Anderswelt * Geschichten

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Anderswelt – Geschichten
Guten Tag!
Mein Name ist Morgane. Ich bin eine Fee, und ich möchte Euch zu einem Besuch in
meiner Heimat, der Anderswelt, einladen. Was ist das, die Anderswelt, werden sicher
einige von Euch fragen. Wo liegt diese Welt, und wie kommt man dorthin? Eine gute
Frage, finde ich. Es gibt nämlich kein Reisebüro, das Reisen dorthin anbietet. Kein
Flugzeug, keine Eisenbahn und kein Autobus können Euch dorthin bringen, ja, nicht
einmal eine Rakete oder ein Raumschiff. Die Anderswelt ist ein Land, in dem alles
möglich ist. Alles, was Ihr Euch ausdenkt, wird dort zur Wirklichkeit, wirklich alles!
Jeder von Euch ist schon viele Male dorthin gereist, beim Träumen zum Beispiel
oder, wenn Ihr Euch Sachen ausdenkt. Es gibt aber einen Zauber, der führt Euch
dorthin, wann immer Ihr es wollt, in einem Augenblick. Ihr müsst dazu nur die
Windpferde rufen. Sie sind das einzige Verkehrsmittel in die Anderswelt. Diese
Windpferde gehorchen jedem, der den richtigen Zauberspruch weiß. Ihr müsst nur
die Augen schließen, Euch dreimal um Euch selbst drehen und dann sagen:
Flattermähne, Wolkenschweif,
Pferdchen, wie ein Nebelstreif,
will mich auf deinen Rücken schwingen,
sollst mich ins Land der Träume bringen!
Wesen aus Wind,
trag’ mich geschwind,
dorthin, wo Märchen Wirklichkeit sind!
Eins, zwei, drei,
Was ich will, das sei!
Anschließend klatscht Ihr fest in die Hände und öffnet die Augen. „Was, das soll die
Anderswelt sein?“ werdet Ihr vielleicht enttäuscht ausrufen, „hier schaut es doch
genauso aus, wie immer!“ Ja, das scheint vielleicht so! Aber probiert es einmal aus:
alles, was hier, in der Anderswelt passiert, könnt Ihr mit Euren inneren Augen wirklich
sehen. Das wird Euch so scheinen, als hättet Ihr einen kleinen Fernsehapparat im
Kopf, in Wahrheit aber habt Ihr jetzt Zauberaugen bekommen, und Ihr könnt damit
die Anderswelt sehen. Das ist aber noch nicht alles. Ihr könnt dort alles sein, was
immer ihr auch wollt: Ritter und Zauberer, Feen und Prinzessinnen, aber natürlich
auch Superman oder Harry Potter. Jedoch alles im Leben will geübt sein, auch das
Reisen in die Anderswelt. Versprecht mir aber bitte, nur das Eine: übt es nicht gerade
in der Mathestunde. Am besten ist aber, Ihr lernt, immer ein bisschen hier wie dort zu
sein. Eines aber müsst Ihr unbedingt noch wissen: ein klein Wenig von dieser
anderen Welt bringt Ihr immer mit hierher zurück, ein wenig Ritter, Königin, Fee,
Zauberer usw. bleibt immer an Euch hängen. Denn es besteht eine Verbindung
zwischen der Welt hier und der Welt dort, sonst könnte ja niemand dorthin gelangen,
auch nicht auf Windpferden. Aber das soll ja kein Lehrgang fürs Zaubern sein,
sondern ein Ausflug in die Anderswelt. Und jetzt kann’s endlich losgehen!
Seid Ihr alle angekommen, ja? Fein, dann kommt mit mir in den Zauberwald. Dort,
unter mächtigen, alten Bäumen wartet einer auf uns. Er ist uralt, hat einen weißen
Bart und auch ein weißes, langes Gewand. Auf dem Kopf trägt er einen spitzen
Zaubererhut, und er stützt sich auf einen langen, knotigen Stock. Er hat uns schon
gesehen und winkt uns freundlich, näherzutreten. Ja, wir kommen schon, Merlin! So
heißt er nämlich, es ist Merlin, der Zauberer. Seit hunderten, nein, tausenden von
Jahren wandert er schon zwischen unserer und der Anderswelt umher und sammelt
Geschichten und Zauberdinge. Die sehen zwar auf den ersten Blick wie ganz
gewöhnliche Dinge aus, aber wirklich nur auf den allerersten Blick. In jedem von
ihnen steckt nämlich eine Geschichte.
Aber, nun wollen wir einmal höflich guten Tag zu Merlin sagen! „Guten Tag, Merlin!
Hast du vielleicht eine Geschichte für uns?“
Da kramt er schon in seinem Sack, der Alte, und holt einen bunten, merkwürdig
geformten Stein für uns heraus, einen Drachenstein. Legen wir ihn ans Ohr, seien wir
ganz still..........und nun,..........ja, er beginnt zu flüstern, ganz leise,.......... hört Ihr
schon etwas............?
Ein Drachenmärchen
Es gibt da eine Burg in der Anderswelt, die heißt RAPOTTENSTEIN. Ein seltsamer
Name, findet Ihr nicht auch? Wie mag er wohl entstanden sein? Nun, das war so:
Bevor es die Burg Rapottenstein gab, wohnte auf dem Burgfelsen ein mächtiger Drache. Es
war fast der letzte Drache auf der ganzen Welt. Nur noch im fernen China gab es noch ein
paar davon. Er war riesengroß und furchtbar stark. Leider handeln alle
Drachengeschichten, welche die Menschen einander erzählen, von bösen Drachen. Diesen
Geschichten solltet ihr nicht glauben. Es sind Lügen. Die Menschen können es nämlich
nicht ertragen, dass es Wesen gibt, die ihnen überlegen sind, deshalb verleumdeten sie die
Drachen und erklärten sie zu gefährlichen Ungeheuern. In Wahrheit ist aber alles ganz
anders. Die Drachen gaben damals dem Land ihre Kraft, solange die Menschen sie
achteten und ehrten. Später, als die Menschen verlernt hatten, wie man mit Drachen
umgehen muss, zogen sie sich zurück aus dieser Welt. Sie sind noch hier, aber wir können
sie nicht mehr sehen. Genauso verhält es sich mit den Zwergen, den besten Freunden der
Drachen. Wie, glaubt Ihr, hätte es ein solch großes Tier zustande gebracht, sich seinen
Rücken zu schrubben, seine Zähne sauber zu halten, oder sich an der zwei und dreißigsten
Schuppe der hundertdreiundzwanzigsten Reihe links hinten zu kratzen, wenn es ihn juckte?
Dazu brauchte man unbedingt die Zwerge. Auch die Höhle hielten sie sauber, dass es nur
so blitzte. Nebenbei gingen sie noch ihren eigenen Geschäften nach, und das waren nicht
wenige: die unterirdischen Schlote putzen, sodass der Erdrauch abziehen konnte und es
keine Erdbeben gab, die Erzadern polieren, Edelsteine für die Krone der Feenkönigin aus
dem Berg holen uswusf. Kein Wunder also, dass man so selten Zwerge sehen kann, zählen
sie doch heute noch zu den viel beschäftigtsten Wesen der Anderswelt.
Der Drache in unserer Geschichte, die sich einst auf dieser Burg zugetragen hat, hieß
Boldo. Dieser Name war in Drachenkreisen sehr begehrt. Wer auf sich hielt, hieß so und sei
es auch nur mit dem fünften Nachnamen. Boldo hatte eine Lieblingsbeschäftigung, und die
war, lange und ausgiebig zu schlafen und zu träumen. Nun dürft ihr aber nicht glauben,
dass er faul war, nein, mit seinen Träumen nämlich, da hatte es eine besondere
Bewandtnis. Boldo träumte nämlich seine Welt ins Leben. Er träumte die Berge, die Wiesen
und Wälder, die Flüsse, die Bäche, die Seen, den Himmel und die Wolken, den Wind, den
Regen, den Schnee........und auch die Tiere und Menschen. Jetzt stellt Euch nur mal vor,
Boldo hätte nicht ausgiebig geträumt! Nicht auszudenken, wenn eines Morgens der Bauer
Michel erwacht wäre und die Hälfte seines Bettes oder ein Stück seiner selbst hätte gefehlt,
nur, weil Boldo vergessen hatte, es zu träumen! Daran seht Ihr, wie wichtig Träume sind.
Das haben wir von den Drachen gelernt, und wir können es heute noch ganz gut.
Deshalb waren ihm die Menschen nicht böse, wenn er sich beim Erwachen so sehr dehnte
und streckte, dass der ganze Berg gewaltig dröhnte und bebte. Die Menschen lächelten
dann verstehend und sagten: „ Unser Boldo rappelt wieder. Sicher hat er gut geschlafen
und ausgiebig geträumt, wie beruhigend!“
Bald wurde der Berg „Rappelboldos Stein“ genannt, und so ähnlich heißt die Burg ja noch
heute, wie wir schon gehört haben.
Alles hatte also seine Ordnung im Land: die Bäume, die Pflanzen, die Tiere und Menschen
lebten friedlich zusammen. Dafür sorgte schon der Drache, er nahm die Verantwortung für
seine Träume sehr ernst, das dürft ihr mir glauben.
Das wäre auch noch lange so geblieben, wenn nicht......ja wenn nicht ein Ritter in einem
fernen Land von diesem Berg und seinem mächtigen Drachen gehört hätte.
Vielleicht wollte er auch als Drachentöter berühmt werden, wer weiß? Als er sah, wie
glücklich die Menschen in diesem Land lebten, wurde er neugierig und wollte wissen, was
die Ursache dafür war. Wie erstaunt war unser Ritter, als er von den Drachenträumen
erfuhr. In einem solchen Land wollte er leben, nein, nicht nur leben, er wollte hier eine
mächtige Burg bauen und selbst oberster Träumer werden! Das musste der Gipfel des
Glücks sein! Da gab es nur ein Hindernis, und das war, Ihr habt es sicher schon erraten, ja
eben, Rappelboldo, der Drache. Der musste ein für alle mal einsehen, wer hier jetzt das
Sagen hatte. Aber, wie war das anzustellen? Eines Tages, als unser Ritter, er hieß übrigens
Otto, umherstreifte, gelangte er an die Höhle des Drachen. Dieser war mit seiner
Lieblingstätigkeit, dem Schlafen beschäftigt und träumte dem Müller Johann und seiner
jungen Frau eben ein kleines Töchterlein. Das war ein heikles und ernstes Geschäft, und
man durfte sich nicht den kleinsten Fehler leisten. Schließlich musste das kleine Menschlein
dann ja ein ganzes Leben mit diesem Fehler zurande kommen. Habe ich Euch übrigens
schon von dem Traumstein des Drachen erzählt, nein? Dann wird es aber höchste Zeit!
Rappelboldo besaß nämlich einen Stein...... die Zwerge, seine Freunde hatten ihn einst für
ihn aus dem Inneren des Berges geholt. Nur, wenn er ihn beim Schlafen unter der Zunge
hielt, konnte er lebhafte und angenehme Träume träumen. Außerdem war er dann
unbesiegbar.
Otto hatte von diesem Stein gehört und wusste um seine Macht. In einem so kleinen Land
bleiben Geheimnisse nicht lange geheim. Er sah seine Chance gekommen. Rasch nahm er
den Stein an sich und sperrte den schlafenden Drachen in seiner Höhle ein, mit Tür und
Tor, mit Schloss und Riegel, krachbumm!
Da lag er nun eingesperrt in seiner Höhle, der arme Boldo und mochte rappeln, so sehr er
wollte. Es nützte ihm nichts, ohne den Stein reichte seine Kraft nicht aus, nicht zum
Entkommen und nicht zum Träume ins Leben Träumen. Das übernahm jetzt Otto. Er nannte
sich von da an Graf Otto von Rappottos – Stein und baute sich eine mächtige und große
Burg. Er baute? Nun, ganz so war es nicht. Er ließ die Menschen seines Landes für sich
bauen. Die hatten jetzt keine Zeit mehr für ihre Gärten, für ihre Lieder, und ihre Kinder
mussten arbeiten statt zu spielen. Und Otto träumte mit Hilfe des Drachensteines einen
neuen Namen für die Menschen. Sie hießen jetzt Untertanen. Nicht nur einen neuen Namen
bekamen sie, sondern ein ganz neues Leben. Das sah aber anders aus als damals, mit
Rappelboldo! Nun gab es auch hier Arme und Reiche, viel Arbeit und wenig Brot, noch
weniger Frohsinn und Glück. Auch war die Mär vom Drachenstein in andere Länder
gedrungen. Manche Ritter wollten unserem Otto den Stein wegnehmen und fielen mit
Kriegern und Waffengewalt in sein Land ein. Wie froh mussten die Bürger seines Landes
nun sein, dass er eine solch mächtige Burg gebaut hatte und sie beschützte, na eben!
Die Zeit verging. Nach und nach vergaßen die Menschen den Drachen und seine
Traumwelt, und schließlich meinten sie auch in diesem Land, die Welt sei eben so, sei
immer schon so gewesen, werde immer so sein. Die letzte Drachenwelt war vom Erdboden
verschwunden. Sogar die Zwerge mussten jetzt für Otto arbeiten. Sie mussten das Erz aus
dem Boden holen und daraus stählerne Waffen schmieden, die Otto unbesiegbar machen
sollten. Das war er dann auch. Niemals wurde diese Burg eingenommen, von niemandem.
Trotzdem war Otto nicht ganz so glücklich, wie er es hätte sein können. Auch seine Frau
und sein kleines Töchterchen, Anna mit Namen, waren seltsam unfroh. Warum nur? Woran
lag es, dass die Welt ihnen allen so seltsam grau und farblos erschien? Da mochten die
köstlichsten Speisen auf den Tisch kommen, die besten Musikanten zum Tanz aufspielen.
Sogar dem Hofnarren mit seinen derben Späßen gelang es nicht, seinen Herrn wirklich zu
erheitern.
Eines Tages war es soweit. Anna wollte nicht mehr essen, sie lachte nicht ein einziges Mal
mehr und wurde immer blasser. Die besten Ärzte wurden gerufen, aus allen Ecken von
Ottos Reich. Da standen sie nun um Annas Bett, strichen ihre Bärte, gaben reichlich
„hm,hm“ und „so, so, ja, ja“ von sich und andere weise Ratschläge. Einer meinte, Anna sei
zu viel am offenen Fenster gestanden und habe zu viel von der gefährlichen Waldluft
geatmet, mit ihren giftigen Ausdünstungen. Ein Anderer behauptete mit wichtiger Miene,
das könne nur vom gefährlichen Baden kommen. Man müsse Anna vor jedem Tropfen
Wassers bewahren, dann würde sie wieder gesund. Ein Dritter warnte eindringlich vor
frischem Gemüse und Salat. Jeder von ihnen verschrieb Anna andere Topfen, Pülverchen
und Tinkturen, nannte die Diagnose der Anderen einen ausgemachten Unsinn, und fast
wären sie an Annas Krankenbett in eine handfeste Rauferei geraten, wenn nicht Graf Otto
sie allesamt kurzerhand hinausgeworfen hätte. Keine der verschriebenen Medizinen half. Im
Gegenteil, bald war Anna so müde und schwach, dass es schien, als müsste sie sterben.
Da ließ Graf Otto Boten ins Land senden, die verkündeten: „Wer meiner Tochter helfen
kann und sei er noch so arm und gering, der bekommt mein halbes Reich und meine
Tochter zur Frau.“ Niemand aber wusste zu helfen, zumal Graf Otto ein gestrenger Herr war
und man seinen Zorn fürchtete, wenn man versagte.
Da gab es aber einen Ziegenhirten, Fido mit Namen, der hütete die Ziegenherde des
Grafen auf der Wiese unter der Burg. Eines Tages kam er dazu, als einer der Zwerge sich
beim Aufheben eines Steines den langen Bart eingeklemmt hatte und nicht vorwärts noch
rückwärts konnte. Er zog und zerrte, aber es half nichts, der Stolz eines anständigen
Zwerges, der Bart, rückte nicht einen Zentimeter von der Stelle. Beherzt hob Fido den
schweren Stein ein wenig an, und der Zwerg war wieder frei. Voller Dankbarkeit verriet er
dem armen Hirten das Geheimnis, wie Anna zu helfen sei: der Drachenstein. Nur er konnte
in diesem schwierigen Fall helfen. Man musste ihn dem Drachen wieder unter die Zunge
legen, und dieser musste Anna gesund träumen. Welch ein schwieriges Unternehmen! Und
der Drache? War er denn nicht nur eine Märchengestalt, eine Sage aus längst verwehten
Tagen? Niemand glaubte noch an ihn, auch nicht Fido. Die Alten erzählten abends am
Feuer von ihm, aber die Jungen lächelten über diese kindischen Geschichten. Trotzdem,
der Zwerg hatte es gesagt, und Zwerge lügen nicht, das wusste Fido. Bange machte er sich
auf den Weg in die Burg. „Was willst du denn hier, du armseliger Wicht! Scher dich hinunter
ins Dorf, wo du hingehörst!“ herrschte der Torwächter den Jungen an. Der aber erwiderte
beherzt: „Ich weiß das Heilmittel für die Tochter unseres Herrn, also lass mich ein!“ Spott
und Hohn begleiteten Fido durch alle Höfe, auf allen Stockwerken begegneten ihm
höhnische Gesichter. Der Ziegenhirte, der zerlumpte, verachtete Bengel, ausgerechnet er
wollte wissen, was alle Ärzte nicht wussten: das Heilmittel für Annas Krankheit, da kicherten
doch die Hühner! Man hatte Anna im Garten der Burg ein Bett gerichtet, sie verlangte nach
Sonnenschein und frischer Luft, nach Vogelgesang und dem offenen Himmel. Eingedenk
der Warnungen der Ärzte hatte Graf Otto größte Bedenken gegen diesen Wunsch seiner
Tochter geäußert, aber, da sie doch ohnehin bald sterben musste, gewährte er ihr diese
seltsame Bitte, gegen alle Vernunft.
Da lag sie nun, blass, schmal und still, die Augen auf die ziehenden Wolken gerichtet, die
Seele schon mehr im lichten Blau des Himmels als auf der Erde. Als Fido das zarte
Mädchen erblickte, machte sein Herz einen Luftsprung aus plötzlicher Liebe und gleich
danach einen lauten Plumps.....aus genauso plötzlichem Mitleid mit dem armen Geschöpf.
Alle Umstehenden sahen einander erschrocken an, weil sie nicht wussten, was da einen
derart lauten Plumps gemacht hatte. Sogar Boldo in seiner vergessenen Höhle hob
verschlafen kurz einmal eines seiner schweren Augenlider, um gleich darauf wieder in
tiefen, traumlosen Schlaf zu fallen.
Graf Otto sah streng und etwas spöttisch auf den kleinen Ziegenhirten und wollte den
frechen Bengel schon von seinen Bütteln aus dem Schloss werfen lassen. Fido aber ließ
sich nicht so leicht einschüchtern. Schließlich hatte er doch mit einem leibhaftigen Zwerg
gesprochen! Wer konnte das schon von sich behaupten, und sei er auch ein Graf! Und
außerdem, wer, außer ihm wusste das Heilmittel für Annas Schwermut, wer bitte sehr? Na
eben! Fido fasste sich also ein Herz. Er riss sich von den groben Händen der Büttel los und
rief mit kräftiger Stimme: „Aber, ich weiß doch das Heilmittel!“ „Was, frecher Bengel!? Was
wagst du da zu behaupten? Na warte, dir wird die Frechheit schon vergehen, wenn du
ausgepeitscht wirst!“ drohte der Oberste der Wachen. Graf Otto aber rief die Wachen
zurück und wollte doch hören, was der Junge zu sagen wusste. Fido stellte sich auf die
Zehenspitzen und flüsterte dem Grafen ins Ohr: "Der Drachenstein, Herr, ihr müsst ihn
wieder unter Boldos Zunge legen, damit Eure Tochter gesund wird.“
Graf Otto wurde abwechselnd rot und blass vor Scham. Wie konnte der Junge von dem
Drachenstein wissen und wie er an ihn gekommen war? Und was würde geschehen, wenn
er den Stein nicht mehr hätte? All sein Reichtum, seine Macht, all seine Ländereien, alles,
was er sich mit Hilfe des gestohlenen Steines zusammengeträumt hatte, sollte er darauf
denn nun verzichten? Zornig wollte er Fido ins Verlies werfen lassen, doch dann besann er
sich. So hartherzig war er denn doch nicht, dass er seinem Töchterchen nicht hätte helfen
wollen! Spät nachts, als alles in der Burg schon ruhig war, schlich er hinab in die
verborgene Drachenhöhle, wo Boldo noch immer in tiefem Schlaf lag. Er fürchtete sich sehr,
als er vorsichtig, leise, leise versuchte, den Stein wieder an seinen Platz unter der Zunge
des Drachen zu legen. Boldo schnarchte nämlich gewaltig, und sein mächtiger Atem drohte
Graf Otto immer wieder umzublasen. Wenn er nur nicht erwachte, dann wäre es aus mit
Ottos Leben! Schwitzend vor Angst und Anstrengung hob Otto Boldos Oberkiefer ein wenig
an und wollte den Stein an seinen angestammten Platz legen. Doch einer seiner
Schweißtropfen fiel dem Drachen auf die Nase, und das reizte ihn zum Niesen. Und, ja, ein
solches Drachenniesen ist nicht von schlechten Eltern, das kann sich jedermann wohl
denken! Otto wurde quer durch die Höhle geschleudert, dass ihm Hören und Sehen
verging, und, was noch schlimmer war, Boldo biss dabei auf den Traumstein, dass er in
tausende und abertausende Splitter zersprang! Diese Splitter wurden von dem gewaltigen
Luftstrom aus der Höhle geblasen und in alle Welt verteilt. Nur ein winziges Körnchen
davon blieb im Maul des Drachen, und das genügte nicht, um die Welt für alle Menschen
ins Leben zu träumen, wohl aber gerade noch, um Anna gesund zu träumen, was er auch
schleunigst und tadellos tat. Dann aber hatte er genug vom Schlafen, was Wunder nach so
langer Zeit! Er stieg ans Tageslicht, breitete seine Flügel aus (es machte ihm einige
Schwierigkeiten, er war doch etwas aus der Übung geraten in den letzten Jahren) und flog
ins Reich der Drachen zurück, von wo er einst, vor so langer Zeit gekommen war. Er hatte
Sehnsucht nach seinesgleichen, und die Welt der Menschen war nicht mehr nach seinem
Geschmack, mit all den Streitereien um Besitz und Macht.
