Gleichungslösen reloaded Karl Josef FUCHS, Alfred DOMINIK, Universität Salzburg 0. Prolog Vorab wollen wir als Autoren ein paar Worte über die Genese des provokanten Titels unseres Beitrags verlieren. Mit diesem Titel, bewusst im Jargon unserer Schülerinnen und Schüler gehalten, soll die Synthese aus traditionellem Stoff, hier dem Lösen linearer Gleichungen in zwei Variablen und Neuer Technologie, in unserem Fall der Einsatz von GeoGebra als Dynamische Geometriesoftware ([2], Didaktische Prinzipien, S. 16ff), benannt werden. Vorgestellt wird eine Unterrichtssequenz aus der Sekundarstufe II mit der, basierend auf der Software GeoGebra, grundlegende Konzepte der Analytischen Geometrie auf explorative Weise für Schülerinnen und Schüler sichtbar gemacht werden sollen. Bei der Planung und Durchführung des Unterrichts finden zudem die grundlegenden didaktischen Prinzipien eines gezielten Wechsels in der Repräsentation ([6], S. 2002, S. 87ff) sowie Fundamentale Ideen eines zeitgemäßen Geometrieunterrichts ([4], 2007, S. 61ff) Berücksichtigung. 1. Die Lösung eines linearen Gleichungssystems als Urbild einer linearen Abbildung Eine erste Betrachtung zur Behandlung von linearen Gleichungssystemen in zwei Variablen geht von der allgemeinen Schreibweise in der Analytischen Geometrie aus. Ein lineares Gleichungssystem im ℝ2 wird demnach in der Form 𝑎11 𝐴 ∙ 𝑋 = 𝑏 mit 𝐴 = (𝑎 𝑎12 𝑥 𝑏1 𝑋 = und 𝑏 = ), ( ) ( ) geschrieben werden. 𝑦 𝑏2 21 𝑎22 𝑥 𝑥+ 𝑦= 3 3 1 1 Das Gleichungssystem ist daher in ( ) ∙ (𝑦) = ( ) −𝑥 + 4𝑦 = 7 −1 4 7 umzuschreiben. Bevor wir uns aber an den Computer setzen, wollen wir unsere Aufgabe umformulieren und dabei den Begriff der Abbildung, eine universelle Idee der Geometrie ([1], S. 199), ‚ins Spiel bringen‘. Der Interpretation mittels Abbildung bedeutet also, dass wir das Bild eines 𝑥 3 Punktes (in unserem Beispiel 𝑃 = ( ) ) kennen und das Urbild 𝑋 = (𝑦) 7 suchen. Öffnen wir das GeoGebra – Arbeitsblatt und tragen wir nun die freien Objekte 𝐴1 = (1,1), 𝐴2 = (−1,4), 𝑏 = (3,7) ein. Mit 𝑋 starten wir z. B. bei (2,2) und beobachten die Werte sk1, sk2 der Produkte 𝐴1 ∙ 𝑋 bzw. 𝐴2 ∙ 𝑋. Stimmen sk1 und sk2 mit den Koordinaten von 𝑏 = (3,7) überein, so erhalten wir mit 𝑋 = (1,2) das Urbild von 𝑃. Abbildung 1: GeoGebra Arbeitsblatt 2. Basiskonzepte der Analytischen Geometrie werden sichtbar 2.1 Skalarprodukt und ‚Schatten‘ – Projektion als Fundamentale Idee Wir verwenden nun die bekannte Darstellung des Skalarproduktes der Vektoren a und b durch a b = | a | | b | cos( ) , um den Wert des Skalarproduktes als winkelabhängigen Flächeninhalt zu interpretieren. Bezeichnet den Winkel zwischen den Vektoren, so ergibt | b | cos( ) bekanntlich den Wert der Projektion des Vektors b auf den Vektor a . Abbildung 2: Skalarprodukt von 2 Vektoren Die Normalprojektion von b auf a ergibt die Länge der Projektion: Abbildung 3: Normalprojektion 2.2 Skalarprodukt als Flächeninhalt Indem wir den Vektor a um 90 Grad drehen und nur mehr seinen Betrag betrachten, können wir den Wert des Skalarprodukts als Flächeninhalt des Rechtecks mit den Seitenlängen „Projektion“ und | a | darstellen. Abbildung 