DER RAUM UM DIE AXT DER ANARCHISCHE FREIRAUM DES INDIVIDUUMS IM WERK VON MAX FRISCH In der ersten Skizze „Der Graf von Öderland” heißt es an der entscheidenden Stelle der Verwandlung des Oberrichters (später: Staatsanwalts) in den Grafen von Öderland von dem Fremden, dass er da „steht mit der Axt in der Hand, so, daß gewissermaßen ein Raum entsteht um diese Axt.” (2,42O).1 Auch Isidor, der Held einer jener ichspiegelnden Geschichten Stillers, findet seinen Freiraum vor der ewigen Fragerei seiner Frau in der Fremdenlegion (wenn er auch zu seinem „Glück” gezwungen werden muss); als er nach siebenjähriger Abwesenheit zurückkehrt, und seine Frau ihn sofort wieder mit der Frage belästigt: „wo bist du nur solange gewesen?” (3,395), nimmt er „den Revolver aus dem Gurt, gab drei Schüsse mitten in die weiche, bisher noch unberührte und mit Zuckerschaum verzierte Torte, was, wie man sich wohl vorstellen kann, eine erhebliche Schweinerei verursachte." (3,396). Stiller selbst, der am Tajo die Faschisten nicht erschossen hat, sich als Mann der republikanischen Freiheit nicht bewährt hat, muss nun solches hartes Sichwehren und ein solches Herstellen eines Freiraums zumindest in der Phantasie nachholen: so ermordet er den Haaröl-Gangster Schmitz mit dem Dolch, weil „dem in einem ordentlichen Rechtsstaat nicht beizukommen ist"(3.377); rettet die Mulattin aus dem brennenden Sägewerk, erschießt ihren Mann Joe, denn „ich vertrage keine verheirateten Männer, auch wenn es Neger sind. Immer mit Rücksicht, das liegt mir nicht."(3,404) Der wilde Westen, das exotische Mexiko dienen als Kulissen seiner phantasierten, abenteuerlichen Freiheit: der Traum von der Anarchie, als Machowelt im Stil von Karl May und Jerry Cotton. Symbol dieses durch 1 Zitiert nach: Max Frisch, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Werkausgabe edition suhrkamp. Frankfurt/Main 1976 vgl. Gerhard P. Knapp, „Angelpunkt Öderland. über die Bedeutung eines dramaturgischen Fehlschlags für das Bühnenwerk Frischs” .In: ders., Studien zum Werk Max Frischs. Bd. 2, Aspekte des Bühnenwerks, Bern 1979, S.223ff; Gody Suter, „Graf Öderland mit der Axt in der Hand", in: Thomas Beckermann (Hrsg.), Über Max Frisch, Frankfurt/Main 1976, S.113ff; Derrick Barlow, „’Ordnung’ and ‘das wirkliche Leben’ in the works of Max Frisch” .In: GLL 19 (1965/66), S52ff; Peter Horn, „Zu Max Frischs ‘Don Juan oder die Liebe zur Geometrie” .In: Manfred Jurgensen, Frisch. Kritik - Thesen - Analysen, Bern 1977, S.121ff. Eine eingehende Studie zu Max Frischs Anarchie-Konzept steht noch aus. keine Fessel zu bindenden Ausbruchs ist im Stiller und bei Öderland der Ausbruch des Vulkans. Öderlands Ziel ist der größte erloschene, prähistorische Vulkan Europas, die griechische Insel Santorin, wo er leben will „ohne Dämmerung, ohne Hoffnung auf ein andermal… hier sind unsere Götter geboren, die wirklichen, hier sind sie aus den Fluten gestiegen, Kinder der Freude, Kinder des Lichts.” (3.54). Und Stiller beschreibt den Vulkan Paricutin in Mexiko: Mitten aus der Finsternis von toten Schlacken, die der Mond bescheint, ohne ihre Schwärze tilgen zu können, schießt sie hervor wie hellichter Purpur, stoßweise wie das Blut aus einem schwarzen Stier. Sie muß sehr dünn und flüssig sein, diese Lava, fast blitzhaft schießt sie über den Berg hinunter, langsam an Helle verlierend, bis der nächste Ausguß kommt, Glut wie aus dem Hochofen, leuchtend wie die Sonne, die Nacht erleuchtend mit der tödlichen Hitze, der wir alles Leben verdanken, mit dem Innersten unseres Gestirns. Das müßten Sie sehen! In unserer Seele, ich erinnere mich sehr genau, erwacht ein Jubel, wie er sich bloß im Tanz entspannen könnte, im wildesten aller Tänze, ein Überschwang von Entsetzen und Entzücken, wie er die unbegreiflichen Menschen, die sich das warme Herz aus dem Leibe schnitten, erfaßt haben mag.(3,4OO) Das eben ist es, was die Anarchie der Helden von Max Frisch bezeichnet: Die Überfülle des Spontanen, Rücksichtslosen, die höchste Lust der Libido, die sich gegen die Widerstände der Erstarrung und der Ordnung gewaltsam ihren Weg bricht. Orgasmus, Potenz und Gewalt erweisen sich als verknüpfte Zeichen. Gewalt nämlich ist notwendig, so sieht es Öderland, „in dieser Welt der Papiere, in diesem Dschungel von Grenzen und Gesetzen, in diesem Irrenhaus der Ordnung” (3,55). An die Stelle der spontanen Freude ist in dieser kargen Welt Trotz und Tugend getreten: „Nichts ist Geschenk, alles bleibt Lohn. Und alles ist Pflicht. Und Überwindung ist das Höchste, was man sich denken kann… Überwindung und Verzicht.” (3.53). Die Einschränkungen, die die „Ordnung” der Kultur dem Menschen auferlegt, zu überwinden, scheint es zwei Wege zu geben: die Ausfahrt nach Hawai, wie sie Pelegrin in „Santa Cruz” versucht, die Rückkehr zu den „nackenden Völkern, die den Schnee überhaupt nicht kennen, auch keine Angst, auch keine Pflichten, keine Zinsen, keine schlechten Zähne." (2,19); das Santorin Öderlands, das Amerika Stillers, wo Ordnung nicht mehr sein muss. Für Öderland und Pelegrin sind es unter anderem das widrige europäische Klima, was ein wirkliches Leben verhindert: „Es wächst uns die Muße nicht an den Bäumen, die heitere, angstlose, freie, die der Anfang ist von allem, was Mensch heißt … Denn unser