Fido heiratete seine Anna. Nicht gleich, erst musste er ja einmal erwachsen werden, aber
dann lebten sie lange und glücklich zusammen und bekamen viele gesunde Kinder. Sie
teilten das Land unter den Bewohnern auf, dass jeder genug zum Leben hatte und zum
Fröhlichsein und Feiern auch und zum Spielen und Geschichtenerzählen, zum Singen und
Tanzen, für die wichtigen Dinge des Lebens eben. Graf Otto setzte sich zur Ruhe und
wiegte seine Enkelkinder auf dem Schoss, und manchmal erzählte er ihnen die Geschichte
vom Drachen und vom zersplitterten Drachenstein. Dann liefen die Kinder in den Wald und
an den Fluss, um nach Splittern zu suchen. Manche von ihnen sollen auch den Einen oder
Anderen gefunden und sich ein ganz besonders buntes Leben geträumt haben. Wer weiß,
vielleicht findet ihr auch diesen oder jenen Splitter davon! Dann legt ihn doch abends unter
Euren Kopfpolster, und wartet, was geschieht. Schöne, bunte Drachenträume wünsche ich
Euch!
Wieder greift Merlin in seinen unergründlichen Sack. Lange wühlt er darin umher.
Jetzt aber scheint er etwas gefunden zu haben, etwas seltsam Geformtes. Auf den
ersten Blick sieht es aus, wie eine kleine Wurzel. Oh ja, es ist eine Wurzel, jetzt
erkennen wir es genau! Merlin aber lächelt geheimnisvoll. Er sagt: „Eine Wurzel, ja,
ja, wenn man mit gewöhnlichen Augen hinsieht. Ihr aber habt doch Zauberaugen
bekommen, jetzt benutzt sie einmal richtig!.......Also, wer kann schon sehen, um was
es sich bei dem Ding wirklich handelt? Ja, richtig, es ist ein Moorgeist! Er wohnt ganz
oben, im Norden von Österreich. Da liegt ein Gebiet, das “der Nordwald” genannt
wird. Schier endlos reiht sich Hügel an Hügel, bedeckt von dunklem Nadelwald, ein
weites, grünes Meer. Die Inseln darin sind steinerne Kolosse, Drachen gleich und
gleich ihnen sind auch sie Überreste einer Zeit vor unserer Zeit. Oder gab es damals
die Zeit noch gar nicht? Wer weiß das schon wirklich? Eigentlich niemand,
außer.............es hätte jemand schon damals gelebt, wie unser kleiner Gast hier.
Wollen wir hören, was er zu erzählen hat? Ihr wisst ja jetzt schon, wie’s geht. Also,
halten wir die Wurzel ans Ohr,......... ganz leise sein und dann...........erzählt er uns
die Geschichte von
Lisa und der Moorkönigin
.........Mein Name ist Glochmurgfangoch. Ihr dürft mich aber Gloch nennen, wenn
Euch das zu kompliziert ist.
Ich kann mich noch gut erinnern, es ist ja auch erst siebenhundertundfünfzig Jahre
her, da lebte ein kleines Mädchen in einem Ort namens Grosspertholz, einem Ort im
Nordwald, wo ich für gewöhnlich lebe. Es muss wohl sehr arm gewesen sein, denn
seine Kleider waren zerlumpt, und Schuhe trug es niemals. Seine Mutter schickte es
im Sommer fast jeden Tag in den Wald, um Beeren und Pilze zu sammeln und um
die einzige Ziege der kleinen Familie zu hüten. Das war eine sehr
verantwortungsvolle Aufgabe für das kleine Mädchen, es hieß übrigens Lisa. Denn
die Ziege versorgte die kleine Familie mit Milch. Sonst hatten sie ja nicht sehr viel
zum Beißen, denn, wie gesagt, sie waren sehr arm. Schule gab es ja damals noch
nicht für die Kinder der einfachen Leute. So hatte die Kleine viel Zeit, um jeden
Winkel des riesigen Waldes genau zu erforschen. Deshalb kannte sie den Wald auch
wie ihre Schürzentasche. Trotzdem warnte Lisas Mutter sie jeden Tag aufs neue vor
dem tückischen Moor. Sie schärfte ihr immer wieder ein, nie, niemals je einen Fuß in
dieses Gebiet zu setzen, denn dort könne man versinken, außerdem wäre es dort
nicht geheuer. Wandernde Lichter, die jeden ins Verderben locken konnten, tödliche
Dämpfe und nicht zuletzt die tückischen Moorgeister, all das war Grund genug, sich
davor zu hüten. Aber, Kinder sind eben Kinder, ob vor siebenhundertundfünfzig
Jahren oder heute, gerade das Verbotene muss unbedingt ausprobiert werden,
Gefahr hin, Verbote her. Und Lisa war doch kein Hasenfuß..., sie fürchtete sich nicht
vor Moorgeistern, sie war ja schon ein großes Mädchen! Eines schönen Tages also
schlug Lisa die Warnungen ihrer Mutter in den Wind und führte ihre Ziege in die
Richtung des Hochmoores. Ein wenig bang war ihr schon dabei, aber, nun hatte sie
es sich einmal vorgenommen, ins Moor zu gehen! So gefährlich würde es schon
nicht sein!
Die Ziege graste einmal hier und einmal da und suchte sich die leckersten Gräser
und Blätter, daran war gar nichts Außergewöhnliches, denn das ist Ziegenart, wie ja
jeder weiß. Und Lisa hatte genug damit zu tun, sich eingehend umzusehen auf
diesem verbotenen Fleckchen Erde. Sie konnte gar nichts Seltsames oder
Furchterregendes entdecken. Die Vögel sangen, wie sonst überall auch, die Bienen
summten einschläfernd in der warmen Mittagssonne, das Heidekraut duftete würzig,
weit und breit keine Lichter oder Moorgeister. Lisas Mutter hatte wohl etwas
übertrieben, aber das taten die Erwachsenen gewöhnlich gerne, um Kinder aus
lauter Sorge um ihre Sicherheit von den wirklich interessanten Dingen abzuhalten!
Wie weich der Boden hier war! Noch weicher, als der bemooste Waldboden. Man
konnte meinen, auf Wolken zu gehen, sehr angenehm! Hier wollte Lisa sich ein
wenig hinlegen und in die Wolken schauen, eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Da
tauchten Burgen auf und fliegende Pferde mit prächtigen Rittern und wunderschönen
Prinzessinnen, Fabeltiere zogen lautlos über den tiefblauen Himmel, wobei sie ihre
Gestalt in jede erdenkliche Form verfließen lassen konnten. Lisas Gedanken folgten
ihnen auf ihrer Reise, und bald war sie darüber eingenickt. Ein klägliches Meckern
holte sie unvermittelt aus ihren Mittagsträumen. Ach ja, die Ziege! Über ihren
Träumereien hatte Lisa vollkommen auf sie vergessen! Wo war sie nur, und warum
schrie sie denn nur so kläglich? Oh weh, da war sie, aber, um es genau zu sagen,
nur die vordere Hälfte von ihr. Die hintere Hälfte steckte im Moorboden, der
schmatzend und saugend immer mehr von ihr zu verschlucken drohte. Lisa sprang
auf und rannte, so schnell sie konnte, zu ihr. “Halt aus!” rief sie verzweifelt, “ich zieh‘
dich raus, zappel doch nicht so!” Aber das arme Tier verstand natürlich nichts von
alledem. Es schrie und schlug in verzweifelter Angst mit den Vorderbeinen um sich,
und bald darauf verschwand es völlig im schwarzen Moorboden, so, als wäre da nie
eine Ziege gewesen. Völlig gelähmt vor Schreck stand das arme Mädchen auf einem
Stein und schluchzte. Hätte es doch nur auf seine Mutter gehört! Es wagte sich nicht
ohne die Ziege nach Hause. Nicht die Angst vor der berechtigten Strafe war das
Schlimmste, aber den Vorwurf und die Verzweiflung im verhärmten Gesicht der
Mutter, das hungrige Weinen des kleinen Brüderchens, das meinte Lisa, nicht
ertragen zu können. Sie hatte in ihrem Leichtsinn und Ungehorsam die Ziege
verloren, und nun gab es keine Milch und keinen Käse mehr. Es war einfach
unverzeihlich! Nein, sie konnte nicht heim, sie musste in die Welt hinausziehen und
nie wieder heimkehren, ja, das musste sie wohl!
Weinend saß die arme Kleine auf dem runden Stein, der sich wie der Rücken eines
vorsintflutlichen Tieres aus dem trügerischen Moorboden erhob. In seiner
Niedergeschlagenheit hatte es nicht bemerkt, dass die Sonne bereits untergegangen
war und die ersten Sterne am Abendhimmel blinkten. Nun wurde es Lisa doch ein
wenig unheimlich. Im nahen Wald schrie ein Käuzchen sein klagendes “Kuwitt,
kuwitt”, ein paar Grillen zirpten ihr Abendlied, sonst war es still, wie immer in der
Abendstunde.
Es wurde schnell dunkel. Lisa wollte sich zum Schlafen auf dem runden Fels
zusammenrollen, der war noch angenehm warm vom Sonnenschein. Aber Angst,
Verlassenheit und nicht zuletzt ein nagendes Hungergefühl ließen sie nicht
einschlafen. Seltsame Lichter tanzten mit einem Mal hier und dort um das
verlassene, kleine Mädchen. Verdorrte Wurzelstöcke schienen in der zunehmenden
Dunkelheit knorrige Arme nach ihm auszustrecken, und dann............! bewegte sich
der Felsen unter ihm! Langsam und fast unmerklich hob er sich aus dem morastigen
Untergrund, wobei er ein schmatzendes Geräusch verursachte. Er schien sich zu
dehnen wie nach einem langen Schlaf. Ein dumpfes Grunzen ertönte, ganz eindeutig
kam es aus dem Inneren dieses seltsamen Felsendings, das jetzt zu Lisas Erstaunen
auch noch zu sprechen anfing, heiser und dumpf zwar und etwas absonderlich, aber
trotzdem verständlich:
“Uugh, kleines Krabbel – Zappel.....wer du? Warmwesen? Maghlum niemals nicht
sehen solch kleines Krabbel – Zappel hier in Nacht. Und wieso Regen kommt aus
du? Maghlum viel nass von Tropfen, du Gewitter innen drinnen?”
Lisa musste trotz ihrer Traurigkeit ein klein wenig lachen, und sie antwortete: “Nein,
ich habe kein Gewitter in mir, ich bin nur ganz schrecklich traurig und trau‘ mich nicht
nachhause, weil ich meine Ziege verloren habe. Ich heiße Lisa und bin ein kleines
Mädchen aus Bad Grosspertholz, wenn du das kennst.”
“Uugghh, langsam, Maghlum nicht kann folgen so schnell Gezwitscher aus traurig
Lisa!” stöhnte das Felsending. “Warmwesen viel zu schnell für Maghlum.”
Trotz all dieser Verständigungsschwierigkeiten gelang es Lisa dann doch, dem
freundlichen Felsending namens Maghlum ihr ganzes Leid zu klagen. Dieser ließ hin
und wieder ein sanftes, tröstliches Grollen aus seinem Inneren vernehmen. Dann
sprach er:
“Das sehr traurig, Maghlum versteht jetzt Regen aus Augen. Aber, weiß Hilfe. Aber
schwierig und muss haben viel....na wie heißt bei Warmwesen? Maghlum findet, du
warten.....Maghlum jetzt weiß.....braucht viel MUT. Lisa muss gehen Moorkönigin und
bitten um Hilfe. Einzig Weg, ja. Aber Lisa groß aufpass, Moorkönigin gefährlich!”
“Wie komme ich denn zu der Moorkönigin? Kannst du mir das auch sagen?“
„Ja, Maghlum weiß.....aber Warmwesen nicht kann in Reich von Moorkönigin ohne
Zauber......muss wissen richtig Spruch, dann Tor offen.......Und dann, Maghlum sagt
Geheimnis jetzt......Königin liebt sehr.....Töne aus Brust von Warmwesen....Lied,
ja...liebt Sing.....du vielleicht kannst machen solchen Sing für Königin, dann sie
freundlich, vielleicht, ja......“
Jetzt war guter Rat teuer. Aus dem Felsending war nichts mehr herauszubekommen.
Es grummelte und brummelte noch ein wenig, dann war es wieder still und starr, ein
Stein eben, wie vorher.
Ein Wort, ein Wort, ein Zauberwort.....Diese Aufgabe war wohl zu schwierig für Lisa,
oder vielleicht doch nicht? Sie sah sich um. Vielleicht brachte irgend etwas in der
Umgebung sie auf die richtige Idee....Irrlicht,.....Moos......Heidekraut.....Nein, das war
es wohl nicht. Ein Spruch, woher sollte sie denn einen Spruch hernehmen, und dann
auch noch den richtigen? Nun ja, versuchen konnte man es ja immerhin, was konnte
schon passieren? Im schlimmsten Fall öffnete sich das Tor zum Reich der
Moorkönigin eben nicht, dann konnte sie immer noch in die Welt hinausziehen. Lisa
probierte hin und her. Alle Sprüche, die sie kannte, vom Spielen mit ihren
Freundinnen, sagte sie laut vor sich hin, zum Beispiel diesen:
Ene, mene, mu.
Schließ nicht das Tor mir zu.....
Nichts geschah. Absolut nichts. Na gut, dann eben ein anderer Spruch:
Dohle, Elster, Spinnenbein,
ich bin ein kleines Mägdelein,
lass mich zu dir hinein,
ich will dir dankbar sein!
Wieder nichts. Es gab sicher hunderttausend Sprüche. Es musste schon ein Wunder
geschehen, wenn sie den richtigen finden sollte. Schon wieder stahlen sich ein paar
Tränen in Lisas Augen. Heulsuse. So nannte ihr großer Bruder sie manchmal, wenn
sie aus irgend einem Grund weinte, und dann wurde sie immer sehr zornig auf ihn
und wünschte ihn weit, weit weg. Jetzt hätte sie viel darum gegeben, bei ihm zu sein,
zuhause. Aber, jetzt durfte sie keine Heulsuse sein, jetzt hieß es tapfer nach einem
Ausweg suchen. Doch auf einmal, was war das? Ein Heer von hüpfenden,
tanzenden Lichtern huschte über das braune Wasser des Moorteiches, dazu
erklangen die zarten Töne eines Saiteninstrumentes. Es war ein zauberhafter
Anblick! Die Lichter formten sich zum Reigen, sie drehten sich und hüpften zur
Musik, dass es eine Freude war. Dann erklang eine zarte Stimme. Nach und nach
verstand Lisa die Worte des Liedes. Es ging so:
Mondenstrahl und Sternenglanz,
Eulenschrei und Irrlichttanz,
Elfenlied und Nebelhauch
bringen wir nach altem Brauch.
Tu dich auf, Zaubertor,
Königreich aus Sumpf und Moor!
Immer schneller wirbelte der Reigen aus tanzenden Lichtern, sodass es Lisa richtig
schwindelig wurde. Dann verschwand die ganze Irrlichtgesellschaft flugs, wie der
Wind, unter einer vermoderten Wurzel, wo sich ein hell erleuchtetes, kleines Tor
aufgetan hatte. Dann war der ganze Spuk mit einem Mal verschwunden. Sollte das
der Spruch gewesen sein? Immerhin hatte sich das Tor des Moorkönigreiches
geöffnet! Lisa musste es versuchen. Was konnte schon geschehen? Im schlimmsten
Fall bliebe das Tor eben geschlossen. Wie war das Lied nur gegangen?
Es dauerte ein Weilchen, bis Lisa den Spruch richtig wiederholen konnte. Immer
wieder passierten ihr Fehler. Immer stimmte etwas nicht ganz, und das Tor öffnete
sich nicht einen kleinen Spalt breit. Schon wollte sie verzweifelt aufgeben,
da.......diesmal waren es wohl die richtigen Worte gewesen! Ein Leuchten erschien
unter dem Wurzelstock, und das kleine Tor darunter ging weit auf. Es war aber ein
ziemlich kleines Tor, für ziemlich kleine Leute. Ob sie es wohl schaffte, sich hier
durchzuzwängen? Kaum aber hatte Lisa diesen Gedanken gedacht, bemerkte sie,
wie alles ringsumher wuchs und wuchs, oder nein, vielmehr sie war es, die
schrumpfte. Bald darauf konnte sie ohne jede Mühe durch das Tor gehen.
Da war ein ziemlich dunkler Gang, und er führte weit hinein in den Moorboden. Dann
aber weitete sich der Gang, und Lisa betrat einen dämmrigen Saal. An den Wänden
schienen sich Schlangen zu kringeln. Buh Schlangen! Lisa fürchtete sich vor nichts
so sehr, wie vor Schlangen! Oder waren es doch vielleicht nur Wurzeln? Ein weicher,
grün gefleckter Teppich dämpfte ihre Schritte. Die Luft roch leicht modrig, aber nicht
unangenehm. Es war nicht ganz dunkel aber auch nicht richtig hell. Ein eigenartiges
Zwielicht erfüllte den Raum. Überall hingen Vorhänge aus glitzernden Wassertropfen.
Am hinteren Ende des Saales schien jemand zu sein. Lisa nahm allen Mut
zusammen und wagte sich weiter. Wenn jetzt ihr großer Bruder sie sehen könnte! Ja,
da war jemand. Es war eine Frau, und sie saß auf einem Thron aus Wurzelholz.
Rechts und links neben dem Thron hockten zwei dicke Kröten als Thronwache. Sie
hoben schläfrig manchmal das eine, dann das andere Augenlid, um die Besucherin
in Augenschein zu nehmen. Allem Anschein nach befanden sie Lisa für ungefährlich,
denn bald darauf hielten sie es nicht mehr für nötig, sie zu beobachten, weder mit
dem einen, noch mit dem anderen Auge. Die Frau musste eine Königin sein, das
erkannte Lisa an ihrer Krone aus Ebereschenzweigen. Sie trug außerdem einen
Umhang aus feinstem Nebelgespinst. Ihre langen, braunen Haare reichten bis auf
den Boden. Lisa konnte nicht sagen, ob sie alt oder jung war, jedenfalls war sie sehr
schön, aber auch sehr ehrfurchtgebietend. Sie winkte das Mädchen zu sich heran
und sprach:
„Es kommt nicht oft vor, dass Menschen den Weg zu mir herunter finden. Die
wenigsten haben den Mut dazu, und noch weniger finden den richtigen
Zauberspruch. Was führt dich also zu mir, fremdes Mädchen?“
Lisa machte einen höflichen Knicks, wie man es sie zuhause gelehrt hatte, wenn sie
dem Burgvogt oder dem Verwalter begegnete. Dann erzählte sie der Moorkönigin die
ganze Geschichte von Anfang bis Ende und verschwieg auch nicht, dass ihre Mutter
sie vor dem Moor gewarnt hatte. Die Königin lächelte fein und sprach.
„Die meisten Menschen fürchten sich vor meinem Reich, dem Moor. Sie halten es für
tückisch und böse. Du aber wolltest es kennen lernen und fandest es schön. Deshalb
will ich dir helfen, wenn du mir sieben Jahre lang dienst. Willst du das?“
Sieben Jahre lang in diesem dämmrigen, feuchten, unterirdischen Reich! Lisa
schauderte. Aber, es war der einzige Weg, ihren Fehler wieder gutzumachen. Also
willigte sie schweren Herzens ein. Die Moorkönigin stellte ihr daraufhin ihren
gesamten Hofstaat vor. Da waren Kröten und Salamander, Kreuzottern und
Ringelnattern, Molche und Moorfrösche, Irrlichter und Moorgeister, aber auch die
kleine Elfe, die so schön gesungen hatte, war da und lustige Moorwichtel mit
braunen Zipfelmützen.
Ein feines Mahl wurde aufgetragen. Es gab Wurzelfladen mit Preiselbeerfüllung,
gebratene Pilze, süß - würziges Heidekrautbier und zuletzt Plätzchen aus feinem
Bärlappmehl gebacken. Lisa aß mit Heißhunger und fand, hier ließe es sich schon
eine Weile aushalten. Am nächsten Tag begann ihre Arbeit, und die war nicht gerade
einfach. Es gab so viel zu tun für sie: die Libellenlarven in den Moortümpeln hüten,
Bärlappollen sammeln und nicht zuletzt, und das war die wichtigste und
verantwortungsvollste Aufgabe: die Moorkönigin vertraute Lisa den großen
Wetterkessel an. Der musste langsam und ausdauernd über einem großen Feuer
gerührt werden, damit zur richtigen Zeit die Nebel daraus aufsteigen konnten. Doch
irgend etwas war weit geheimnisvoller an diesem Kessel als nur der Nebel. Die
Moorkönigin verbot ihr nämlich strengstens, auch nur den kleinsten Tropfen daraus
zu verschütten, denn dann würde Schreckliches geschehen. Das Rühren und das
Feuer zu bewachen machte Lisa wenig Sorgen. Schließlich musste sie das ja auch
oftmals zuhause tun, wenn ihre Mutter anderwärtig beschäftigt war. Aber sie war
einerseits sehr neugierig auf den Inhalt des Kessels, andererseits fürchtete sie sich
davor, etwas zu verschütten. Was wohl das Schreckliche war, was dann passierte?
Trotzdem war Lisa nicht nur einmal versucht, den Finger hinein zu tauchen und
davon zu kosten. Aber sie hütete sich davor, das Verbot der Moorkönigin zu brechen,
denn diese war wohl freundlich, aber doch auch sehr, sehr respekteinflößend, ja,
irgendwie unheimlich sogar. Eines Tages aber geschah das Unglück.
Lisa rührte gerade wieder in dem Kessel, und dabei dachte sie an daheim. So lange
war sie nun schon hier unten, im Moorkönigreich! Sie hatte so große Sehnsucht nach
ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester, sogar ein wenig nach ihrem großen Bruder!