4: Skalarprodukt als Flächeninhalt Zur besseren farblichen Unterscheidung wurden der Vektor a und sein Betrag in der Abbildung mit roter Farbe dargestellt. Um die Darstellung des Skalarproduktes als (winkelabhängigen) Flächeninhalt zur Lösung linearer Gleichungen benutzen zu können, wird im Weiteren der Vektor b als „xVektor“ bezeichnet. Die Gleichung x + y = 3 als erste Gleichung des im 1. Abschnitt formulierten Gleichungssystems wird nun so interpretiert, dass Werte für die x- und yKomponenten des xVektors gesucht werden, sodass sich der Wert 3 der rechten Seite der Gleichung als Flächeninhalt aus dem Produkt der Länge des 1 Koeffizientenvektors a und der Länge der Projektion des xVektors auf 2 den Koeffizientenvektor ergibt. Mit Hilfe von Schiebereglern für die Komponenten des xVektors kann nun ein möglicher xVektor „experimentell“ bestimmt werden. Abbildung 5: Lösen der Gleichung 𝑥 + 𝑦 = 3 als GeoGebra – Arbeitsblatt Auch andere Werte für den xVektor lassen sich einfach bestimmen: Abbildung 6: Lösen der Gleichung 𝑥 + 𝑦 = 3 als GeoGebra – Arbeitsblatt Es lässt sich also auf geometrische Weise die bekannte Tatsache argumentativ unterstützen, dass die Gleichung x + y = 3 unendlich viele „Lösungen“ für den x xVektor= erlaubt. y Ein Problem bei der Darstellung des Skalarproduktes als Flächeninhalt ergibt sich, wenn die „rechte“ Seite der linearen Gleichung einen negativen Wert „trägt“, beispielsweise bei x + y = -3. Wir empfehlen in diesem Fall die Multiplikation der Gleichung mit -1. Es ergibt sich –x – y = 3, der ursprüngliche 1 1 Koeffizientenvektor a ändert sich zu a . Das bedeutet, man 1 1 verwendet das Konzept des Gegenvektors zu einem gegebenen Vektor um den xVektor zu bestimmen. Nun kann wieder die oben beschriebene Strategie verwendet werden, den xVektor durch Benützen der Schieberegler so zu verändern, dass sich der Wert der rechten Seite der Gleichung als Maß für den Flächeninhalt ergibt. Interessant erscheint uns, dass der von uns als Koeffizientenvektor bezeichnete Vektor der Normalvektor der durch die lineare Gleichung angegebenen Geraden ist, somit erfolgt die Projektion nicht auf einen Richtungsvektor, sondern auf einen Normalvektor der Geraden. 2.3 Lösen eines linearen Gleichungssystems 𝑥+ 𝑦= 3 wird im GeoGebra - Arbeitsblatt nun −𝑥 + 4𝑦 = 7 1 1 durch Eingabe der Koeffizientenvektoren a1 und a2 und 1 4 x Bestimmen des xVektors = so gelöst, dass sich die rechten Seiten beider y Das Gleichungssystem Gleichungen als Flächeninhalte ergeben: Abbildung 7: Lösen eines linearen Gleichungssystems als GeoGebra – Arbeitsblatt Durch Benützung von Schiebereglern können bei diesem Arbeitsblatt sowohl die Koeffizienten als auch die Werte der Skalarprodukte eingegeben werden. Der Lösungsvektor wird automatisch generiert. Die Benützung der Algebraansicht von GeoGebra ist bei der Benützung des Arbeitsblattes nicht nötig und kann ausgeblendet werden. Abbildung 8: Lösen eines linearen Gleichungssystems mit als GeoGebra - Arbeitsblatt Das Arbeitsblatt erlaubt zudem die Visualisierung weiterer interessanter Gesetzmäßigkeiten. Exemplarisch sei hier die Tatsache erwähnt, dass sich bei Veränderung des ersten Skalarproduktes sk1 der Lösungsvektor auf einer Geraden normal zum Koeffizientenvektor a2 bewegt. Abbildung 9: Veränderung von sk1 bewegt den xVektor auf einer Geraden normal zum Vektor a2 2.4 ‚Keine Lösung‘ (parallele Geraden) bzw. ‚unendlich viele‘ Lösungen (idente Geraden) 𝑥+ 𝑦= 3 besitzt- wie algebraisch leicht 2𝑥 + 2𝑦 = 5 gezeigt werden kann- keine Lösung. Das Gleichungssystem Eine visuelle Darstellung unterstützt diese Tatsache: Abbildung 10: parallele Geraden Im Geogebra – Arbeitsblatt zum Skalarprodukt stellt sich das Ergebnis „keine Lösung“ in der Weise dar, dass der Lösungsvektor xVektor als „undefiniert“ ausgegeben wird. Abbildung 11:parallele Vektoren ergeben einen undefinierten Lösungsvektor Zum Studium der Lösungen identischer Geraden verwenden wir das GeoGebraArbeitsblatt aus Einheit 2.2. Das Gleichungssystem 𝑥+ 𝑦= 3 beschreibt zwei identische Geraden. 2𝑥 + 2𝑦 = 6 In unserer Betrachtungsweise handelt es sich um 2 Skalarprodukte mit unterschiedlichen Koeffizienten und Ergebnissen. Durch Verändern der Schieberegler bekommen wir mehrere Lösungen. Die Endpunkte der Lösungsvektoren liegen auf der Geraden 𝑥 + 𝑦 = 3. Abbildungen 12 -14 zeigen mögliche Lösungsvektoren für identische Geraden 1 Man kann zudem erkennen, dass die doppelte Länge des zu a1 parallelen 1 2 Koeffizientenvektors a2 einen verdoppelten Flächeninhalt ergibt. 2 3. Kurzer abschließender Epilog Genetisch wollen wir in unseren Unterrichtseinheiten als schülergerechtes Entwickeln mathematischer Konzepte verstehen. Die Sinnfrage nach dem ‚Wozu braucht man das?‘ wird in diesem Unterrichtskonzept nicht durch eine durchaus noch wünschenswerte Anbindung des Themas Gleichungslösen an einen Realitätsbezug geleistet, sondern durch innermathematisches Experimentieren und Argumentieren bei gleichzeitiger Vernetzung mathematischer Themengebiete, die von Schülerinnen und Schülern zu oft als disjunkt angesehen werden, eingelöst. Es ist dies eine Idee der Fachdidaktik, die keineswegs neu ist (siehe Analyse zur Mathematikdidaktik von Helge Lenne ([5],1969), die aber durch den Einzug neuer Technologien in den Mathematikunterricht methodisch sinnvoll genützt werden kann. Literatur [1] Bender, P. & Schreiber, A.: Operative Genese der Geometrie. Schriftenreihe Didaktik der Mathematik, Band 12, Wien, HPT und B. G. Teubner, Stuttgart, 1985 [2] Hohenwarter, M.: GeoGebra – didaktische Materialien und Anwendungen im Mathematikunterricht. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der Naturwissenschaftlichen Fakultät – Salzburg, 2006. [3] Kautschitsch, H.: Erfolgreiche Bilder durch Neue Medien. In: Kadunz, G. et al. (Hrsg.): Trends und Perspektiven. Wien: Verlag Hölder-Pichler-Tempsky, S. 191-196, 1994. [4] Krauthausen, G. & Scherer, P.: Einführung in die Mathematikdidaktik. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 3. Aufl., 2007. [5] Lenne, H. (1969): Analyse der Mathematikdidaktik in Deutschland. Stuttgart: Ernst Klett Verlag. [6] Wittmann, E. Chr.: Grundfragen des Mathematikunterrichts. Braunschweig / Wiesbaden: Vieweg verlag, 6. Aufl., 2002.