Sommer ist kurz, und wehe dem Menschen, der sich der Lust ergibt, wo sie nicht ausreicht, weil die Sonne nicht ausreicht.” (3.55). So weist auch Freud „als Ursache der menschlicheren Lebensweise” der tropischen Naturvölker auf das „Maß an Lebenserleichterung (hin), das der Großmut der Natur und der Bequemlichkeit in der Befriedigung der großen Bedürfnisse zu danken war.” Im Gegensatz zu diesem zumindest scheinbar einfachen, bedürfnisarmen, glücklichen Leben, habe der Europäer seine eigene Kultur als Quelle des Leidens erfahren: „Man fand, daß der Mensch neurotisch wird, weil er das Maß von Versagung nicht ertragen kann, das ihm die Gesellschaft im Dienste ihrer kulturellen Ideale auferlegt, und man schloß daraus, daß es eine Rückkehr zu den Glücksmöglichkeiten bedeutete, wenn diese Anforderungen aufgehoben oder sehr herabgesetzt würden.”2 (Freud weist allerdings daraufhin, dass sich diese Auffassung bei genauerer Beobachtung fast immer als falsch erweist.) Dieser Traum von exotischen Landen, wo der Mensch noch Mensch sein kann, mögen sie nun Indien, Nepal, Südseeinseln, Hawai, Afrika, Jamaika heißen, möge der Traum Zen, Yogi oder Rastafari genannt werden, blieb aber, möge er auch immer wieder enttäuscht werden, ein überdauernder Traum. Und so beschließt, - obwohl er es dann doch nicht fertigbringt - der Rittmeister nach einem langen Leben der Pflichttreue und der ehelichen Treue, dass auch „meine Sehnsucht reisen darf” - „da mir die Kürze unseres Daseins bewußt geworden ist."(2,42) Genau das fasst auch der Wahlspruch Öderlands zusammen: „Lang ist die Nacht, kurz ist das Leben, verflucht ist die Hoffnung, heilig der Tag, und es lebe ein jeder, wie er will, herrlich sind wir und frei.” (3,41). Freilich so leicht findet die Anarchie der Dropouts heute keinen realen Ort mehr. Früher, so meint Columbus in der „Chinesischen Mauer”: „Da gab es noch Inseln, die niemand betreten, Länder von keinem Menschen entdeckt, Küsten der Hoffnung”. Heute dagegen ist die Erde ein „Globus, ausgemessen ein für alle Mal, eine Kugel, die handlich auf dem Schreibtisch steht: ohne Räume der Hoffnung! Denn überall ist schon der Mensch, und alles, was wir fortan entdecken, es macht die Welt nicht größer, sondern kleiner...” (2,184). So bleiben denen, die aus der unbehaglichen Kultur aussteigen wollen, weil sie erkannt haben, daß Europa der Tod ist, nur noch die Kontinente der eigenen Seele, das Abenteuer der Wahrhaftigkeit"(2,184) oder die fiktive „Reise 2 Sigmund Freud, Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt/Main 1952, S.83 nach Peking", um der „grauen Asche der Erfahrung” zu entkommen (1,627). Auch Öderland wird schließlich nur mit dem Spielzeugschiff „Esperanza” mit den Segeln aus Pergament nach Santorin fahren. Der zweite Weg aber ist der der anarchischen Gewalt. Nun ist Gewalt kein notwendiger Teil des Anarchischen, im Gegenteil: Kant z.B. definiert völlig richtig Anarchie als „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt.”3 Die populäre Auffassung von Anarchie als Unordnung hat sich zwar bis heute erhalten, die anarchistische Theorie aber ebenfalls ein davon deutlich unterschiedenes Konzept bewahrt. So umschreibt Malatesta, der bedeutendste italienische Anarchist, Herrschaftslosigkeit oder Anarchie als Synonym für die natürliche Ordnung, für die Harmonie der Bedürfnisse und Interessen, für die vollständige Freiheit in voller Solidarität”.4 Wegen der populären Assoziationen hat man allerdings die Wahl des Wortes durch Proudhon einen monumentalen Irrtum genannt, der seit 130 Jahren zu den größten Mißverständnissen geführt habe.5 Allerdings gab es zwischen 1880 und 1900 eine Gruppe von Anarchisten, die durch ihr Verhalten dieses populäre Vorurteil schürten. So verfaßte Johann Most 1884/85 ein Handbuch mit dem Titel: „Revolutionäre Kriegswissenschaft. Ein Handbüchlein zur Anleitung betreffend Gebrauch und Herstellung von Nitroglyzerin, Dynamit, Schießbaumwolle, Knallquecksilber, Bomben, Brandsätzen, Giften usw.” .Die „Dynamiteurs” der Epoche nahmen diesen Gedanken der „Propaganda durch die Tat” auf; ihren Attentaten fielen 1894 der französische Staatsprädident Carnot, 1897 der spanische Ministerpräsident Canovas, 1898 die Kaiserin Elisabeth von Österreich, 1900 König Umberto von Italien und 1901 der amerikanische Präsident McKinley zum Opfer. Der QuasiAnarchist Ravachol, der 1891 eine Reihe sinnloser Morde und Bombenanschläge ausführte, und Emile Henry, der 1894 ein vollbesetztes Pariser Café in die Luft sprengte, waren in aller Munde.6 Johann Most verteidigte das Attentat auf den Zaren Alexander II. als gerechte Hinrichtung des scheußlichsten Tyrannen Europas und als einen „erfolgreichen Angriff auf die Autorität als solche.” Von nun an zittern die Herrschenden „von Konstantinopel bis nach Washington um ihre längst verwirkten Köpfe.” 7 Es ist, nach Auffassung des Staatsanwalts die Ordnung 3 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798, Leipzig 1922, S.287. 