Dadurch war sie wohl abgelenkt, gerade so viel, um ein paar Tropfen vom Inhalt des
Kessels auf ihren Finger zu spritzen, weil sie die Kelle zu abrupt eingetaucht hatte.
Erschrocken steckte sie den verbrannten Finger in den Mund. Aber, was war das?
Auf einmal hörte sie die verrücktesten Dinge. Eine Kröte sagte zur anderen:
„Guten Tag, Frau Nachbarin, herrliches Wetter heute, nicht wahr?“ „Oh ja“,
antwortete diese, “schon lange nicht so herrliches Regenwetter gehabt!“
Sie hörte, wie eine Fliege der anderen einen Witz erzählte und beide vor Lachen
abzustürzen drohten. Offenbar verstand sie plötzlich die Sprache der Tiere! Ein Hase
kam dahergehoppelt und sah Lisa aus großen Augen an. Dann bewegte sich seine
kleine Hasenschnauze und er begann klar und verständlich zu sprechen:
„Kleines Mädchen, armer Wicht, weißt du nicht, weißt du nicht?“
„Was soll ich denn wissen, kleiner Mümmel?“ fragte Lisa, etwas belustigt über die
lustige Redeweise des Hasen.
„Königin nun böse ist, sie dich frisst, sie dich frisst!“
Das war ja nun doch sicherlich ein bisschen übertrieben, fand Lisa. Die Moorkönigin
war wohl sehr streng aber doch kein Ungeheuer! Da kam sie auch schon und sah
gleich, was passiert war. Ihre Züge waren vor Wut und Ärger ganz verzerrt. Lange
Krallen wuchsen statt der Fingernägel an ihren Händen und spitze Zähne ragten aus
ihrem Mund. Sie schrie:
„Nun muss ich dich fressen!“
Und schon griff sie nach dem zitternden Mädchen. Das rannte um sein Leben und
wünschte sich, eine Maus zu sein, um sich schnellstens vor dem Ungeheuer zu
verstecken. Kaum gedacht, schon passiert. Lisa war eine Maus. Aber die
Moorkönigin war auch nicht faul. Sie verwandelte sich in eine große Katze und drohte
schon, die Maus zu fangen, da verwandelte sich Lisa schnell in einen Fisch im Teich
und schwamm davon. Die Moorkönigin aber wurde mit einem Male zu einer großen
Ringelnatter und wollte den Fisch verschlucken. Das nützte also auch nichts. In ihrer
Angst erinnerte sich Lisa an das, was Maghlum zu ihr gesagt hatte: „die Moorkönigin
liebt Sing....“ Schnell, gerade im allerletzten Moment, verwandelte sie sich wieder in
ihre wahre Gestalt zurück und begann zu singen, so gut sie nur konnte. Das kleine
Mädchen sang um sein Leben, so inbrünstig wie noch niemals vorher. Alle Lieder,
die es jemals gelernt hatte, sang es der zornigen Moorkönigin vor. Und siehe da, es
half! Deren Züge wurden mit einem Mal friedlich und entspannt, die Krallen
verschwanden und auch die Reißzähne, und bald hatte sie wieder ihre alte, liebliche
Gestalt. Sie begann, sich glücklich im Takt des Liedes zu wiegen. Lisa wagte nicht,
mit dem Singen aufzuhören. Zu sehr fürchtete sie, das Ungeheuer könne wieder
erscheinen. So sang und sang sie, bis sie nicht mehr konnte. Zuletzt sang sie noch
alle Schlaflieder, die ihr nur einfielen, von ‚Schlafe, mein Prinzchen’ bis ‚Heidschi,
Bumbeidschi’ und wirklich, die Moorkönigin schlief endlich, endlich ein. Lisa wären
ohnehin keine Lieder mehr eingefallen. Nun aber fragte Lisa alle Tiere des
Hofstaates, ob sie wüssten, wo ihre Ziege sei. Der Hase führte sie zu einer kleinen
Höhle, und da stand sie, gut genährt und unversehrt! Schnell band Lisa sie los und
eilte zu der Wurzel mit dem Erdloch. Sie hielt ihren Finger, von dem sie jetzt wusste,
dass er ein Wunschfinger geworden war, hoch und wünschte sich an die Oberwelt.
Und wirklich, da war sie, als wäre sie niemals weg gewesen. Der Mond stand voll am
Himmel, die Sterne leuchteten, wie damals, als sie ins Reich der Moorkönigin
aufgebrochen war. Auch Maghlum war da. Aber, nun war er bloß ein Stein. Er rührte
sich weder, noch redete er, dennoch strich Lisa sanft über seine raue Oberfläche und
sagte: "Danke, Maghlum, mein Freund, dass du mir geholfen hast, ich werde dich nie
vergessen.“ Dann ging sie mit ihrer Ziege nachhause. Wahrscheinlich hielten sie das
Mädchen dort schon lange für tot, nach so langer Zeit! Ob ihre Eltern sie wohl noch
erkannten?
Aufgeregt klopfte sie an die Türe. Ihre Mutter öffnete und schloss ihr Töchterchen
freudig in die Arme: „Wo warst du denn den ganzen Tag, hast du dich verirrt, ich
habe mir schon große Sorgen um dich gemacht?“ Jetzt verstand Lisa gar nichts
mehr. Hier war alles wie immer, als wären keine sieben Jahre vergangen seit ihrem
Verschwinden! Und so war es auch. Die Zeit im Moorreich war eine ganz andere als
hier, wo kein einziger Tag vergangen war, seit Lisa mit der Ziege ins Moor gegangen
war. Es war, als wäre dies alles niemals passiert. Nur der Finger, er blieb ein
Wunschfinger, solange Lisa lebte. Und sie wünschte sich und ihrer Familie damit
Wohlstand, Gesundheit und ein zufriedenes Leben. Jedes Jahr einmal aber besuchte
sie ihren Freund Maghlum und legte auch immer ein kleines Geschenk auf seinen
runden Bauch: einige Blumen, Beeren oder auch Getreidekörner. Und noch etwas:
die Sprache der Tiere verstand sie, solange sie lebte.
Merlins Sack birgt noch viele Dinge. Es ist ja auch ein richtiger Zaubersack, und ein solcher
wird niemals wirklich leer. Nun, welche interessanten Sachen hast du denn noch für uns,
Merlin? Wieder kommt etwas ans Tageslicht. He, hallo, da ist ja gar nichts in seiner Hand!
Wirklich nichts? Seht doch nur genauer hin, da ist doch etwas, etwas Kleines, braun und
unscheinbar, Apfelkerne! Was soll denn bitte, an Apfelkernen schon besonderes sein? Nun,
aus diesen kleinen, braunen Dingern werden schließlich einmal große Apfelbäume. Wenn
das nicht ein Wunder ist, dann weiß ich nicht, was sonst eines sein sollte! Und noch etwas:
in Wahrheit sind das nicht nur Kerne – nein, es sind Sterne! Wieso, das sollen sie Euch jetzt
selbst erzählen. Hört also die Geschichte von der
Apfelbaum – Großmutter
Als der Star Trill aus seinem Winterquartier zurückkehrte, fand er sich überhaupt
nicht zurecht. Wo war nur seine Kinderstube vom letzten Jahr hingekommen? Ja, wo
war denn das ganze, wunderbar, geräumige Haus, das ihn und seine Freunde so
gastlich aufgenommen hatte im letzten Sommer und so viele Sommer davor? Er
hatte sich so gefreut auf den alten, knorrigen Apfelbaum mit seinen gemütlichen
Höhlen! Wie hatte es immer gesummt vor Leben in seinem Gezweig, das unzählige
Vogelkinder im ersten Sommer ihres Lebens beschützt und gewiegt hatte! Wie hatte
sich Trill beeilt auf seinem Flug in den Norden, er wollte als Erster die geräumigste
uns sicherste Höhle besetzen. Denn es gab immer so viel zu tun, und der Sommer
war manchmal so schrecklich kurz. Die Starenweibchen waren sehr anspruchsvoll
bei der Partnerwahl, und es konnte oft ziemlich lange dauern, bis sie sich für ein
Männchen und seine Wohnung entschieden. Da durfte man keine Zeit verlieren! Die
Eier mussten gelegt und ausgebrütet werden, die geschlüpften Jungen sperrten von
früh bis spät ihre immer hungrigen Schnäbel auf. Vater und Mutter kamen nicht zur
Ruhe, bis die Kleinen endlich ihre ersten Flugversuche begannen, ........und dann, ja,
dann war's auch schon vorbei mit dem Sommer, und die Rückreise in den Süden
stand bevor, mit all ihren Gefahren. Und nun das! Nur ein trauriger Baumstumpf war
an der Stelle zu sehen, an der er seine Wohnung erwartete hatte!
Und noch etwas war ganz und gar nicht in Ordnung: ganz unten, im Erdgeschoss, im
stehen gebliebenen Baumstumpf, die Wohnung der Wichtelfamilie, sie war leer! Was
sollte auch ein gefällter Apfelbaum noch mit seinen pflichtbewussten Betreuern, wo
es rein gar nichts mehr zu betreuen gab? Dies schien ein trauriger Sommer zu
werden, nicht nur für Trill, nein, auch für den ganzen Garten und alle seine
Bewohner, die Tiere, die Blumen und auch für die Menschen. Dass sie den alten
Apfelbaum umgeschnitten hatten, bewies, dass etwas mit ihren Augen nicht stimmen
konnte und auch mit ihren Herzen, oder mit den Augen ihres Herzens...... wie immer
man es auch nennen mag. Es konnte nur heißen, dass ihre Augen zu viel auf
flimmernde Bildschirme, Zahlen und Buchstaben geblickt hatten, und ihre Herzen zu
lange in kalte Mauern eingesperrt gewesen waren. Denn sonst hätten sie das
strahlende Licht doch wahrnehmen müssen, welches den Baum einhüllte und die
vielen, vielen Sterne in seiner Krone leuchten und blinken ließ. ( Ja, ja Sterne, Ihr
habt richtig gehört, und bald werdet Ihr auch verstehen, was es damit auf sich hat).
Und dann die Baumfee. Sie hatte dem Baum das Leben gegeben. Durch sie war er
zu etwas ganz Besonderem geworden, zur Großmutter aller Apfelbäume in der
Gegend. Großmutter Apfelbaum zu sein, war eine verantwortungsvolle Aufgabe. Sie
hatte die jungen Bäumchen zu behüten, ihr Wachsen und Gedeihen zu überwachen,
ihnen Lieder aus der Ahnengeschichte der Apfelbäume zu singen, damit sie wussten,
wer sie waren, woher sie kamen und was sie einst werden sollten. Ja, die Familie
Apfelbaum hat eine lange Geschichte, die weit, weit zurück reicht in die
Vergangenheit. Dort trifft sie sich mit der Geschichte der Menschen. Die beiden
Geschichten, die der Apfelbäume und die der Menschen, sie sind ineinander
verwoben und verschlungen wie ein Ornament, und das schon seit Anbeginn der
Tage, wie wir wissen. Sicher kennt Ihr ja auch die uralte Geschichte von Adam und
Eva und vom Paradies - und von der Schlange, die uns Menschen das Apfelessen
beigebracht hat. Aber, das ist wiederum eine andere Geschichte und gehört jetzt
nicht hierher.
Im Sommer summte und brummte es überall auf den Obstwiesen von diesen
Liedern. Das Summen erfüllte die warme Sommerluft, wenn alle Baumgroßmütter
ihren Schützlingen ihre Lieder sangen. Die meisten Menschen, die sich so gescheit
dünken, sagen, das Summen käme von den Bienen. Wir aber, nicht wahr, Ihr und
ich, wir wissen es besser. Und weil wir auch wissen, dass es für niemanden gut sein
kann, wenn so wichtige Persönlichkeiten wie Baumgroßmütter einfach so mir nichts,
dir nichts, von heute auf morgen verschwinden, können wir uns auch schon denken,
dass diese Geschichte nicht gut enden wird, wenn nicht........ Na, wir werden
sehen......Vielleicht kann es doch noch ein gutes Ende geben. Aber davor kommt
natürlich erst einmal der Anfang. Also, das war so:
Angefangen hatte alles damit, dass die Familie Huber, oder eigentlich Mutter Huber
fand, dass der alte Apfelbaum zu viel Licht und Platz brauchte, Platz, der ihren
Rosenbeeten, ihrem englischen Rasen und ihrem Liegestuhl zustand. Diesen
wiederum brauchte sie zum Braunwerden. Wozu hatte man denn einen Garten, wenn
man nicht einmal so richtig sonnenbaden konnte? Na eben! Und der Apfelbaum war
doch ohnehin schon so alt und ganz hohl innen drinnen. Die paar Äpfel konnte man
doch viel einfacher und bequemer im Supermarkt kaufen, ganz ohne mühsames
Bücken, Laub wegräumen und lästigen Schatten. Die kleine Eva allerdings wollte
den alten Baum nicht missen, sie liebte ihn. Aber ihre Augen waren eben noch in
Ordnung, sie sah, was ihre Eltern nicht mehr sehen konnten, sah das Leuchten,
spürte die Wärme der Apfelbaumgroßmutter und freute sich am Rauschen des
Windes in ihren Zweigen und am Gesang ihrer gefiederten Untermieter. Sie wusste
auch, dass die Höhle am Fuß seines Stammes eine Wichtelwohnung war. Aber,
wenn sie ihre Eltern eindringlich darauf aufmerksam machte, lächelten diese
einander verstehend zu, mit vielsagenden Blicken, die heißen sollten: "Mein Gott,
das Kind, es hat ja so viel Phantasie...... !" Und damit war's auch schon entschieden,
was mit dem Baum geschehen sollte; und es geschah, auch gegen den lautstarken
Protest, gegen die Tränen Evas und trotz der halbherzigen Einwände von Vater
Huber, welcher meinte, die Apfelbaumsache müsse doch noch nicht jetzt
entschieden werden. Als Eva am nächsten Tag von der Schule heimkam, war von
ihrem Lieblingsbaum nur mehr ein exakt aufgeschichteter Haufen ordentlich
gespaltener Scheite geblieben, für den offenen Kamin im Wohnzimmer, wie Vater
sagte. Eva verzog sich traurig in ihr Zimmer und war nicht zu bewegen, im Garten zu
spielen, trotz der wohlmeinenden Ermahnungen ihrer Mutter, die mehrmals betonte,
wie unvernünftig es doch sei, an einem so schönen Tag im Zimmer......Nun, ja, man
kennt das ja. Aber, was wissen denn die meisten Erwachsenen schon von den
wirklich wichtigen Dingen, wie Baumfeen, Apfelbaum - Großmüttern und
obdachlosen Wichtelfamilien, ich frage euch im Ernst: was wissen sie? Seht Ihr, Ihr
müsst mir Recht geben, die meisten von ihnen wissen davon nicht viel. Sie hören
leider auch selten auf ihre Kinder, sonst wüssten sie ja vielleicht etwas mehr.
Irgend etwas war seitdem nicht mehr in Ordnung. Irgend etwas stimmte nicht mehr.
Irgend etwas war anders in diesem Sommer. Niemand in der Familie konnte so
richtig sagen, was es eigentlich war. Die Sonne schien warm vom Himmel, meistens
jedenfalls. Frau Huber genoss ausgiebig ihren neuen Liegestuhl, die Rosen blühten,
die Bienen summten, die Rasenmäher ratterten, die Gartengriller rauchten, alles
hatte also seine Richtigkeit, oder doch nicht? Eine eigenartige Freudlosigkeit legte
sich wie hauchfeiner Nebel um die Gemüter der Menschen. Die Nachbarn stritten
wegen nichtiger Kleinigkeiten, wie über den Zaun wachsender Äste oder Katzen, die
ihr Geschäftchen in den Blumenbeeten verrichteten oder lärmender Kinder, immer
öfter miteinander. Auch Evas Eltern waren des öfteren mürrisch und verdrossen. Eva
spielte immer öfter in ihrem Zimmer. Mit Nintendo. Oder dem Legohaus. Aber nichts
davon machte sie so glücklich, wie damals das Wichtelhaus und ihr versteckter Platz
in der Krone des alten Apfelbaumes. Ach ja! Die Wichtel. Wo sie nun wohl sein
mochten?
Dann war Ferienbeginn. Eine Flugreise stand heuer auf Familie Hubers Programm.
Nach Griechenland. Zum Baden im Mittelmeer. Damit wurde es aber nichts, weil Eva
plötzlich erkrankte. Schwer erkrankte. Sie hustete und bekam hohes Fieber, das
nicht und nicht sinken wollte. Als Eva immer schwächer und blasser wurde, stellte die
Hausärztin eine schwere Lungenentzündung fest, und Eva wurde ins Spital gebracht.
Die Eltern waren sehr besorgt und dachten nicht mehr an Griechenland und das
Meer. Sie saßen am Bett ihres Kindes und wünschten nur, dass es wieder bald
gesund werden sollte. Aber Eva merkte davon nichts, sie hatte anderes zu tun.
Sie irrte durch eine seltsame Landschaft. Ganz still war es, und kein Vogel sang. Die
Sonne brannte heiß vom Himmel, kein einziger Baum war da, um Schatten zu
spenden. Was wollte sie denn eigentlich hier? Irgendwas suchen, aber was? Sie
wusste, es war ganz wichtig. Wenn sie sich nur erinnern könnte, was es war! Als sie
den fernen Horizont nach einem Anhaltspunkt absuchte, stolperten ihre müden Füße
über etwas, eine alte, knorrige, verdorrte Wurzel. "Autsch!" sagte jemand.
"Entschuldigung", sagte Eva, denn sie war ein wohlerzogenes Mädchen. Aber da war
niemand, der ihre Entschuldigung hätte annehmen können, absolut niemand. Außer
natürlich......... die Wurzel?.........Nun, Wurzeln, die 'autsch' sagen, waren auch für
Eva einigermaßen ungewöhnlich. Deshalb bückte sie sich tief hinunter, um dieses
seltsame Ding genauer in Augenschein zu nehmen. Ihr könnt euch ihre
Verwunderung vorstellen, als die tiefen Furchen der alten Wurzel plötzlich zu einem
faltigen Gesicht wurden, das Eva freundlich und etwas traurig anlächelte, zum
Gesicht einer ururalten Frau. Aber wo war alles Andere von der Alten? Gesichter mit
nichts dabei pflegten doch nicht so einfach in der Landschaft herumzuliegen,
zumindest nicht dort, wo Eva herkam!
"Guten Tag!" grüßte das Mädchen höflich, " ich heiße Eva und habe mich hier
verlaufen. Aber, es scheint, dass nicht nur ich in Schwierigkeiten stecke. Du steckst
auch wo, ich glaube, etwas zu tief im Boden, oder?"
Die Runzeln der Alten verzogen sich zu lustigen Lachfalten, und Eva hörte ein tiefes,
grollendes Gelächter, das so gar nicht das einer alten Frau war. Es schien tief aus
dem Erdboden zu kommen, dorther, wo allem Anschein nach, der Bauch dieser
seltsamen Dame sein musste. Gleich darauf wurde das Gesicht wieder ernst.
"Ich weiß, wer du bist", sprach das Gesicht mit der schon bekannten, tiefen und
vollen Stimme. "Wir beide haben einander nicht ganz zufällig hier getroffen, weißt du,
ich habe dich nämlich gerufen."
"Gerufen? Du? Mich? Wie ist das möglich, ich habe dich doch gar nicht gehört?"
Evas Verwunderung wuchs schier ins Unendliche.
"Nun, du bist aber doch gekommen. Das ist das Wichtigste", erwiderte die Alte.
Nun verstand Eva überhaupt nichts mehr. Sie fragte: "Wo sind wir hier denn
eigentlich, und was soll ich hier tun? Ich kenne mich überhaupt nicht aus, vielleicht ist
das hier auch nur ein Traum, und ich werde gleich in meinem Zimmer
aufwachen.....!"
"Vielleicht", sagte die Alte geheimnisvoll, "vielleicht aber auch nicht.... Du solltest dir
darüber nicht den Kopf zerbrechen, denn wir haben jetzt Wichtigeres zu tun."
"..................................... ?"
"Wir müssen einander helfen, du und ich. Aber, ich habe mich dir ja noch gar nicht
vorgestellt! Eigentlich müsstest du mich ja kennen, aber, na ja, ich sehe jetzt doch
ziemlich anders aus, als du mich in Erinnerung hast. Ich bin die Großmutter aller
Apfelbäume, und bis vor kurzem habe ich in Eurem Garten gewohnt."
Schlagartig fiel Eva alles wieder ein: der Garten, ihre Familie, der gefällte Baum, der
ganze, komisch graue Sommer und ihre Erkrankung. Plötzlich wusste sie: dies alles
war kein Zufall gewesen. Es hatte mit dem Fällen des alten Apfelbaumes zu tun! Sie
hätte es gleich wissen müssen! Ja, und irgendwie hatte sie es auch geahnt, tief
drinnen, dort, wo eine leise Stimme in jedem von uns wohnt, die uns allen immer
sagt, was gut ist für uns und was nicht, wenn wir ihr nur zuhören.
"Ich sehe, du verstehst jetzt", sagte das Wurzelgesicht, "lass uns also gehen."
"Gehen? !" Schon wieder war Eva verwirrt. "Wie willst du denn gehen, du steckst
doch hier fest!"
Doch die Alte blies dem Mädchen nur einmal ins Gesicht, und schon wurde es finster
um Eva, und sie spürte, wie sie tief in die Erde versank. Als sich das Dunkel langsam
lichtete, glaubte sie, zu träumen. Oder träumte sie nicht schon die ganze Zeit? Ach,
egal, dies hier war ein äußerst seltsames Abenteuer. Traum oder nicht Traum, was
machte das schon für einen Unterschied! Was sie jetzt sah, war ganz zauberhaft, das
kann ich Euch sagen! Ein zartes, goldfarbenes Leuchten war um sie her. Dieses
Licht war aber keinesfalls nur sichtbar, nein, es enthielt so viel mehr. Es enthielt eine
wundersame, froh machende Musik, es duftete zart nach frischen Äpfeln und nach
Apfelblüten und Honig gleichzeitig, und es fühlte sich auf Evas Haut an, wie ihr
neues Schaumbad zu Hause, weich und seidig und gleichzeitig prickelnd und
erfrischend. Eva fühlte sich so wohl, so unsagbar friedlich und fröhlich wie schon
lange nicht mehr.
