4.Os B Guter Hirte GS von Pfr. Michael Pflaum Die Pastoralkonstitution beginnt mit einem außergewöhnlichen Satz, der sofort unser Herz anspricht und schnell berühmt wurde: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ Ja das ist genau auch die Haltung des guten Hirten, der die Seinen kennt und voll Hingabe mit ihnen verbunden ist. So soll die Kirche sich auch den Menschen von heute öffnen. Dann muss sich aber nach den Vätern des Konzils die Einstellung der Kirche und der Theologie ändern. Das möchte ich verdeutlichen mit einem Vergleich. Ein Mathematikprofessor, ein Geschichtsprofessor, ein Pädagogikprofessor und ein Ökonomieprofessor stellen sich vor und erzählen von ihren Forschungen. Der Mathematiker sitzt am Schreibtisch und erforscht neue mathematische Welten, die in seinem Kopf und auf seinem Papier quasi existieren. Der Historiker muss alte Schriften entziffern, um neue Erkenntnisse und Zusammenhänge verstehen zu können. Und der Pädagogikprofessor? Er sollte vorher Lehrer oder Erzieher gewesen sein. Er kann schwerlich etwas Wertvolles im Bereich der Pädagogik lehren, wenn er keine Erfahrung im Bereich Erziehung von Kindern gesammelt hat. Und neue Theorien, neue Erziehungskonzepte muss er im Kindergarten oder in einer Schule testen, ob sie etwas taugen. Er muss die Kinder von heute kennen wie der gute Hirte seine Herde kennt. Ein Mathematiker oder ein Historiker muss nicht im Gymnasium seine neuesten Theorien testen. Es ist völlig egal, ob eine Schulklasse diese Theorien oder Erkenntnisse mal verstehen können oder nicht. Aber eine pädagogische Lehre, die keinen Erfolg in der Praxis zeigt, ist wertlos. Ähnlich geht es dem Ökonomieprofessor. Er möchte seine neuesten Theorien Politikern so nahe bringen, dass diese daran ihre Politik ausrichten. Er forscht über die Zusammenhänge der Volkswirtschaft, aber er beeinflusst auch, wenn er für Politiker überzeugend ist, diese Volkswirtschaft mit seinen Einsichten. Wie arbeitet ein Theologe? Ist er ähnlich einem Mathematiker, der im geistigen Bereich das Göttliche erforscht? Ist er ähnlich dem Historiker, der in den heiligen Schriften forscht? Oder ist er eher wie ein Pädagoge und Ökonom, der in der Menschenwelt von heute Erfahrungen gesammelt haben muss, damit er durch seine Einsichten neue Wege gehen kann, so dass sich dann auch die Praxis verändert? Was ist der beste Ort, um Theologie zu betreiben? Die eigene Vernunft? Die Bibel? Oder die Menschen und die Welt von heute? Es gab im Mittelalter Theologen wie Anselm von Canterbury, die nach neuen Gottesbeweisen suchten. Sie hielten die eigene Vernunft für den besten Ort der Theologie. Martin Luther und die evangelische Theologie dagegen favorisierten die Bibel als den ersten und wichtigsten Ort für Theologie. Alle theologischen Aussagen müssen durch die Bibel belegt werden. Nun kann man darüber streiten, was erste Priorität hat: Vernunft oder Bibel? Oder wie diese beiden Erkenntnisquellen richtig zusammen spielen sollten. Jedoch die heutigen Menschen mit ihrem Leben, Sorgen und Hoffnungen haben bei diesen Theologen keinen Wert für ihre theologische Erkenntnis. Pastoraltheologie ist nur die Frage: Wie verpacke ich meine theologischen Erkenntnisse so, dass ich es den Ungebildeten einfach erklären kann? Die revolutionäre Aussage der Pastoralkonstitution ist: Die Menschen und die Welt heute sind für den Glauben, für die Kirche, für die Theologie von zentralem Wert. Sie haben eine ureigene Autorität. Sie sind ein unerlässlicher Ort, um Theologie zu betreiben. Theologen können nicht nur wie Mathematiker und Philosophen ihre Suchen auf Vernunft