4 Erwin Oberländer (Hrsg.), Der Anarchismus, Olten und Freiburg 1972, S.12 5 Oberländer, [Anm. 4], S.12 6 Oberländer, [Anm. 4], S.227 7 Oberländer, [Anm. 4], S.294 selbst, die die Gewalt der Anarchisten herausfordert: „Wenn sie nicht lebbar sind, eure Gesetze, sondern tödlich, wenn sie es sind, die uns krank machen?” ((3, 54). Diese Ordnung der polizierten Gesellschaft, gegen die sich schon Werther auflehnte, steht dem, was der Mensch will, selbst mit institutioneller Gewalt gegenüber: „Und immer, wenn man gehen will, immer ist eine Art von Gendarm da, der wissen muß, wohin und woher, und überall gibt es Stäbe … Stäbe, Schranken, Gitter, Stäbe … Wie die Stämme im Wald, die man fällen möchte, wenn man eine Axt hätte.” (2,27). Und Don Juan zwingen die Verwandten Donna Annas den Degen in die Hand, als sie dem „Verführer” ihrer Tochter, der nun nicht mehr heiraten will, das Gesetz der Konvention aufzwingen wollen. Die Gesellschaft in der Form von Don Gonzalo steht da und sagt: „Nur über meine Leiche.” (3,27). Also geht Don Juan über seine Leiche. Es gilt, kurz gesagt, jenes Messer der Kastration, die Axt, den Degen, den die konstituierte Gesellschaft gegen den Einzelnen anzuwenden droht, wenn er sich den Diktaten des kulturellen Über-Ichs zu fügen nicht bereit ist, gegen jene zu wenden, die das Ich bedrohen. Fallen muß dabei jenes Schuldgefühl, das aus der Unterdrückung der Libido selbst entsteht, oder wie Freud es formuliert: „daß die Verhinderung der erotischen Befriedigung ein Stück Aggressionsneigung gegen die Person hervorruft, welche die Befriedigung stört und daß diese Aggression selbst wieder unterdrückt werden muß. Dann aber ist es doch nur die Aggression, die sich in Schuldgefühl umwandelt...”8 Wir brauchen also zur Erklärung der aggressiven Komponente mancher Formen des Anarchismus gar nicht auf Freuds Konstruktion eines „Destruktions- oder Todestriebes” zurückgreifen; in dem eben zitierten Satz zeigt sich die Aggression und Gewalt ja bereits als Libidoenergie, die notwendig ist, die Libido gegen die Hindernisse der Gesellschaft zu befriedigen: Die Bomben richten sich gegen die von der Gesellschaft gesetzten Grenzen; der Todestrieb aber ist nichts anderes als die gegen die eigene Person gerichtete Aggression. Anarchie wäre so der Versuch, das Schuldgefühl, das das gesellschaftliche Über-Ich dem einzelnen einzuimpfen versucht, zu überwinden, und damit jener Aggression freien Lauf zu lassen, die zur Befriedigung der Libido notwendig ist. In dieser Weise von der verinnerlichten Autorität befreit, empfindet sich das Individuum als eine Naturgewalt, keinem moralischen Zwang mehr unterworfen: „Ich bekenne", sagt Don Juan, „ich komme mir wie ein Erdbeben vor oder wie ein Blitz” (3,138). So kommt Don Juan schließlich auch zu der totalen Absage an jede 8 Freud, [Anm. 2], S.122 Art von Autorität, formuliert als Absage an den „Himmel” oder „himmlischen Vater”: den und hofft nicht, daß ich weine. Und tretet mir nicht in den Weg. Jetzt fürchte ich nichts mehr. Wir wollen sehen, wer von uns beiden, der Himmel oder ich den andern zum Gespött macht! (3,139) In seiner Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Bischof von Cordoba, Don Balthasar Lopez, kann sich Don Juan darauf berufen, daß seine Auflehnung gegen die Autorität bisher geglückt ist: Jetzt sind es zwölf Jahre schon, Eminenz, seit dieses Denkmal steht mit dem peinlichen Spruch: DER HIMMEL ZERSCHMETTERE DEN FREVLER, und ich, Don Juan Tenorio, spaziere dran vorbei, sooft ich in Sevilla bin, unzerschmettert wie irgendeiner in Sevilla. (3,147) Don Juans Freiheit heißt: Es gibt kein Gericht” (2,147f). Ähnlich wundert sich Öderland, „ob es wirklich nichts gibt, was mich zum Stehen bringt. Ich höre das Ächzen in den Bäumen und komme mir vor wie der Wind."(3,67) Er beschreibt sich selbst: Ich war dein Graf - ich, der keine Fessel kennt, und niemand kann mich halten, Graf Öderland mit der Axt in der Hand, und wenn sie meinen Namen hören, verstummen sie mit offenem Mund, es gefriert ihnen das Blut in den Adern: Ich gehe durch ihre Mauern, als wären sie aus Nebel, und wo ich hinkomme, da stürzt ihre Ordnung zusammen wie ein Kartenhaus - und ich bin frei… frei… (3,85) Es ist die Frage, ob das „Glück” sei, ob das die „Freiheit” sei, was ein beständiger Bestandteil infantiler Wunschträume ist: alle Widerstände gegen das Glück fast widerstandslos zu durchschneiden - mit dem Messer, mit der Axt, mit dem Degen - allen Widerspruch einfach fallen zu sehen, fast ohne eigenes Zutun; die Übersteigerung der eigenen Macht und Potenz ins Ungeheuerliche, bis dahin, wo Widerstand gegen diese Macht undenkbar wird. Sowohl der Schluß von „Don Juan", „Graf Öderland", „Die große Wut des Philipp Hotz", „Santa Cruz” als auch die ironische Behandlung der Phantasien von Stiller lassen das bezweifeln. Bevor diese Zweifel aber formuliert werden können, müssen zwei andere Fragen beantwortet werden: 1. Was genau ruft jenes Unbehagen hervor, gegen das der von Frisch dargestellte Anarchismus sich wendet? 