VL Becker „Bildung und Bildungsinstitutionen im Wandel“ HS 08 Zusammenfassung zu VL vom 22.09.08 Ch. Haller Zusammenfassung Kapitel 6: Die Grundstruktur soziologischer Erklärungen Das Besondere an der soziologischen Forschung ist, dass die zu erforschenden „Objekte“ selbst handlungsfähige Subjekte sind, die mit ihrem Handelns einen subjektiven Sinn verbinden. Das heisst: Die Arbeit des Soziologen hat immer eine interpretative Dimension. Er muss von den subjektiven Erwartungen und Bewertungen der Akteure ausgehen. Einteilung nach Alfred Schütz: Muster der subjektiven Vorstellungen der Akteure = Konstruktion erster Ordnung. Sie sind Ausgangsmaterial für jede soziologische Erklärung. Erklärende Modelle der Sozialwissenschaftler über den Ablauf und über Wirkungen des sozialen Handelns = Konstruktion zweiter Ordnung. Diese Modelle müssen die Konstruktion erster Ordnung als Beschreibungen der subjektiven Situation der Akteure enthalten. Boudon, Weber und Schütz betonen alle, dass die Konstruktionen zweiter Ordnung rational, logisch konsequent, widerspruchsfrei und erklärungskräftig sein können und müssen, auch wenn die Konstruktionen erster Ordnung der Akteure, auf denen sie beruhen, nicht – logisch sind. 6.1 Erklärungsgegenstände der Soziologie Soziale Gebilde als Einheiten der Erklärung: - Das Verhalten von Individuen im Aggregat: Das Verhalten einzelner, unverbundener Akteure. - Das Verhalten von Individuen als Mitglied eines sozialen Kontextes: Z.B. eine Organisation. Hier orientiert man sich an beobachteten Ähnlichkeiten des Verhaltens der Personen innerhalb eines solchen Kontextes und an Unterschieden des Verhaltens der Personen zwischen des Kontexten. - Das Verhalten von sozialen Gebilden Hier „handelt“ ein Kollektiv. (Z.B. Die Leipziger Montagsdemonstration „verhielt“ sich sehr eigenartig.) Soziale Gebilde werden eingeteilt in: Aggregate: Blosse Mengen von Individuen mit ähnlichen Eigenschaften, die sonst nichts miteinander zu tun haben. Märkte: Besondere Form von Aggregaten. Viele unverbundene Akteure haben zweiseitige und kurzfristige Beziehungen, woraus ein Gleichgewicht ihres Handelns im ganzen Aggregat zustande kommt. Kollektive Akteure: Aggregate, die so „ handeln“, „als ob“ sie ein gemeinsames Ziel hätten. (Bsp. Alle Autofahrer wehren sich gegen eine Erhöhung des Benzinpreises). Soziale Beziehungen: Handelnde, die wechselseitig aufeinander orientiert sind. (Bsp. Liebesbeziehungen, Streitende) Einfache Sozialsysteme: Zeitliche und räumlich begrenzte, persönliche Begegnungen Gruppen: Kollektive von Akteuren mit zum Teil gemeinsamen Interessen, mit gelegentlichem Kontakt. Ohne formelle Mitgliedschaft und Regeln Organisationen: Kollektive mit formell geregelter Mitgliedschaft, gemeinsamen Ziel, Verfassung (Bsp. Behörden, Betriebe, Vereine). 1 VL Becker „Bildung und Bildungsinstitutionen im Wandel“ HS 08 Zusammenfassung zu VL vom 22.09.08 Ch. Haller korporative Akteure: Juristische Personen, d.h. Organisationen mit einem eigenen Steuerungszentrum und einem Sprecher, der Interessen vertritt. Gesellschaften: Umfassen alle sozialen Gebilde. Selbstgenügsames soziales System. Soziale Prozesse - Entstehung - Reproduktion („Existenz“) - Wandel Definition: Prozesse sind Sequenzen des Ablaufs und der Wirkungen des sozialen Handelns. Soziologische Erklärungen sind letzlich IMMER Prozesserklärungen! Allgemeine Regelmässigkeiten = Wiederholt vorkommende Ereignisse und Prozesse. - Inhaltliche Gleichförmigkeiten - Formale Gemeinsamkeit - Systematische Zusammenhänge bzw. Differenzen Temporale Zusammenhänge und Differenzen = „diachrone Unterschiede“ (Bsp. Erklärung von bestimmten Trends) in Kovariation mit der Zeit. Strukturelle Zusammenhänge und Differenzen = Unterschiede „synchroner“ Art (Bsp. Unterschiede zwischen Europa und USA bezüglich des Sozialismus). Erklärung von Zusammenhängen und Differenzen = Erklärung von Theorien = Tiefenerklärungen = Reduktion. (Eine der wichtigsten Aufgaben in der Wissenschaft). Singuläre Ereignisse = Einmalige Ereignisse mit fixiertem Raum-Zeit Koordinaten. Es geht dabei immer auch um eine allgemeine Erklärung des Unikats. 6.2 Das Grundmodell der soziologischen Erklärung Vorgehen beim Erklären eines Explanandums Die Rekonstruktion der kollektiven Wirkungen Das Explanandum muss zuerst immer als eine aggregierte Wirkung des Handelns von Akteuren rekonstruiert werden. (Bsp. Die Scheidungsraten ergeben sich als eine Aggregation einzelner Scheidungen) Die Entwicklung des Mikromodells Erklärungen dafür suchen, unter welchen Bedingungen die Akteure die eine oder die andere Handlungsvariante wählen. Die Benennung der Randbedingungen Randbedingungen für die im Mikro-Modell genannten Gesetze aufzeigen. , d.h. in welchen typischen Situationen verhalten sich Akteure so oder so. 2 VL Becker „Bildung und Bildungsinstitutionen im Wandel“ HS 08 Zusammenfassung zu VL vom 22.09.08 Ch. Haller Die Drei Schritte einer soziologischen Erklärung 1. Schritt: Die Logik der Situation Hier wird eine Verbindung zwischen der Makro-Ebene der jeweiligen speziellen sozialen Situation und der Mikro-Ebene der Akteure hergestellt. Es wird festgelegt, welche Bedingungen in der Situation gegeben sind und welche Alternativen die Akteure haben. (Erwartungen und Bewertungen des Akteurs werden mit den Bedingungen und Alternativen verknüpft.) Diese Verbindung zwischen sozialer Situation und Akteur erfolgt über die sog. Brückenhypothese (Beschreiben Konstruktionen erster Ordnung). 2. Schritt: Die Logik der Selektion (Analytisch-nomologischer Kern des gesamten Modells): Die Logik der Selektion verbindet zwei Elemente auf der Mikro-Ebene: Die Akteure und das soziale Handeln. (Mikro-Mikro-Verbindung zwischen den Eigenschaften der Akteure in der Situation und der Selektion einer bestimmten Alternative) Hier wird das individuelle Handeln erklärt. (mithilfe der allgemeinen nomologischen Gesetzen nach denen die Akteure eine der Alternativen unter den gegebenen Bedingungen auswählen). Dies benötigt eine allgemeine Handlungstheorie. → Aufzeigen von kausalen Beziehungen. Eine gute Handlungstheorie ist allgemein, enthält subjektive Erwartungen und Bewertungen und gibt eine präzise Selektionsregel an. Beispiel für eine gute Handlungstheorie: Wert-Erwartungs-Theorie: Der Akteur wählt genau die Alternative bei der die Nutzerwartung maximiert wird. Nutzerwartung= U × p U=bestimmte Folgen des Handelns p= Erwartung, dass diese Konsequenz mit dem Handeln eintritt. 3. Schritt: Die Logik der Aggregation Ist die aggregierende Transformation der individuellen Effekte des Handelns der Akteure zu dem jeweiligen kollektiven Explanandum. Hier wird die Mikro-Makro-Verbindung des Modells zurück auf die Ebene der kollektiven Phänomene hergestellt. Es kommt zur Verknüpfung zwischen den individuellen Handlungen und den kollektiven Folgen. (Interessierendes Explanandum). Die aggregierenden Verknüpfungen werden auch Transformationsregeln genannt. Makro-Mikro-Makro-Erklärung: Logik der Situation (Makroebene) →Logik der Selektion (Mikroebene) →Logik der Aggregation (Makroebene) Das Grundmodell soziologischen Erklärung Soziale Situation Kollektives Explanandum (a) (c) (b) Akteur Handlung 3 VL Becker „Bildung und Bildungsinstitutionen im Wandel“ HS 08 Zusammenfassung zu VL vom 22.09.08 Ch. Haller 6.3 Soziale Prozesse und Mehr-Ebenen Erklärungen Die Erweiterung des Grundmodells soll einerseits eine horizontale Erweiterung der Sequenzierung des Modells zur Analyse sozialer Prozesse und andererseits eine vertikale Differenzierung von Mehr-EbenenModellen der Erklärung von sozialen Gebilden sein. Soziale Prozesse Die Sequenzierung beruht darauf, dass das in einem ersten Schritt erklärte Explanandum selbst zum Ausgangspunkt eines weiteren Erklärungsschrittes gemacht wird. Es ist dann Teil der Situation der Akteure zu einem späteren Zeitpunkt, von der aus das Handeln mit seinen Wirkungen erneut beginnen kann. So lassen sich ganze Sequenzen sozialer Prozesse beliebig weiter „nach vorne“ verlängern und erklären. Die Dynamisierung des Modells der soziologischen Erklärung ist ein Spezialfall der sog. Genetischen Erklärung. Dabei wird das zuvor erklärte Explanandum zur Randbedingung für den nächsten Schritt. Mit dem geeigneten Gesetz lässt sich daraus ein folgendes Explanandum ableiten. Dies bildet dann wieder einen Teil des Explanans für den darauf folgenden Schritt. Und so weiter. Im einfachsten Fall ist es eine genetische deterministische Sequenz eines Prozess-Systems, das der Eigendynamik einer endogenen Verkettung folgt. Das jeweils neue Stadium ist eine notwendige aber auch hinreichende Bedingung für das nächste Stadium. (Wie eine Maschine) Bei sozialen Prozessen gibt es aber praktisch immer externe, zufällige Randbedingungen, die andere Wege möglich machen. Diese Randbedingungen für einen Erklärungsschritt müssen immer genau erhoben und in die Logik des Ablaufs eingefügt werden. Typen sozialer Prozesse Es gibt unterschiedliche Typen von Sequenzen. Eine gänzlich offene Sequenz: Einfacher historischer Prozess, bei dem jedes Stadium von den Bedingungen des vorhergehenden Stadiums direkt, von der Vorgeschichte früherer Stadien indirekt abhängt (sowie von den zufälligen externen Einflüssen). Die Sequenz erzeugt immer wieder eine neue Situation. Der Prozess ist an keinerlei Vorgabe, Standard oder Selbstreferenz gebunden. Er läuft blind und richtungslos ab. - Spezialfall: Gerichtete Sequenz: Sieht vom Ergebnis her betrachtet wie eine zielgerichtete Entwicklung aus, ist es aber nicht. (Z.B. Prozesse der Evolution in der Biologie als auch in der „Entwicklung“ von Gesellschaften) Die spontane Selbstorganisation: ist ein Sonderfall einer evolutionären Sequenz der Entstehung eines sozialen Gebildes. Im Modell versteht sich dies als Sequenz, die nach einem wechselnden Beginn schliesslich immer wieder die gleiche Situation reproduziert: S(1) … S(2) … S(3) … S(3) … S(3) … . (Bsp. Das Entstehen von Konventionen und Ritualen). Reproduktion Die dauerhafte Existenz von sozialen Gebilden kann über Prozesse der Reproduktion erklärt werden. S(1) … S(1) … S(2) … S(3) … S(1) … S(1) … . Jede Selbstregulation ist also ein zirkulärer Prozess/ eine zirkuläre Sequenz. Die erklärende Analyse solcher Prozesse wird funktionale Analyse genannt. Es ist nachzuweisen, dass ein bestimmtes Element der Struktur des sozialen Gebildes eine wichtige Funktion bei den kausalen Prozessen hat, die das dauerhafte Überleben des Gebildes mit sich bringen. Wandel bzw. Zerfall Auch ein Wandel oder ein Zerfall von sozialen Gebilden ist über das Modell der sequentiellen Verkettung zu erklären. S(1) … S(1) … S(2) … S(3) … S(4) … S(0) … S(0) … . 