Religion und Kunst (1880) Richard Wagner Man könnte sagen, daß da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sie den Kern der Religion zu retten, indem sie die mytischen Symbole, welche die erstere im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfaßt, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen. Während dem Preister alles daran liegt, die religiösen Allegorien für tatsächliche Wahrheiten angesehen zu wissen, kommt es dagegen dem Künstler hierauf ganz und gar nicht an, da er offen und frei sein Werk als seine Erfindung ausgibt. Die Religion lebt aber nur noch künstlich, wann sie zu imer weiterem Ausbau ihrer dogmatischen Symbole sich genötigt findet, und somit das Eine, Wahre und Göttliche in ihr durch wachsende Anhäufung von, dem Glauben empfohlenen, Unglaublichkeiten verdeckt. Im Gefühle hiervon sucht sie daher von je die Mithilfe der Kunst, welche so lange zu ihrer eigenen höheren Entfaltung unfähig blieb, als sie jene vorgebliche reale Wahrhaftigkeit des Symboles durch Hervorbringung fetischartiger Götzenbilder für die sinnliche Anbetung vorführen sollte, dagegen nun die Kunst erst dann ihre wahre Aufgabe erfüllte, als sie durch ideale Darstellungen des allegorischen Bildes zur Erfassung des inneren Kernes desselben, der unaussprechlich göttlichen Wahrheit, hinleitete. Um hierin klarzusehen, würde der Entstehung von Religionen mit großer Sorgsamkeit nachzugehen sein. Gewiß müßten und diese um so göttlicher erscheinen, als ihr innerster Kern einfacher befunden werden kann. Die tiefste Grundlage jeder wahren Religion sehen wir nun in der Erkenntnis der Hinfälligkeit der Welt, und der hieraus entnommenen Anweisung zur Befreiung von derselben ausgesprochen. Uns muß nun einleuchten, daß es zu jeder Zeit einer übermenschlichen Anstrengung bedurfte, diese Erkenntnis dem in vollster Natürlichkeit befangenen Menschen, dem Volke, zu erschließen, und daß somit das erfolgreichste Werk des Religionsgründers in der Erfindung der mythischen Allegorien bestand, durch welche das Volk auf dem Wege des Glaubens zur tatsächlichen Befolgung der aus jener Grund-Erkenntnis fließenden Lehre hingeleitet werden konnte. In dieser Beziehung haben wir es als eine erhabene Eigentümlichkeit der christlichen Religion zu betrachten, daß die tiefste Wahrheit durch sie mit ausdrücklicher Bestimmtheit den "Armen am Geiste" zum Troste und zur Heils-Anleitung erschlossen werden sollte; wogegen die Lehre der Brahmanen ausschließlich den "Erkennenden" nur angehörte, weshalb die "Reichen am Geiste" die in der Natürlichkeit haftende Menge als von der Möglichkeit der Erkenntnis ausgeschlossene und nur durch zahllose Wiedergeburten zur Einsicht in die Nichtigkeit der Welt gelangende, ansahen. Daß es einen kürzeren Weg zur Heilsgewinnung gäbe, zeigte dem armen Volke der erleuchtetste Wiedergeborene selbst: nicht aber das erhabene Beispiel der Entsagung und unstörbarsten Sanftmut, welche Buddha gab, genügte allein seinen brünstigen Nachfolgern; sondern die letzte große Lehre der Einheit alles Lebenden durfte seinen Jüngern wiederum nur durch eine mythische Erklärung der Welt zugänglich werden, deren überaus sinniger Reichtum und allegorische Umfaßlichkeit immer nur der Grundlage der von staunenswürdigster Geistes-Fülle und Geistes-Bildung getragenen brahmanischen Lehre entnommen ward. Hier ward es denn auch, wo im Verlaufe der Zeiten und im Fortschritte der Umbildungen nie die eigentliche Kunst zur erklärenden Darstellung der Mythen und Allegorien heranzuziehen war; wogegen die Philosophie dieses Amt übernahm, um, mit deren von feinster Geistesbildung geleiteten Ausarbeitung, den religiösen Dogmen zur Seite zu gehen. Anders