2. Welcher der vielen Spielarten des Anarchismus ähnelt die „Öderländerei", der von Frisch dargestellte Ausbruch aus dem Gesellschaftlichen, die Flucht in Phantasiewelten und die gegen das Gesellschaftliche angewandte Gewalt? „Die Menschen streben nach Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben. Dieses Streben hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel, es will einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, andererseits das Erleben starker Lustgefühle.”9 Freud nennt das das „Lustprinzip". Allerdings, so Freud weiter, „alle Einrichtungen des Alls widerstreben dem Lustprinzip”.10 Von drei Seiten her wird jenes Glück gefährdet: „vom eigenen Körper her, der zu Verfall und Auflösung bestimmt ist, sogar Schmerz und Angst als Warnsignale nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit mächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und endlich aus der Beziehung zu anderen Menschen. Das Leiden, das aus dieser Quelle stammt, empfinden wir vielleicht schmerzlicher als jedes andere; wir sind geneigt, es als eine gewissermaßen überflüssige Zutat anzusehen, obwohl es nicht weniger schicksalsmäßig unabwendbar sein dürfte als das Leiden anderer Herkunft”.11 Dieser letzte Satz Freuds dürfte bei all denen auf Widerspruch stoßen, die sich als Liberale, Antiautoritäre, Sozialisten und Kommunisten verstehen, und Freud selbst muß zugestehen: „Nicht alle Kulturen gehen darin (in der Einschränkung des Sexuallebens) gleich weit; die wirtschaftliche Struktur beeinflußt auch das Maß der restlichen Sexualfreiheit.”12 Obwohl nun (vor allem auch bei den Spätwerken) bei Max Frisch das Thema des Todes und der Krankheit, seltener das Ausgeliefertsein des Menschen an die physischen Kräfte der Natur eine Rolle spielen (wobei auch diese nicht immer einfach als Schicksal hingenommen werden), ist es doch vor allem die Einschränkung des Individuums durch die formierte Gesellschaft, die schon früh auf den Widerspruch von Max Frisch stieß, der dann im „Öderland", im „Don Juan", im „Philipp Hotz” und anderen Werken als anarchischer Widerstand gezeichnet wird. In „Bin oder Die Reise nach Peking” gibt es einen Menschen, der „erzählt nicht, wo er rühmlich, sondern wo er glücklich gewesen ist. Und Glücklichsein, das gilt ja nicht als Leistung, die uns Ehre einträgt” (I/632). Es geht um ein „Glück der morgendlichen Frühe, 9 10 11 12 Freud, [Anm. 2], S. 74 Freud, [Anm. 2], S.75 Freud, [Anm. 2], S.75 Freud, [Anm. 2], S.96 Erinnerung an ein götterhaftes oder kindliches Jungsein” (1,61O). Wer oder was verhindert nun dieses Glück. Max Frisch ist da sehr vage: Geld: das Gespenstische, daß sich alle damit abfinden, obschon es ein Spuk ist, unwirklicher als alles, was wir dafür opfern. Dabei spürt fast jeder, daß das Ganze, was wir aus unseren Tagen machen, eine ungeheuerliche Schildbürgerei ist; zwei Drittel aller Arbeiten, die wir während eines menschlichen Daseins verrichten, sind überflüssig, also lächerlich, insofern sie auch noch mit einer ernsten Miene vollbracht werden. Es ist Arbeit, die sich um sich selbst dreht. Man kann das auch Verwaltung nennen, wenn man es sachlich nimmt, oder Arbeit als Tugend, wenn man es moralisch nimmt. Tugend als Ersatz für die Freude. Der andere Ersatz, da die Tugend selten ausreicht, ist das Vergnügen, das ebenfalls eine Industrie ist, ebenfalls in den Kreislauf gehört."(2,406, TB1) Das ist natürlich eine Analyse, die nur einige Oberflächenelemente der kapitalistischen Gesellschaft aufdeckt, den Zwang des Individuums, in diesen „sinnlosen” Kreislauf einzutreten, aber in keiner Weise erklärt. Auch das folgende Argument dürfte einem Arbeiter völlig unverständlich sein, der arbeitet, weil er seine Arbeitskraft verkaufen muß, um überleben zu können, und der die „Mehrarbeit” keineswegs freiwillig sondern unter der Drohung des Verhungernmüssens verrichtet: „Das Ganze mit dem Zweck, der Lebensangst beizukommen durch pausenlose Beschäftigung.” (2,406). Frisch bewegt sich hier auf einer Argumentationslinie, die der Pascals sehr ähnlich ist, der ebenfalls Arbeit und Vergnügen als ein Weglaufen vor den eigentlichen, nämlich den religiösen Fragen sah. Nur durch die säkularisierte Form unterscheidet sich Frischs Argument von diesem Mißverständnis der bürgerlichen Leistungsgesellschaft. Ebenso unzulänglich ist daher sein Ausweg, der in sich bereits den Keim von „Santa Cruz", „Öderland” und „Don Juan” enthält: die folgende Überlegung steht wohl nicht zufällig unmittelbar vor der ersten Skizze des „Graf Öderland”. Max Frisch fragt sich, warum wir aus diesem „sinnlosen Kreislauf” nicht einfach ausbrechen: Es genügte, wenn man den Mut hätte, jede Art von Hoffnung abzuwerfen, die nur Aufschub bedeutet, Ausrede gegenüber jeder Gegenwart, die verfängliche Hoffnung auf den Feierabend und das Wochenende, die lebenslängliche Hoffnung auf das nächste Mal, auf das Jenseits - es genügte, den Hunderttausend versklavter Seelen, die jetzt an ihren Pültchen hocken, diese Art von Hoffnung auszublasen: groß wäre das Entsetzen und wirklich die Verwandlung. (2,2) Richtig an diesem Argument ist, daß die Vertröstungen der Religion - und auch die Freizeitreligion von Quelle und Neckermann ist eine solche Religion - den Menschen geneigter machen, jede Art von Ausbeutung, Sklaverei, Leibeigenschaft und Unterwerfung zu ertragen. Der Ungetröstete ist der Wahnsinnnige, der Selbstmörder oder der Anarchist mit Dolch, Schwert, Bombe und Axt. Die andere, und gewichtigere Komponente aber ist die „Notwendigkeit", die „Einsicht", ohne die Zwangsarbeit ginge es nicht: „Wir wissen schon", meint Freud, „daß die Kultur dabei dem Zwang der ökonomischen Notwendigkeit folgt, da sie der Sexualität einen großen Betrag der psychischen Energie entziehen muß, die sie selbst verbraucht.”13 Ein