Troyer

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Wittgenstein
Essay
26.01.2015
4.
„Die Religion ist das Verhalten des Menschen zu seinem eigenen Wesen – darin liegt ihre Wahrheit
und sittliche Heilkraft-, aber zu seinem Wesen nicht als dem seinigen, sondern als einem anderen, von
ihm unterschiedenen, ja entgegengesetzten Wesen – darin liegt ihre Unwahrheit, ihre Schranke, ihr
Widerspruch mit Vernunft und Sittlichkeit, darin die unheilsschwangere Quelle des religiösen
Fanatismus, darin das oberste, metaphysische Prinzip der blutigen Menschenopfer, kurz der Urgrund
aller Gräuel, aller schauererregenden Szenen im Trauerspiel der Religionsgeschichte.“
(Ludwig Feuerbach)
Oft wird gesagt, Unwissenheit führe zu religiösem Fanatismus. Der, der nicht sehr gebildet ist und
dessen Horizont vom eigenen Wissen her beschränkt ist, braucht einen Ersatz für den Wissensdurst,
den viele andere haben. Doch sind alle religiösen Fanatiker, hart ausgesprochen, dumm?
Nein – glaube ich nicht. Es gibt viele hochbelesene Menschen, die sich mit einer Religion stark
identifizieren und in deren Namen Taten begehen und Sachen aussprechen, die man aufgrund ihrer
hohen Bildung nicht erwarten würde, sie tun es aber trotzdem. Es kann also nicht an mangelnder
Intelligenz oder fehlender Bildung liegen, dass es oft zu Ausschreitungen kommt, die mit einer
religiösen Motivation begründet werden.
Ludwig Feuerbach findet eine andere Erklärung. Er unterstellt den Menschen fast schon
Schizophrenie, denn er meint, die Religion sei das Verhalten des Menschen zu seinem eigenen
Wesen, aber nicht zu seinem eigentlichen, das an der Oberfläche sichtbar ist, sondern zu einem
konträren und gegenteiligen Wesen. Doch was macht das Wesen eines Menschen aus? Der
Charakter, das Gewissen, seine Verhaltensweise? Man könnte das eine Wesen, das Feuerbach
beschreibt, als Gutes und das andere als Schlechtes bezeichnen. Das eine beinhaltet die Wahrheit
und sittliche Heilkraft, was an sich ja sehr positiv ist, und das andere die Unwahrheit und den
Widerspruch mit Vernunft und Sittlichkeit, also Dinge, die eher mit etwas Negativem assoziiert
werden. Doch so eine simple Trennung nach Gut und Böse kratzt nur an der Oberfläche. Denn im
Leben eines Menschen gibt es so viele Normen und Regeln die den Alltag bestimmen, dass es
eigentlich ganz logisch ist, dass irgendwo noch mehr schlummert, etwas das unterdrückt und
verborgen bleiben muss. Irgendwann muss es aber hinaus, irgendwann muss ein Mensch seinen
innersten Gefühlen nachgehen, auch wenn diese nicht mit allgemein gültigen Verhaltensregeln
konform sind. Feuerbach benennt das „zweite“ Wesen nicht als das Seinige, sondern als ein anderes,
ein Entgegengesetztes. Doch gehört diese Seite, die nicht erwünscht und deshalb unbewusst
unterdrückt wird, nicht genauso zu uns wie jene, die wir herzeigen können, mit der wir strahlen und
uns in ein gutes Licht rücken können?
Genau diese unerwünschte Seite kann in der Religion ausgelebt werden. Religion hat eigentlich
nichts mit Vernunft zu tun, sondern mit Glaube und Glaube lässt sich mit Vernunft und Verstand
meist schwer vereinbaren. Es gibt Wissenschaftler, die wissen, oder zu mindestens glauben zu
wissen, wie die Welt entstanden ist. Da war der Urknall, daran wird nicht gezweifelt, und doch gibt es
welche, die gleichzeitig auch an einen Gott glauben. An einen Gott, der die Welt erschaffen hat, an
einen Gott der Wunder vollbracht hat, die wissenschaftlich nicht zu erklären sind. Aber wie lässt sich
das vereinbaren? Der Verstand sagt dies, das Herz und der Glaube sagen das. Sie sagen beide etwas,
das das Andere vollkommen ausschließt. Und doch hat Glaube gewissermaßen etwas mit Verstand
und Vernunft zu tun. Viele Leute schöpfen Kraft und Energie aus ihrem Glauben, beispielsweise in
extrem schwierigen Situationen ihres Lebens und während schwer zu verkraftenden
Schicksalsschlägen. Man könnte es so sehen, dass die rationale Seite des Menschen unbewusst den
Glauben zulässt und sogar fördert, um in Notsituationen, in denen keine Wissenschaft und keine
Berechnung mehr helfen kann, auf ihn, den irrationalen Teil des Menschen, zurückgreifen zu können.