4 VL Becker „Bildung und Bildungsinstitutionen im Wandel“ HS 08 Zusammenfassung zu VL vom 22.09.08 Ch. Haller Alle diese Prozesse sind endogen, wenn allein die innere Entwicklungslogik der genetischen Verkettung das Geschehen bestimmt. Die Prozesse sind aber meist auch exogen bedingt. Da diese grundsätzlich nicht voraussagbar sind, kann es keine verlässlichen Prognosen über längerfristige Prozesse geben. Historische Gesetzte gibt es deshalb prinzipiell nicht. Man kann jedoch Vermutungen anstellen. Dazu ist, unter anderem, die Soziologie auch da. Mehr-Ebenen-Modelle Die Erweiterung des Grundmodells auf ein Mehr-Ebenen-Modell durch eine vertikale Differenzierung, liegt der Tatsache zugrunde, dass Menschen (fast) nie isoliert, sondern immer in Interaktionssystemen, handeln. Typische Arten solcher Interaktionssysteme sind: Aggregate Soziale Beziehungen Gruppen oder Organisationen Komplette Gesellschaften Diese könnten im Prinzip als kollektive Phänomene über das einfache Grundmodell erklärt werden: Als aggregierte Folgen des situationsorientierten Handelns. Aber: Fast alle diese Gebilde sind in weitere soziale Kontexte und noch umfassendere Gebilde eingebettet. Die Existenz und das „Verhalten“ der sozialen Gebilde stellen damit eine besondere Zwischen-Ebene dar: Es gibt eine Meso-Ebene der soziologischen Analyse zwischen den übergreifenden Makro-Strukturen der Gesellschaft und den Mikro-Aktionen der individuellen Akteure. Die Annahme, dass sich soziale Gebilde nach eigenen und stabilen Regeln „verhalten“, wird auch heute noch von vielen Soziologen gemacht. Nur scheinbar gibt es auch ein konsistentes „Handeln“ des sozialen Gebildes. Akteure (Mikro-Ebene) handeln nach ganz einfachen Regeln, z.B. der Nutzenmaximierung. Soziale Gebilde „verhalten“ sich aber immer nur nach Massgabe der komplexen Aggregationen der individuellen Handlungen der Menschen von der Mikro-Ebene auf die Makro-Ebene der Zustände der sozialen Gebilde. Ein wichtiger Typ eines sozialen Gebildes sind die korporativen Akteure. Diese können - im Prinzip genauso handeln, „als ob“ sie selbst intelligente und konsistent handelnde Akteure wären. Sie können sogar zuhören und sprechen, weil sie durch natürliche Personen als Agenten repräsentiert werden (Bsp. Der Parteipräsident vertritt seine Partei). Auch das „Verhalten“ der korporativen Akteure ist immer nur ein Resultat der kollektiven Entscheidungen von natürlichen Personen. Daher ist es auch hier immer erforderlich, das „Handeln“ solcher korporativen Akteure als ein aggregiertes Resultat des kollektiven Handelns von natürlichen Personen zu erklären. Es gibt auch der Fall eines sozialen Gebildes in der nur ein Akteur das Sagen hat. (Bsp. Louis XIV: „L’État, c’est moi“). Bei den meisten konkreten soziologischen Analysen muss eine Meso-Ebene eingeführt werden. Die Gesellschaften und die anderen sozialen Gebilde der Menschen sind immer Prozesse und immer MehrEbenen-Angelegenheiten. Im Modell der soziologischen Erklärung kann dies formal problemlos berücksichtigt werden. Die Sequenzierung in offene, gerichtete oder zirkuläre Prozesse und die Differenzierung in verschiedene Zwischen-Ebenen ist jederzeit möglich, wenn dies für die Erklärung hilfreich erscheint. 5 VL Becker „Bildung und Bildungsinstitutionen im Wandel“ HS 08 Zusammenfassung zu VL vom 22.09.08 Ch. Haller 6