Theorien - Lise-Meitner

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LK GE 11.Jg.
Theorien zur Entstehung des modernen Kapitalismus
Uehlein
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Theorien des sozialen Wandels
Wie in anderen Bereichen der Sozialwissenschaften ist auch die Forschung zum sozialen Wandel bestrebt, aus der Vielzahl der Phänomene die wesentlichen, bestimmenden Faktoren herauszuarbeiten.
So richtet sich das Interesse vor allem auf die Ursachen des sozialen Wandels, des weiteren auf die
Formen und Richtungen, in denen Wandlungsprozesse ablaufen können.
Ansätze zur Erklärung des Wandels
Der gewaltige Umbruch, der steh mit der Durchsetzung der industriell-kapitalistischen Produktionsweise
im 18. und 19. Jahrhundert vollzog, wurde von den Zeitgenossen meist als unheilvoller Naturprozeß
oder als Voranschreiten der Gesellschaft nach einem göttlichen Weltplan begriffen. Erst allmählich
drangen Historiker und Soziologen zu einer rationalen Erklärung der gesellschaftlichen Veränderungen vor.
In den folgenden Abschnitten können Sie die beiden Grundpositionen in dieser Frage erarbeiten. Mit
Max Weber und Karl Marx lernen Sie zugleich zwei Klassiker des soziologischen Denkens kennen.
Einige Wissenschaftler suchen die Ursachen für den Übergang zur industriell-kapitalistischen Produktionsweise in den geistigen Grundlagen der Gesellschaft. Von grundlegender Bedeutung sind hier die
Arbeiten Max Webers (1864-1920) zur Religionssoziologie. Weber geht in seinen Überlegungen von
der Feststellung aus, daß die kapitalistische Wirtschaft in ihrer modernen, rationalen Form - die
neben dem Gewinnstreben vor allem auf rationaler Betriebsführung und (formell) freier Arbeit basiert allein im Okzident entstanden sei. In den bedeutenden Kulturen des Orients hingegen ließen sich allenfalls Ansätze dazu finden. Um den fundamentalen Unterschied in der Wirtschaftsgesinnung zu erklären,
dürfen nach Weber nicht nur die ökonomischen Bedingungen berücksichtigt werden. Die Entstehung
des ökonomischen Rationalismus sei auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu rationaler
Lebensführung überhaupt abhängig. Die Art der Lebensführung jedoch werde wesentlich von den
jeweiligen religiösen oder magischen Mächten und den darauf beruhenden ethischen Pflichtvorstellungen bestimmt. So versucht Weber die Entstehung der kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung in Zusammenhang mit bestimmten religiösen Grundvorstellungen zusehen.
Der „Geist" des Kapitalismus
Nach der Quäkerethik [Quäker=Mitte des 17. Jh. in England begründete, puritanisch geprägte Religionsgemeinschaft] soll das Berufsleben des Menschen eine konsequente asketische Tugendübung, eine
Bewährung seines Gnadenstandes an seiner Gewissenhaftigkeit sein, die in der Sorgfalt und Methode,
mit welcher er seinem Beruf nachgeht, sich auswirkt. Nicht Arbeit an sich, sondern rationale Berufsarbeit ist eben das von Gott Verlangte. Auf diesem methodischen Charakter der Berufsaskese liegt bei der
puritanischen Berufsidee stets der Nachdruck, nicht, wie bei Luther, auf dem Sichbescheiden mit dem
einmal von Gott zugemessenen Los. Daher wird nicht nur die Frage, ob jemand mehrere callings [Beruf,
Berufung] kombinieren dürfe, unbedingt bejaht - wenn es für das allgemeine Wohl oder das eigene
zuträglich und niemandem sonst abträglich ist und wenn es nicht dazu führt, daß man in einem der
kombinierten Berufe ungewissenhaft wird. Sondern es wird auch der Wechsel des Berufs als keineswegs an sich verwerflich angesehen, wenn er nicht leichtfertig, sondern um einen Gott wohlgefälligeren,
und das heißt dem allgemeinen Prinzip entsprechend: nützlicheren, Beruf zu ergreifen, erfolgt. Und vor
allem: Die Nützlichkeit eines Berufs und seine entsprechende Gottwohlgefälligkeit richte sich zwar in
erster Linie nach sittlichen und demnächst nach Maßstäben der Wichtigkeit der darin zu produzierenden Güter für die „Gesamtheit", aber alsdann folgt als dritter und natürlich praktisch wichtigster Gesichtspunkt: die privatwirtschaftliche Profitlichkeit: Denn wenn jener Gott, den der Puritaner in allen
Fügungen des Lebens wirksam sieht, einem der Seinigen eine Gewinnchance zeigt, so hat er seine Absichten dabei. Und mithin hat der gläubige Christ diesem Rufe zu folgen, indem er sie sich zunutze macht.