"Willkommen im Land der Apfelbäume!",
sagte eine warme Frauenstimme neben ihr. Sie gehörte einer Frau mit rosiger Haut,
langem, honigfarbenem Haar und einem Kleid aus zartgrünen Blättern, das ihre
schlanke, hohe Figur lose umspielte. Auf dem Kopf trug sie einen Kranz aus
Apfelblüten. Sie war so wunderschön! Sie sah aus, wie die Fee in Evas Lieblings Märchenbuch.
"Du....bbbist.....dddie......dddie......die Fee! Bbbisst dddu.ddu.u..dddie Fffee?"
Eva stotterte vor Aufregung und Verblüffung. Die Frau lächelte freundlich und etwas
belustigt.
"Ja, ich bin die Baumfee und gleichzeitig auch die Alte von vorhin, die Apfelbaum Großmutter, die Königin im Reich der Apfelbäume. Wir kennen uns schon."
"Aber, wie kannst du gleichzeitig so alt und so jung, so runzelig und so schön sein? !
Ich verstehe nicht....."
"Du wirst verstehen....bald....wart' s nur ab. Und jetzt komm!"
Damit drehte sich die rätselhafte Fee - Königin - Großmutter um und ging vor Eva her
auf eine blumenbestandene Apfelbaumwiese zu, auf der ein geschnitzter Thron
stand. Sie setzte sich darauf und lud das Mädchen ein, sich zu ihren Füßen
niederzulassen. Dann klatschte sie in die Hände. Da kamen auf einmal zwischen den
Wurzeln des zunächst stehenden Baumes kleine, zwergenhafte Gestalten mit roten
Zipfelmützen und braunen Wämsern hervor. Als Eva sie sah, jauchzte sie laut auf:
"Die Wichtel, es sind meine Wichtel. Da sind sie ja!" Die kleinen Gestalten umringten
Eva und tanzten freudig um sie herum. Dabei sangen sie immer wieder mit ihren
feinen Stimmchen:
"Zipfel, zapfel, Apfelbaum,
sie ist hier,
es ist kein Traum!
Zipfel, zapfel, Apfelbaum,
Apfelschaum,
Zapfeltraum,
Tripfeltram,
Bipfelkram,
Zipfelzahm,
Kipfelrahm,
Gipfelbahn,
Schnipfelmann....."
So wäre es wahrscheinlich noch lange weitergegangen, denn das war die Art der
Wichtel, ihre Freude auszudrücken. Jetzt aber mahnte die Baumfee ihren Hofstaat:
"Vergesst über Eurer Freude bitte nicht, dass unser Gast sicher hungrig sein muss.
Wir wollen doch nicht ungastlich sein, oder?" Auf der Stelle unterbrachen die kleinen
Kerle ihren Freudentanz und huschten zurück zu der Baumwurzel, aus der sie kurz
vorher hervor gekommen waren. Gleich darauf erschienen sie mit irdenen Krüglein,
voll mit süßem Apfelwein und schleppten kleine Platten mit Küchlein herbei, die mit
braunem Sirup übergossen waren. Sie forderten Eva auf, sie in den dickflüssigen,
süßen Rahm zu tunken, den sie ebenfalls eiligst herbei trugen. Es schmeckte einfach
himmlisch, das könnt Ihr mir glauben. Schon lange hatte Eva nicht mehr mit solchem
Appetit gegessen. Einige der Wichtel begleiteten auf winzigen Instrumenten den
Gesang der unzähligen Vögel, die überall in den Zweigen umher schwirrten. Als es
bald darauf dämmerte und dann dunkel wurde, blinkten Millionen und Abermillionen
kleiner Leuchtpunkte im Geäst der Bäume auf. Es sah aus, wie auf der Hauptstrasse
von Evas Heimatort in der Adventzeit, wenn die Weihnachtsbeleuchtung
angeschaltet wurde, nur noch viel, viel schöner. Eva klatschte vor Entzücken in die
Hände. Dies war wirklich das Allerschönste, was sie jemals erlebt hatte! Die
Apfelbaum - Königin wandte sich lächelnd dem Mädchen zu:
"Gefallen dir unsere Sternenbäume, Eva?"
"Sie sind wunder - wunderschön, ich wollte, wir hätten bei uns daheim auch so
etwas!" rief Eva verlangend aus.
Nun wurde die Fee ernst: "Aber das habt ihr doch, weißt du denn das nicht?"
Nun, das wusste Eva allerdings nicht. Sie hatte wohl schon oft einen eigenartigen
Schimmer um ihren alten Apfelbaum im Garten zu sehen gemeint, aber dieses
Leuchten, nein, dass es so etwas gab, hatte sie bisher niemals auch nur geahnt.
Die Fee nahm das Kind nun bei der Hand und führte es zu einem der Sternenbäume.
Sie pflückte einen Apfel und brach ihn auseinander. Jetzt sah Eva, woher das
Leuchten kam: es strahlte aus dem Inneren der Frucht hervor, dort, wo das
Kerngehäuse ist.
"Sieh genau hin", forderte die Fee das Mädchen auf, dann weißt du, was da so hell
leuchtet!"
Und wirklich, da war...... ein Stern! Die Kerne des aufgebrochenen Apfels bildeten
das Muster eines Sternes, eines wirklichen, echten Sternes! Unglaublich!
"Und nun höre, mein Kind," die Fee war mit einem Male ganz ernst geworden und
sprach eindringlich:
"Es sind, neben der Sonne, dem Mond und den Sternen am Himmel auch diese
Sterne, die Euch Menschen da oben, in Eurer Welt leuchten. Ihr Licht kommt direkt
von hier, aus dem Land der Apfelbäume und gibt Eurem Körper Kraft und
Gesundheit und Eurem Gemüt Fröhlichkeit. Es macht Eure Welt hell. Wir aber, hier in
unserer Welt, erfreuen uns an Eurem Frohsinn und an Eurer Freundschaft für unsere
Sternenbäume. Löscht daher diese Sterne nicht leichtfertig aus, dann wird es Euch
und uns gut gehen. Du weißt, was ich meine?"
Eva wusste wohl, was die Fee meinte. Bekümmert dachte sie an den alten
Apfelbaum, den ihr Vater umgeschnitten hatte.
"Sei nicht mehr traurig!" tröstete die Fee sie, "du kannst unserer und eurer Welt
helfen. Willst du das?"
Was für eine Frage, natürlich wollte Eva das! Es gab nichts, was sie lieber getan
hätte. Aber wie? Fragend blickte sie die Fee an. Die aber legte Eva schweigend
einige glitzernde Samensterne in die Hand und schloss die Finger des Mädchens
darum. Dann umarmte sie Eva zärtlich und sprach:
"Es ist nun an der Zeit, Abschied zu nehmen, meine Kleine. Geh zurück in deine
Welt, pflanze die Sterne dort ein und behüte sie gut, damit sie zu Apfelbaum Kindern, später zu Apfelbaum - Müttern - und Vätern und nach vielen Jahren zu
Apfelbaum - Großmüttern - und Großvätern werden können, zu Wichtelhäuschen und
Vogelwohnungen, zu Bienenspeise und Menschennahrung - und, das vergiss nie,
denn es ist das Allerwichtigste: zu Sternenbäumen, in welchen die guten Feen
wohnen und über Eure Welt wachen. Leb wohl, Eva, und vergiss uns nicht!"
Die Wichtel drängten sich noch einmal um Eva. Jedes von ihnen wollte von ihr
aufgehoben und zum Abschied geküsst werden. Dabei kratzten und kitzelten ihre
Bärte so, dass das Mädchen trotz seiner leisen Wehmut laut auflachen musste. Die
lustigen Kleinen sangen ihr auch ein Abschiedsständchen:
"Zipfel - zapfel Apfelwein,
einmal muss geschieden sein.
Zipfel - zapfel Apfelkern,
wo Du bist, sind wir nicht fern!
Zipfel - zapfel Apfelschmaus,
wir freu' n uns auf das neue Haus.
Zipfel - zapfel Wichtelhaus,
Wichtelmaus,
Michtelwaus,
Tichtelgraus,
Gschichtel aus".
Nachwort: Ja, hier ist unsere Geschichte eigentlich aus. Aber ich könnte mir
vorstellen, dass Ihr gerne noch einige Dinge wissen möchtet, zum Beispiel, ob Eva
wieder gesund geworden ist, und ob sie die Sternen - Kerne auch wirklich
eingepflanzt hat, und ob für Trill und seine Familie und für die Familie Wichtel wieder
eine Unterkunft daraus geworden ist, und ob die Apfelbaum - Großmutter wieder ihre
Lieder singt, und und und...
Puh, wartet einmal, eines nach dem Anderen! Also:
Ja, Eva ist wieder gesund und putzmunter. Ihre Mutter war ziemlich erstaunt, als sie
mit einem lauten Lachen in ihrem Krankenhausbett erwachte. Sie konnte ja nicht
wissen, dass die Wichtelbärte so kitzelten. In ihrer Freude über die Genesung ihres
Töchterchens erlaubte sie auch, dass Eva die Sternenkerne im Garten pflanzte.
Schon sind daraus einige gertenschlanke Baumkinder geworden. Bis sie allerdings
selber Sterne tragen und Wohnungen für alle möglichen Untermieter geworden sind,
werdet Ihr und Eva wahrscheinlich selbst schon Mütter und Väter sein. Ja, es dauert
eben seine Zeit, bis Bäume groß werden. Deshalb, seid achtsam und behütet die
Sternenbäume, damit das Licht nicht weniger wird in unserer Welt. Und so gesehen
ist eigentlich diese Geschichte niemals zu Ende, zumindest solange es die
Sternenbäume gibt.
Übrigens: auch Ihr könnt einen Apfel – Stern sehen. Ihr müsst nur einen Apfel quer
durchschneiden, oder Ihr bittet einen Erwachsenen darum, es für Euch zu tun. Es ist
auch gar nicht schwierig, selbst einen Sternenbaum zu pflanzen. Ihr braucht dazu
drei Dinge: Erde, Wasser und viel Geduld. Denn, wie schon gesagt, es dauert einige
Zeit, bis aus einem Kern ein Baum wird.
„Vor gar nicht langer Zeit machte ich einen Besuch in Eurer heutigen Welt, dort, wo
Ihr hergekommen seid“, erzählt Merlin, und dabei lächelt er verschmitzt. Es war an
einem Tag, den Ihr heute wie ein lustiges Faschingsfest feiert. Vor langer, langer Zeit
aber, damals, als ich noch nicht hier, in der Anderswelt lebte, sondern dort, bei Euch,
war das ganz anders. Dieses Fest hieß Samhain und war das Fest der Toten, so
ähnlich wie heute Allerheiligen. Na, egal, jedenfalls habe ich etwas mitgebracht von
dort.“
Aus dem Zaubersack erscheint ein großes, rundes, orangefarbenes Ding: ein Kürbis.
Es ist aber kein gewöhnlicher Kürbis, nein, sondern einer mit Augen und Nase und
einem großen, zähnefletschenden Mund, ein Halloween – Kürbis. Innen drinnen
leuchtet eine Kerze. Außerdem kann er sprechen. Er erzählt uns eine richtige
Halloween – Geschichte
Gib acht! An Tagen wie diesem kann vieles geschehen! Die Grenzen zwischen
Wirklichkeit und Traum verschwimmen wie im Nebel. Dann kann es geschehen, dass
man sich ganz woanders wiederfindet. Wo? Keine Ahnung! Wahrscheinlich irgendwo
in der Anderswelt! Das ist vor einiger Zeit passiert, jemandem, der darauf überhaupt
nicht vorbereitet war und große Angst hatte.
Dieser Jemand heißt Pauli und ist ein achtjähriger Bub. Am Halloweenabend lief er
mit seinen Freunden von Haus zu Haus und klopfte an die Türen. Er selbst hatte sich
als Zauberer verkleidet, so wie Harry Potter, sein großes Vorbild. Spitzer Hut,
Zauberstab, Nickelbrille, ihr wisst ja, wovon ich spreche. An jeder Türe in ihrem
kleinen Ort hatten sie schon angeklopft und lauthals geschrien: „Gebt uns Süßes,
sonst gibt’s Saures!“ Ein ganzes Säckchen mit klebrigem Zuckerzeugs hatten sie
schon beisammen. Jetzt gab es nur noch ein einziges Haus, und das lag ein wenig
außerhalb der Ortschaft, mitten im Wald. Dort lebte, na, ja, so eine komische alte
Frau, die Alte Höllerin, wie sie jeder im Ort nannte. Wie sie wirklich hieß? Die Kinder
wussten es nicht. Sie jedenfalls nannten sie immer nur: „die Hex’“. Ehrlich gesagt, sie
sah wirklich ein wenig wie eine Hexe aus dem Märchenbuch aus: uralt, verkrümmt,
mit nur mehr einem einzigen Zahn im Mund. Wunderlich war auch ihr Benehmen. Sie
kam nur selten in den Ort und redete mit kaum einem Menschen außer mit sich
selbst, das aber fast unaufhörlich. Wahrscheinlich hätte sie sonst ohnedies niemand
verstanden.
„Wer traut sich zur Hex’?“, rief Max, der frechste aller Buben plötzlich
herausfordernd. „Ich, ich“, schrien alle Kinder durcheinander. Nur Pauli hatte ein
wenig Bedenken: „Es ist schon finster, und dann noch durch den Wald..........meine
Mutter hat gesagt, ich soll gleich heimkommen, wenn wir im Ort fertig sind.....“
„Feigling, Feigling! Der Pauli ist ein Traumichnicht! He, du willst der Harry Potter sein
und traust dich nicht einmal zur Hex’!“ Das war zu viel, eindeutig. Pauli sah sich
gezwungen, seine Ehre zu retten! „Doch trau’ ich mich! Kommt, gehen wir!“ Und
schon ging er beherzt in Richtung Wald. Jetzt aber zögerten die Anderen ein wenig,
und immer mehr kleine Gespenster, Monster, Zauberer und Hexen verschwanden in
ihren Häusern, bis zuletzt nur noch Maxi das Gespenst, Susi, das Gruselmoster,
Monika, die Außerirdische und Pauli, der Zauberlehrling übriggeblieben waren. Am
liebsten hätten sie das Ganze abgeblasen, aber keiner wollte vor den Anderen als
Feigling dastehen, keiner. Da hieß es nun, mutig und tapfer zu wirken, auch wenn die
Knie, nun ja, ein wenig weich waren.......
Im Wald war es natürlich schon ein bisschen finsterer als draußen, im Ort.
Geisterarme griffen nach den Dreien, sie winkten.....oder waren es nur Äste, die sich
im Wind bogen? Da! die Gestalt eines grimmigen Trolles erschien plötzlich neben
dem Weg, oder war es doch vielleicht nur eine umgestürzte Wurzel? Aber, immer,
wenn die Kinder wegsahen, bewegte sich das Ding, was immer es auch war, dessen
waren sie sich ganz sicher! Und dann! Etwas huschte über den Weg. „Iiiihhh, ein
Gespenst, Hilfe!“, drang ein Angstschrei aus dem Raumfahrerhelm des
Außerirdischen. Jetzt war es endgültig mit dem Mut der Kinder vorbei. Sie machten
auf der Stelle kehrt und liefen und liefen....Wohin? Zurück natürlich. Mut hin, Ehre
her, aber was zuviel ist, ist zuviel, auch für Halloween – Gespenster! „He, wartet,
wartet doch!“ Der Pauli - Zauberlehrling war über einen Stein (oder eine Monster Giftschleimkröte?!) gestolpert und der Länge nach hingefallen. Aber keiner seiner
Kameraden hörte in seiner Angst auf sein Rufen. Sie waren über alle Berge - und
Pauli ganz alleine! Pauli hätte vor lauter Furcht beinahe ....na ja, geweint oder in die
Hose gemacht oder sonst was. Da kam ihm aber Harry Potter zu Hilfe. Was hätte der
wohl in seiner Situation gemacht? Vor allem einmal hätte er sich alle Gespenster,
Giftschleimkröten und Trolle richtig angesehen, um festzustellen, was sie wirklich
waren. Ein richtiger Zauberlehrling fürchtete sich nicht vor solchen Figuren.
Außerdem, vielleicht waren es ja wirklich nur Steine, Wurzeln und Äste? Jedenfalls
wäre er nicht wie angenagelt hier, mitten im Wald, stehen geblieben und hätte
gezittert, er nicht, nein, niemals! Also vorwärts, Pauli, äh, Harry, einen Schritt vor den
anderen, immer weiter!
Aber, nanu! Diese Lichtung, hatten sie die beim Herkommen auch überquert? Pauli
konnte sich beim besten Willen nicht erinnern......Er hatte sich doch nicht etwa
verirrt? Oder doch? Oder d o c h !!! Und da, stand da nicht ein Haus am Rande der
Lichtung, ein kleines, ein altes und etwas windschiefes? Aber das war ja völlig
unmöglich, sie waren doch umgekehrt und in Richtung Dorf gelaufen, hinaus aus
dem vermaledeiten Wald! Heiliges Rhinozeros! Wieso bitte, stand er dann jetzt
genau hier, hier, wo er niemals hätte hinkommen dürfen auf seinem Weg nachhause,
in die Sicherheit, zu den anderen Menschen, dorthin wo es Licht war und alle Dinge
das waren, was sie zu sein hatten? Das hier ging entschieden nicht mit rechten
Dingen zu. Er war beim Häuschen der alten Höllerin, der Hex’ gelandet, irgendwo im
Lande Weißnichtwo. Was sollte er jetzt tun? Zurück durch den f ü r c h t e r l i c h e n,
verhexten Wald, ganz alleine, nein, das nicht, nicht einmal als Harry Potter! Da war
Licht in einem Fenster der kleinen Hütte, schwach zwar und flackernd, aber
immerhin, Licht bleibt Licht. Sollte er....durfte er......würde er.......? Seine Beine
beschlossen das zu tun, was ihr Besitzer im Augenblick noch nicht einmal zu denken
wagte, sie waren dem kleinen Burschen um einiges voraus. Schon stand er an der
Tür und klopfte schüchtern an. Nichts. Noch einmal, etwas beherzter. Schlurfende
Schritte, Knarren, Quietschen, die Tür öffnete sich einen Spalt. Ein weißhaariger
Kopf erschien. Es war der Kopf der alten Höllerin, der Hex. Sie war nicht viel größer
als Pauli, ihr runzliges Gesicht war fast auf gleicher Höhe mit seinem, und deshalb
blickte er ihr direkt in die Augen, Augen mit einem strahlenförmigen Kranz aus
unzähligen, tiefen Falten und Fältchen. Sie blickten nicht etwa böse oder
verschlagen sondern eigentlich ziemlich freundlich.........und auch etwas erschreckt!
„Ja mei, Sakrament noch amoi, ja, was is denn des!“ Die Tür fiel krachend ins
Schloss, um einige Augenblicke später, ganz vorsichtig, noch einmal geöffnet zu
werden. „Ja, wer bist denn du, du höllischer Spirifankerl du? Komm amol eini ins
Liacht und lass di anschaun, ob du a Mensch bist oder a Gspenst!“ Mit diesen
Worten zog die Alte den Buben an einem Zipfel seines Zaubererumhangs in die
Stube. Als sie seine Erscheinung kurz gemustert hatte, entspannten sich ihre
erschrockenen Züge, und sie begann herzlich zu lachen. Dabei wackelte alles an ihr,
buchstäblich alles, der Kopf, der Körper, ja sogar jedes einzelne ihrer spärlichen
Haare. „Himmelherrrgottsakrament, jetzt hab’ i scho glaubt, irgenda Geist kimmt mi
holen, oder sogar der Gevatter Tod! Wär ja koa Wunder nit bei mir alten Schachtel,
hihihihihi......! Aber du bist ja nur a kloaner Bua, und i glaub, du fürchst’ di no mehr
als i, gelt ja?“
Pauli wurde nun endgültig in die Stube geführt. Die wirkte heimlich und einladend,
wenn auch ziemlich einfach, ja ärmlich. Ein Feuer brannte anheimelnd in dem alten
Sparherd, auf dem ein großer, eiserner Kessel stand, dem ein Appetit anregender
Duft entströmte, irgendwie nach Pilzen und noch etwas, das Pauli nicht identifizieren
konnte. War sie vielleicht doch eine böse Hexe und stellte sich nur so freundlich?
Man kannte das ja aus den frühen Kindertagen, Hänsel und Gretel, nicht wahr?
Etwas wie eine kalte Hand presste seinen Magen plötzlich zusammen. Angst. Was,
wenn sie ihn nun in einen Käfig sperrte und dick und fett mästete, um ihn dann als
Festtagsbraten.........Nicht auszudenken! Niemand wusste ja, dass er hier war. Seine
armen Eltern! Sicher waren sie schon beunruhigt, ja suchten ihn vielleicht schon
überall! Hier aber nicht, sicher nicht, er war verloren, sah sich schon als Braten auf
dem Tisch der Alten...........und begann schrecklich zu weinen, als ob ihm das noch
etwas nützen könnte! Die Hex’ sah ihn mitfühlend an: „Brauchst ja nit woana, Kloana.
Hast’ di verirrt, gelt? Was hast denn überhaupt g’mocht, so ganz alloa im Wald?
Miassast doch lang scho dahoam sein. Aber, jetzt setz di amol zum Tisch und iss a
kräftige Suppn mit mir, dann segn ma weida.“ Mit diesen Worten stellte sie einen
geblümten Teller vor ihn hin, aus dem es verlockend dampfte. Jetzt war es soweit! In
der Suppe war sicher ein Gift, das ihn betäuben würde, dass ihn die Hexe leichter in
den Käfig sperren konnte. Er durfte nichts davon essen, keinen Löffel voll, sonst wär’
es aus mit ihm, das wusste er ganz gewiss! „Na, Bürscherl, iss nur, derfst di ruhig
traun, is a guate Suppn aus selberpflückte Schwammerln, wird dir schmeckn, iss
nur!“ Während Pauli verzweifelt nach einem Ausweg aus seinem Schlamassel
suchte, erschien ein schwarzes Untier auf der Bank neben ihm. Hu! Ein Hexentier!