verhielt es sich mit der christlichen Religion. Ihr Gründer war nicht weise, sondern göttlich; seine Lehre war die Tat des freiwilligen Leidens: an ihn glauben, hieß: ihm nacheifern, und Erlösung hoffen, hieß: mit ihm Vereinigung suchen. Den "Armen am Geiste" war keine metaphyslsche Erklärung der Welt notig; die Erkenntnis ihres Leidens lag der Empfindung offen, und nur diese nicht verschlossen zu halten war göttliche Forderung an den Gläubigen. Wir müssen nun annehmen, daß, wäre der Glaube an Jesus den "Armen" allein zu eigen verblieben, das christliche Dogma als die einfachste Religion auf uns gekommen sein würde; dem "Reichen" war sie aber zu einfach, und die unvergleichlichen Verwirrungen des Sektengeistes in den ersten drei Jahrhunderten des Bestehens des Christentums belehren uns über das rastlose Ringen der Geistes-Reichen, den Glauben des Geistes-Armen durch Umstimmung und Verdrehung der Begriffs-Nötigungen sich anzueignen. Die Kirche entschied sich gegen alle philosophische Ausbeutung der, in der Anwendung von ihr auf blinde Gefühlsergebung berechneten, Glaubenslehre; nur was dieser durch ihre Herkunft eine übermenschliche Würde geben sollte, nahm sie schließlich aus den Ergebnissen der Streitigkeiten der Sekten auf, um hieraus allmählich den ungemein komplizierten Mythen-Vorrat anzusammeln, für welchen sie fortan den unbedingten Glauben, als an etwas durchaus tatsächlich Wahrhaftiges, mit unerbittlicher Strenge forderte. In der Beurteilung des Wunder-Glaubens dürften wir am besten geleitet werden, wenn wir die geforderte Umwandlung des natürlichen Menschen, welcher zuvor die Welt und ihre Erscheinungen für das Aller-Realste ansah, in Betracht ziehen; denn jetzt soll er die Welt als nur augenscheinlich und nichtig erkennen, das eigentliche Wahre aber außer ihr suchen. Bezeichnen wir nun als Wunder einen Vorgang, durch welchen die Gesetze der Natur aufgehoben werden, und erkennen, das eigentliche Wahre aber außer ihr suchen. Bezeichnen wir nun als Wunder einen Vorgang, durch welchen die Gesetze der Natur aufgehoben werden, und erkennen wir bei reiflicher Überlegung, daß diese Gesetze in unserem eigenen Anschauungsvermögen begründet uns unlösbar an unsere Gehirnfunktionen gebunden sind, so muß uns der Glaube an Wunder als ein fast notwendiges Ergebnis der gegen alle Natur sich erklärenden Umkehr des Willens zum Leben begreiflich werden. Das großte Wunder ist für den natürlichen Menschen jedenfalls diese Umkehr des Willens, in welcher die Aufhebung der Gesetze der Natur selbst enthalten ist; das, was diese Umkehr bewirkt hat, muß notwendig weit über die Natur erhaben und von übermenschlicher Gewalt sein, da die Vereinigung mit ihm als das einzig Ersehnte und zu Erstrebende gilt. Dieses Andere nanute Jesus seinen Armen das "Reich Gottes", im Gegensatze zu dem "Reiche der Welt"; der die Mühseligen und Belasteten, Leidenden und Verfolgten, Duldsamen und Sanftmütigen, Feindesfreundlichen und Allliebenden zu sich berief, war ihr "himmlischer Vater", als dessen "Sohn" er zu ihnen, "seinen Brüdern", gesandt war. Wir sehen hier der Wunder allergrößtes und nennen es "Offenbarung". Wie es möglich ward, hieraus eine Staats-Religion für römische Kaiser und Ketzer-Henker zu machen, werden wir im späteren Verlaufe unserer Abhandlung näher in Betrachtung zu nehmen haben, während für jetzt nur die fast notwendig scheinende Bildung derjenigen Mythen uns beschäftigen soll, deren endlich übermaßiges Anwachsen durch Künstlichkeit das kirchliche Dogma entwürdigte, der Kunst selbst jedoch neue Ideale zuführte. Was wir im allgemeinen unter künstlerischer Wirksamkeit verstehen, dürften wir mit Ausbilden des Bildlichen bezeichnen; dies würde heißen: die Kunst erfaßt das Bildliche des Begriffes, in welchem dieser sich äußerlich der Phantasie darstellt, und erhebt, durch Ausbildung des zuvor nur allegorisch angewandten Gleichnisses zum vollendeten, den Begriff ganzlich in sich fassenden Bilde, diesen über sich selbst hinaus zu einer Offenbarung. Sehr treffend sagt unser großer Philosoph von der idealen Gestalt der griechischen Statue: in ihr zeige der Künstler der Natur gleichsam, was sie gewollt, aber nicht vollständig gekonnt habe; womit demnach das künstlerische Ideal über die Natur hinausginge. Von dem Götterglauben der Griechen ließe sich sagen, daß er, der künstlerischen Anlage des Hellenen zuliebe, immer an den Anthropomorphismus gebunden sich erhalten habe. Ihre Götter waren wohlbenannte Gestalten von deutlichster Individualität; der Name derselben bezeichnete Gattungsbegriffe, ganz so wie die Namen der farbig erscheinenden Gegenstände die verschiedenen Farben selbst bezeichneten, für welche die Griechen keine abstrakten Namen gleich den unserigen verwendeten: Götter hießen sie nur, um ihre Natur als eine göttliche zu bezeichnen; das Göttliche selbst aber nannten sie: der Gott; "ó deóç". Nie ist es den Griechen beigekommen "den Gott" sich als Person zu denken, und künstlerisch ihm eine Gestalt zu geben wie ihren benannten Göttern; er blieb ein ihren Philosophen zur Definition überlassener Begriff, um dessen deutliche Feststellung der hellenische Geist sich vergeblich bemühte, - bis von wunderbar begeisterten armen Leuten die unglaubliche Kunde ausging, der "Sohn Gottes" habe, fur die Erlösung der Welt aus ihren Banden des Truges und der Sünde, sich am Kreuze geopfert. - Wir haben es hier nicht mit den erstaunlich mannigfaltigen Anstrengungen der spekulierenden menschlichen Vernunft zu tun, welche sich die Natur dieses auf Erden wandelnden und schmachvoll leidenden Sohnes des Gottes zu erklären suchte: war das größeste Wunder der, infolge jener Erscheinungen eingetretenen, Umkehr des Willens zum Leben, welche alle Gläubigen an sich erfahren hatten, offenbar geworden, so war das andere Wunder der Göttlichkeit des Heils-Verkünders in einem bereits mitinbegriffen. Hiermit war dann auch die Gestalt des Göttlichen in anthropomorphistischer Weise von selbst gegeben: es war der zu qualvollem Leiden am Kreuze ausgespannte Leib des höchsten Inbegriffes aller mitleidvollen Liebe selbst. Ein unwiderstehlich zu wiederum höchstem Mitleiden, zur Anbetung des Leidens und zur Nachahmung durch Brechung alles selbstsüchtigen Willens hinreißendes - Symbol? nein: Bild, wirkliches Abbild. In ihm und seiner Wirkung auf das menschliche Gemüt liegt der ganze Zauber, durch welchen die Kirche sich zunächst die griechisch-römische Welt zu eigen machte. Was ihr dagegen zum Verderb ausschlagen mußte, und endlich zu dem immer stärker sich aussprechenden "Atheismus" unserer Zeiten führen konute, war der durch Herrscherwut eingegebene Gedanke der Zurückführung dieses Göttlichen am Kreuze auf den jüdischen "Schopfer des Himmels und der Erde", mit welchem, als einem zornigen und strafenden Gotte, endlich mehr durchzusetzen schien, als mit dem sich selbst opfernden allliebenden Heiland der Armen. Jener Gott würde durch die Kunst gerichtet: der Jehova im feurigen Busche, selbst auch der weißbärtige ehrwürdige Greis, welcher etwa als Vater segnend auf seinen Sohn aus den Wolken herabblickte, wollte, auch von meisterhaftester Künstlerhand dargestellt, der gläubigen Seele nicht viel sagen; während der leidende Gott am Kreuze, das "Haupt voll Blut und Wunden", selbst in der rohesten künstlerischen Wiedergebung, noch jeder Zeit uns mit schwärmerischer Regung erfüllt.