„Wenn Gott Euch einen Weg zeigt, auf dem Ihr ohne Schaden für Eure Seele oder für andere in gesetzmäßiger Weise mehr gewinnen könnt als auf einem anderen Wege, und Ihr dies zurückweist und den minder gewinnbringenden Weg verfolgt, dann kreuzt Ihr einen der Zwecke Eurer Berufung (calling), Ihr
weigert Euch, Gottes Verwalter (stewart) zu sein und seine Gaben anzunehmen, um sie für ihn gebrauchen zu können, wenn er es verlangen sollte. Nicht freilich für Zwecke der Fleischeslust und Sünde,
wohl aber für Gott dürft Ihr arbeiten, um reich zu sein " [Richard Baxter]. Der Reichtum ist eben nur als
Versuchung zu faulem Ausruhen und sündlichem Lebensgenuß bedenklich und das Streben danach nur dann,
wenn es geschieht, um später sorglos und lustig leben zu können. Als Ausübung der Berufspflicht aber ist
es sittlich nicht nur gestattet, sondern geradezu geboten. Das Gleichnis von jenem Knecht, der verworfen würde, weil er mit dem ihm anvertrauten Pfunde nicht gewuchert hatte, schien das ja auch direkt auszusprechen. Arm sein wollen hieße, wie häufig argumentiert wurde, dasselbe wie krank sein wollen; es
wäre als Werkheiligkeit verwerflich und Gottes Ruhm abträglich. Und vollends das Betteln eines zur
Arbeit Befähigten ist nicht nur als Trägheit sündlich, sondern auch nach des Apostels Wort gegen die
Nächstenliebe. [...]
Die innerweltliche protestantische Askese - so können wir das bisher Gesagte wohl zusammenfassen wirkte also mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuß des Besitzes, sie schnürte die Kon-
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sumtion, speziell die Luxuskonsumtion, ein. Dagegen entlastete sie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengte die Fesseln des Gewinnstrebens indem sie es nicht nur legalisierte, sondern (in dem dargestellten Sinn) direkt als gottgewollt ansah.
[...] Und halten wir nun noch jene Einschnürung der Konsumtion mit dieser Entfesselung des Erwerbsstrebens zusammen, so ist das äußere Ergebnis naheliegend: Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang. Die Hemmungen welche dem konsumtiven Verbrauch des Erworbenen entgegenstanden,
mußten ja seiner produktiven Verwendung: als Anlagekapital, zugute kommen. [....]
Der Puritaner wollte Berufsmensch sein - wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den
Mönchszellen heraus in das; Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu
beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an
die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung zu erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dieses
Triebwerk hineingeboren werden - nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen -, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen
Brennstoffs verglüht ist.
Max Weber: Die protestantische Ethik l. Eine Aufsatzsammlung, hg. von Johannes Winckelmann, Siebenstern Taschenbuch
Verlag, 3. Aufl., Hamburg 1973, S. 165ff.
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Wie begründet Weber das Aufkommen der kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung? Welche religiösen Normen sind für diese ausschlaggebend?
2 Vergegenwärtigen Sie sich der Vorbedingungen der industriellen Revolution und beurteilen Sie in
diesem Zusammenhang den Stellenwert der Aussagen Webers.
3 Erörtern Sie die abschließende These Webers, daß der Mensch in der modernen Industriegesellschaft auch weiterhin „mit überwältigendem Zwange " von der Berufsarbeit bestimmt werde.
4 Läßt sich die heutige kapitalistische Wirtschaftsgesinnung noch im Weberschen Sinne erklären?
Die wissenschaftliche Gegenposition zu Weber sucht die Gründe für den sozialen Wandel in den materiellen
Lebensverhältnissen. Dieser Ansatz geht auf Karl Marx zurück. In kritischer Auseinandersetzung mit der herrschenden Philosophie seiner Zeit, die den Geschichtsprozeß aus der Entwicklung des menschlichen Geistes zu begreifen suchte (Hegel), war er bestrebt, die materiellen Triebkräfte der Geschichte herauszuarbeiten. Er war davon überzeugt, daß die entscheidenden Ursachen aller sozialen und politischen Umwälzungen
in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise, also in der Ökonomie der betreffenden Epoche zu
finden seien.