Sicherlich würde es sich sofort auf ihn stürzen, wenn er es wagte, sich auch nur zu
rühren. Da, es riss schon seinen feurigen Schlund auf und drohte ihm! Jetzt war er
endgültig verloren! Es war aus mit ihm! Er konnte ruhig essen, es gab ohnehin keine
Rettung! Pauli nahm den Löffel und verschüttete fast alles, weil er so zitterte. Aber,
es schmeckte wunderbar! Wenigstens wurde er mit leckeren Dingen gemästet, das
war schon etwas. Das Ungeheuer neben ihm begann, unheimliches Grollen
auszustoßen. Die ganze Bank erbebte davon. Um es nicht weiter zu reizen, aß Pauli
gehorsam den ganzen Teller leer. Was kam jetzt? Der Käfig? Was sollte er jetzt tun,
was hätte Harry Potter denn jetzt an seiner Stelle getan, irgendeinen Zauber - Bann Spruch gesagt und die beiden unheimlichen Geschöpfe bewegungslos an ihren Ort
gezaubert? Aber kein Zauberspruch fiel ihm ein. Stattdessen erfasste ihn ein lang
anhaltendes Gähnen. Aha! Das Gift in der Suppe begann schon zu wirken, das ging
aber schnell! Pauli fühlte sich unendlich müde und wollte nur mehr schlafen, jetzt und
gleich und auf der Stelle. Die alte Frau zeigte auf eine Couch, die gleich neben der
Eckbank an der Wand stand: „Jetzt is’ scho zu spät zum Hoamgehn. Kumm, leg di
daher und schlaf di amol richtig aus, bist ja scho ganz schlafdamisch.“ Gehorsam
legte sich Pauli hin, und die Alte deckte ihn mit einer warmen Decke zu. Dann setzte
sich das schwarze Untier auf seine Beine, er hatte also keine Chance zu
entkommen. Wohin auch? In die Schrecken des nächtlichen Waldes? Da war es ja
noch besser, in einem Käfig zu sitzen. Vielleicht konnte er ja auch den alten Trick mit
dem Knöchelchen verwenden, um sein Schicksal als Braten etwas hinauszuzögern.
„Wer weiß, vielleicht finden sie mich bis dahin sogar, mal sehen.“ Dann fielen ihm
auch schon die Augen zu.
Pauli erwachte. An seinem Bett saß eine wunderschöne Dame, jung, lieblich, und sie
lächelte. “Was ist mit dem Käfig?“ fragte er verwundert, „und wo bitte, ist das
grässliche Untier und die böse Hexe?“ Die Dame lachte glockenhell. „Pass auf!“
sagte sie, und plötzlich stand an ihrer Stelle wieder die alte Höllerin vor ihm die Hex’
mit ihrer schwarzen Katze auf der Schulter. Gleich danach verwandelte sie sich
wieder in die schöne Dame. Pauli blieb der Mund offen stehen:
„Aber.....das ist ja......du bist......das gibt es doch gar nicht!“ die schöne Dame wurde
ernst:
„Doch, Pauli, hier schon. Hier hat jeder seine w i r k l i c h e Gestalt.“
„Wo ist h i e r, bitte?“
„Hier bist du in der Anderswelt, mein Kind. Weißt du nicht mehr, es ist doch
Halloween, da sind die Grenzen zwischen der Menschenwelt und der Anderswelt
.....nun......etwas löchrig, und du bist hierher geraten.
„Aber, ich sehe überhaupt keine Welt, auch keine Anderswelt, hier ist ja nichts außer
uns beiden!“
„Wirklich nicht? Nun, dann ist es an dir, eine Welt zu machen, eine nach deinem
Geschmack.“
„Eine Welt.......m a c h e n!? Wie bitte, soll, das denn gehen, das gibt’s doch
überhaupt nicht!“
„Doch, wünsch’ dir einfach eine Umgebung, eine, die dir gefällt.“
Pauli dachte an sein Dorf, sein Elternhaus, seine vertraute Umgebung.........und
schon war er mitten drinnen. Da war sein Zimmer, seine Spielsachen, sein Bett und
das seiner kleinen Schwester. Unglaublich! Phantastisch! Gleich darauf dachte er an
seine Schule, und schwupp, da saß er, in seiner Bank, mitten unter seinen
Schulkameraden. Vielleicht wollte er doch lieber.....ach ja, ins Schwimmbad! Platsch!
Schon drin im Sportbecken, gerade einen Köpfler gemacht! Die Umgebungen
wechselten so schnell wie ein zu schnell ablaufender Film.
Die schöne Dame lachte belustigt:
„Das macht nichts. Du lernst schon, mit dem hier umzugehen. Wichtig ist nur, dass
du begreifst, was das hier bedeutet.
„Und was bitte, bedeutet das, Frau....äh.......“
„Höllerin, wenn’s beliebt. Du weißt doch, die furchtbar böse Hexe, die dich in den
Käfig sperren will und braten.“
Pauli schämte sich schrecklich. Er wurde rot und stammelte:
„Ich habe ja nicht gewusst........ich habe geglaubt........weil ich mich die ganze Zeit im
Wald schon so gefürchtet habe.......“
„Hast du mich als böse Hexe gesehen, ich weiß schon. Aber nun weißt du, wie’s
funktioniert, nicht wahr? Du siehst das, was du glaubst. Wenn du Angst hast, ist
alles beängstigend, wenn du dich freust, ist alles fröhlich und schön. So
einfach ist das. Und jetzt bist du wirklich ein Zauberer, du musst nur noch fleißig
üben.“
Damit überreichte sie dem verblüfften Pauli einen glänzenden Zauberstab, viel
schöner als der von Harry Potter und einen schillernden Umhang. Harry, äh, Pauli
hüllte sich darin ein und beschloss, sich noch einen Zauberbesen zu erdenken, zum
Fliegen. Da war er schon. Pauli bestieg ihn, gab ihm die Sporen und rief: „Hopp und
Ho, hopp und ho“, und schon erhob sich der folgsame Besen hoch in die Lüfte, so
schnell, dass Pauli die Wolken nur so um die Ohren fetzten.
Irgendetwas rüttelte und schüttelte. Der Besen hatte wohl eine Fehlzündung!
„Hallo, Kloana, es is höchste Zeit zum Aufstehn!“
Pauli öffnete die Augen. Wo zum Kuckuck war er jetzt schon wieder? Ach ja! Die
Hex’....äh, die schöne Dame, oder doch die alte Höllerin? Egal, in welcher Gestalt,
sie rüttelte ihn jedenfalls und sagte:
„Du muasst jetzt hoam, deine Leut’ werd’n sich schon Sorgen machen, kimm jetzt,
schnell!
„Aber, wo ist mein Zauberstab und der Mantel?“
Ach ja, da lagen ja seine Halloweensachen! Aber, sie waren ja die von vorhin, so
Gekaufte, aus dem Geschäft im Dorf und nicht die aus der Anderswelt!
„Ich habe doch aber ganz schöne gehabt, viel schöner als die vom Harry Potter!“
„I woass nit, wen du moanst. I kenn koan Harry Ploder ned. I woaß nur, dass mir jetzt
gehn müassn.“
Langsam fiel es Pauli wieder ein. Ach ja, er war wieder in die Menschenwelt zurück
gekehrt. Hier lief alles ein wenig langsamer ab, hier brauchte jeder Zauber seine Zeit.
Aber auch hier war er ein richtiger Zauberer, na, eigentlich ein Zauberlehrling. Er
musste noch viel üben. Aber dazu hatte er ja viel Zeit.
Seine neue Freundin, die alte Höllerin, führte ihn durch den Wald, und der hatte
nichts Unheimliches mehr. Und wie hatte er in der lieben alten Frau nur eine böse
Hexe sehen können! Er wusste jetzt, warum. Die schöne Dame hatte es ihm erklärt.
Er war Pauli, der Zauberer. Er brauchte nicht mehr Harry Potter zu sein.
„Habt Ihr schon einmal eine Fee gesehen? Ich meine, richtig gesehen, nicht nur von
ihr gelesen oder erzählt bekommen? Natürlich, ich, Morgane, bin, wie Ihr vielleicht
wisst, auch eine Fee. Früher, vor langer Zeit, nannte man mich Morgan le Fay, und
mein Freund Merlin und ich erlebten viele spannende Geschichten miteinander.
Neulich aber traf Merlin eine Gartenfee. Sie schenkte ihm ein paar ihrer Zauber –
Feen – Samen für seinen Garten. Er hat sie aber noch nicht eingepflanzt, weil er
immer unterwegs ist und so wenig Zeit hat. Wie Zauber – Feen – Samen aussehen,
wollt Ihr wissen? Nun, bitte sehr. Erstaunlich, dass Merlin sie in seinem großen Sack
finden konnte, denn sie sind winzig klein, viel kleiner als die Apfelsterne. Dennoch
können sie uns ihre Geschichte erzählen. Sie heißt:
Die Feensamen
Also, es war einmal eine Gartenfee. Sie hieß Hortensia Potentilla Siebenschön. Alle
Gartenfeen heißen nämlich mit dem ersten Namen Hortensia, damit jeder gleich
weiß, dass er es mit einer Gartenfee zu tun hat, wenn er einmal eine treffen sollte.
Unsere Hortensia also hatte eines Tages das Gefühl, ein wenig Urlaub zu brauchen.
Das klingt zwar ungewöhnlich, wenn man aber bedenkt, was so eine Fee das ganze
Jahr über zu leisten hat, dann versteht man besser, dass auch Feen manchmal
ausspannen müssen. Mit den Feen nämlich, da verhält es sich so: sie haben die
Oberaufsicht über das ganze Land. Da gibt es die mächtigen Ober - Chef - Feen, die
sind z. B. verantwortlich für ganze Erdteile wie etwa Amerika oder Asien oder Afrika,
dann gibt es die mittleren Feen für die einzelnen Länder. Dahinter kommen die
Landschaftsfeen. Sie sind meistens noch jung und haben noch einiges zu lernen.
Deshalb bekommen sie nur einen kleinen Teil eines Landes zu beaufsichtigen. Unter
ihnen gibt es die Bergfeen, die Wasserfeen, die Wald - und Wiesenfeen, die
Stadtfeen und die Gartenfeen. Sie alle aber haben im wesentlichen eine Aufgabe, die
aber ist schwer genug. Sie wachen über das Wachsen und Blühen der Pflanzen,
über alles, was über und unter der Erde ist und über das Wohlergehen von Mensch
und Tier. Seit die meisten Menschen aber nicht mehr an Feen glauben, machen sie
diesen ihre ohnehin schon schwierige Arbeit noch schwerer. Alles bringen sie aus
dem Gleichgewicht, verschmutzen Wasser, Luft und Erde, und die armen Dinger, die
Feen, müssen dann alles wieder einigermaßen ins Lot bringen. So manche Fee kann
man stöhnen und ächzen hören unter dieser fast aussichtslosen Aufgabe. Sie
wünschen sich, dass die Menschen besser auf ihre Welt aufpassen. Aber, die
meisten Erwachsenen sagen: „Es gibt keine Feen.“ Deshalb hören sie auch nicht auf
deren Wünsche.
Unsere Hortensia also, die, um welche es in dieser Geschichte geht, ist eine
Gartenfee. Sie hat wohl einige Helfer, die Baumelfen, die Blumenelfen, die Wichtel,
die Erdmännlein und die Wassernixen. Aber die sind übermütig und verspielt und
treiben gerne Unfug wie kleine Kinder. Man kann nicht genug auf sie achtgeben,
denn sonst kann es schon einmal geschehen, dass plötzlich im Hochsommer
Schneeglöckchen blühen oder Schnecken alle Pflanzen abfressen, weil einige
Blumenelfen lieber Verstecken spielen, statt auf ihre Schützlinge aufzupassen. Die
Baumelfen müssen ebenfalls gut beaufsichtigt werden. Sonst wachsen vielleicht
eines Tages Äpfel auf Birnbäumen, Birnen auf Zwetschkenbäumen, Zwetschken auf
Nussbäumen und Nüsse auf Apfelbäumen. Das darf nicht passieren! Dann erst die
Erdmännchen! Ihre Aufgabe ist es, die Wurzeln der Pflanzen gut zu füttern, damit sie
groß und stark werden können. Wie man ja weiß, ist es in der Erde dunkel, und wenn
es dunkel ist, kann man leicht verschlafen. Deshalb muss unsere Hortensia Potentilla
Siebenschön immer darauf achten, dass die Erdmännlein auch wirklich munter
werden.
Das größte Problem aber sind die Menschen. Sie glauben ja neuerdings nicht mehr
an Feen und schon gar nicht an Elfen! Viele von ihnen denken sich auch nichts
dabei, giftige Spritzmittel in ihren Gärten zu verspritzen. Wenn sie nur sehen
könnten, wie sich die Elfen, die Wichtel und die Wassernixen am Boden wälzen,
ganz blau im Gesicht, wie sie spuckten und kotzen, die armen Dinger! Wie viele von
ihnen muss unsere arme Hortensia jeden Sommer gesund pflegen!
Sie muss auch darauf achten, dass immer eine oder zwei Brennesseln in einer
Gartenecke stehen bleiben dürfen. Für die Raupen, die Kinder der Schmetterlinge.
Ja, Schmetterlinge mögen alle Menschen gerne, aber Brennesseln? Huh! Ja, aber:
keine Brennesseln, keine Schmetterlinge, so ist das eben!
Kein Wunder, dass die Fee Hortensia eines Tages sagte: „Uuufff, ich bin müde, ich
brauche unbedingt Urlaub!“
Auch in Hortensias Garten wohnen Menschen, die Familie Grün: Papa, Mama und
der kleine Maxi Grün. Die machen so etwas natürlich nicht, dafür hat Hortensia schon
gesorgt! Die schneiden nicht alles ab, was ihnen unnütz scheint. Da dürfen
Brennesseln wachsen und Löwenzahn. Da gibt es keine Giftbrühe für die Elfen mehr,
dafür viele Vögel, Insekten und Schmetterlinge. Hortensia konnte also beruhigt
Urlaub machen. Sie hatte ihre Arbeit gut gemacht. In ihrem Garten war alles in
Ordnung. Deshalb packte sie ihre Feen - Reisetasche, die aus dehnbarem
Spinnennetz - Stoff, das Neueste in Feenkreisen - eines Tages, im Winter, als alle
ihre Helfer tief schliefen und kein Unfug mehr von ihnen erwartet werden musste. Als
pflichtbewusste Fee hätte sie sich niemals getraut, die ganze Bande im Sommer sich
selbst zu überlassen. Nicht auszudenken, was denen hätte alles einfallen können!
Nein, nein, da fuhr sie schon lieber jetzt, im Winter, mit ruhigem Gewissen! Sie
konnte ja bei ihrer Großtante Aquaria Pulmonaria Blasentang wohnen, einer
Meeresfee in gesetztem Alter. Bei ihr war immer wieder ein kleines Inselchen frei,
ruhig und abgeschieden und ohne Feen - Touristenrummel. Sie freute sich schon
aufs Faulenzen im warmen Sand, aufs Schwimmen im klaren Meer und auf ihre
Tante. Die kochte übrigens hervorragenden Algenpudding. Den hatte Hortensia
schon lange nicht mehr gegessen. Sie schüttelte den Kopf bei dem Gedanken, wie
sie nur so lange ohne Urlaub hatte auskommen können!
Nun reisen die Feen ja ganz anders als wir Menschen, bei ihnen geht das ganz flott
und ganz ohne Autos, Eisenbahnen oder Flugzeuge. Wollt ihr wissen, wie sie es
machen? Nun, sie rufen dazu die Windpferde. Das sind die schnellsten
Transportmittel, die es gibt. So ein Windpferd bringt jeden, der weiß wie’s geht, in
einem Augenblick, wohin er will.
Unsere Hortensia war also bei ihrer Tante Aquaria gelandet, irgendwo im weiten
Pazifischen Ozean, auf einer winzigen Insel, ließ sich die salzige Meerluft um die
Nase wehen, aß Algenpudding, bis sie fast platzte (das ist natürlich nur ein Bild, denn
Feen können in Wirklichkeit nicht platzen) und genoss ihren Urlaub. Es sei ihr
vergönnt. Nun ja, sie hätte ihren Urlaub wohl nicht genossen, sondern wäre
schleunigst auf dem gleichen Wege zurückgekehrt, wie sie gekommen war, hätte sie
gewusst, was während dessen daheim los war. Sie wusste es aber nicht, und so
konnte folgendes geschehen:
In der Nachbarschaft, nur einige Gärten weiter, gab es eine ganz junge Gartenfee.
Sie war sozusagen noch eine Feen - Schülerin , denn sie hatte erst vor 250
Menschenjahren mit ihrer Gartenfeenarbeit begonnen. Dazu muss man wieder
wissen, dass 250 Menschenjahre für Feen gar nichts sind, nämlich so ungefähr 6
Feenjahre. Sie war nicht nur sehr jung, sondern auch sehr, sehr neugierig. Das ist ja,
an und für sich, nichts Schlimmes, denn ohne Neugier gibt es auch kein Lernen, und
zu lernen hatte sie ja wirklich noch genug. Unsere Jungfee, sie hieß übrigens
Hortensia Pimpinella Naseweis, nützte also die Abwesenheit ihrer älteren Kollegin,
um sich ein wenig in deren Garten umzusehen. Sie wollte unbedingt wissen, wieso
es dort so friedlich und geordnet zuging. Da musste es doch ein Geheimnis geben,
und dem wollte sie auf die Spur kommen! Sie sah in alle Gartenecken, lugte hierhin
und dorthin, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Dabei sang sie ein altes Feen
– Kinderlied vor sich hin, das sie kürzlich erst im Feenkindergarten gelernt hatte.
Hinter dem Busch, unter dem Stein
Könnte ein Zauber verborgen sein.
Da, im Geäst, ganz oben im Baum
Versteckt sich doch jemand, man sieht ihn kaum!
Hinter dem Tor, was lugt da hervor?
Ich mein, da ist ein spitzes Ohr!
Was guckt aus dem Gras?
Da seh ich doch was!
Ist das vielleicht eine Wichtelnas?
Gekribbel, Gekrabbel,
Gezippel, Gezappel,
Gemurmel, Geschusel,
Geraune, Gewusel,
Gekrieche, Geflatter,
Gezirp und Geschnatter,
doch kaum bin ich dort,
ist alles fort!
Enttäuscht wollte sich Hortensia Pimpinella Naseweis wieder auf den Heimweg
machen. Da sah sie......ja war es denn die Möglichkeit! Ihre verreiste Feenschwester
hatte ihren Zauberstab im alten Holunderbusch hängen lassen! Oder hatte sie ihn
vielleicht absichtlich zurückgelassen, weil sie ihn im Urlaub ja nicht brauchte? Nun,
wie auch immer, hier war er, und vielleicht schlummerte in ihm ja das Geheimnis!
Atemlos und mit schlechtem Gewissen griff die kleine Fee nach dem Zauberstab. Ihr
schlechtes Gewissen war auch nur zu berechtigt. In Feenkreisen gilt es nämlich als
sehr ungehörig, das Werkzeug von anderen ohne Erlaubnis zu benützen. Das
oberste Feengesetz lautet:
„Wenn eine einen Zauberstab hat, und die Andere will ihn benützen, muss sie vorher
darum bitten.“
Auch die Feengesetze werden im schon im Feenkindergarten gelernt, aber.........wer
ist schon immer aufmerksam im Feenkindergarten? Pimpinella jedenfalls nicht. Sie
hatte doch soviel Anderes zu tun: mit ihrer kleinen Freundin zu tuscheln oder beim
Fenster hinauszugucken und, und, und..........Aber, sie besaß noch keinen eigenen
Zauberstab, dafür war sie noch zu jung. Und jetzt war ihr da einer, sozusagen in den
Schoß gefallen! Dieser Verlockung konnte sie einfach nicht widerstehen!
Pimpinella Naseweis schwang den Zauberstab hierhin und dorthin, drehte und
wendete ihn und verfolgte entzückt die glitzernde Spur, die er in der kalten Winterluft
hinterließ. Fast unabsichtlich murmelte sie einen der Zaubersprüche, die sie erst
kürzlich von ihrer Großmutter gehört hatte. Es zischte, es knisterte......es machte
einen Knall, wie von einer zerplatzenden Kaugummiblase,........und dann war es
geschehen! Der Garten war so klein wie ein Badezimmer geworden! Sie musste
versehentlich den Zauberspruch zum Verkleinern erwischt haben. So eine
Bescherung! Den Spruch zum Vergrößern hatte sie sich nämlich nicht so ganz gut
gemerkt! Sollte sie ihre Großmutter bitten.....? Die würde ihr wohl gehörig die
Meinung sagen! Lieber nicht! Vielleicht konnte sie ihren Fehler ja selbst wieder
beseitigen, und niemand würde von ihrem heimlichen Fehltritt etwas merken! Wieder
schwang sie den Zauberstab:
Hokus, pokus, zaubernokus,
dreimal hohle Kokosnuss........nein,
dreimal roter Autobus?..........Auch nicht!
Warte mal, gleich fällt’s mir ein, ja, das muss es sein!
Dreimal rosa Zuckerguss!.......Wieder nix!
Hokus, pokus, zaubernokus,
dreimal schwarzer Gockelhahn!.....Äh, auch nicht.
Dreimal bunte Hochschaubahn.......
oder Hampelmann?
Nein, jetzt weiß ich es:
Dreimal schwarzer Ziegenbock!
Rrrummms, kabumms! Es zischte, es knisterte, es knallte, eine Lichtgarbe schoss
aus der Spitze des Zauberstabes, und,............der Garten war so klein wie ein
Handteller. Verzweifelt zauberte und zauberte Pimpinella, was das Zeug hielt, doch
zuletzt war der Garten so klein wie ein Samenkorn. Pimpinella warf den Zauberstab
weg, lief eiligst von dem Ort weg, wo einst der Garten gewesen war und versteckte
sich. Was aber war aus dem Garten geworden? Wo war er hin gekommen? Der
Zaun, die Beete, die Bäume, alles war mit einem Mal so winzig, dass ein Spatz es
hätte aufpicken können!
