Kopftuchdebatte: Die Muslimin Fereshta Ludin darf keine Lehrerin

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DILEK ZAPTÇIOĞLU
DER UNIVERSALISTISCHE SCHWINDEL
In: die tageszeitung, 18. Juli1998. Zaptçıoğlu (geb. 1960 in Istanbul) ist eine deutsche
Journalistin und Autorin des Bandes Türken und Deutsche: Nachdenken über eine
Freundschaft (2005). Der Text bezieht sich auf die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts über das Tragen von Kopftüchern seitens
Schullehrerinnen.
Kopftuchdebatte: Die Muslimin Fereshta Ludin darf keine
Lehrerin werden. Für die Migranten in Deutschland ist dies ein
fatales Signal.
Die Diskussion um das Kopftuch ist nicht neu. Vor neun Jahren
diskutierte bereits Frankreich über das Kopftuch der Schülerinnen
in Creil. Die Stellungnahme zugunsten der Mädchen spaltete
damals die SOS-Rassismus-Bewegung und kostete sie die
Unterstützung der Sozialisten, die traditionell an dem rigiden
Laizismus festhalten.
Damals schien Deutschland ein kleines Paradies für Gläubige jeder
Ausrichtung zu sein: Hier sagte niemand etwas dagegen, wenn
Mädchen mit Kopftüchern zum Unterricht erschienen, auf Antrag
wurden sie vom Sport- oder Schwimmunterricht befreit –
Zustände, über die ein Franzose nur den Kopf schütteln konnte.
Aber Franzosen verstanden ja auch nicht, daß in Deutschland von
jedem Gehalt die Kirchensteuer automatisch abgezogen wird und
sich eine der größten Parteien christlich-demokratisch nennt.
Dabei trog der Schein in Deutschland schon immer: Die Mädchen,
die mit Kopftüchern ihre toleranten Schulen und die Lehre
beendeten, wurden spätestens bei der Stellensuche mit der bitteren
Wahrheit konfrontiert. Als Verkäuferin oder Sekretärin hatten sie
kaum Chancen. Irgendeinen Grund, Mädchen mit Kopftuch nicht
zu nehmen, fanden die Personalchefs immer – manche sagten auch
klipp und klar, daß sie mit dieser Aufmachung nicht arbeiten
konnten.
Anders ging es in der Produktion zu: Dort tragen fast alle
Arbeiterinnen muslimischen Glaubens ein Kopftuch, auch die
Frauen der Putzkolonnen sind gewöhnlich kopfbedeckt. Das wird
von Arbeitgebern nicht nur hingenommen, sondern vielfach
ausdrücklich aus hygienischen Gründen begrüßt.
Nun gibt es einen Unterschied zwischen der Muslimin, die die
Klassenräume blank scheuert, und derjenigen, die an der Tafel
steht und über Goethe und Schiller erzählt. Was bei der einen
hygienisch und religionsfreiheitlich unbedenklich ist, ist bei der
zweiten möglicherweise ein Zeichen für religiösen Fanatismus und
dafür, daß sie für diesen Job ungeeignet ist, auch wenn sie
vielleicht gar keine religiöse Fanatikerin ist. [...]
In der deutschen Schule wird die westliche, historisch auch auf
dem Christentum beruhende Kultur und Zivilisation vermittelt –
und diese weicht vom Islam per definitionem ab. Kein Unterricht
ist von den Werten und Normen befreit, die dieser Teil der Welt
für sich geschaffen und als universell gültig erklärt hat und gegen
die es in der übrigen Welt in unserer Zeit so große Widerstände
gibt. So ist eine Lehrerin mit dem Kreuz um den Hals in deutschen
Schulen eine alltägliche Erscheinung, die ins Bild paßt, während
eine Lehrerin mit Kopftuch eben fehl am Platz ist. Weil sie
islamisch ist.
Die Schule ist also nicht weltanschauungsneutral, und die Werte
und Normen, die sie vermittelt, haben zwar universellen Anspruch,
jedoch nicht diesen Charakter. Wenn Fereshta Ludin, die in BadenWürttemberg nicht Lehrerin werden darf, also eine Muslimin wäre,
die ihre Kultur und Zivilisation als einzig gültige und richtige
empfindet, würde sie wohl als erstes ablehnen müssen, mit diesen
Lehrplänen zu arbeiten. Sie würde versuchen, den Kinder eher ihre
eigene Weltsicht beizubringen. Da sie dies an der öffentlichen
deutschen Schule nicht kann, würde sie in eine Privatschule gehen
oder vielleicht versuchen, eine private islamische Schule zu
gründen, deren Klassenräume zu füllen kein Problem sein würde.