Dr. Karl Marx (1818-1883) und der Kaufmann und Fabrikantensohn Friedrich Engels (1820-1895) begründen in vielen Schriften zur Politik, Ökonomie, Philosophie und Geschichte eine wissenschaftliche Theorie der Gesellschaft als
Grundlage ihrer sozialistischen Auffassung, die sich abhebt von den bis dahin rein utopischen Vorstellungen einer
humanen Veränderung der Gesellschaft.
Im Gegensatz zum damals vorherrschenden philosophischen Idealismus (Erklärung der Wirklichkeit aus geistigen
oder außerweltlichen Ursachen) erklärten sie Sein und Wirklichkeit (wozu auch das Bewußtsein zählt) aus rein eigenen, aber widersprüchlichen Bewegungen der Materie (dialektischer Materialismus).
Innerhalb dieser allgemeinen Philosophie ist der historische Materialismus als eine Lehre von den Bewegungsgesetzen der menschlichen Gesellschaft in der Geschichte als abgerundete Lehrdisziplin von ihnen entwickelt worden.
Grundelemente des historischen Materialismus (Thesen):
a) Die Gesellschaft teilt sich in unterdrückende und unterdrückte Klassen.
b) Klassenkampf als bewegende Kraft der Geschichte
c) Entwicklung von Urgesellschaft -->Sklavenhaltergesellschaft -->Feudalismus -->Kapitalismus -->SozialismusKommunismus
d) revolutionärer Sprung gemäß dem dialektischen Prinzip:
(höhere) SYNTHESE
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THESE <----------> ANTITHESE
Kategorien der historischen Analyse:
Produktivkräfte: Menschen (Kenntnisse, Fähigkeiten, Technologie usw.) und Produktionsmittel (Werkzeuge, Maschinen, Boden).
Produktionsverhältnisse: Beziehungen zwischen den Menschen, die sie in der Produktion, beim Austausch, in der
Verteilung und Konsumtion der Güter eingehen (v.a. Eigentumsverhältnisse).
Ideologischer Überbau:
a) politische und juristische Ideen einer Zeit und die ihnen entsprechenden Institutionen (Parteien, Verwaltung, Justiz,
Bildungseinrichtungen)
b) weltanschauliche, moralische, ästhetische, philosophische, künstlerische, religiöse Vorstellungen und Einrichtungen
(Ideologie = interessenbedingtes Bewußtsein, Weltanschauung)
Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse
Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden
diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen
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die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der
Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist
nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein,
das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen
Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen
oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren
sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder
rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der
materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden
und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst
dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen,
sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem
vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen
erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die
sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.
Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet
wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer
Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.
Karl Marx: Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx/Engels Werke, Bd. 13, Dietz Verlag, Berlin (Ost) 1971, S. 8
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Erläutern Sie die Begriffspaare Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Basis und Überbau .
Wie kommt es nach Marx zur Ablösung einer Gesellschaftsformation durch eine andere? Was ist
die treibende Kraft in diesem Umwälzungsprozeß?
3 Erläutern Sie dieses Entwicklungsmodell am Beispiel des Übergangs von der feudalen zur
kapitalistischen Gesellschaft.
4 Verdeutlichen Sie die gegensätzlichen theoretischen Ansatzpunkte von Marx und Weber durch
folgende Überlegung: Wie würde Marx den „kapitalistischen Geist" (Weber) erklären? Wie würde
Weber die Schaffung neuer „ Produktionsverhältnisse" (Marx) erklären?
Weber und Marx führen den sozialen Wandel auf jeweils einen wesentlichen Faktor zurück. Diese klassischen Ein-Faktor-Theorien sind inzwischen durch multifunktionale Theorien verdrängt worden.
Alle Erklärungsansätze gehen aber von der Überzeugung aus, daß soziale Spannungen (z.B. durch
Entwicklungsrückstände, Interessengegensätze, Konflikte) das vorantreibende Element des sozialen
Wandels darstellen, während etablierte gesellschaftliche Institutionen eine hemmende Wirkung ausüben.
2.2 Modernisierungstheorien
Unter den neueren Studien zum sozialen Wandel sind besonders die in den USA erarbeiteten Modernisierungstheorien hervorgetreten. Ihre Vertreter begreifen die gesellschaftlichen Veränderungen in
den westlichen Industrieländern als einen zielgerichteten Prozeß, der zur „modernen" Gesellschaft
hinführt. Als Gegenbegriff dient die „traditionale" Gesellschaft, wie sie heute vor allem in den
Ländern der Dritten Welt gesehen wird. Die Theorie versucht nun, die Merkmale beider Gesellschaftstypen zu bestimmen, ihre jeweiligen Zusammenhänge zu erfassen und den Entwicklungsstand anhand
quantitativer Indikatoren zu messen.
Innerhalb der Modernisierungstheorie lassen sich verschiedene Ansätze unterscheiden. Die ökonomischen Vertreter betrachten den Mo-dernisierungsprozeß vor allem als ein Problem wirtschaftlichen
Wachstums, das durch verstärkte Investitionstätigkeit und den Einsatz neuer Produktionstechniken gefördert werden könne. Andere Autoren heben demgegenüber die Bedeutung der geistig-seelischen Kräfte
des Menschen hervor. Zu diesen sozialpsychologischen Ansätzen gehört auch die folgende Theorie des
amerikanischen Soziologen Daniel Lerner.
Der „moderne" Lebensstil
Wir werden in diesem Kapitel zeigen, daß das westliche Modell der Modernisierung gewisse Komponenten und Sequenzen aufweist, die universell relevant sind. Überall hat zum Beispiel die Urbanisierung
das Analphabetentum vermindert; dadurch nahm die Benutzung der Massenmedien zu; parallel dazu
kommt es zu einer erhöhten wirtschaftlichen Teilnahme (Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens) und zu
einer Erhöhung der politischen Teilnahme (Ausdehnung des Wahlrechts). Das westliche Modell ist eine
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historische Tatsache. Wir wollen zeigen, daß sich dieses grundlegende Modell in praktisch allen sich modernisierenden Gesellschaften, auf allen Kontinenten, jenseits von Rasse, Hautfarbe und Glauben,
wiederfinden läßt. [...]
Die mobile Persönlichkeit: Empathie Die Menschen der westlichen Welt haben sich an das Gefühl des
Wandels gewöhnt und sind auf dessen verschiedenartige Rhythmen eingespielt. Schon seit vielen Generationen sind im Westen auch einfache Menschen nicht mehr fest an ihren Geburtsort gebunden und relativ
mobil. Seitdem sie in großer Zahl von Bauernhöfen in Stadtwohnungen und von den Feldern in die
Fabriken zogen, ist für sie die Idee des Wandels eine unmittelbare Erfahrung geworden. Die mobile
Persönlichkeit kann objektiv und in technischer Weise beschrieben werden. Wir wollen hier nur ihre
wichtigsten Merkmale und wesentlichen Entwicklungslinien bestimmen. Eine mobile Persönlichkeit
besitzt die Fähigkeit, sich mit neuen Aspekten ihrer Umgebung in hohem Maße zu identifizieren. Sie
ist mit jenen Mechanismen ausgerüstet, die ihr erlauben, sich neue Anforderungen „einzuverleiben",
die außerhalb der gewohnten Erfahrung entstanden sind. [...] Wir wollen der Einfachheit halber für
diese [...] Mechanismen den Begriff Empathie verwenden. [...]