Als die Menschen, welchen der Garten gehörte, die Familie Grün, am nächsten
Morgen aus dem Fenster sahen, blinzelten sie ungläubig und rieben sich die Augen.
Sie glaubten, noch zu träumen. Bald aber merkten sie, dass die ganze Bescherung
leider kein Traum war. Sie liefen aus dem Haus und suchten nach ihrem
verschwundenen Garten. Natürlich fanden sie ihn nicht. Natürlich konnten sie sich
nicht erklären, was passiert war. Wie denn auch! Gärten pflegen im allgemeinen nicht
über Nacht zu verschwinden. Zufällig fand der jüngste Junge ein silbern glitzerndes
Feenhaar im Schnee und brachte es verwundert seinen Eltern. Diese hätten es leicht
und gern für einen Lamettafaden vom längst weggeräumten Christbaum halten
können, wenn der kleine Maxi Grün nicht darauf bestanden hätte, dass es ein
Feenhaar sein müsse. Die Erwachsenen pflegten ansonsten über solche
Behauptungen zu lächeln. Sie nahmen so etwas niemals ernst, aber
diesmal.....Wenn Gärten über Nacht verschwinden konnten, dann war es sehr wohl
möglich, dass es auch Feen gab, dann war alles möglich, oder nicht? Maxi hatte
einmal in seinem Märchenbuch gelesen, wie man es macht, um mit Feen in Kontakt
zu kommen. Man muss nämlich abends, vor dem Schlafengehen, ein Schälchen
Milch vor die Haustür stellen. Dabei muss man dreimal sagen:
"Feenkind, komm geschwind!",
Das funktioniert aber nur bei Menschen, die wirklich an sie glauben. Der kleine
Junge rief also die Feen und wurde gehört. Von der Großmutter der kleinen
Pimpinella. Die sah die Bescherung und wusste sofort, wer dafür verantwortlich war.
Sogleich suchte sie nach ihrer Enkelin und fand sie auch bald darauf, versteckt in der
Krone eines alten Apfelbaumes.
"Komm sofort hier herunter, Hortensia Pimpinella Naseweis, und sag mir, was du
wieder angerichtet hast!" Wenn sie böse war, rief sie ihre Enkelin immer mit dem
vollen Namen. Für gewöhnlich nannte sie sie einfach liebevoll 'Pimpi'. Diesmal war
sie sehr böse, außerordentlich böse sogar. Solche Streiche durfte keine Fee jemals
jemandem spielen, auch nicht, wenn sie noch so jung war.
"Und wage es nicht, mich anzulügen, sonst verbanne ich dich für die nächsten drei
Feenjahre in diesen Baum, du Göre!"
Zerknirscht ließ sich Pimpinella vom Baum schweben und erzählte alles, was sie im
Garten von Potentilla angerichtet hatte.
Die Feengroßmutter rief ein Windpferd, setzte ihre Enkelin auf dessen Rücken und
husch, schon war Pimpinella auf der kleinen Insel, um Potentilla Siebenschön alles
zu gestehen.
"Warum hast du mich denn nicht einfach gefragt, wenn du wissen wolltest, wie ich
das mache mit meinem Garten? Ich hätte dir doch gerne alles gesagt. Wir Feen
helfen einander doch immer gegenseitig, das ist doch das zweitoberste Feengesetz,
oder weißt du das etwa nicht? Dann hast du aber wirklich noch viel zu lernen,
Kleine!"
Pimpinella Naseweis schämte sich entsetzlich. Ihr wäre es wesentlich lieber
gewesen, hätte die Andere sie zornig ausgeschimpft! Da stand sie nun, zerknischt
und verschämt und wusste nichts zu sagen. Hätte sie den vermaledeiten Zauberstab
nur niemals angefasst!
"Kannst du nicht einfach alles wieder groß zaubern?", fragte sie leise.
"So einfach ist das leider nicht", antwortete Potentilla Siebenschön streng, "so sehr
ich das auch möchte, denn ich wäre noch gerne etwas hier geblieben. Aber, was
soll's! Ade Urlaub, ade Algenpudding, leb wohl, Tante Aquaria! Jetzt aber muss ich
schleunigst nach Hause und sehen, was sich machen lässt. Diese Menschen haben
so gut mit mir zusammen gearbeitet. Ich möchte nicht, dass sie die Freude an ihrem
Garten verlieren. Also komm!"
Und hui, ging's zurück in die winterliche Heimat, wo eine verwirrte Familie Grün nach
ihrem verschwundenen Garten suchte.
Jetzt tat Eile not. Bald würde der Frühling kommen, und dann musste alles wieder
seine Ordnung haben. Potentilla Siebenschön kramte in allen ihren Taschen und
Säcken, irgendwo mussten sie doch sein, die verflixten Feensamen! Aber da waren
sie nicht. Ach ja, hatte nicht ihr Freund Merlin, der alte Zauberer, im letzten Sommer
welche von ihr geholt, um sich Zauberradieschen zu pflanzen? Hoffentlich hatte er
nicht alle verbraucht, das wäre ein schönes Schlamassel! Sie musste ihn rufen. Da
kam er auch schon, eilig und frierend. Er hatte sich nicht einmal Zeit genommen,
seinen warmen Mantel überzuziehen, weil Potentillas Ruf so dringlich gewesen war.
Er stieg von seinem Zauberbesen, dem Reittier der Zauberer und Hexen. Als ihm die
Fee die ganze Geschichte erzählt hatte, strich er bekümmert seinen weißen Bart. Er
hatte die Feensamen nicht bei sich. Sie lagen daheim bei ihm, in seinem
Zauberkessel. Da war guter Rat teuer! Noch einmal heimreiten, bei dieser Kälte?
Brrr, nein! Er ist ja, wie wir wissen, auch nicht mehr der Jüngste. Da zwickt und
zwackt es manchmal schon gehörig in den alten Knochen! Also, was tun? Es musste
also doch noch einmal gezaubert werden. Wenn er sich doch nur an den
Zauberspruch erinnern könnte! Ach ja, da war er schon! Potentilla Siebenschön bat
ihn, die Feensamen in einen leeren Blumentopf hineinzuzaubern. Merlin hob seinen
Zauberstab und begann:
„Mirakula, Mirakulix..........äh,...............da drin ist nix.“
Potentilla Siebenschön schlug vor:
„Versuch’ es doch einmal mit Umdrehen!“
Also drehte Merlin sich um........... Wieder nix. „Nein Merlin“, sagte die Fee lachend,
„ich meinte, du sollst den Zauberspruch umdrehen!“
Aha, ja, natürlich, das wäre ihm selbst sicherlich auch gleich eingefallen! Also, noch
einmal:
„Mirakulix, Mirakula,
sie sind nicht hier,
sie sind nicht da.
Sie sind wohl fort
Von diesem Ort.
Mirakulix, Mirakula,
da sind sie ja,
da sind sie ja!“
Ja, da waren sie, die Zauber – Feen – Samen, endlich! Nun konnte es losgehen. Die
Fee Potentilla Siebenschön gab Maxi Grün die Feensamen, und der setzte sie
schnell in einen Blumentopf mit Erde. Einmal gießen und schwupps, da wuchs er
schon, der Garten. Man konnte richtig zusehen, wie er schnell immer größer wurde.
Bald war er wieder so groß, wie er vorher gewesen war. Alles war wieder, wie es sich
gehörte. Die kleine Fee Pimpinella Naseweis aber übte das Zaubern in Hinkunft
immer nur unter Aufsicht ihrer Großmutter, zur Sicherheit. Hin und wieder aber ließ
sie eines ihrer langen, silbernen Feenhaare zu Maxi über den Gartenzaun schweben,
als Gruß.
Auch in der Anderswelt gibt es Jahreszeiten. Aber, anders als in der Welt, in der wir
für gewöhnlich leben, folgt dort nicht Frühling auf Winter, Sommer auf Frühling,
Herbst auf Sommer und Winter auf Herbst. Nein, dort könnt Ihr immer die Jahreszeit
haben, die Ihr gerade wollt. So kann es Sommer oder Winter werden, von einem
Augenblick auf den anderen. Es regnet oder schneit, oder aber, es ist strahlender
Sonnenschein, wie Ihr es gerade haben wollt. Ihr könnt natürlich auch unter Palmen
Schlittschuh laufen, wenn es Euch gefällt. Ihr seid der König oder die Königin dieses
erstaunlichen Landes. Eines aber solltet Ihr dabei bedenken, etwas, was ich Euch
schon zu Beginn unserer Reise gesagt habe: diese Welt und alles, was Ihr dort
erschafft, ist wirklich. Anders wirklich vielleicht als hier, aber dennoch. Und es gibt
eine Verbindung zwischen den beiden Welten. Deshalb solltet Ihr gut Acht geben,
denn es könnte sein..............Was, das erfahrt Ihr in der folgenden Geschichte. Merlin
hat sie schon für Euch ausgewählt. Sie steckt in dieser kleinen Eichel, welche er jetzt
aus seinem Zaubersack holt:
Das andere Land
Wieder war es Winter geworden. Diesmal einer mit viel Schnee, so wie es früher
einmal gewesen war, früher, in den sagenhaften Zeiten, von welchen die Eltern und
Großeltern immer sprachen, wie von einem längst versunkenen Paradies.
Aber seltsam, jetzt murrten die Erwachsenen über verschneite Autos, matschige Gehsteige
und hohe Heizkosten, und die Älteren zwickte die Kälte gewaltig in den rheumatischen
Gelenken. Die Kinder aber betrachteten den Schnee als ihr eigentliches, wahres
Weihnachtsgeschenk, eines, das ihnen buchstäblich vom Himmel gesandt worden war.
Seppi, gerade eben sieben Jahre alt geworden und seine jüngere Schwester Anna hatten
zwei große Plastikschüsseln zum Rutschen unter dem Weihnachtsbaum gefunden. Anna
meinte, das Christkind habe sich vorher mit der Frau Holle genau abgesprochen, damit für
die Rodeln auch genügend Schnee vorhanden sein würde. Sie war sehr zufrieden mit den
Beiden. Und nun waren alle Kinder des Dorfes hinten, beim Hüterbergl versammelt und
rodelten und rutschten, dass es eine Freude war. Auf dem Hüterbergl gab es ein kleines
Wäldchen aus Kiefern, Birken und einigen, wenigen, uralten Eichen, so alt, dass sich keiner
mehr erinnerte, sie jemals anders als riesengroß gesehen zu haben, auch nicht die
Großmütter und Großväter, nicht einmal mehr die Urgroßmütter und Urgroßväter. Und die
waren doch auch wirklich uralt, oder? Manche Kinder behaupteten hinter vorgehaltener
Hand, beim Hüterbergwäldchen gehe es nicht mit rechten Dingen zu. Es spuke, sagten sie.
Anna wunderte sich sehr, sie sah überhaupt keine Spucke, nirgendwo. Aber Seppi, ganz
kluger älterer Bruder, erklärte, das sei eben Geisterspucke, und die könne man nicht sehen.
Diese Erklärung fand Anna nicht wirklich zufriedenstellend, aber mit Geistern kannte sie
sich nicht aus. Sie nahm sich insgeheim vor, die Großmutter darüber zu befragen.
Die Buben konnten noch immer nicht genug kriegen vom Auf und Ab auf dem kleinen
Hügel. Anna aber wollte schon heim, sie fror gottserbärmlich. Sie nahm ihre Rodelschüssel
unter den Arm und stapfte auf ihr nahe liegendes Haus zu. Da sah sie, zu ihren Füßen im
Schnee, einige kleine, braune Becherchen liegen. Sie wusste, das waren Eichelbecher, die
Fruchthüllen der Eicheln. Im Herbst war sie einmal hier gewesen, und da hatten mindestens
hundert Millionen davon im Gras gelegen. Damals hatte sie nur ganz viele Eicheln
gesammelt, für den Kindergarten. Dort wollte sie mit Hilfe ihrer Kindergärtnerin einen
Eicheltier – Zoo basteln. Aber heute, heute schienen ihr die kleinen Becherchen genau
richtig als Hüte für ihre Playmobil – Männchen, vielleicht auch als Teetassen für ihre
Barbiepuppe? Schnell sammelte Anna alle Becherchen ein und steckte sie in den Sack
ihres Schneeanzugs. Dabei stülpte sich ein Eichelbecherchen wie von selbst über ihren
Mittelfinger. Es passte genau, wie der rote Fingerhut, den Mama immer zum Nähen über
ihren Finger steckte. Aber der war Anna viel zu groß. Jetzt hatte sie auch einen, einen
eigenen Fingerhut!
So, jetzt war es aber wirklich höchste Zeit, heim zu gehen. Aber, was war das? Anna konnte
das Haus nicht mehr sehen. Aber, es war doch genau da vorne, gleich neben dem
Rodelhügel, sonst hätte Mama sie nicht alleine herkommen lassen! Hier aber waren
überhaupt keine Häuser, kein einziges mehr. Das war doch unmöglich, ein ganzes Dorf
konnte doch nicht von einem Augenblick auf den anderen verschwinden! Und überhaupt,
wo war denn der ganze Schnee plötzlich hingekommen? Die Eichen trugen mit einem Mal
üppiges, grünes Laub, das Gras war grün, die Vögel sangen, und nirgends war etwas von
Seppi und seinen Freunden zu sehen.
Anna fürchtete sich sehr. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht! Es war also doch etwas
dran an der Sache mit der Geisterspucke! Und nun war sie hier, ganz allein, in dieser
fremden Umgebung, ganz ohne Seppi, ganz ohne Mama und Papa, ganz ohne Großmutter
und Großvater, ganz alleine! Vor Angst konnte Anna sich nicht bewegen. Starr und stumm
stand sie da und zitterte. Dann passierte etwas: ganz aus heiterem Himmel kam mit einem
Mal ein kalter Wind auf und blies das grüne Laub mit einem Hui von den Eichen. Es wurde
fast ganz finster. Überall schienen glitzernde Augen aus dem Geäst zu funkeln. Ja, das
waren sicher die spuckenden Geister! Sie beobachteten sie. Sicher würden gleich einige
von ihnen aus dem Gebüsch hervorstürzen, und die würden sie sicherlich auffressen oder
irgendwas ganz Fürchterliches mit ihr anstellen! Anna kauerte sich zusammen, ganz klein,
und dann begann sie vor Angst zu weinen.
„Mama, komm, bitte, komm’ und hol’ mich! Ich fürchte mich so schrecklich
Maaaammmaaaa!
„Rinsel – pinsel, was für ein Gewinsel“,
ließ sich da ein da ein zartes, feines Stimmchen neben Anna hören.
Die hob erstaunt den Kopf und vergaß vor lauter Überraschung ganz aufs Weinen. Sie
blickte direkt in große, goldglänzende Augen. Die Augen waren fast das Größte in dem
kleinen, zarten Gesichtchen. Das gehörte einem winzigen Kerlchen mit spitzen Ohren und
einem grünen Gewand. Es reichte Anna gerade eben bis zu den Schultern, und Anna
konnte nicht gerade als groß gewachsen bezeichnet werden. In ihrer Kindergartengruppe
gehörte sie zu den Kleinen, obwohl sie schon fünf Jahre alt war und nächstes Jahr in die
Schule gehen sollte.
„Du schnell aufhören mit Gewinsel, du nicht mehr Angst, du binse wieder froh!“
„Wer bist du, und wo bin ich hier, und wieso redest du so komisch?“, fragte Anna
verwundert.
„Ich nix sprichse komisch, ich sprichse Wichtelsprich. Ich binse Ilberich. Du binse in
Wichtelland, daheim bei mich. Und bitte nicht mehr winsel, bitt, bitt. Sonst Finster nicht
gehtse weg.“
Das hörte sich so komisch an, dass Anna für einen Moment ganz auf ihre Angst vergaß und
lauthals heraus lachte. Gleich darauf schämte sie sich. Sie wollte das kleine Kerlchen nicht
kränken. Mama sagte immer, jemanden auszulachen, sei ganz schlimm und außerdem
dumm. Aber sie fürchtete sich jedenfalls nicht mehr, das war schon etwas. Und sie
bemerkte gleich darauf wieder eine Veränderung. Es war wieder hell, und an den Bäumen
spross zartes, grünes Laub. Was, zum Donnerdrummel, ging hier eigentlich vor? Ilberich
nahm Anna an der Hand und führte sie zu dem kleinen Hügel, der genauso aussah, wie das
Hüterbergl zuhause. Er steckte zwei Finger in den Mund und tat einen lauten Pfiff.
Daraufhin öffnete sich ein kleines Türchen. Seltsam, es war vorher sicher noch nicht da
gewesen, das hätte Anna beschwören können! Hier musste eine Behausung sein. Und so
war es auch. Aus der Türe trat eine rundliche Frau. Sie trug ein Kleid im gleichen Grün wie
das Gewand von Ilberich, und sie war ebenso klein wie er. Freundlich lächelnd bat sie Anna
in ihr Haus. So was! Das war ja allerliebst! Hier drinnen standen kleine Bänke, mit Moos
weich gepolstert, ein winziger Tisch, der war fein gedeckt mit allerlei Speisen, die Anna sehr
fremd vorkamen. Die Frau klatschte in die Hände. Da kamen fünf Wichtelkinder zur Tür
herein. Sie kicherten und zupften neugierig an Annas Gewand, bis sie von ihrer Mutter
freundlich aber bestimmt zur Ordnung gerufen wurden.
„Kinder, sagse guten Tag zu unsere Gast und benimmse euch!“
Jedes der Kinder machte eine tiefe Verbeugung vor Anna und stellte sich vor:
Alberich, Elberich, Olberich, das waren die Knaben und Albera und Elbera die beiden
Mädchen.
Dann ging’s zu Tisch. Die fremden Speisen schmeckten wunderbar, machten satt und
warm....und anscheinend fröhlich, denn die Wichtelfamilie holte allerliebste kleine
Instrumente hervor und begann lustige Tanzweisen zu spielen, die Anna Lust zum Tanzen
und Springen machten. Ihre Angst hatte sie längst vergessen. Dieses niedliche Völkchen
hatte nichts, aber auch gar nichts gemein mit den schrecklichen, spuckenden Gespenstern,
die Anna eigentlich hier erwartet hatte.
Mit einem Mal aber erstarb die Musik. Es wurde dunkel und bitter kalt im Raum. Die Wichtel
hüllten sich und ihren Gast in warme Decken und entzündeten Kerzen und ein Feuer im
Kamin. Alle drängten sich ängstlich zusammen. Draußen heulte der Sturm wie ein wild
gewordener Drache. Was in aller Welt war das denn nur, so von einem Augenblick zum
anderen? Das war ja furchterregend! Mama Wichtel nickte verständnisvoll:
„Isse ganz often, Wichtel kennse das schon. Kommse aus Riesenland.“
Auf Annas fragenden Blick reichte sie dem Mädchen ein Holzstück mit einem Astloch darin
und hieß es durchsehen. Aber......was.....was war das? Das konnte doch nicht sein! Anna
blickte direkt in ihre Wohnstube daheim. Da saßen ihre Eltern und die Großeltern. Alle vier
schienen sehr ungehalten zu sein. Vater schimpfte mit Seppi und machte dabei sein
bösestes Gesicht. Das bekam Anna nur ganz, ganz selten zu sehen. Genau genommen
hatte Papa es erst einmal aufgesetzt, damals, als Seppi ins Eis des kleinen Teiches hinter
dem Haus eingebrochen war. Aber damals hatte die Mama ihnen verboten, schon auf das
Eis zu gehen. Es war noch viel zu dünn gewesen, damals. Damals war Papa wirklich ganz
böse gewesen, so wie jetzt. Anna hörte durch das Astloch genau, was er sagte:
„Wo ist deine kleine Schwester? Du solltest doch auf sie Acht geben! Kann man sich denn
gar nicht auf dich verlassen? Ich bin sehr böse auf dich und sehr enttäuscht, das kannst du
mir glauben!“
„Oh je“, rief Anna voller Schrecken aus, „ich hab’ ganz vergessen auf daheim, die machen
sich jetzt schon Sorgen um mich. Und dabei kann der Seppi ja fast gar nichts dafür! Ich
muss schnell wieder nachhause!“
Alle Wichtel sahen Anna erwartungsvoll an. Was wollten sie nur von ihr? Dann sagte
Ilberich, der Wichtelvater ernst:
„Du binse aus Riesenland. Riesenland isse gleich neben Wichtelland, ganz nah. Riesen
machse Wetter in Wichtelland. Wennse Riesen böse oder traurig, wennse Riesen streit,
dannse Wetter in Wichtelland kalt und dunkel, duse wiss?“
So war das also! Wer hätte so etwas gedacht! Unglaublich!
„Wirse haben hergeholt dich, duse muss wiss, was Riesen mach mit Wichtelland, wenn sind
böse.“
Das war ja eine schöne Bescherung! Sie, die Menschen, waren zuständig für das Wetter im
Wichtelreich! Anna musste das sofort daheim erzählen. Aber, würden sie ihr das glauben?
Würden sie nicht sagen: „Ach, Anna, du kannst schon wieder nicht unterscheiden zwischen
Wirklichkeit und Phantasie!“ Ja, gewiss, das würden sie, das sagten sie oft. Trotzdem. Sie
musste es zumindest versuchen. Das war sie ihren neuen Freunden einfach schuldig.
Wie Anna wieder nachhause kam? Sie zog einfach den Eichelbecher wieder vom Finger,
und da war sie. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um Seppi vor einem längeren Hausarrest
zu bewahren.
Ob es im Wichtelland jetzt weniger oft stürmisch und kalt ist? Das hängt von Euch ab. Ihr
wisst ja jetzt, wie man schönes Wetter dort macht. Und noch etwas: manchmal muss es
auch im Wichtelland regnen. Macht euch also nicht zu viele Sorgen, wenn ihr einmal weinen
müsst. Davon gibt es dort noch keine Überschwemmung.
Und noch etwas: vielleicht findet Ihr einmal ein Stück Holz mit einem kleinen Astloch. Dann
könnt Ihr versuchen, ob Ihr damit ins Wichtelreich gucken könnt und wie das Wetter dort
gerade ist.