bauen, sie können nicht wie Historiker allein in vergangene heilige Schriften forschen, sie müssen wie Pädagogen und Ökonomen von den Menschen und der Welt heute ausgehen! Die Kirche soll pastoral sein, guter Hirte für die Menschen heute. Nach dem II Vatikanum gilt: Pastorale ist nicht: Wie verpacke ich ewige theologische Wahrheiten, damit es das Volk einigermaßen verstehen kann und umsetzen kann? Pastorale ist nicht: Wie schreibe ich einen verständlichen Katechismus? Nein nach der Pastoralkonstitution sind Dogma und Pastoral bzw. Erfahrung miteinander verschränkt. Es gibt keine Einbahnstraße von Dogma zur Pastoral mehr. Vielmehr muss das Dogma immer wieder neu buchstabiert und verstanden werden und muss sich erweisen in der Erfahrung, in der Wirklichkeit, im Dialog. Nur in der Pastoral bekommt sogar das Dogma seinen Wert. Ansonsten ist es leeres Gerede. Theologische Erkenntnisse beziehen sich auf eine Beziehung: Gottes Beziehung zur Welt, zu den Menschen. Er ist der gute Hirte (lateinisch pastor) der Menschheit. Und weil jeder Mensch eine tiefe Berufung von Gott geschenkt bekommen hat, „ein göttlicher Same in ihn eingesenkt“ ist, haben die heutigen Menschen einen immensen Wert, um die Entwicklung der Beziehung Gottes zur Welt in der heutigen Zeit zu verstehen. Um jeden Menschen grundsätzlich so viel Würde zusprechen zu können, musste das Konzil ein altes Dogma streichen. Spätestens seit dem Dekret zu den anderen Religionen ist die Lehre der Kirche: Der Satz „Außerhalb der Kirche kein Heil“ muss gestrichen werden. Gottes Liebe ist bedingungslos und universal. Mit diesem neuen Weltbild kann die Kirch lernbereit und offen auf alle Menschen zugehen. Und so steht in der Pastoralkonstitution sogar der Spitzensatz: „Die Kirche bekennt sogar, daß sie selbst aus der Feindschaft derer, die sich ihr widersetzen oder sie verfolgen, großen Nutzen gezogen hat und ziehen kann.“ GS44 Josef Ratzinger bzw. Papst Benedikt hat leider nie die Pastoralkonstitution verstanden. Er ist ein platonischer Denker: Er denkt Wahrheit letztlich als absolut. Deswegen kann es für ihn nur die Einbahnstraße von Dogma zur Pastoral geben. Aber der Wahrheitsbegriff im zweiten Vatikanum ist nicht platonisch, sondern existenziell wie im Johannes Evangelium: ich suche in der Begegnung mit Jesus meinen wahren Lebensweg. Und er ist pragmatisch und fragt nach den Früchten: Es reicht nicht, dass die Kirche behauptet, dass sie Heil schenkt. Sie muss in der Welt zeigen, im Dialog mit der ganzen Menschheitsfamilie zeigen, dass sie durch ihren Glauben Früchte bringt. Damit die Kirche Freude und Hoffnung, Trauer und Angst mit den Menschen von heute teilen kann, muss sie sich besonderen Kristallationspunkten heutiger Zeit widmen: den Zeichen der Zeit. Wo ist die Würde des Menschen ganz konkret in Frage gestellt? Vor welche Herausforderungen stehen die Menschen von heute? Papst Johannes XXIII benannte z. B. als Zeichen der Zeit Gerechtigkeit zwischen reichen und armen Ländern, zwischen Männern und Frauen, die Sehnsucht nach Frieden zwischen den Völkern. 50 Jahre später müssen wir weitere wichtige Zeichen der Zeit hinzufügen: Die Marktlogik durchdringt immer mehr Bereiche, immer mehr Flüchtlinge leiden an ihrem Schicksal, immer mehr nutzen wir Ökosysteme aus. Vernunft und Bibel, Tradition und das Lehramt sind weiterhin Quellen des Glaubens. Ein Theologe hat nicht einen Ort, um zu forschen: die Vernunft allein reicht nicht, genauso wenig reicht allein die Bibel oder das Lehramt. Vielmehr müssen die verschiedenen Orte der Theologie auf gute Weise zusammenspielen. Die Autorität dieser Orte der Theologie