Aber das alles ist gar nicht ihre Absicht. Fereshta Ludin besteht
lediglich darauf, das Kopftuch im Unterricht zu tragen. Eigentlich
ist das falsch ausgedrückt, denn es gibt in der Öffentlichkeit für
eine gläubige Muslimin überhaupt keinen Platz, an dem sie das
Tuch »ablegen« darf. Ob das Tuch nun islamische Vorschrift ist
oder nicht, ist dabei weniger interessant. Wenn sie selbst dies als
religiöse Vorschrift empfindet, dann ist es eine. Sie will das
Kopftuch tragen und den Kindern dasselbe beibringen wie ihre
nichtmuslimischen Kolleginnen. Daß sie dies nicht als
Widerspruch zu ihrem islamischen Glauben empfindet, müßte
jeden Laizisten eigentlich hoch erfreuen. Denn es zeigt, daß
Fereshta Ludin ihren Glauben auf den privaten Bereich ihres
Gewissens beschränkt und nicht als Politik verstanden wissen will.
In der französischen Kopftuchdebatte ging es eindeutig um die
traditionell rigide Auffassung vom Laizismus und um die Frage, ob
diese Auffassung nun abgemildert und der Zeit angepaßt werden
sollte. Es ging darum, daß in französischen Schulen jede Art von
religiösen oder weltanschaulichen Zeichen verboten sind – sowohl
für Schüler als auch für Lehrer. In Deutschland geht man ja
bekanntlich mit solchen Symbolen laxer um, und es gibt Schulen,
Lehrer, ja sogar Ministerpräsidenten, die sich weigern,
Verfassungsgerichtsurteile über Kreuze in Klassenzimmern
anzuwenden.
Kurzum: Es geht um das tief in der Seele der Nation verwurzelte
Mißtrauen gegen das andere. Es geht um das Mißtrauen jedem
»Fremden« gegenüber, vor allem dann, wenn er »uns« am
ähnlichsten geworden ist, wenn er sich assimiliert und angepaßt hat
– er könnte ja um so gefährlicher sein und uns von innen her
schwächen und verraten. So hat das Kopftuch jenseits von
scheinbar wertneutralen Diskussionen um Symbole in der Schule
einen wichtigen, vielleicht einzigen diskussionswürdigen Aspekt:
Wie stellen sich die Deutschen die Zukunft mit den
(muslimischen) Migranten vor, wenn sie ihnen ein
Assimilationsangebot machen, das sie aber nicht einlösen können
oder wollen? Schließt dieses Angebot auch einen Religionswechsel
ein, wird es dann wenigstens eingehalten, und spricht das für oder
gegen die Lehren, die wir aus der jüngsten Geschichte ziehen
dürfen?
MICHAEL BRENNER
NUR KEINEN EHRENPLATZ
In: Süddeutsche Zeitung (2-3. Dezember 2000). Brenner (geb. 1964) lehrt am
Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Der Text stellt eine Kritik an dem von Bassam Tibi (siehe
Beitrag 15 in diesem Kapitel) und Friedrich Merz (siehe dessen Beitrag
“Einwanderung und Identität” im siebten Kapitel) vorgeschlagenen
gesellschaftspolitischen Ideal einer “deutschen Leitkultur”.
Die Rolle der jüdischen Minderheit im Tempel der Leitkultur
Meine früheste Begegnung mit dem, was deutsche Leitkultur im
Rahmen des christlichen Abendlands bedeutet, reicht dreißig Jahre
zurück und datiert von meinem ersten Schultag. Damals wurde ich
vertraut mit dem schönen deutschen Brauch, eine prall mit
Süßigkeiten gefüllte Schultüte leeren zu dürfen. Die Frage, die
mich an diesem Tag wohl am meisten beschäftigte, war:
Schokolade oder Bonbons? Unsere junge Klassenlehrerin in der
bayerischen Provinzstadt freilich brachte mich mit einer ganz
anderen Frage in Verlegenheit. Gleich in der ersten Stunde stellte
sie uns vor die eindeutig formulierte Alternative: »Wer von Euch
ist katholisch, wer evangelisch?« Weder das eine noch das andere
kam mir allzu bekannt vor, und so konnte ich mich nicht recht
zwischen den genannten Optionen entscheiden. Nach Hause
zurückgekehrt, lernte ich, dass es außer den genannten Optionen
auch noch andere gab und sollte dies bald im jüdischen
Religionsunterricht vertieft erfahren.
Ich blieb während der nächsten 13 Jahre der einzige jüdische
Schüler in meiner Schule, wenngleich ich korrekterweise
anmerken sollte, nicht der einzige Jude im Klassenzimmer – der
andere hing wie in jeder guten bayerischen Schule
selbstverständlich am Kreuz vor unser aller Augen. Während
meiner Gymnasialzeit sollten sich bald weitere exotische
Abweichungen von der katholisch-protestantischen Mehrheit in
meiner Klasse dazugesellen, so etwa ein Muslim, dessen Familie
aus dem Iran stammte, ein Neuapostolischer und – gewiss als
Exotischster von uns allen – ein Schüler, hinter dessen Namen im
Jahresbericht das Kürzel O.B. auftauchte, was nicht etwa hieß,
dass sein Vater Oberbürgermeister, sondern, dass er ohne
Bekenntnis war. Da mein eigener Religionsunterricht einmal
wöchentlich am Nachmittag in der Jüdischen Gemeinde stattfand,
spielten wir während der Religionsstunde eine Art multikulturellen
Fußball. [...]
Synagoge ja, Moschee nein
In Bayern hat sich daran bis heute ja trotz ihres eigentlich
eindeutigen verfassungsrechtlichen Ausgangs nicht viel geändert.
Im liberalen Stadtstaat Bremen ist die Leitkultur als Leitreligion
gar in der Landesverfassung verankert. Dort heißt es im Artikel 32:
»Die
allgemeinbildenden
öffentlichen
Schulen
sind
Gemeinschaftsschulen mit bekenntnismäßig nicht gebundenem
Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher
Grundlage.« Diese Klausel galt einmal zu Recht als besonders
fortschrittliche Zusammenfassung des katholischen und
protestantischen Religionsunterrichts. Doch müsste man eine
solche Passage nicht an die erheblich veränderte Realität anpassen,
um auch anderen Religionsgemeinschaften einen entsprechenden
Unterricht zu gewähren?
Juden waren lange Zeit die einzige nichtchristliche Minderheit in
Deutschland. Heute hat sich dies geändert. Zum einen leben Juden
in einer faktisch pluralistischen Gesellschaft, sowohl was ethnische
Herkunft, aber auch was religiöse Gruppierungen betrifft. Sie sind
also nicht die einzige Minderheit, mehr noch, sie sind eine kleine
Minderheit selbst unter den Minderheiten. Sie sind, und dies führt
uns zur anderen Seite der Medaille, alles andere als eine normale
Minderheit. Nach dem Holocaust galt und gilt bis heute eine
jüdische Präsenz in Deutschland als nahezu überlebenswichtig für
die deutsche Demokratie. Im Ausland wurden Erfolg oder
Misserfolg der Demokratie in Deutschland nicht zuletzt daran
gemessen, ob sich hier eine, wenn auch noch so kleine, jüdische
Gemeinde wieder zu Hause fühlen kann. Das Verlassen der Juden
aus Deutschland hätte unabsehbare Folgen – nicht für die Juden,
sondern für Deutschland.
Es wäre also irreführend, die Behandlung der jüdischen Minderheit
in Deutschland heute als repräsentativ für den Umgang mit
anderen religiösen und ethnischen Minderheiten anzusehen.
Antisemitismus ist glücklicherweise in weiten Kreisen noch immer
ein gesellschaftliches Tabu. Äußerungen und Maßnahmen gegen
andere religiöse Minderheiten und gegen Ausländer sind dagegen
leider salonfähiger. Es gab eine Zeit, da konnten Politiker schöne
Worte über ihre jüdischen Mitbürger verlieren und im selben
Atemzug vor der Gefahr einer Überfremdung Deutschlands
warnen, ohne entschiedenen Protest des Zentralrats der Juden
erwarten zu müssen. Mancher von ihnen mag sich heute einen
Werner
Nachmann
zurückwünschen,
der
als
Zentralratsvorsitzender um jeden Preis seinen Platz im
Establishment der Gesellschaft suchte und sogar Politikern nach
dem Mund redete, die wegen ihrer NS-Vergangenheit zurücktreten
mussten.
Seit Heinz Galinski und Ignatz Bubis die Geschicke des Zentralrats
übernahmen, hat sich das geändert, und die deutlichen Worte von
Paul Spiegel während der letzten Wochen haben diese Linie noch
deutlicher gemacht. Spiegels Signal war richtig: Politik gegenüber
den Juden lässt sich nicht an Sonntagsreden zum 9. November oder
der Woche der Brüderlichkeit messen, sondern an der
gesellschaftlichen Öffnung gegenüber Minderheiten, Ausländern,
»den Anderen«. Um zwei Beispiele zu nennen: Eine Synagoge im
Stadtbild kann man sich heute schon vorstellen, aber eine
Moschee? Über jüdische Kultur kann man zum Glück heute an
deutschen Universitäten gut informiert werden, aber wo kann man
fundiertes Wissen über türkische Kultur und Geschichte erwerben?
Die Frage, wie sich die jüdische Minderheit in der gegenwärtigen
Debatte definiert, hat keine einfache Antwort. Sie könnte es sich
leicht machen und auf der Seite der etablierten Gesellschaft Platz
nehmen, quasi die unterbrochene Tradition aus der Zeit vor 1933
im Rahmen der vielbeschworenen deutsch-jüdischen Symbiose
wieder aufgreifen, sich im Schatten der gern zitierten Einsteins und
Rathenaus, Freuds und Zweigs platzieren. Als Zugeständnis wird
dann die Idee vom christlichen Abendland auch auf das jüdischchristliche Abendland ausgedehnt. Den Juden wird sozusagen ein
Ehrenplatz im nicht sehr geräumigen Tempel der deutschen
Leitkultur angeboten. Paul Spiegel ließ nun keinen Zweifel daran,
dass er den unbequemeren Weg wählt und sich, wenn es sein muss,
gegen diese Art der Etablierung wendet. Die Juden, so der Kern
seines berechtigten Protestes gegen die Formel der Leitkultur,
haben in einer pluralistischen Gesellschaft grundsätzlich besser
gelebt als in einer monolithisch definierten, und sie tun es bis heute
– wie jede Minderheit.
Die beiden im Ersten Weltkrieg untergegangenen Reiche in der
Mitte und im Südosten Europas, das Habsburgerreich und das
Osmanische Reich, beherbergten nicht nur sehr große, sondern
blühende und sich relativ frei entfaltende jüdische Gemeinden. Das
war nicht zuletzt möglich, weil sie sich durch keine Leitkultur
definieren lassen konnten und wollten. Unter völlig anderen
Voraussetzungen gilt dies heute für die USA, die die moderne
Version eines Vielvölkerreichs bieten, indem sie die zahlreichen
Immigranten ihre eigenen Kulturen ausleben lassen. Für die
Vertreter des europäischen Nationalstaatsgedankens im 19. und 20.
Jahrhundert war dies wesentlich schwieriger, weshalb deren Politik
meistens zwischen Assimilation und Ausgrenzung schwankte.
Doch auch in den beiden großen Staaten Westeuropas, Frankreich
und Großbritannien, hat sich aufgrund ihrer kolonialen
Vergangenheit und des stärker ausgeprägten laizistischen Elements
ihrer Gesellschaften trotz mancher Widerstände längst eine
multikulturelle und multireligiöse Szene herausgebildet, von der
manche in Deutschland noch träumen und die andere bereits
fürchten. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass sie hier im Vergleich zu
anderen westlichen Gesellschaften erst in Ansätzen existiert.
Wir sollten den Initiatoren der Leitkultur-Debatte dankbar sein. Sie
haben uns vor Augen geführt, was mancher vorher nicht so
deutlich gesehen hatte, dass die deutsche Gesellschaft weiterhin
eine sehr stark christlich geprägte, die Diskussion um die
Leitkultur daher auch eine Diskussion um die Leitreligion ist. Man
mag sich dazu bekennen und diese verteidigen. Man kann sie aber
auch in Frage stellen und behaupten, in einer modernen
Gesellschaft des 21. Jahrhunderts müssen auch die christlichen
Religionen stark genug sein, um die symbolische Dominanz im
öffentlichen Raum aufzugeben, wie dies in den meisten westlichen
Ländern schon lange der Fall ist.
Der jüdischen Gemeinschaft kommt hier wegen ihrer besonderen
Geschichte und ihres Rechtsstatus eine besondere Aufgabe zu: sie
ist zwar eine der kleinsten, aber die in ihrer Symbolkraft
sichtbarste Minderheit. Als solche kann sie sich für andere
Minderheiten und für eine offene Gesellschaft in besonderer Weise
einsetzen. Dass ihre Vertreter dies in letzter Zeit immer öfter tun,
hat unter etablierten Politikern für einige Irritationen gesorgt. Dies
ist gut so.
Denn die Alternative lautet: eine rückwärts gewandte und von
Ängsten vor Überfremdung geprägte Gesellschaft oder eine offene
Gesellschaft, in der in der Tat viele Leitwerte – seien sie nun
Leitkulturen
oder
Leitreligionen
–
in
ihrer
gesamtgesellschaftlichen Relevanz in Frage gestellt werden. Als
oftmals einzige Minderheit haben die Juden die Funktion gehabt,
ihre jeweiligen Gesellschaften ein bisschen bunter und
abwechslungsreicher zu gestalten. Dies hat ihnen Anerkennung
und Bewunderung von den einen, Misstrauen und Hass von den
anderen eingebracht. Heute sind sie – Gott sei Dank – nicht mehr
die einzigen in dieser Rolle.
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