Das nächste Ding, das Merlin aus seinem Sack nimmt, ist wieder ein Stein, ein rund
geschliffener Flußkiesel mit goldfarbigen Einsprengseln. Sie funkeln und glitzern in
der Sonne wie Sterne. Mit diesem Stein hat es eine besondere Bewandtnis. Ich
selbst, die Fee Morgane, habe ihn vor langer Zeit einmal an einen besonderen Ort
gelegt, für einen besonderen Menschen. An diesem besonderen Ort sind jetzt nur
Felder und Wiesen...............und ein großer Kreis, den man eigentlich nur vom
Flugzeug aus sehen kann. Damals aber wohnten dort Menschen, die ganz anders
lebten, als wir heute. Sie jagten wilde Tiere, aber sie hielten auch schon Haustiere.
Sie sammelten Früchte, aber sie bauten auch schon ein wenig Getreide an. Sie
wohnten in Erdhütten. Außen herum um ihre Hütten aber gruben sie einen Graben
und einen Wall. Ein Wall ist so etwas Ähnliches wie eine Mauer. Auf den Wall setzten
sie lauter Holzstämme als Wand. Niemand kann heute sagen, wie diese Menschen
wirklich gelebt haben. Halt, das stimmt nicht ganz! Einer ist einmal zufällig dort
hingelangt. Das war der, für den ich damals den Stein dorthin gelegt habe. Er heißt
Armin und ist ein kleiner Junge von sieben Jahren.
Kreise
Ach ja, Armin, klein, zart und dunkelhaarig, blass und ernst, viel zu ernst für sein
Alter und neuerdings ziemlich traurig. Warum? Nun. Seine Eltern hatten sich vor
kurzem getrennt, und er war mit seiner Mutter in eine andere Stadt gezogen. Das
hieß: fort von seiner vertrauten Umwelt, weg von seiner geliebten Lehrerin, seinen
Freunden, seiner Wohnung..... und seinem Vater. Den sollte er jetzt nur mehr alle
zwei Wochen sehen, am Wochenende. Kein Wunder also, dass er traurig war und
zornig. Mit einem zornigen, kleinen Jungen aber konnte seine Mutter jetzt gar nichts
anfangen, denn zornig und traurig war sie selbst. Deshalb versteckte Armin seine
Wut tief innen drinnen, wo niemand sie sehen konnte. Dort lag sie wie eine harte,
kalte Kugel und machte sein, sonst so freundliches Wesen, verschlossen und
mürrisch. Das half ihm natürlich nicht dabei, neue Freunde zu gewinnen, ganz im
Gegenteil, er blieb ziemlich einsam in seiner neuen Klasse. Das ließ ihn noch
trauriger werden. Seine Trauer aber sollte keiner sehen, keiner, und deshalb
verschloss er sie auch tief in sich drinnen, gleich bei seinem Zorn. Das konnte
natürlich nicht gut gehen, denn Gefühle wollen fließen wie Wasser, wollen geteilt
werden mit anderen und nicht eingesperrt, wie wilde Tiere. Kein Wunder, dass der
einsame, unglückliche Armin keine Freude mehr hatte an der Schule, am Lernen, am
Spielen. Er zog sich mit seinem Nintendo zurück und mit seinen Legorittern und
baute sich mit ihnen eine eigene Welt, wo er stark war und unbesiegbar und keinen
brauchte. Und so wuchs sie um ihn herum, die unsichtbare, gläserne Wand und ließ
nichts und niemand mehr durch. Furchtbar, schrecklich, nicht wahr? Ja, in der Tat,
das war es, das könnt ihr mir glauben!
Eines Tages, im Juni, wenn schon niemand mehr so richtig lernen will, und die
Kinder und auch die Lehrer sehnsüchtig auf die Ferien warten, fuhr die ganze Klasse
auf Schulausflug. Wohin? Ins Weinviertel, zu so einer komischen „G’stetten“, wo es
nichts zu sehen gab, als ein paar Stauden, die im Kreis standen und wo einmal, vor
unendlich langer Zeit ‚etwas’ gewesen sein sollte, eine ‚Kreisgrabenanlage’. Keiner
wusste, was das war. Die Lehrerin hatte gesagt, es sei furchtbar alt und sehr
geheimnisvoll. Klang gut, konnte aber auch sehr fad werden. Aber, wenigstens
würde man diesen einen Tag dem Klassenzimmer entrinnen, und das war doch
schon etwas, nicht wahr?
Dreißig Mädchen und Knaben quollen an diesem sonnigen Vormittag aus dem
Autobus. Bunte Rucksäcke mit Wurstsemmeln, Coladosen, Zuckerln, hier und da
auch schon mal ein Handy und ein Computerspiel, wenn es ganz fad werden sollte,
wurden geschultert, und johlend und kichernd verteilte sich die quirlige Gesellschaft
im Gelände. Die Lehrerin hatte ihre liebe Plage damit, alle ihre Schützlinge wieder
um sich zu versammeln, denn sie hatte einiges mit ihnen vor: zunächst sollten alle
sich ein wenig umsehen. Dann sollte jeder einen Gegenstand mitbringen und sich
eine kleine Geschichte darüber ausdenken, für den nächsten Aufsatz, versteht sich.
Später wollten sie dann einige Spiele spielen und zuletzt ein wenig über die Anlage
erfahren, für die Heimatkunde.
Alle schwärmten also aus, meist in kleinen Gruppen, jeder mit seinen Freunden,
Armin alleine, wie immer. Lustlos setzte er sich ins Gras, zwischen zwei kleine
Büsche, in den Schatten. Etwas suchen. Was denn? So ein Blödsinn! Hier gab es
doch nichts! Sein Zorn regte sich in seinem Gefängnis und machte, dass Armin mit
dem Fuß nach einem Grasbüschel stieß. „Autsch!“ schrie er gleich danach
schmerzvoll auf, denn er war an einen Stein gestoßen, der im Gras verborgen, dort
gelegen hatte. Ihr könnt euch sicher schon denken, welcher Stein das war.....Ja,
natürlich......er, der uns diese Geschichte gerade eben ins Ohr flüstert.
„Blöder Stein!“ schimpfte Armin und hätte am liebsten gleich noch einmal hingetreten
auf ihn. Doch dann bemerkte er die glitzernden Einsprengsel an seiner Oberfläche,
wie Gold schimmerte es im Sonnenlicht. Gold, echtes Gold vielleicht, und er hatte es
gefunden! Das sollte ihm einer nachmachen. Nun war er reich, und alle würden ihn
zum Freund wollen. Er stellte sich vor, wie alle sich um ihn scharten, und wie er
einen nach dem anderen abblitzen lassen würde. Dann würde es ihnen schon leid
tun, dass sie ihn abgelehnt hatten, aber nun wäre es zu spät. Ob der Stein auf der
anderen Seite auch goldgesprenkelt war? Armin drehte ihn um........und da geschah
es!
Was? Ja, das ist nicht so einfach zu erzählen. Etwas hatte sich verändert. Was das
war? Armin stand immer noch dort, wo er eben noch gestanden hatte. Da war die
Wiese, das Gras, der Sonnenschein, alles so wie eben noch. Aber still war es, ganz
still. Das lebhafte Geplauder seiner Schulkameraden war verstummt, und keiner von
ihnen war mehr zu sehen. Wo waren sie nur alle hin gekommen? Hatten sie sich vor
ihm versteckt, um ihn zu erschrecken? Sicher würden sie gleich hinter den Büschen
hervor stürzen und schreien: „Angsthase, Pfeffernase!“ oder so ähnlich. Aber diesen
Triumph wollte er ihnen nicht gönnen. Er wollte sich von hinten an sie anschleichen
und sie zuerst erschrecken! Also, auf ins Gebüsch! Aber, wo war es denn nur
geblieben? Hier war kein Gebüsch mehr, seltsam, sehr seltsam! Statt dessen sah er
eine Mauer. Ja, es war eine Mauer, aber nicht gerade und nicht aus Stein, sondern
aus Holzstämmen zusammen gebunden, umschloss sie einen kreisförmigen Platz,
so groß wie zwei Fußballfelder mindestens. Armin konnte das gut einschätzen, denn
er war früher mit seinem Vater oft auf dem Fußballplatz gewesen. Oh je, die
Erinnerung an seinen Vater hatte das Kalte, Harte in seiner Magengrube
anscheinend aufgeweckt, denn es rührte sich mit einem Mal, wurde warm und kroch
herauf in die Kehle! Gleich danach wollte es noch weiter hinauf, in seine Augen
steigen. Tränen? Nein, das konnte und wollte er nicht zulassen, deshalb blinzelte er
schnell und schluckte er es wieder hinunter, wo es seiner Meinung nach hin gehörte.
Aus der Stille um ihn her erblühten Geräusche, wie verborgene Blumen: der Wind
strich über das Gras und flüsterte dabei immer wieder „Armin, Armin“, der schrille Ruf
eines Falken ertönte über ihm im Himmelsblau, „er ist hier, er ist hier!“ All dies bildete
er sich nicht etwa ein, wie er es zuerst gemeint hatte, nein es war wirklich und echt.
So wirklich, wie die Stimme hinter ihm, die plötzlich sagte:
„Da bist du ja, Armin, wir haben dein Kommen schon erwartet.“
Das schlug dem Fass aber jetzt doch den Boden aus! Was war denn dies alles für
ein schlechter Scherz? Er drehte sich um und wäre vor Überraschung fast
umgefallen. Da stand, wie aus dem Boden gewachsen, ein kleines Mädchen vor ihm,
keines aus seiner Klasse allerdings, das stand fest. Es trug eine Art Tunika aus
weichem Leder, seine blonden Haare wurden von einem geflochtenen Stirnband nur
ungenügend gebändigt. Sie kringelten sich zu langen Locken, die frech im Wind
flatterten. Armin wollte sich seine Überraschung nicht anmerken lassen, deshalb
sagte er leichthin:
„Einen schönen Scherz habt ihr euch da einfallen lassen, aber ich falle nicht darauf
herein, ich nicht, ich bin ja nicht blöd!“
Das Mädchen sah ihn nur ernst an und sagte dann: „Ich bin Mago vom Clan der
Singenden Sommersterne. Ich heiße dich willkommen, Armin, vom Stamm der
Zukünftigen. Folge mir bitte, zu unserer Clanmutter, sie erwartet dich bereits.“
Er träumte wohl, anders war dies hier nicht zu erklären. Das kleine Mädchen war
nicht zu bewegen, auch nur ein Wort mehr zu sagen, als es bereits gesagt hatte. Es
ging nur zielstrebig und schnell auf eine weitere, kleinere Umzäunung aus Flechtwerk
zu und winkte ihm, ihr zu folgen. Was blieb Armin anderes übrig, er folgte seiner
kleinen Führerin auf dem Fuß. Innerhalb der Umzäunung stand eine kleine Hütte aus
Häuten und Fellen. Das Mädchen hob die Haut, die den Eingang verschloss, und
nickte Armin zu, einzutreten. Drinnen war es dämmrig, aber hell genug, um die
Gestalt zu sehen, die auf einem Fell am Boden lag. Dahinter saß, auf einem
Schemel, eine uralte, runzlige Frau. Gute Güte, sie schien ja so alt wie die Berge zu
sein, wenn nicht noch älter! Ihr schlohweißes Haar war zu einem Zopf geflochten, um
den runzligen Hals trug sie eine Kette aus Knochen, Zähnen und durchbohrten
Steinen. Aus ihrem Blick sprachen Staunen und Verwunderung. Ihre Stimme aber
war fest und gebieterisch, nicht zittrig, wie man es von einer so alten Frau erwarten
hätte können.
„Oho“, sagte sie erstaunt und deutlich belustigt und noch einmal „oho!“, und dabei
zog sie die Brauen hoch, dass die Runzeln auf ihrer Stirne davon so tief wurden, wie
Gebirgstäler. „Du also sollst der erwartete Held sein, der große Retter, den wir alle
hier erwarten? Sehr merkwürdig, sehr, sehr merkwürdig! Sie schüttelte den Kopf, und
dann begann sie mit einem Mal zu lachen. Sie lachte, dass alles an ihr zitterte und
bebte, tief, grollend und anhaltend. Dabei bemerkte Armin, dass sie keinen einzigen
Zahn mehr im Mund hatte. Jetzt wurde es ihm aber zu bunt. Was sollte das denn
alles hier, das ging denn doch etwas zu weit! Empört pflanzte er sich vor der Alten
auf und stemmte die Fäuste in die Seiten:
„Jetzt hab’ ich aber genug!“,
schrie er, worauf das Lachen der Alten schlagartig verstummte. Sie sah ihm
forschend in die Augen und sagte dann ernst:
„Vergib mir, es war nicht richtig von mir, über dich zu lachen, da du doch von so weit
her gekommen bist, um uns zu helfen. Ich begrüße dich im heiligen Kreis der
vereinigten Stämme, Armin vom Stamm der Zukünftigen. Ich bin die Feenkönigin,
man nennt mich nur Die Mutter. Dies hier sind die Anführer aller Stämme, die hier
zusammen gekommen sind, um das große Sommertreffen abzuhalten.“
Jetzt war Armin versucht, laut herauszulachen, aber er verbot es sich, um die Alte
nicht ebenfalls zu beleidigen. Feenkönigin nannte sie sich! Waren nicht Feen
Märchenwesen, ätherisch schön und spinnwebzart? Diese alte Vettel hier
hingegen..... es musste wohl ein Scherz sein! Andererseits.....gebieterisch war sie
und Respekt einflößend, eine Art Königin konnte sie schon sein, wenn auch ohne
Krone und Glitzerkleid, wie die in seinem Lieblingsmärchenbuch. Jetzt erst bemerkte
Armin die Anderen, die dem Gespräch der beiden respektvoll und still zugehört
hatten. Es waren Frauen und Männer, alte und jüngere. Sie alle trugen Ledertuniken
und leichte Umhänge aus gewobenen Gräsern.
„Ich verstehe nicht,“ erwiderte Armin, “ich bin hier mit meiner Klasse, auf
Schulausflug und sollte einen Gegenstand suchen, und auf einmal ist alles
so.....so.......anders. Was geschieht hier, bitte, und wo sind meine Schulkameraden?“
Die Alte blickte den Jungen verständnislos an: „Ich kenne die Bedeutung deiner
Worte nicht, K.l.a.s.s.e und S.c.h.u.l..a.u.s.f.l.u.g. Das müssen mächtige
Zauberworte sein, die nur du kennst. Bestimmt wirst du damit Fian heilen können,
meine Nachfolgerin. Sie steht unter einem mächtigen Zauber, denn niemand hier
brechen kann, auch ich nicht. Wenn sie stirbt, sind unsere Stämme in Zukunft ohne
Königin, und das ist ein großes Unheil. Das Land wird unfruchtbar, unsere Herden
verderben, und unser Volk verweht, wie Spreu im Wind. Deshalb habe ich ins heilige
Feuer geschaut und darin gesehen, dass einer kommen wird von weit her und doch
von ganz nah. Nun bist du gekommen, ein kleiner Knabe, und ich weiß nicht, ob du
der Retter bist. Eigentlich habe ich jemand.........nun, zumindest jemand
Erwachsenen erwartet. Aber, nun bist du hier, und ich werde dich prüfen. Willst du
diese Prüfung auf dich nehmen?“
Armin erstarrte. Prüfung, igitt! So etwas kannte er von der Schule, und er konnte
nicht eben behaupten, dass er Prüfungen liebte. Niemand tat das. Es hatte mit
Zeugnis und Noten zu tun, und das bedeutete meist Ärger, zumindest in der letzten
Zeit, seit seiner........Verwandlung. Wenn man es genau betrachtete, dann fühlte er
sich seit der Trennung seiner Eltern ebenfalls wie unter einem bösen Zauber. Wenn
die reglose Gestalt am Boden ähnliches durchmachte, dann war sie zu bedauern.
Wieder spürte er, wie der harte, kalte Knödel in seiner Magengrube warm und weich
werden wollte. Eine Welle von Mitgefühl überspülte ihn mit einem Mal, und wieder
stiegen ihm diese blöden Tränen in die Augen. Mühsam kämpfte er sie nieder. Nun
gut, er war hier, und diese Tatsache war schon seltsam genug, eigentlich eine
Unmöglichkeit. Wenn solche Dinge geschehen konnten, dann konnte es wohl auch
sein, dass er wirklich der Richtige war. Dann würde er auch die Prüfung bestehen.
Warum dann noch zaudern? Mutig hob er den Kopf, sah der Feenkönigin in die
Augen und sagte dann laut und fest: „Ja, Mutter, ich will.“
Die Alte sah ihn lange und ernst an, dann sagte sie streng, aber mit einem deutlichen
Unterton von mütterlicher Zärtlichkeit in der Stimme: „Nun gut, Fremdling, es sei.“ Sie
erhob sich, öffnete den Zelteingang und führte Armin hinaus auf den weiten Platz.
Inzwischen war es bereits dunkel geworden, und die Sterne glühten am nachtblauen
Himmel wie funkelnde Diamanten. Der sternenbesetzte Nachthimmel kam Armin wie
der königliche Mantel der Feenkönigin vor, der einzige, wirklich passende für sie, wie
ihm schien.
Feuer waren entzündet worden, leise und dumpf schlugen Trommeln, immer den
selben, eindringlichen Rhythmus. Armin meinte, sein eigenes Herz im Außen
schlagen zu hören, für alle hörbar. Die kühle Nachtluft ließ ihn erzittern, oder war es
nicht die Kälte, sondern Furcht? Egal, Furcht hin oder her, nun hatte er sich darauf
eingelassen, und er würde es zu Ende führen, wie immer es auch ausgehen mochte.
Die Alte begann zu sprechen: „Mein Volk, hier ist derjenige, von dem ich glaube,
dass er gekommen ist, um unsere junge Königin zu retten. Er hat eingewilligt, die
Prüfung zu bestehen. Wir wollen ihn mit all unserer Hoffnung und inneren Kraft
unterstützen. Die Aufgabe aber muss er alleine lösen. Die große Mutter der Erde und
des Himmels möge ihm dabei beistehen.“ Sie wandte sich Armin zu, und sprach zu
ihm:
„Höre nun das Rätsel. Es sind drei Fragen, auf die du eine einzige Antwort finden
musst. Die Erste lautet:
Ohne Anfang es die Zeit durchwindet,
ohne Ende es uns all’ verbindet.
Höre nun die Zweite:
Eine Schlange tanzt den heiligen Tanz,
sie beißt sich in den eigenen Schwanz.
Und nun die Dritte und Letzte:
Vom Anfang bis zum Ende ist’s ein weites Stück.
Doch geh’ nur immer vorwärts, so kommst du zurück.
.
Armin schwirrte der Kopf. Niemals hatte er solch rätselhaft, verwirrenden Worte
gehört! Eine Schlange, die Zeit, Anfang und Ende..... Oh je, das war wohl ein wenig
zu hoch gegriffen für ihn! Wahrscheinlich war er doch nicht der Retter, sondern nur
ein kleiner Junge, der sich ein wenig zu weit vorgewagt hatte. Schon wollte er
beschämt den Kopf einziehen und sich geschlagen geben. Dann aber fühlte er es.
Wie eine Welle aus warmem Wasser umspülte es ihn, vertrauensvolle Augen blickten
ihm entgegen, von den Menschen, die hier im Kreis um ihn herum saßen...........Er
fühlte sich mit ihnen verbunden..... Wie? Was? Was hatte er eben gedacht?! Aber ja,
das war es doch, das musste es sein! Er war aus einer fernen Zeit hierher
gekommen, und nun war er mit ihnen verbunden, weil die Zeit eben keinen Anfang
und kein Ende hatte. Sie war.... wie ein Kreis eben. Und die Menschen hier, wie
saßen sie? Im Kreis! Und der Platz hier, welche Form hatte er, war er nicht ohne
Anfang und Ende? Natürlich, wie Schuppen fiel es Armin von den Augen, und er sah:
Kreise... alles war ein Kreis, alles war verbunden, ja das war die Antwort, musste sie
sein! Nun lösten sich auch die beiden anderen Fragen wie von selbst: die Schlange,
die ihren eigenen Schwanz frisst? Ein Kreis! Der Weg vom Anfang bis zum Ende?
Was Anderes als ein Kreis, nur in verschiedenen Größen! Und freudig schrie er die
Antwort fast heraus:
„Es ist der Kreis, immer der Kreis!“
Erst war Stille. Dann brach lauter Jubel unter den versammelten Menschen aus. Sie
sprangen auf, und jeder wollte ihn berühren, ihn umarmen. Sie tanzten und sprangen
im Kreis umher, bis die Alte streng Ruhe befahl.
„Du hast die Aufgabe gelöst, Knabe und damit bewiesen, dass du einen wachen
Verstand und ein weises Herz hast. Du bist wahrhaftig der Richtige. Unsere Freude
ist grenzenlos. Aber, nun wartet noch die eigentliche Aufgabe auf dich, die, wofür du
her geführt wurdest.“
Mit diesen Worten führte ihn die Alte wieder zurück in das Zelt, wo die junge Königin
immer noch so dalag, wie zuvor. Er war nun allein mit ihr, auch die Alte hatte das Zelt
verlassen.
Vorsichtig schlug Armin die Felldecke zurück und sah das Mädchen voll Interesse an.
Es mochte nur wenig älter sein, als er selbst, aber sein Gesicht war ausdruckslos
und verschlossen, wie ein versperrtes Zimmer. Ein kurzer Blick, dann schloss sie
gleich wieder die Augen. Gute Güte, was sollte er hier nur ausrichten! Hilflos strich er
ihr immer wieder über die kalte Stirn. Das Rätsel war nicht allzu schwer zu lösen
gewesen, aber einen Zauber zu lösen, dazu bedurfte es wohl um einiges mehr, als
einen wachen Verstand. Die Kleine tat ihm ehrlich leid. Wenn er ihr doch nur helfen
könnte! Junge Königin oder nicht, Zauber hin oder her, sie schien einfach traurig und
verletzt zu sein. Armin spürte mit einem Mal ganz deutlich den weggeschlossenen,
harten, kalten Ball in seinem Inneren. Ob sie vielleicht auch einen solchen hatte?