kann sich nur am Ort, die Menschen und die Welt von heute, erweisen! Die Pastoralkonstitution hat deswegen den Dreischritt der CAJ aufgegriffen: Sehen-Urteilen-Handeln, um eine Ordnung bei diesem Zusammenspiel anzubieten. Wir beginnen bei der Gegenwart: die Menschen und die Welt von heute. Sie gilt es mit dem ersten Schritt zu verstehen und die Herausforderungen von heute zu erkennen. Im zweiten Schritt „Urteilen“ müssen wir mit Vernunft die Gegenwart im Licht der Bibel und dem Glauben der Kirche beurteilen. Und im dritten Schritt wenden wir uns wieder der Gegenwart zu, um in der Welt von heute im Geist Jesu zu handeln. Denn das ist letztlich Auftrag der Kirche. Dieser Dreischritt zeigt deutlich die entscheidende Bedeutung der heutigen Welt und der Menschen von heute, um Glaube leben und Theologie betreiben zu können. Ein Pädagogikprofessor, der keine Ahnung von Kindern heute hat, ein Ökonomieprofessor, den die heutige Weltwirtschaft nicht interessiert, ist für uns absurd. Genauso seltsam sollten uns ein Glaube, eine Kirche, eine Theologie sein, die nicht den Dialog mit den Menschen heute sucht. Denn wenn Gott selbst im Dialog mit den Menschen von heute ist und wenn er selbst uns durch die Zeichen der Zeit herausfordert, sind wir Kirche, wenn wir den Dialog führen und die Herausforderung annehmen. Wir Christen werden Christen, wenn wir solidarisch mit den Menschen von heute sind, so wie Gott der Hirte aller Menschen ist. So wird Kirche pastoral! Lesung: 1. Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi, und es findet sich nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihrem Herz seinen Widerhall fände. Darum erfährt sie sich mit dem Menschengeschlecht und seiner Geschichte wirklich innigst verbunden. 3. Denn es gilt, die Person des Menschen zu retten und die menschliche Gesellschaft zu erneuern. Weil also das Heilige Konzil die überaus hohe Berufung des Menschen bekennt und erklärt, dass gewissermaßen ein göttlicher Same in ihn eingesenkt ist, bietet es dem Menschengeschlecht die aufrichtige Mitarbeit der Kirche an, um jene brüderliche Gemeinschaft aller zu errichten, die dieser Berufung entspricht. Die Kirche lässt sich von keinem irdischen Machtstreben leiten, sondern beabsichtigt nur dies eine: nämlich unter Führung des Geistes, des Beistands, das Werk Christi selbst weiterzuführen, der in die Welt kam, um Zeugnis für die Wahrheit abzulegen, um zu retten, nicht um zu richten, um zu dienen, nicht um sich bedienen zu lassen. 4. Zur Erfüllung dieser Aufgabe obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, die Zeichen der Zeit zu erforschen und im Licht des Evangeliums zu deuten, so daß sie in einer der jeweiligen Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben kann. Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erkennen und zu verstehen. Fußnote der Pastoralkonstitution: "Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute besteht zwar aus zwei Teilen, bildet jedoch ein Ganzes. Sie wird "pastoral" genannt, weil sie, gestützt auf Prinzipien der Lehre, das Verhältnis der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute darzustellen beabsichtigt. So fehlt weder im ersten Teil die pastorale Zielsetzung noch im zweiten Teil die lehrhafte Zielsetzung. Im ersten Teil entwickelt die Kirche ihre Lehre vom Menschen, von der Welt, in die der Mensch eingefügt ist, und von ihrem Verhältnis zu beiden. Im zweiten Teil betrachtet sie näher die verschiedenen Aspekte des heutigen Lebens und der menschlichen Gesellschaft, vor allem Fragen und Probleme, die dabei für unsere Gegenwart besonders dringlich erscheinen.