Wittgenstein
Essay
26.01.2015
Feuerbach sieht in diesem anderen Wesen des Menschen die „unheilsschwangere Quelle des
religiösen Fanatismus“, also die Quelle die bildlich gesprochen mit dem Unheil schwanger ist und es
sozusagen verborgen in sich trägt und „den Urgrund aller Gräuel […] im Trauerspiel der
Religionsgeschichte“. Religiöser Fanatismus und Gräueltaten, die im Namen des Glaubens passieren,
sind gerade ein sehr aktuelles Thema, man denke an den IS und die Dschihadisten, die gerade alle
Welt in Schrecken versetzen. Doch bei ihnen, oder spätestens bei ihren Kindern, die gerade
aufwachsen, liegt diese Quelle nicht mehr in dem „anderen“ Wesen, sondern in dem, das sichtbar ist.
Denn hier spielt die Erziehung eine wichtige Rolle, die Kinder dort werden von klein auf zur radikalen
Religiosität getrimmt. Dort ist es üblich, dass man in jungen Jahren schon als Kindersoldat seine
Eltern im Kampf unterstützt und mit Waffen hantiert. Es ist sogar erwünscht, womit wir wieder beim
Erwünschten und Unerwünschten Wesen wären. Vor der Entstehung solcher radikalen Gruppen
konnten die Gedanken und Ziele, die die jetzigen Mitglieder früher hegten, sicher nicht überall frei
herausgesagt werden, denn diese waren nicht erwünscht und wurden verurteilt. Denn auch heute
noch wird vom Großteil der islamischen Bevölkerung jegliches Vorgehen radikalisierter Gruppen wie
dem IS verurteilt, denn durch sie wird der Ruf aller Muslime zerstört bzw. werden alle in einen Topf
geworfen. Bei den Begründern solcher Bewegungen lag die Quelle noch im entgegengesetzten
Wesen, das eine, welches in der Gesellschaft nicht erwünscht ist. Irgendwann hat sich dann wer
getraut öffentlich zu seiner Meinung zu stehen und versucht, seine Ziele konkret in die Tat
umzusetzen. Inzwischen haben sich viele Gruppierungen so etabliert, dass sie ihre Meinung stolz in
der Öffentlichkeit verkündigen und vertreten, diese wird auch in von immer mehr Menschen
angenommen, gelebt und weitergegeben. Den Kindern wird eine radikale und hetzerische Einstellung
weitergeben, indem sie ihnen ihr Gedankengut eintrichtern. Warum sollte die Quelle von
Gräueltaten, die im Namen solcher Organisationen verübt werden, bei der nächsten Generation
immer noch im verpönten und „bösen“ Wesen liegen, wenn diese Werte in weiten Kreisen schon
längst anerkannt sind?
Diese Vorgehensweise kann man natürlich auf fast jede Religion ummünzen, Ludwig Feuerbach hat
seine Aussage vermutlich auf das Christentum bezogen, da das Zitat aus seinem Buch „Das Wesen
des Christentums“ stammt. Im Christentum gab es auch viele grausame und verabscheuenswürdige
Taten, die im Name Gottes durchgeführt wurden, als Beispiel seien die Kreuzzüge oder die
Hexenverbrennungen genannt. So wird man nahezu in jeder Religion Gruppierungen finden, die ihre
unentschuldbaren Taten unter dem Schutzmantel ihres Glaubens stellen.
Im Grunde genommen stimme ich mit Feuerbach überein, dass die Gefühle, die der Auslöser für
schreckliche Taten unter dem Deckmantel der Religion sind, nicht dort angesiedelt sind, wo sie jeder
sehen kann, wo sie jeder zum Ausdruck bringt. Nein sie liegen tiefer, aber meiner Meinung nach nicht
in einem Wesen, das nicht unser eigenes ist. Es ist sicherlich sehr konträr zu dem scheinbar eigenen,
doch ich glaube, dass es trotz alledem zu uns gehört. Es ist nämlich deshalb so gegensätzlich, weil
darin die ganzen Gefühle lagern, die wir im Alltag nicht ausleben können und vielleicht auch gar nicht
wollen, es bleibt aber ein Teil unserer Persönlichkeit. Viele Menschen leben diesen Teil der
Persönlichkeit nicht aus, was vermutlich auf die meisten Menschen zutrifft und wahrscheinlich auch
von Vorteil ist, aber manchmal wird er unkontrolliert ausgelebt, was schlimme Folgen haben kann.
Ich bin der Meinung, dass in jedem von uns etwas steckt, was uns selber erschrecken würde, wenn
wir es „entdecken“ und ausleben würden. Es ist vielleicht auch etwas, das unserem Charakter
eigentlich gar nicht entspricht, aber es gibt keinen Menschen dieser Welt, der nur selbstlos und gut
handelt, denkt und fühlt. Irgendetwas, sei es auch nur eine Kleinigkeit, schlummert in jedem tief
drinnen. Jeder hat seine Fehler, sonst wären wir keine Menschen, sondern Engel!
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