Es ist eine der wichtigsten Hypothesen unserer Untersuchung, daß hohe Empathie nur in modernen Gesellschaften, das heißt in industriellen, urbanisierten, auf Elementarbildung und Beteiligung beruhenden (participant) Gesellschaften, zum herrschenden persönlichen Lebensstil gehört. Die traditionale
Gesellschaft beruht nicht auf Beteiligung (non participant) - aufgrund ihrer Verwandtschaftszugehörigkeit leben die Menschen in Gemeinden, die untereinander und von einem möglichen Zentrum isoliert
sind. Weil es keine Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land gibt, entstehen in diesem Gesellschaftstyp
kaum Bedürfnisse, die zur wirtschaftlichen Interdependenz führen würden. Weil es keine derartigen
Abhängigkeiten gibt, ist der Horizont der Menschen durch die lokalen Angelegenheiten begrenzt, ihre
Entscheidungen berühren lediglich andere bekannte Personen in bekannten Situationen. Daher besteht
kein Bedürfnis für eine gemeinsame, überpersönliche Doktrin, die in gemeinsamen Sekundärsymbolen
ausgedrückt wird, etwa eine nationale „Ideologie", die es einander unbekannten Personen erlaubt, sich in
politischen Kontroversen zu engagieren oder durch den Vergleich ihrer Meinungen zu einer „Übereinstimmung" zu gelangen. Die moderne Gesellschaft hingegen beruht insofern auf Beteiligung, als sie auf
der Grundlage des „Konsensus" funktioniert - Personen, die über öffentliche Fragen persönliche Entscheidungen treffen, müssen oft genug mit anderen, ihnen unbekannten Personen übereinstimmen,
wenn eine gemeinsame und stabile Regierung möglich werden soll. Zu den Marksteinen dieser historischen Organisationsleistung, die wir Beteiligungsgesellschaft nennen, gehört die Tatsache, daß die
Menschen in die Schule gehen; Zeitung lesen; für ihre Arbeit, die sie frei wechseln können, in Geld
entlohnt werden; daß sie auf einem offenen Markt für Geld Waren kaufen; bei Wahlen ihre Stimme
abgeben und damit über konkurrierende Kandidaten entscheiden; und daß sie sich über viele Angelegenheiten eine Meinung bilden, die sie persönlich nicht unmittelbar betreffen.
Das Übergangsmodell
Unser historisches Modell liefert die Begriffe, um den Modernisierungsgrad einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beschreiben. Die Indizes der Urbanisierung, Elementarbildung, Massenmedien und Wahlbeteiligung erlauben uns, die relative Position der einzelnen Länder und
Kontinente für die Zeit von 1950 sehr gut zu unterscheiden. Aber bis hierin war das Modell statisch. Um
zu zeigen, wie ein Land von einer Phase in die andere übergegangen ist, und warum ein Städter dazu kam,
schreibe^! zu lernen, Radio zu hören und zur Wahl zu gehen, brauchten wir eine dynamische Komponente. Sie muß institutioneile Veränderungen mit Veränderungen des vorherrschenden persönlichen Lebensstils in Zusammenhang bringen. [. . .]
Unsere Lösung bestand in dem empirischen Nachweis, daß urbanisierte, lese- und schreibkundige,
„teilnehmende" und einfühlungsfähige Personen sich von Personen, denen diese Eigenschaften fehlen, deutlich unterschieden - und zwar in Persönlichkeitszügen, die für den modernen Lebensstil wesentlich sind. Ein solches Persönlichkeitsmerkmal ist die Tatsache, daß man „Meinungen über öffentliche
Angelegenheiten" hat. Für einen traditionalen Menschen ist es geradezu habitualisiert [zur Gewohnheit
geworden], keine solchen Meinungen zu haben. Im Gegensatz dazu sind für moderne Menschen in
Gesellschaften, die auf Beteiligung beruhen, solche Angelegenheiten von großem Interesse und
großer Bedeutsamkeit. Ein breites Spektrum von Meinungen über öffentliche Probleme kann als ein
wichtiges Merkmal der Modernität betrachtet werden. Somit kann das zentrale Schema dieser Untersuchung in der folgenden Typologie der Modernisierung dargestellt werden:
Daniel Lerner: Die Modernisierung des Lebensstils: eine Theorie, in: Wolfgang Zapf (Hg.): Theorien des sozialen
Wandels, Verlag Anton Hain Meisenheim, Königstein/Ts. 1979, S. 362 ff.
1 Arbeiten Sie heraus, worin Lerner die wesentlichen Merkmale des modernen, westlichen Lebensstils
sieht.
2 Wie sind die Entstehung und Verstärkung von Empathie zu erklären?
3 Auch Kinder müssen zunächst Empathie erlernen. Sie ist eine Voraussetzung für soziales Handeln. Diskutieren Sie, welche Analogie dem Lemerschen Modell der Entwicklung zugrunde liegt.
4 Diskutieren Sie, ob die von Lerner genannten Merkmale zur Kennzeichnung unserer Gesellschaft angemessen bzw. ausreichend sind.
5 Erläutern Sie Lerners „ Typologie der Modernisierung", und beurteilen Sie, wieweit mit diesem Modell
der Entwicklungsstand einer Gesellschaft erfaßt werden kann.
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