individualistischer Anarchismus glaubt von dieser Notwendigkeit absehen zu können; ein deterministischer Ökonomismus dagegen macht diese „Notwendigkeit” zum Fetisch, oder wie Freud zum „Realitätsprinzip", an das das Ich sich anzugleichen habe. Beide laufen auf eine ständige Oszillation zwischen Revolte und Assimilation hinaus. Denn da das „Realitätsprinzip” ökonomische „Notwendigkeit” auch dort sieht, wo er bereits gesellschaftlich gesehen nicht mehr nötig wäre, kann eine solche Psychologie auf nichts anderes hinauslaufen als auf eine Anpassung ans System. Nicht daß Freud das gar nicht gesehen hätte: Dabei benimmt sich die Kultur gegen die Sexualität wie ein Volksstamm oder eine Schicht der Bevölkerung, die eine andere unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand der der Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln. Einen Höhepunkt solcher Entwicklung zeigt unsere westeuropäische Kultur.”14 Man bräuchte bloß das „wie” wegzulassen und die Hypostase „Kultur” und „Sexualität” aufzulösen, dann wäre das eine beachtliche Einsicht. Freud selbst liefert auch die Argumente für die periodisch notwendige Revolte: „Nur Schwächlinge haben sich einem so weitgehenden Einbruch in ihre Sexualfreiheit gefügt.”15 Er sieht auch die katastrophalen Folgen einer solchen Beeinträchtigung: „Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer geschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung 13 14 15 Freud, [Anm. 2], S.97 Freud, [Anm. 2], S.97 Freud, [Anm. 2], S.97 befindlichen Funktion”16 Aber da eben diese „Notwendigkeit", diese „Realität” nicht näher untersucht wird, da ihre Betrachtung nicht zwischen gesellschaftlich notwendiger Arbeit (einschließlich des gesellschaftlich notwendigen Mehrwerts) und sinnloser, nur dem Profit dienender Arbeit unterschieden wird, kann von einer solchen Position her (ob sie nun wie Freud die Anarchie einfach für falsch hält oder wie Frisch sie grundsätzlich bejaht), die Unterdrückung immer nur in zielloser Revolte, die Revolte immer nur in fragloser Unterwerfung unter die „Realität” enden. Der Ausbruch bleibt ein Kreislauf: der Rebell Pelegrin braucht die Zuhausegebliebenen, die Arbeitenden, die Ordentlichen ebenso wie diese von Pelegrin immer träumen müssen. Und am Ende bekommt Dorli ihren Philipp Hotz wieder, weil er für die Fremdenlegion zu „kurzsichtig” war: es ist auch wirklich nichts für ihn, was sollte der Intellektuelle in einer Welt staubiger Legionäre und aufgepflanzter Bajonette, in der man einen Gewehrkolben in den Rücken geschlagen kriegt, wenn man nicht marschiert. (IV,453). Don Juan endet in der Ehe mit Miranda, gezähmt und zu den Ausschweifungen der Geometrie nicht mehr tauglich. Es ist sogar als wollte Max Frisch eben die Freiheit, die Don Juan anstrebt, die Freiheit von der Frau und der Gesellschaft, die Freiheit der Geometrie, als unerreichbares Ziel hinstellen; denn während er der Ehe mit Anna und Miranda entflieht, fand er keine Ruhe zur Geometrie, nun da er im sanften Gefängnis der Ehe schmachtet, fehlt ihm die Kühnheit der Kreativität und er reibt sich im Alltäglichen auf. So notwendig der Ausbruch aus den Fesseln des Konventionellen ist, so sehr die Freiheit selbst ein absolutes Gut ist, sie scheitert an der größeren Notwendigkeit zu leben: „Ich habe nur die Wahl, tot zu sein oder hier".(3,164). Vor genau derselben Wahl steht am Ende Graf Öderland: „Sind Sie bereit, Herr Doktor, als Mörder hingerichtet zu werden, oder ziehen Sie es vor, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen, die Regierung zu bilden?” (3, 88). Der Kreislauf ist beendet: am Anfang verbrannte der Staatsanwalt die Akten und Ordner, die für ihn die Arbeit in der bestehenden Ordnung bedeuteten; dann sah ihn der Hellseher Mario hinter schwarzen Ordnern mit weißen Etiketten: „überall sehe ich schwarze Ordner mit weißen Etiketten, überall, und dahinter: - Angst … Angst, Rauch, Blut … Ich sage es in jeder Vorstellung, die Leute werden blaß, aber zum Schluß klatschen sie.” (3,37). Am Ende ist die Residenz bereit, die Eingliederung des Anarchischen in die bestehende Ordnung vollzogen, und der Präsident formuliert das Bonmot: „Wer, um frei zu sein, die Macht 16 Freud, [Anm. 2], S.98 stürzt, übernimmt das Gegenteil der Freiheit, die Macht, und ich verstehe ihren persönlichen Schrecken vollauf.” (3,89) Diese Art der Darstellung, die Macht als nicht abschaffbar ansieht und Freiheit als Forderung zwar anerkennt, die Forderung aber für unerfüllbar hält, es sei denn eben als Ausbruch, der notwendig in sein Gegenteil zurückkehren muß, gibt uns bereits einen Hinweis auf die besondere Spielart des Anarchismus, die als vortheoretisch bleibende gedankliche Struktur Max Frischs fiktionale Welt strukturiert: nennen wir ihn einen extrem individualistischen Anarchismus, der, indem er die sozialen Komponenten des historischen Anarchismus in Frage stellt, eine wirkliche Veränderung der gesellschaftlichen Totalität nach den Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr für möglich hält, sich auf jene abstrakte Revolte des Nichts zurückzieht, deren Wurzeln im frühen neunzehnten Jahrhundert liegen, gleichzeitig aber die „Unhaltbarkeit” dieser Revolte erkennt, und daher neben ihrer Berechtigung immer auch ihr tragisches Scheitern darstellen muß. Denn hinter dem Genre der Farce und der Komödie versteckt sich jenes schrecklichere Scheitern, dem die Tragödie nicht gewachsen ist. Das führt bei Frisch dazu, Sinn, Seiendes und menschliche Existenz überhaupt zu verneinen, ihre Sinnlosigkeit in der Leere des Alls zu erkennen: „ganze Milchstraßen ohne eine Spur von Hirn.”17 Der Keim des Öderlanddramas ist ohne Zweifel jener Abschnitt im ersten Tagebuch, mit „Aus der Zeitung” überschrieben, der von einem Kassierer berichtet, der nachts auf dem Weg zur Toilette mit der Axt „seine gesamte Familie, inbegriffen Großeltern und Enkel” erschlägt: „einen Grund für seine ungeheuerliche Tat, heißt es, könne der Täter nicht angeben.” Und Max Frisch notiert sich dazu: „Unser Bedürfnis nach dem Grund: als Versicherung, daß eine solche Verwirrung, die das Unversicherte des menschlichen Lebens offenbart, unsereinen niemals heimsuchen kann”. (2,4O3f). Die reine Destruktion, der es gleichgültig geworden ist, was sie zerstört, die auch keine Gründe mehr hat, es seien denn die allerallgemeinsten: das Bestehende als Ganzes. Nicht einmal Lust vermag diese Destruktion mehr zu verleihen: sie ist selbst ebenso absurd wie das, was sie zerstört, kann auch durch die Zerstörung von Bestehendem ihre eigene Zerstörung nicht mehr wettmachen. Der Mord ist ebenso sinnlos wie die Entlassung des Mörders aus dem Gefängnis, seine Wiederfestnahme und sein Tod auf der „Flucht". Von diesem crime gratuit, diesem völlig 17 Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1981, S.88 ( = suhrkamp taschenbuch 734) willkürlichen und sinnlosem Mord, der eine ungezielte Revolte gegen alles und nichts ausdrückt, ist Öderlands und Don Juans Revolte nur abgeleitet: im Vergleich zu dieser „reinen” Destruktion ist Öderlands Anarchismus bereits theoretisch höchst bewußt, fähig die Revolte zu artikulieren, hat Don Juans erster Mord noch ein „sinnvolles” Motiv. Beide „begreifen” sich als „eingesperrt” in eine sinnlose Ordnung, gegen die sie sich mit der Axt und mit dem Schwert wehren. Eine Karikatur des revolutionären Anarchismus des späten neunzehnten Jahrhunderts zeichnet Frisch in Biedermann und die Brandstifter in den Charakteren Schmitz, Eisenring und dem intellektuellen Theoretiker Dr. phil., der allerdings nur zu Worte kommt, um sich am Ende von den andern beiden zu distanzieren: „Die machen es aus purer Lust.” (IV,388). Obwohl Biedermann, augenscheinlich der kapitalistischen Klasse zugehörig (er ist Millionär (IV,399)), die beiden Brandstifter als Vertreter der untersten Klassen bezeichnet werden, geht es in diesem Stück ohne Zweifel nicht um einen Klassenkampf; der wird zwar angesprochen, wenn Eisenring die Tatsache, daß in Biedermanns Welt so selten einer „geschnappt” wird, auf den „Klassenunterschied” (IV,364) zurückführt; dem Dr. phil. werfen die beiden dann aber vor, er sei bloß so ein „Weltverbesserer!" und er sei immer „so ideologisch, immer so ernst, bis es reicht zum Verrat” (IV,368). Zwar werden allgemein und vage die Rahmenbedingungen des Kapitalismus als Keimgrund der Anarchie angesprochen - Schmitz und Eisenring sind (wie das Nachspiel ja deutlich macht) aber eher Gestalten eines satanischen Anarchismus, der eine „sinnlose” Freude hat „an Feuersbrünsten, an Funken und prasselnden Flammen, an Sirenen, die immer zu spät sind, an Hundegebell und Rauch und Menschengeschrei - und Asche”; eine mephistophelische Haltung, die alles was existiert, als wert für den Untergang sieht. Die Ähnlichkeit mit etwa Bakunins Anarchismus bleibt auf das Oberflächlichste beschränkt. Zwar sieht auch Bakunin als Mittel der Revolution die „organisierte Entfesselung dessen, was man heute die schlechten Leidenschaften nennt und in der Zerstörung des in derselben Bourgeoissprache öffentliche Ordnung genannten.” Aber er ruft die Anarchie aus als „Manifestation des Lebens und der Aspiration des Volkes, aus der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, die neue Ordnung und die Kraft der Revolution selbst hervorgehen sollen.”18 Die Feindschaft gegen alles, „was autoritäres System, Prätention auf offizielle Leitung des Volkes ist”19 teilt Frisch mit 18 Michail Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften, Hrsg. von Horst Stucke, Ullstein 1972, S.73 19 Bakunin, [Anm. 18], S.72 Bakunin z.B. im „Öderland", die Hoffnung und das „Vertrauen in die Instinkte der Volksmassen”20 kaum. Es bleiben in jedem Fall einzelne, die bei Frisch anarchisch handeln, auch wenn Öderland schließlich unter dem Zeichen der Axt Tausende anführt: die Köhler, die ihm vertrauten, läßt er am Ende der 5. Szene mittellos und obdachlos zurück, Inge, die ihm von Anfang an folgte, läßt er ausrichten, es sei jetzt „keine Zeit, um krank zu sein” (3,63); er allein tritt aus der Kloake ans Licht und übernimmt schließlich die Macht. Statt zur Macht des Volkes, der Abschaffung jeder Autorität kommt es bei Frisch nur zum Ersatz einer Autorität durch eine andere, und zwar nicht wegen einer verhängnisvollen Anlage des Staatsanwalts, einer bloß persönlichen Schwäche, sondern notwendigerweise: der Rebellierende kann schließlich nur überleben, wenn er die Macht an sich reißt: „Man läßt mir keine Wahl. Ich habe keinen andern Ausweg mehr, Kind, als die Macht zu ergreifen.” (3,66). Bakunin dagegen besteht darauf: „die Revolution, wie wir sie verstehen, muß vom ersten Tag an den Staat und alle Staatseinrichtungen radikal und vollständig zerstören.”21 Das bedeutet aber nicht, daß der „Graf Öderland” überhaupt keine Bezugspunkte zum Anarchismus hat. Bakunin selbst analysiert als eine der Formen des vortheoretischen, volkstümlichen Anarchismus das Räuberwesen in Rußland, das mit der Handlungsweise Öderlands und der im Volke lebenden Öderland-Legende einige Ähnlichkeit hat: „Der Räuber ist ein Held, ein Verteidiger, ein Retter des Volkes. Er ist der unversöhnbare Feind des Staates und der ganzen vom Staate errichteten sozialen und bürgerlichen Ordnung; er ist ein Kämpfer auf Leben und Tod gegen die ganze Zivilisation der adeligen Tschinowniks und Regierungspopen.”22 Die Sympathie, die Öderland und selbst den Lumpenproletariern Schmitz und Eisenring gegen die Staatsmaschinerie und gegen den bürgerlichen Kapitalisten entgegengebracht wird, beruht darauf, daß solche Räubergestalten Revolutionäre im Sinne des Volkes sind, „ohne Phrasen, ohne Bücherrhetorik, ein unversöhnbarer, unermüdlicher und unbezähmbarer Revolutionär der Tat, ein volkstümlich sozialer, aber kein politischer und zu keinem Stande gehöriger Revolutionär”.23 Man hat in der Sekundärliteratur Verbindungen von der Öderländerei zu dem „Anarchismus” der französischen Revolte im Mai 1968, zur APO und zur Stadtguerilla geschlagen; es könnte sich da natürlich höchstens um eine Vorwegnahme Frischs handeln, der zukunftsträchtige Komponenten des 20 21 22 23 Bakunin, [Anm. 18], S.72 Bakunin, [Anm. 18], S.87 Bakunin, [Anm. 18], S.98 Bakunin, [Anm. 18], S.99 Zeitgeists gewisssermaßen vor dem Ereignis formuliert. Nach den Revolten 1968 hat sich Frisch bezeichnenderweise zu diesem Thema nicht mehr geäußert, so als wäre er von den Ereignissen nicht nur überholt, sondern auch gleichzeitig korrigiert worden. Natürlich gab es auch da individualanarchistische Komponenten, Zerstörungslust als existentielle Geste gegen die Übermacht des Staates. Diese Komponente des APO-Anarchismus formuliert z.B. „Bommie” Baumann in seinem Bericht „Wie alles anfing”:24 Die Macht der Ohnmächtigen kriegt doch gerade in ihren spontanen Aktionen ihren klaren Ausdruck, aber das ist wirklich eine Sache, die ist wirklich rein individuell. So ist ja auch der Individualterror der alten Anarchisten zu erklären.25 „Bommie” Baumann besteht zwar darauf, daß diese Entwicklung innerhalb einer „Massengeschichte” stattfindet, „ganz konkret in einer Straßenschlacht. Da bildest du die Propaganda der Tat, indem du irgendwo in einer Reihe stehst und Steine gegen die Knülche wirfst", 26 das Entscheidende für ihn ist aber: Die Revolution machst du ja auch für dich selber, die muß alle Spektren enthalten, damit du dich darin entfalten kannst und irgendwie in die richtige Bahn kommst, damit dich nicht wieder kleinbürgerliche Geschichten zurückwerfen, je radikaler du rausbrichst, um so besser eigentlich. Die herkömmlichen Mechanismen, die auf die einwirken, sind viel stärker, als wenn du für dich selber eine extreme Ausnahmesituation schaffst durch irgend’ne Handlung, irgend’ne Tat, mit der kommst du dann doch besser klar, weil du an irgendeiner Stelle das Handeln bestimmst. Da wird nicht mit dir gemacht, sondern du hast noch Einfluß darauf.27 Auch „Bommie” Baumann beruft sich übrigens über Mao auf die Räuberbande als Urform anarchistischer Lebensweise: „Die theoretische Grundlage war Mao ‘über die Mentalität umherschweifender Rebellenhaufen’" .28 24 25 26 27 28 „Bommie” Baumann, Wie alles anfing, 2. Auflage, o.O., o.J. Baumann, [Anm. 24], S.32 Baumann, [Anm. 24], S.32 Baumann, [Anm. 24], S.32 Baumann, [Anm. 24], S.55 Trotz solcher oberflächlichen Anklänge an die Tradition des politischen Anarchismus von Proudhon, Bakunin, Kropotkin bis zu den „Haschrebellen” und der „RAF", sollte man Max Frisch wohl eher in der Nähe einer anderen Form des Anarchismus sehen, einer Variante, die das PolitischGesellschaftliche fast völlig vernachlässigt und fast ausschließlich am vereinzelten Ich interessiert ist. Stammvater dieses in Intellektuellenkreisen weit verbreiteten individualistischen Anarchismus ist ohne Zweifel Max Stirner mit seinem folgenreichen Buch Der Einzige und sein Eigentum, das etwa seit Anfang diese Jahrhunderts neben Nietzsches Werk wohl den weitreichendsten Einfluß auf die rebellierende bürgerliche Intelligentsia gehabt hat. Nun ist die Freiheit des Individuums ein zentrales Thema jeder Form des Anarchismus. Dies gilt auch, wenn Anarchisten sich Attribute wie kommunistisch, kollektivistisch oder syndikalistisch zulegen. Neben Anselm Bellegarrigues Anarchistischem Manifest ist Stirners Buch aber wohl Ausdruck jener entschiedendsten Form des Individualismus, mit der wir es auch in Max Frischs „Öderländerei” zu tun haben. Stirners zentraler Satz lautet: „Meine Freiheit wird erst vollkommen, wenn sie meine - Gewalt ist; durch diese aber höre ich auf ein bloß Freier zu sein, und werde ein Eigener”.29 Ähnlich entschieden formuliert Bellegarrigue: … ich verneine alles, ich bejahe nur mich selbst; denn die einzige Wahrheit, die mir materiell und moralisch, durch fühlbare, wahrnehmbare und denkbare Beweise dargetan ist, die einzig wirkliche, schlagende, nicht willkürliche und nicht der Auslegung unterworfene Wahrheit bin ich selbst. Ich bin, das ist eine positive Tatsache; alles übrige ist abstrakte Ableitung und fällt unter das mathematische X, unter das Unbekannte: Es geht mich nichts an.”30 Da die Gesellschaft aber das Individuum daran hindert, sich auf Grund dieser Einsichten selbst zu verwirklichen, meint Stirner: „Ich muß mich empören, um empor zu kommen”.31 Nur die Axt und der Degen, notfalls die Bombe, verschaffen mir jenen Freiraum, den ich brauche: „Die Gewalt ist eine schöne Sache, und zu vielen Dingen nütze; denn man kommt mit einer Hand voll Gewalt weiter, als mit einem Sack voll Recht.’ Ihr sehnt euch 29 Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Charlottenburg 1911, Privatausgabe für John Henry Mackay, S.163 (1845) 30 A. Belleguarrigue, „Anarchie ist Ordnung", aus: ders., „Manifest", L’Anarchie, Journal de l’Ordre, No. 1, April 185O. zit. nach Oberländer, [Anm. 4], S.78 31 Stirner, [Anm. 29], S.246 nach der Freiheit? Ihr Thoren! Nähmet ihr die Gewalt, so käme die Freiheit von selbst. Seht, wer die Gewalt hat, der ‘steht über dem Gesetze’."32 Der „Egoismus", weiß Stirner, ruft uns „zum Selbstgenusse", während die „Freiheit” bloßer romantischer Klagelaut ist. Dagegen ist die „Eigenheit” eine Wirklichkeit, „die von selbst gerade soviel Unfreiheit beseitigt, als euch hinderlich den eigenen Weg versperrt.”33 Aus dieser Haltung heraus kann Öderland den Fahrer verspotten, als der ihn verraten und töten will. Für Öderland gelten die moralischen Gesetze des Altruismus, der Opferbereitschaft und des Dankes nicht mehr, er ist im Stirnerschen Sinn der „Eigene", und daher dem Fahrer, der vor seiner eignen Tat Angst hat, überlegen: „sie haben mit meinem Gewissen gerechnet, Sie haben gehofft, sie können mich aufhängen an meiner Dankbarkeit … Ich fürchte das Sterben kaum, aber ich opfere mich nicht, solange ich lebe - aber Sie fürchten das Sterben, sehen Sie, und darum zittern Sie,” (3,67). Das Einzige, was den „Eigenen” physisch zerstören kann, ist die Übermacht der Gegner. „Ich aber gebe oder nehme Mir das Recht aus eigener Machtvollkommenheit, und gegen jede Übermacht bin Ich der unbußfertigste Verbrecher. Eigener und Schöpfer meines Rechts - erkenne ich keine andere Rechtsquelle als - Mich, weder Gott, noch den Staat, noch die Natur, noch auch den Menschen selbst mit seinen ‘ewigen Menschenrechten’, weder göttliches noch menschliches Recht.”34 Das aber ist die Position sowohl Don Juans als auch Öderlands. Vor Öderland bricht schließlich der Staat mit seinen Gesetzen, Verurteilungen, Gerichten zusammen. Der Gewalt ausübt und von den anderen nur Gewalt erwartet, ist weder entsetzt noch gelähmt, wenn diese Gewalt auf ihn zukommt. Die Gewalt des Staates erscheint ihm daher eher lächerlich in dem Bemühen, den radikalen Anarchisten zu zähmen. Auf die Nachricht, man habe ihn zum Tode verurteilt, antwortet der Staatsanwalt daher nur ganz sachlich: „Und Sie sind die Herren, die mein Todesurteil unterschrieben haben?" (3,73). Diejenigen, die aus Angst vor ihm die Mittel des Staates einzusetzen versuchen, können ihm keine Angst machen. Wer diese Angst einmal aufgibt, so erscheint es Max Frisch wie Max Stirner, dem kann keine Gewalt mehr etwas anhaben, vor dessen eigener Gewalt erweisen sich die staatlichen Zwangsmittel als Papierdrachen. Selbst die kleinen Mieter bekommen den Mut zu sich selbst und schaffen sich so ihr eigenes Recht: der Hausbesitzer, der zu einem Mieter ging, um die Kündigung 32 33 34 Stirner, [Anm. 29], S. 164 Stirner, [Anm. 29], S. 161 Stirner, [Anm. 29], S. 198 auszusprechen - „Was sein gutes Recht ist” - bekommt von seinem Mieter zur Antwort eine kleine blecherne Axt gezeigt, Abzeichen der Öderländerei; der Hausbesitzer, von Schrecken ergriffen, beschließt sein Haus zu verkaufen. Dieser Anarchismus hat, noch stärker als andere Spielformen des Anarchismus, eine stark antirationale Komponente. Vernunft, das Vernünftige, die vernünftige Ordnung erscheinen ihm als „beschränkte Freiheit”: denn „Herrscht aber die Vernunft, so unterliegt die Person”.35 Die Vernunft, die „allgemeine Gesetze gibt", schlägt eben durch diese allgemeinen Gesetze „und durch den Gedanken der Menschheit den einzelnen Menschen in Bande”.36 Gegenüber der beschränkten Freiheit des Liberalismus, der einerseits das Individuum als höchste Idee verherrlicht, andererseits die Freiheit des Individuums dem sogenannten allgemeinen Wohl unterwirft, sieht sich Stirners Anarchismus als konsequentes Zuendedenken des antiautoritären Elements, das dem Bürgertum eigen ist. Er übersieht, daß die konsequenteste Art dieses Anarchismus nicht Schmitz, Eisenring und Öderland, nicht der Held Don Juan und nicht der kleine Intellektuelle Hotz, auch nicht der Träumer Pelegrin ist, sondern komischerweise der miefige Kleinbürger Biedermann: er allein tut, was sonst nur Traum ist. Er folgt seinen eigenen Profitinteressen als absolut „Eigener", als „Besitzer” nämlich, dem das Besitzen auch das Recht gibt, das Stirner der Gewalt zuschreibt. Der perfekte Einzige nämlich, so stellt es sich heraus, schafft sich seinen Freiraum nicht mit der Axt und dem Schwert, sondern mit dem Kapital. 35 36 Stirner, [Anm. 29], S. 1O5 Stirner, [Anm. 29], S. 1O5