Und leise zuerst und stockend begann er zu erzählen. Ohne wirklich zu wissen,
weshalb eigentlich, erzählte er seine eigene Geschichte, mehr sich selbst und um
irgendetwas zu tun, wenn er schon sonst hier nichts ausrichten konnte. Er erzählte
von seiner glücklichen Kindheit, und wie alles mit einem Mal dunkel und schmerzhaft
geworden war, als seine Eltern sich nicht mehr verstanden hatten. Dann die
Trennung seiner Eltern, für ihn eine Trennung von seinen glücklichen Kinderjahren,
von allem, was ihm lieb und teuer gewesen war. Und mit einem Mal begann der kalte
Knödel in seinem Inneren zu toben. Er riss an seinem Gefängnistor, er rumorte in
Armins Eingeweiden, wie ein wildes Tier. Er ließ sich nicht mehr halten, egal, wie
sehr Armin es auch wollte. Wollte er es überhaupt? Da stieg es auch schon hoch,
aus dem Magen in die Kehle und weiter in die Augen. Das Ungeheuer musste wohl
ganz aus Wasser bestehen, oder wie? Es stürzte jedenfalls aus seinen Augen wie
ein schwerer Regen, stürzte aus ihm heraus wie ein Wasserfall und war nicht mehr
aufzuhalten. Armin schluchzte und bebte, er jammerte und stöhnte und vergaß dabei
ganz auf das Mädchen. Zuletzt schien das Ungeheuer doch ganz zerflossen zu sein,
denn der Sturzbach aus Tränen ließ nach, wurde dann zu einem leichten Tröpfeln
und versiegte endlich ganz. Da erinnerte sich Armin erschrocken wieder an seine
eigentliche Aufgabe. Da sollte er einen Zauber lösen und verlor sich ganz in seine
eigene Geschichte. Ein schöner Retter war er! Aber, was war das? Er hatte wohl das
Mädchen ganz nass gemacht mit seinen eigenen Tränen! Aber nein, sie selbst war
es, die da weinte, wohl aus Mitleid mit ihm! Immer wieder schrie sie unter heftigem
Weinen einen Namen heraus: Elara oder so ähnlich. Wer oder was war Elara?
Vielleicht ein Zauberwort? Ein Teil eines Zauberspruches vielleicht? Vielleicht konnte
man sie mit diesem Zauberspruch erlösen? Armin begann das Zauberwort,
gemeinsam mit dem Mädchen, immer wieder vor sich hinzusingen. Zuerst im
gleichen Tonfall wie sie, traurig und verzweifelt, dann aber immer sanfter, inniger,
zuletzt liebevoll und auch ein wenig fröhlich, bis beide gemeinsam ein wunderbar
tröstliches und freudiges Elara - Lied sangen. Die verschlossene Miene des
Mädchens öffnete sich, wie eine Blume an der Sonne, die traurigen, matten Augen
bekamen wieder Glanz.......und schließlich lächelte sie ihn sogar an! Dann sagte sie
leise:
„Elara war meine Zwillingsschwester. Sie ist bei einem Brand umgekommen. Ein Blitz
hat in unsere Hütte eingeschlagen und alles in Brand gesetzt. Wir konnten Elara
nicht schnell genug heraus bringen. Sie hat mein Herz ins Land der Toten
mitgenommen, und mich mit diesem Zauber zurückgelassen. Warum hat sie mich so
alleine gelassen, mit all diesem Zorn und dieser Leere? Du aber hast mein Herz
wieder zurückgeholt. Ich kann es wieder fühlen, hier, es schlägt und ist warm, obwohl
mir Elara noch immer fehlt, so sehr fehlt.“
Erst jetzt bemerkte Armin, dass auch sein Zorn ihn verlassen hatte, und dass sein
Inneres sich wieder warm anfühlte und lebendig.
Das Mädchen erhob sich und trat vor das Zelt. Jubel ertönte. Trommeln und Flöten
machten eine ohrenbetäubende, aber unwiderstehliche Musik, zu der man einfach
tanzen musste. Die Alte trat ins Zelt und stand still hinter Armin, der immer noch im
Bann des unglaublichen Erlebnisses stand, das sich eben zugetragen hatte. Sie trug
nun einen Mantel, der mit glitzernden Sternen besetzt war. „Du hast den Zauber
gebrochen und unser Volk gerettet. Wir alle danken dir. Kehre nun wieder zurück in
deine Zeit, zum Stamm der Zukünftigen und nimm mein Geschenk mit dir.“ Sie
pflückte einen der unzähligen Sterne von ihrem Mantel und drückte ihn Armin auf die
Stirn. Er fühlte sich warm an und unglaublich lebendig.
„Vergiss niemals, alle Zeiten und alle Wesen sind miteinander verbunden, und das
Zeichen dafür ist dieser Kreis.“
Mit diesen Worten streifte sie Armin einen schimmernden Armreif über und küsste
ihn sanft auf die Stirn. Da fiel er in einen tiefen Schlaf. Als er erwachte, war er noch
am gleichen Ort, aber wieder in seiner Zeit. Nichts hatte sich verändert, oder alles,
denn er war ein Anderer geworden. Das bemerkten alle, seine Mitschüler, seine
Lehrer und seine Mutter. Von diesem Tage an hatte er viele Freunde. Übrigens, sein
Aufsatz war der beste von allen, und dabei schrieb er doch nur auf, was geschehen
war, nichts weiter.
Übrigens: die Kreisgrabenanlage könnt Ihr wirklich besuchen. Sie befindet sich an einem
Ort namens Kleinwetzdorf im Niederösterreichischen Weinviertel. Es könnte aber sein, dass
Ihr enttäuscht sagt: „Hier ist wirklich nur eine langweilige G’stettn!“ Dann solltet Ihr daran
denken, dass es auch dort einen Zutritt zur Anderswelt gibt, und in der Anderswelt ist
niemals etwas langweilig.
Nun ist aber Merlins Sack schon ziemlich leer. Nur noch zwei Dinge warten darin,
Euch ihre Geschichte zu erzählen. Eines davon ist ein Glöckchen. Es stammt vom
Geschirr eines der Rentiere des Weihnachtsmannes. Ganz fein und zart klingt es,
wenn es uns seine Geschichte erzählt. Vorher aber müssen wir es in der Anderswelt
schnell einmal wieder Winter werden lassen, denn Weihnachten im Sommer, das
wäre wohl nicht so ganz das Richtige, nicht wahr? Also, still und aufgepasst, dann
erfahrt Ihr,
Warum Weihnachten am 24. Dezember ist und so einiges Anderes..........
Weihnachtsmänner gibt es viele. In jedem Kaufhaus, in jeder Einkaufsstraße, bei
vielen vorweihnachtlichen Festen könnt ihr einen treffen. Aber, so haben sich
sicherlich schon viele von Euch gefragt, welcher von ihnen ist wohl d e r Richtige,
der Wahre, der Echte und Einzige? Wer kann das schon sagen? Und wie bitte,
schafft er es eigentlich, überall zugleich zu sein? Lässt er sich klonen oder was? Bis
jetzt war das ein ganz großes Geheimnis. Ich werde heute dieses Geheimnis für
Euch lüften, dann werdet Ihr verstehen, was es damit auf sich hat.
Früher war Weihnachten nicht am 24. Dezember, wie heute, sondern am 21., wenn
die Sonne wieder beginnt, am Himmel höher zu steigen. Und früher gab es auch nur
den einen Weihnachtsmann. Er wohnte hoch im Norden, dort, wo der Winter
zuhause ist, wenn er nicht gerade Urlaub im Süden macht. Er war ein freundlicher,
alter Mann mit strubbeligem, weißem Bart und einem rundlichen Bäuchlein. Das kam
davon, dass er sehr gerne aß, am liebsten Bratäpfel und Honiglebkuchen, das setzt
sich an. Die Rentiere beklagten sich schon, sie mussten sich jeden Winter mehr und
mehr mit dem Schlitten plagen, und der musste ja erst einmal in die richtige Flughöhe
gebracht werden, bevor er dann einigermaßen von selber durch die Luft flog. Das
Gewicht aber kam nicht von den vielen Geschenken, denn früher gab es nicht so
viele. Die Menschen waren damals genügsamer und freuten sich auch über
Kleinigkeiten, einen warmen Schal etwa oder eine Puppe. Und dann erst das
Kaminrutschen! Wie ihr ja sicher alle wisst, kam der Weihnachtsmann früher durch
den Kamin. Heute ist das anders, viele Häuser haben ja auch keinen richtigen Kamin
mehr.
Ja, nun, was soll ich euch sagen, also, der Weihnachtsmann hatte sich seine
Lieblingsspeisen wieder einmal so richtig gut schmecken lassen, sodass er sich nur
mehr mit allergrößter Mühe durch den Kamin pressen konnte. Beim ersten Haus ging
es ja gerade noch. Es war groß und geräumig gebaut und hatte deshalb auch einen
entsprechend breiten Rauchfang. Aber schon beim nächsten.....ich kann euch sagen,
es war die reinste Katastrophe! Die Rentiere hielten über einem kleinen Häuschen.
Es gehörte einem Schuhmacher und seiner Familie. Die beiden Kinder, Kathi und
Fridolin freuten sich schon so sehr. Den ganzen Tag hatten sie schon Ausschau
gehalten nach dem Schlitten. Immer wieder hatten sie ihre Eltern gefragt: „Wann ist
es denn endlich so weit? Wieso kommt der Abend heute so lange nicht? Wird der
Weihnachtsmann auch sicher nicht auf uns vergessen?“ Ihr wisst ja alle, wie das so
ist, zu Weihnachten, und damals war es auch nicht anders.
Endlich war es soweit. Im Kamin brannte ein gemütliches Feuer, im Haus duftete es
nach all den weihnachtlichen Köstlichkeiten, Papa wartete darauf, die Kerzen auf
dem kleinen Weihnachtsbäumchen zu entzünden, und Kathi und Fridolin zappelten
ungeduldig herum. Alles war, wie es sich gehörte, nur........ Wo blieben denn die
Geschenke? Papa sah ratlos zu Mama, und die zuckte, ebenso ratlos, die Schultern.
Der Weihnachtsmann hatte sich bisher noch niemals verspätet. Hatten sie sich
vielleicht im Datum geirrt? Nein, es war der 21. Dezember, was also.....? Plötzlich
wurde es dunkel im Raum. Es rauchte und qualmte, es rußte und staubte. Es
rumpelte und pumpelte, es rappelte und zappelte. Alle mussten furchtbar husten. Die
Augen tränten so, dass keiner mehr etwas sehen konnte. Papa rief: „Der Kamin, es
muss etwas im Kamin stecken, weiß der Kuckuck, was das ist!“ Er riss die Türe auf,
um frische Luft ins Zimmer zu lassen und schaute zum Rauchfang hinauf. Da sah er
sie, sah die Rentiere und den Schlitten über seinem Haus parken. Wo aber war der
Weihnachtsmann? Ihr wisst sicher schon, wo der geblieben ist, nämlich........ richtig!
Der steckte im Kamin und konnte nicht vorwärts und nicht zurück! Und überall
warteten die Kinder auf ihre Geschenke, ohne Geschenke aber konnte das Fest nicht
beginnen! Die Rentiere scharrten ungeduldig mit den Hufen, dass die Wolken nur so
staubten. Dadurch begann es auch noch ganz stark zu schneien. Natürlich,
Weihnachten und Schnee, das gehört doch zusammen, werdet ihr jetzt sagen, und
damit habt ihr ja auch Recht. Jetzt wissen wir, warum. Wenn es also schneit, dann ist
es nicht allein die Frau Holle mit ihren Federtuchenten. Wo doch selbst die alte Dame
schon seit längerer Zeit lieber Schafwoll – Steppdecken benützt, wegen ihres
Rheumas. Die alten Federbetten behält sie nur mehr für den Schnee. Aber zurück zu
unserer Geschichte.
Der Weihnachtsmann steckte also im Rauchfang fest, und das ließ sich auch nicht
ändern. Im ganzen Land weinten die Kinder, weil Weihnachten ohne Geschenke
einfach nicht richtig Weihnachten ist, Christbaum hin, Glockengeläute her. Als allen
klar wurde, dass der Weihnachtsmann heuer aus irgend einem unerfindlichen Grund
nicht kommen würde, banden sich im ganzen Land Väter und Onkel, große Brüder
und Großväter Wattebärte vors Gesicht und schlüpften in mehr oder weniger
weihnachtsmännliche Verkleidungen. Dann bastelten sie mit Hilfe der Mütter kleine
Geschenke zusammen, um mit „Hohoho!“ so zu tun, als kämen sie gerade aus dem
Rauchfang. Die meisten Kinder erkannten natürlich sofort, wer hinter der Maskerade
steckte, aber sie mochten die Freude der Erwachsenen nicht zerstören. Die freuten
sich doch so sehr über die Freude der Kinder! Die Kinder wieder aber taten so, als
glaubten sie, den echten Weihnachtsmann vor sich zu haben. So waren alle
einigermaßen glücklich und zufrieden. Die Kinder fragten sich natürlich schon, was
denn nur heuer mit dem echten Weihnachtsmann passiert war, aber, wie schon
gesagt.........
Im Haus der Schustersfamilie war es eisig kalt. Der Kamin konnte nicht eingeheizt
werden, denn da steckte ja.........richtig, der Weihnachtsmann, der echte nämlich. Sie
mussten für ein paar Tage zu ihren Nachbarn ziehen. Das fanden die beiden Kinder
wieder sehr lustig, denn dort gab es ebenfalls Kinder. Darüber vergaßen sie fast das
seltsame Verschwinden des Weihnachtsmannes.
Der arme Kerl konnte sich in seinem Rauchfang – Gefängnis nicht rühren. Er wurde
zusehends hungriger. Weil es im Kamin aber weder Bratäpfel noch Honiglebkuchen
gab, schrumpfte sein dicker Bauch von Tag zu Tag ein wenig mehr. Am dritten Tag
endlich war er so schlank geworden, dass er, plumps, mit Russ und Krach durch den
Kamin in die Stube fiel. Verschämt sah er sich um, aber zu seiner großen
Erleichterung war niemand zuhause. Wie wir ja wissen, war die Schustersfamilie bei
den Nachbarn einquartiert. Er schämte sich fürchterlich. Schnell machte er mit Besen
und Schaufel die ganze Bescherung wieder sauber. Dann legte er die Geschenke
vor den Kamin und verschwand flugs, auf dem selben Weg, auf dem er gekommen
war. Die Rentiere sahen ihren Herrn erstaunt an. „Na, geht’s jetzt endlich weiter, wir
sind doch Rentiere und keine Stehtiere!“, maulten sie vorwurfsvoll. „Jaja, hmm, hm,
soso hmhm“, grummelte der Weihnachtsmann verschämt in seinen Bart. Dann warf
er schnell alle Geschenke durch die Kamine in die Häuser. Es wäre ihm viel zu
peinlich gewesen, sich jetzt, mit drei Tagen Verspätung, noch persönlich sehen zu
lassen. War das ein Hallo, als es nun, nach drei Tagen noch einmal Geschenke gab!
Der Weihnachtsmann aber fand, das die Väter, Großväter, Brüder und Onkel ihre
Sache sehr gut gemacht hatten. Er war ja nun auch schon ziemlich alt geworden und
hatte ein wenig Ruhe nötig. Und der Termin am 24. Dezember war eigentlich gar
nicht so schlecht. So hatte man ein wenig mehr Zeit für die Vorbereitungen. Seit
damals feiern wir also das Weihnachtsfest am 24. Dezember. Seit damals lässt sich
der Weihnachtsmann auch gerne hin und wieder von den nicht ganz so echten
Weihnachtsmännern vertreten. Wenn ihr aber unbedingt wissen wollt, ob ihr es mit
dem echten Weihnachtsmann oder mit einer Vertretung zu tun habt, dann müsst ihr
ihn nur ganz, ganz vorsichtig am Bart ziehen, um zu sehen, ob der echt ist oder nicht.
Aber wirklich nur ganz, ganz sanft. Versprecht ihr mir das? Denn die
Weihnachtsmann - Vertreter geben sich für euch solche Mühe. Wir wollen sie doch
nicht kränken, oder? Weihnachten ist ja schließlich ein Fest der Freude, und das gilt
auch für Weihnachtsmänner.
Für unsere allerletzte Geschichte können wir es gleich Winter lassen in der
Anderswelt. Bei ihr geht es nämlich auch um den Schnee. Oh je, ich glaube, Merlin
kann den Schneestern nicht finden, der Euch diese Geschichte erzählen sollte! Ob er
vielleicht geschmolzen ist? Wäre ja kein Wunder, so lange halten sich Schneesterne
nicht und schon gar nicht in einem Sack. Macht nichts! Glücklicherweise hat meine
alte Freundin, die Frau Holle, mir diese Geschichte erzählt, in der sie ja selbst
mitgewirkt hat. Wenn Ihr erlaubt, werde ich selbst Euch diese allerletzte Geschichte
erzählen. In ihr geht es darum,
Wie der Schnee entstand:
Welches Kind freut sich nicht auf Winter und Schnee? Ich kenne keines. Welches
Kind tollt nicht gerne im frisch gefallenen Schnee umher? So viele Dinge kann man
mit der kalten, weißen Herrlichkeit treiben: Schneeball werfen, Schneemann bauen,
Rodeln, Schneeburgen errichten, Figuren in den frischen Schnee zeichnen - ich kann
die Vergnügungen gar nicht alle aufzählen, jedes Kind erfindet seine eigenen
Winterspiele, wenn es nur dazu Gelegenheit hat. Dabei war das nicht immer so.
Damals, vor unermesslich langer Zeit, gab es diese Freuden für die Kinder noch
nicht. Warum, fragt Ihr? Nun, ob Ihr es glaubt oder nicht, darum, weil der Schnee
noch nicht erfunden war! Unglaublich! Schnee gibt es doch schon seit immer! Ja, das
glaubt ihr, ich weiß es aber anders. Von wem, fragt Ihr? Nun, von jemand, der es
ganz genau wissen muss, weil er den Schnee nämlich erfunden hat. Ja, richtig
geraten, von Frau Holle persönlich! Sie hat mir nämlich ganz genau erzählt, wie es
dazu gekommen ist, dass es im Winter Schnee gibt. Das war nämlich so:
Vor langer, langer Zeit standen in einem abgelegenen Gebirgstal, ganz hinten, im
letzten Winkel der Anderswelt, ein paar kleine Hütten. Es war Winter, es war kalt. Die
Tage waren kurz, ja oft wurde es gar nicht erst richtig hell am Tage. Es schien, als
hätte die Sonne nicht mehr die Kraft, sich über die Berge zu erheben. Alle Tiere, die
das nur irgendwie konnten, schliefen in ihren Höhlen und Bauen dem fernen Frühling
entgegen. Vorher hatten sie sich noch dick und kugelrund gefressen, um den langen
Winter zu überstehen. Die Menschen hatten sich in ihre Hütten verkrochen, ans
wärmende Feuer, und wer nicht musste, ging nicht hinaus, dorthin wo Kälte und
Finsternis herrschten und ein schneidender Winterwind ihnen um die Ohren wehte.
Sie woben uns spannen, schnitzten und besserten Werkzeuge aus. Sie sangen und
erzählten einander Sagen und Geschichten. Trotzdem, die anhaltende Finsternis ließ
die Menschen langsam müde und traurig werden. Viele von ihnen wurden auch
krank vor Traurigkeit. So konnte es nicht weiter gehen, irgend etwas musste
geschehen. Aber was? Die Sonne, das wussten sie, würde noch viele, viele Wochen
nicht über die Berge hochsteigen. Bis zum Frühling dauerte es noch lang, viel zu
lang.
In einer der Hütten im Tal lebte ein kleines Mädchen, es hieß Miranda, mit seiner
Mutter, seinem Vater, den Grosseltern und seinem älteren Bruder, Luca. Der war
schon groß und durfte schon manchmal mit dem Vater auf die Jagd gehen. Darauf
war er sehr stolz. Trotzdem war er freundlich und nett zu seiner kleinen Schwester,
denn er liebte sie sehr. Er erzählte ihr von seinen Jagdabenteuern in den Wäldern,
schnitzte ihr Püppchen aus Astholz und ließ sie sogar manchmal mit seiner Kette aus
Bärenzähnen spielen. Das war eine ganz besondere Ehre, denn sie war sein ganzer
Stolz. Deshalb war er sehr besorgt um Miranda, als sie in den langen Wintertagen
immer stiller und trauriger wurde und zuletzt nicht mehr von ihrem Lager aus
Wolfsfellen aufstehen wollte. Das kleine Mädchen war blass und wollte nicht mehr
essen. Wo waren die Tage, als Miranda fröhlich gesungen und gespielt hatte, als sie
ausgelassen durch die Hütte gesprungen und die Freude seiner Eltern und
Großeltern gewesen war! Nun hustete und fieberte sie. Die Brühen der Großmutter,
aus heilkräftigen Pflanzen und Wurzeln zubereitet, halfen nichts, auch nicht die
kräftige Suppe aus Hirschfleisch, welche die Mutter liebevoll für Miranda gekocht
hatte. Es schien, als hätte das kleine Mädchen nicht mehr lange zu leben. Die ganze
Familie war sehr traurig. Irgend etwas musste geschehen, aber was? Endlich machte
sich der Vater auf den Weg, um die Weise Frau zu holen, die hinter den Bergen,
jenseits des Tales wohnte. Das war ein weiter Weg. Als sie endlich kam und das
kleine Mädchen schwach und blass auf seinem Lager liegen sah, wiegte sie
bedenklich ihr schlohweißes Haupt:
"Sieht böse aus", krächzte sie mit ihrer brüchigen Stimme, die klang, als käme sie
aus den Tiefen der Erde, "kann nichts für das kleine Ding tun, braucht stärkere
Medizin, braucht Medizin aus Himmelslicht und Sternenglanz, kann ich ihr nicht
geben...nicht ich, nein....."
"Wer kann sie ihr geben, Weise Frau, wenn nicht du?" fragte die Mutter verzagt.
Die Alte richtete ihren Blick nach innen, dort, wo der Schatz ihres langen und
erfahrungsreichen Lebens lag, ihr Wissen und ihre Weisheit. Sie schien ganz weit
weg zu sein und unerreichbar. