. „Was ist denn nun schon wieder?“, stöhnte Matthias auf. „Das scheint mir ein Marathon im Verzögern zu werden.“ „Hören Sie“, erwiderte Enrique ärgerlich mit lauter und fester Stimme: „Wenn es nach uns unserer Nase ginge, hätten wir Ihre Frau längst wieder. Besser gesagt wäre sie niemals aus unserer Obhut gerissen worden. Aber nun ist es so und wir müssen uns den Herausforderungen der neuen Situation stellen, ohne ständig nur zu jammern. Ich weiß, dass Sie in höchster Sorge sind, aber ich versichere Ihnen, dass Situationen wie diese uns nicht zum ersten Mal begegnen. Ich selbst bin seit Jahren im Personenschutz tätig. Man hat mir zwar noch nie die Bewachung des Papstes anvertraut, aber ich würde mich trotzdem als erfahren bezeichnen. „Interessant. Und was hat das mit Ursula zu tun?“ „Würden Sie jetzt endlich die Freundlichkeit besitzen, mir zu zuhören? Und du“, er deutete auf Johannes, „geh rüber und hör dir an, ob der Kellner Wichtiges weiß oder nur Werbung für die Happy Hour machen will.“ Er räusperte sich, kurz bevor er sachlich fortfuhr: „Was ich sagen wollte, bevor Sie mich unterbrachen ist, dass wir einige Personen zu unserer Gruppe haben, die sagen wir gewisse Fähigkeiten besitzen.“ „Die da wären?“, fuhr Matthias ihm erneut nervös ins Wort. „Verdammt, was kann ich tun, damit Sie es endlich kapieren? Halten Sie Ihren Mund und hören Sie mir zu. Bitte“, er hob beide Hände gefaltet vor sich, „nur zwei Minuten!“ Matthias nickte nur resigniert. „Also nochmal von vorne“, Enriques Augen funkelten ihn wütend an. „Vertrauen Sie darauf, dass unsere Gruppe alles dafür tun wird, Ihre Frau so schnell wie möglich wieder hier an Ort und Stelle zu haben. Auch wir haben ein großes Interesse daran, so schnell wie möglich mit Ihnen zusammenzuarbeiten und in diesem Rennen als Sieger hervor zu gehen. Wir müssen alle Gegenspieler abhängen, wenn wir ein Unglück vermeiden wollen. Ich weiß, dass Sie beiden noch nicht den blassesten Schimmer haben, wie groß diese Nummer in Wirklichkeit ist. Auch darüber werden wir Sie aufklären, wenn Ihre Ursula wieder hier ist. Zu ihrer kurzen Information; ich habe bereits einen Suchtrupp zum alten Wasserspeicher und den Verstecken darum geschickt. Diese Gegend wurde schon oft zum Verbergen von Personen genutzt, bisher von dort noch keine Rückmeldung. Auch den alten Trick der Kahnfahrt zum Delphinfelsen lasse ich überprüfen, falls man Ihre Frau dorthin gebracht hat. Auch der Boss unserer Gruppe wird eher zulassen, dass sich Aschenbrödel in die Sphinx verwandelt, bevor er die Suche aufgeben wird. Deshalb atmen Sie bitte einige Male tief durch und warten Sie, bis wir weitere Aktionen starten.“ Johannes kam mit erregter Mine zurück zu ihnen: „Sie wissen, wo Ursula ist. Wir müssen los, steigt ein.“ „Sollen wir nicht zuerst auf einen Kartoffelsalat oder eine Portion Kartoffelpuffer zurück ins Hotel“, scherzte Matthias, auf dessen Gesicht die Erleichterung überdeutlich zu erkennen war. „Ich gebe einen aus!“ „Sie sind mir vielleicht eine Nummer, verrückt wie ein Yak in den Tomatenpflanzen“, kommentierte Enrique und öffnete die hintere Tür des Wagens. „Aber nur eines, das schon seit Jahren für den Radsport trainiert“, ergänzte Matthias lachend und stieg auf der Beifahrerseite ein. Teil 35 Woche 34/2013 Als Enrique den Wagen startete, schickte Matthias ein Gebet mit besten Wünschen zur Befreiung seiner Frau gen Himmel. Es war beeindruckend zu erkennen, wie schnell man sich Hilfe von oben herbeisehnte, wenn man in Not geraten war. Er nahm sich fest vor, sein Verhältnis zu Religion und der Bibel noch einmal zu überdenken. ‚Ich vermute, dass dies zum Alphabet der in Not geratenen gehört, wenn sie nicht gerade zur Helden-Fraktion gehören und alles für sich selbst regeln können. Ich bin ganz sicher nicht der Einzige, der nach göttlichem Beistand fleht, wenn das Surren einer Patronenhülsen dicht neben dem eigenen Ohr einen Brummschädel verursacht hat,‘ dachte er erkennend und richtete seinen Blick aus dem Wagenfenster, das vor Schmutz stand. Bettina genoss, eingehüllt in eine karierte Decke, den märchenhaften Blick auf den Yachthafen. Sie fragte sich, ob Jorge, wie er sich ihr höflich vorgestellt hatte, bevor sie aufgebrochen waren, schon vielen Frauen Einladungen zu einem romantischen Trip gemacht hatte. Eigentlich war es nicht ihre Sache, so rasch auf Avancen von hübschen Männern einzugehen, doch dem Charme des Lebensmittelhändlers war sie sofort erlegen. Der Gedanke, dass es anderen Frauen vermutlich genauso ergangen wäre, zog wie ein Mühlstein an ihrer guten Laune. ‚Bin ich etwa eifersüchtig, obwohl ich den Kerl erst vor zwei Stunden kennengelernt habe?‘, sinnierte sie erschrocken, bevor sie rasch ihren Kopf schüttelte, um diese Gedanken zu vertreiben. ‚Darüber sollte ich grübeln, wenn es gute Gründe gibt‘, ermahnte sie sich, wandte den Kopf zu Jorge und schwärmte: „Der Hafen sieht von hier noch viel schöner aus, als ich erwartet hätte.“ „Warte, bis wir den Sonnenaufgang erleben, das toppt alles. Die Spiegelungen auf dem Wasser gleichen Facettenaugen, wenn die Sonne an einem bestimmten Punkt des Horizontes steht. Du wirst es lieben!“ Bettina schaute verträumt zum Yachthafen: „Wir bleiben die ganze Nacht hier? Werden wir uns nicht die Knochen abfrieren?“ „Nein, werden wir nicht. Zum einen haben wir uns, und zum anderen werde ich den Kabelsalat unter Deck nachher zur Seite räumen und uns ein kuscheliges Plätzchen schaffen. Ich frage mich, was mein Cousin hier an Bord mit einer Nähmaschine vorhatte? Das Sammelsurium dort unten musst du dir unbedingt anschauen. Eine Ausstellung an scheinbar unbrauchbaren Gegenständen. Aber mein Cousin ist ein Fuchs, ich wette, er hat für die Aufbewahrung all dieser Dinge, einschließlich der Fahrradpumpe, einen sehr guten Grund. Komm ich zeige es dir.“ Er nahm Bettina wie selbstverständlich bei der Hand, öffnete die Klappe einer Falltür und zog sie die Stufen nach unten. Es dauerte einen Moment, bis das Licht, das er neben den Stufen eingeschaltet hatte, einen sanften Schein über die Kammer schickte. Man erkannte sofort, dass dieser Raum am ehesten als Werkstatt diente. Dutzende ausrangierter Haushaltgegenstände und Metallschrott teilten sich den beengten Raum auf den vorhandenen Regalen und dem Fußboden. „Sieht aus, als seien wir zu Besuch bei Daniel Düsentrieb“, rief Bettina begeistert. Ich find‘s klasse. Was ist das dort hinten neben dem Strahlrohr? Sieht aus wie eine Achse.“ Jorge nickte: „Ich glaube das ist eine Panjewagen Achse. Er hat mir vor einigen Tagen davon erzählt und war ganz begeistert, eine ergattert zu haben. Was genau das ist, kann ich dir nicht sagen, ich weiß nur, dass es keinen Fußpilz verursacht!“ Er lachte und zog Bettina ein Stückchen zu sich heran: „Wollen wir uns etwas Hübsches zusammenbauen, oder lieber schauen, was ich uns als Wegzehrung eingepackt habe?“ „Ich bin unbedingt für das Essen, mein Magen klingt, als würde die Elbe durchfließen, ich habe wirklich Hunger!“, erklärte sie und legte zur Unterstreichung ihrer Worte beide Hände auf den Bauch. „Typisch Fleischfresser, da gibt das Bäuchlein gerne mal ein kleines Musikstück zum Besten. Lass uns schauen, ob es außer unbequemen Dingen auch etwas hier unten ist, worauf wir es uns behaglich machen könnten.“ Bettine grinste und zeigte in eine Ecke: “Da hinter dem alten Ofen scheint ein kleiner Strohballen zu liegen, das wäre doch ein Anfang.“ „Perfekt“, rief er aus und holte den Ballen nach vorne. „Ich würde vorschlagen, das wir ihn mit nach oben nehmen und schauen, ob sich noch etwas anderes brauchbares findet. Der alte Erbsenzähler von Cousin muss doch irgendwo eine richtige Decke und Kissen aufbewahren, schließlich schläft er oft genug hier.“ Teil 36 Woche 35/2013 „Selbst so ein Kerl mit ausgeprägter Naturverbundenheit wie mein Cousin Bob sollte ein wenig Komfort mögen, oder? Räum du unseren Picknickkorb aus, ich werde nachsehen, ob sich zwischen Tageslichtprojektor, Schneiderpuppen und Fahrradhelmen etwas findet, was wir für die Nacht an Bord gebrauchen könnten.“ Bettina nickte, stieg die Stufen nach oben und war in Windeseile beim Korb angelangt, den Jorge im Laden für sie gepackt hatte. Nachdem sie ihn geöffnet hatte, blickte sie zuoberst auf eine dicke Plastikfolie, die mit Beagles und Dackeln bedruckt war. ‚Das sollte ich fotografieren, dachte sie belustigt. ‚Wer hätte gedacht, dass ein Charmeur wie Jorge eine Vorliebe für kindliche Motive hat. Vielleicht wächst in seinem Garten eine wahre Blütenpracht und ein Mini-Hängebauchschwein ist für das Jäten des Unkrauts zuständig?‘ Verwundert hielt Bettina inne: ‚Über was ich mir Gedanken mache, während ich die Wurst und Erfrischungsgetränke auspacke. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass Jorge von jetzt auf gleich zu meinem Herzblatt mutiert ist. Bin ich tatsächlich verliebt?‘, dachte sie, während sie ein Schnitzmesser in der Hand wiegte, mit dem sie den Speck in dünnen Scheiben schneiden würde. Jorge kam auf Deck und hielt hatte Thermomatte und zwei kleine Kissen unter seine Arme geklemmt. Er legte alles neben Bettina ab und zeigte auf die Matte: „Keine Angst, wir üben keinen Sonnengruß. Obwohl diese herrliche Sonne am Himmel dazu animieren könnte. Ich dachte nur, es wird angenehmer sein darauf zu sitzen, als auf den blanken Bohlen.“ „Gute Idee, reich sie mir mal rüber. Wir wollen zwar nicht den Ozean überqueren, aber ein wenig mehr Bequemlichkeit beim Genuss dieser Hühnersuppe, bei der ich mich wundere, dass sie in diesem Behältnis noch so heiß geblieben ist, kann nicht schaden. Setz dich zu mir“, ergänzte sie und klopfte auf den Platz neben sich, „ich sterbe vor Hunger.“ „Sehr gerne, ich könnte auch etwas vertragen. Ich glaube das Klettern über gefühlte tausend Teile einer Autowaschanlage macht hungrig“, erklärte er mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht. „Das meinst du nicht ernst, oder? Bob lagert auch Stücke von Waschstraßen ein?“, sie brach in Lachen aus. Bei einer Notwasserung neben diesem Katamaran müssten Passagiere garantiert auf nichts verzichten, oder?“ Er stimmte in ihr Lachen ein und Bettina fühlte sich glücklich. Alle Gedanken an das Projekt und ihr Versagen schienen in weiter Ferne gerückt zu sein. „Nein, da gebe ich dir recht. Sie müssten sich nicht im Meerwasser einweichen lassen, sondern könnten an Bord kommen und sich eine Dusche mit duftendem Badeschaum gönnen. Duschgel habe ich komischerweise nicht entdecken können, dafür Sonnenschutz in allen Faktorenklassen und Duftrichtungen.. Die Duschkabine im Nebenraum der Rumpelkammer erinnert zwar an die Steinzeit, ist aber durchaus funktionstüchtig. Aber nun lass uns nicht mehr über das eventuelle Schicksal der Passagiere nachsinnen, sondern an uns denken. Wenn ich nicht gleich etwas essen kann, werde ich immer mehr einer Bohnenstange ähneln. Mit dieser Tatsache allein könnte ich mit abfinden, aber nicht damit, dass mir die Kraft fehlen würde, Mi Amor auf unser Lager zu tragen.“ Bettina errötete: „Du hast mich ertappt, genau diese Reihenfolge würde mir auch gefallen. Ich weiß nicht, ob ich dein Vorgehen als Enkeltrick und damit kriminell enttarnen sollte, oder mich freuen, dass ich zufällig in deinen Laden gekommen bin.“ Teil 37 Woche 36/2013 Blitzlicht, Yogaübung, barfüßig, Kuhreihen, Naturschauspiel, Straßenmusik, Maultier, Zombie, Lachen, Herzchirurg, Feldherr, Regenschirm, zweistellig, CD-Rohling, Parkplatz, Tannennadel, kennenlernen, Spinnennetz, Kissenbezug, Auszeit, Löffel, Krümel, Hochzeit, Vollautomat, Schleuse, Hippie, „Das kannst du halten wie der berühmte Dachdecker“, sein Lachen schallte übers Deck. Er deutete fröhlich auf den Himmel: „Schau dir dieses Naturschauspiel an!“ Bettina blicke in dem Moment nah oben, als ein Blitzlicht das Firmament erhellte: „Irrsinnig schön“, flüsterte sie und hielt ihren Blick am Himmel. „Wenn du das Jahre nach unserer Vermählung nicht den Enkelkindern erzählst, kannst du mich kennenlernen“, wisperte er und drückte ihr vorsichtig einen Kuss auf die Wange. „So schnell ist man also in deinem Spinnennetz gefangen, sieh an. Kaum an Bord und in romantische Stimmung eingelullt, bestimmt der Feldherr, dass eine Hochzeit ins Haus steht. Dazu bestellst du, dass der Himmel seine Schleusen öffnet und ich dir, ohne Regenschirm und barfüßig ausgeliefert bin. Es scheint fast so, als sei diese Masche antrainiert. Und ich sage das, ohne dir zu nahe treten zu wollen. Ich genieße im Moment jeden Augenblick und hoffe inbrünstig, dass die Zahl derer, die dies auch bereits mit dir erlebt haben nicht zweistellig ist.“ Jorge machte ein beleidigtes Gesicht und erwiderte harsch: „Ich glaube du missverstehst da etwas völlig. Ich bin kein Zombie auf der Suche nach Frauenopfern, mit denen ich mir eine unbeschwerte Auszeit nehmen kann. So etwas wie hier ist für mich bisher eine einmalige Sache, und ich möchte, dass du das unbedingt weißt. Da bleibe ich störrisch wie ein Maultier. Wenn es sein muss, stelle ich dir noch heute Abend meine komplette Familie vor. Und sie werden dir bestätigen, dass ich niemals zuvor ein Filou war. Sie werden deinen Lebensweg hinterfragen und in allen Krümeln pieken, bis sie sich sicher sind, dass ich nun wirklich jemanden gefunden habe, der zu mir passt. Sie wünschen sich schon so lange eine Beziehung für mich“. Er grinste kurz, bevor er fortfuhr: „Zuerst sollte es etwas ganz Besonderes sein, eine Herzchirurgin oder eine Museumsdirektorin. Mittlerweile wäre wohl ein HippieMädchen, das sein Geld mit Straßenmusik verdient oder CD-Rohlinge herstellt, mehr als willkommen.“ Bettina schaute ihm lange in die Augen, bis sie erkannte, dass er keineswegs scherzte. Sie war fast froh über die Wendungen der letzten Tage, so war sie auf Jorge gestoßen. Doch die Androhung seiner Familie vorgestellt zu werden, ließ Panik in ihr aufsteigen. Was, wenn alles herauskam? Würde er es dann auch nur für eine Sekunde in Betracht ziehen zu ihr zu stehen? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Sicher war es besser, diese Sache sofort im Keim zu ersticken, bevor es zu schmerzhaft wurde. Sie erhob sich langsam, strecke sich ausgiebig und lange, als führe sie eine Yogaübung aus, dann sagte sie bestimmt: „Willst du wirklich hier an Deck bleiben und auf Kissenbezügen schlafen, oder fahren wir zurück? Er hob verwundert die Brauen:“ Habe ich dich überfahren, erschreckt? Was ist auf einmal mit dir los? Du siehst aus, als hast du einen Löffel verschluckt“ „Nein, du hast mich nicht verschreckt, aber ich bin nicht diejenige, die ich zu sein scheine. Vergib dein Herz nicht an mich, du würdest es sehr schnell bereuen.“ „Wovon redest du bitte? Es kommt mir so vor, als wolltest du einem Chilenen absichtlich Kuhreihen vorsingen, damit er nicht versteht aber gehorcht. Was kann so schlimm sein, dass ich dich nicht haben kann? Stehst du etwas nicht aus Kaffee aus dem Vollautomaten?“, versuchte er zu scherzen. Sie räusperte sich und dachte für einen kurzen Moment daran, ihm die ganze Wahrheit zu erzählen. Doch sicher konnte er nicht begreifen, dass sie ihn wegen einer Handvoll Tannennadeln und deren möglicher Wirkung nicht haben wollte: “Lass uns zurück zum Parkplatz schippern, ich kann es dir nicht erklären. Wenn du mich wirklich magst, solltest du mir vertrauen und dich von mir abwenden. Bitte!“, setze sie flehend nach, als sie in sein trauriges und ratloses Gesicht sah. Teil 38 Woche 37/2013 Ball, raten, Eiskristall, Zauberstab, Wartebank, Yeti, zauberhaft, Walzer, vergänglich, Patchwork, Internet, Brandgeruch, Negerkuss, Ringelsocke, Radieschen, Demokratie, Andreaskreuz, privat, Bierschaum, Salzteig, Open-Air-Konzert, Straßenschmuck, Fliegenpilz, Autorin, Griebs, Holzskulptur, Klaviatur, Kuckucksuhr „Wenn du sicher bist, dass du mir nicht vertrauen kannst und ich angeblich nicht zu dir stehen kann, sollte ich deine Entscheidung akzeptieren. Hoch lebe die Demokratie und ihre Meinungsfreiheit! Allerdings finde ich es sehr schade, dass du nicht einmal versuchst, mir zu erklären, warum du für mich angeblich nicht infrage kommst. Ich würde dir raten es zu versuchen, denn du wärst nicht der erste Mensch, der sich in mir getäuscht hat. Unser Zusammentreffen war so zauberhaft, und jetzt bist du aus einem mir unerfindlichen Grund zum Eiskristall geworden. Ich kann mich nicht gegen die Vorstellung erwehren, dass ich damit zu tun habe, und du willst es mir nicht sagen. Das ist mehr als schade.“ Er zog seine letzten Worte in die Länge und schaute Bettina erwartungsvoll an. Sie senkte den Blick, in ihrem Inneren tobte ein Kampf. ‚Sollte sie ihm alles erzählen? Auch auf die Gefahr hin, ihn zu verschrecken? Warum eigentlich nicht? Sie brauchte dringend einen verbündeten, der die Last auf ihren Schultern ein wenig erleichterte. Ihre momentane Situation glich dem Griebs eines Apfels, einem Negerkuss ohne Schokoladenüberzug, nichts als Reste. Schlimmer konnte es fast nicht mehr werden und alles im Leben war vergänglich, warum also keinen Versuch wagen? „Ich werde es dir erzählen“, erwiderte sie leise. „Wenn ich fertig bin, wirst du mir zustimmen und uns auf schnellstem Weg zurück ans Ufer bringen. Es geht um eine Sache, die ein wunderbarer Stoff für eine Autorin wäre. An einen Yeti zu glauben, wird dir vermutlich zuerst leichter fallen. Ich bitte dich deshalb, mir zu zuhören und mich vorerst nicht zu unterbrechen. Zuerst brauchst du ein wenig Hintergrundwissen, damit du die Klaviatur des Falles im Ganzen verstehst. Wirst du mir zuhören, oder hast du deine Meinung geändert?“, fragte sie ihn unsicher. Sie hoffte, dass er jetzt, nachdem sie sich zu ihrer Entscheidung durchgerungen hatte, nicht abspringen würde. „Ich bin ganz Ohr. Nimm dir Zeit und hab keine Angst. Du kannst mir vertrauen und lass dir gesagt sein, auch in meinem Privatleben gab es nicht nur Walzermusik. Den einen oder anderen Fliegenpilz musste auch ich schon verdauen. Aber jetzt fang einfach an, bevor dich dein Mut verlässt.“ Bettina begann stockend und mit der verkrampften Körperhaltung einer Holzskulptur zu berichten, wie sich die Geschichte, in deren Verwicklungen sie nun in Chile gelandet war, begonnen hatte. Im Polizeirevier Tom saß ungeduldig auf der Wartebank vor dem Büro des Polizeibeamten. Dieser hatte ihn nach einem weiteren Wortgefecht mit Raoul vor die Tür gesetzt. Tief im Inneren wusste er, dass er falsch handelte, wenn er Raoul angriff, statt ihn zur Mitarbeit zu bewegen. Sein Groll über die gesamte Situation nahm im immer mehr die Möglichkeit, ruhig und gelassen zu bleiben. In regelmäßigen Abständen brach, dem Uhrwerk einer Kuckucksuhr gleich, die Frage: „Warum passiert hier nichts?“, in seine Gedanken ein. Seine Geduld war überstrapaziert und allmählich sah er all seine Felle fortschwimmen. Er fühlte sich, als würde er an einem Andreaskreuz vorbeirauschen, obwohl er den Zug herannahen hörte. Oder weiter den Klängen eines Open-Air-Konzertes lauschen, während bereits Brandgeruch um seine Nase wehte. Während er die Tür zum rau vor ihn nicht aus den Augen ließ, ging er in Gedanken jede einzelne Begebenheit des Chile-Urlaubes, seiner Entführung und den nachfolgenden Ereignissen durch. Er hoffte so, auf die Zusammenhänge zu stoßen und den Ermittlungen einen Vorschub geben zu können. „Ich muss auf den Zauberstab treffen, der eine Ordnung in das Patchwork der Vorfälle bringt. Den Ball vom Gegner übernehmen und einen Gegenangriff einleiten“, rief er laut in den Raum und stand auf. „Ich brauche einen Internet-Anschluss“, warf er erneut laut in den Raum und ging mit großen Schritten auf die Ausgangstür zu. ‚Ich kann hier nicht länger untätig herumsitzen!‘ Die Chance noch an die Truppe heranzukommen schwinden mit jeder Sekunde, wie Bierschaum auf dem Pils. Also komm in die Hufe Tom Werner und finde heraus, was da wirklich gespielt wird, bevor du die Radieschen von unten bestaunen kannst.‘ Entschlossen trat er nach draußen und schaute irritiert auf den Straßenschmuck, der ihm vorhin gar nicht aufgefallen war. ‚Seltsame Gepflogenheiten gibt es hier‘, dachte er verwundert, als er die bunt angemalten Ringelsocken als Salzteig über ihm, an glitzernden Leinen baumeln sah. Teil 39 Woche 38/2013 Kruzifix, Rosenblüten, besonnen, Suffragette, Lebensmittel, Nervenkostüm, füttern, Kuss, handgemacht, Apfelbaum, Herbstanfang, Yucca-Palme, Unterwelt, Regenschauer, Linkshänder, Leuchter, Brotkruste, originell, Wattenmeer, Reflexion, bequem, Wärter, Busparkplatz, Makrofotografie, Leuchtturm ‚Sieht aus wie handgemacht, sehr originell.‘ Er war zu bequem die Söckchen im Einzelnen und genauer zu betrachten. Dazu flatterte sein Nervenkostüm zu sehr, doch er erinnerte sich dunkel, einmal gelesen zu haben, dass der Herbstanfang auf diese Weise begrüßt wurde. Hektisch schaute er die Straße hinunter um einen Ort auszumachen, an dem er eventuell an einen Computer mit Internetanschluss vermuten konnte. Er würde das Web mit allen Informationen füttern, die ihm zur Verfügung standen und so der handelnden Unterwelt vielleicht ein Stöckchen zwischen die Füße werfen können. In den Reflexionen, die das Straßenlicht am Busparkplatz während des leichten Regenschauers zurückwarf, erkannte er die Leuchtbuchstaben eines großen Supermarktes wie einen Leuchtturm. Vielleicht konnte man ihm dort weiterhelfen? Zumindest war es zu Fuß bequem erreichbar und eine Chance. Er rang um Besonnenheit, während er versuchte, die Straße im regen Verkehr zu überqueren. Vor dem Laden stand eine große Ansammlung von Menschen, die unter dem Dach des Geschäftes Schutz vor dem Regen suchten. Ein Wärter, der augenscheinlich für den Eingang des Marktes verantwortlich schien, scheuchte unentwegt einige Leute zur Seite, weil ihr Stehen in der Nähe der Türen, diese automatisch öffneten. Er nahm seine Aufgabe sehr ernst, was sein angespanntes Gesicht zum Ausdruck brachte. Er blickte die näher heranrutschenden mit einer solch strengen Miene an, dass es schien, als müsse er eine aufgebrachte Horde Suffragetten in seine Schranken verweisen. Eine große und wunderschöne Makrofotografie von Rosenblüten säumte das Logo des Marktes. Tom ging raschen Schrittes zum Eingang, doch der Mann wollte sich ihm in den Weg stellen. „Ich muss dort hinein“, machte er ihm in mäßigem Spanisch und einigen Handbewegungen klar. Der Wärter zeigte weiter stur auf die Seite rechts neben ihm. „Nein, du Armleuchter“, knurrte er gerade verärgert, als der Kerl verstand und ihn freundlich lächelnd hinein winkte. Erleichtert betrat Tom das Geschäft und schickte dem Mann einen angedeuteten Kuss per Luftzug über die ausgestreckte Hand. In den Gängen des Lebensmittelhandels hielt Tom Ausschau nach jungen Menschen, von denen er sich eine Auskunft über Internetmöglichkeiten in der Stadt erhoffte. Er passierte eine große Menge an Regalen, in denen er vielerlei Leckereien bemerkte. Die Brotkruste eines Backwerkes ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er bemerkte, dass sein Magen vehement knurrte. Er hatte seit einer Ewigkeit nichts Anständiges gegessen. Er lief durch einen Gang mit Bekleidung, bevor er in der Gartenabteilung landete, was ihm ein ausgestellter, sehr künstlich wirkender Apfelbaum deutlich machte. „Heiliger Bimbam“, rief er halblaut und sein entsetzter Blick blieb lange an dem Dekostück hängen. „Ja, er ist schrecklich“, mischte sich ein jüngerer Mann unvermittelt in Toms Selbstgespräch ein. Verwundert über das akzentfreie deutsch, erwiderte Tom: „Wer produziert solche Häßlichkeiten?“ Der junge Mann zuckte mit den Schultern: „Keinen Plan, jedenfalls sollte man ihn für diese Monstrosität im Wattenmeer ersäufen“, er grinste breit. „Was tun Sie hier?“ „Ehrlich gesagt suche ich nach jemandem, der mir sagen kann, wo ich einen Computer mit Internetanschluss finden kann.“ „Hier? Dafür gibt es sichere bessere Plätze!“ Er hob eine Heckenschere an und testete ihre Funktion. Tom bemerkte, dass er Linkshänder war und scheinbar unzufrieden mit der Handhabung des Gerätes. „Gehen Sie rüber in die Los Alamos, da gibt es ein Internetkaffee. Sie können es kaum verfehlen. An seiner Fassade ist ein Kruzifix aus Yucca-Palmenblättern. Auch ziemlich albern, aber eben alle Geschmackssache“, kommentiere er schmunzelnd.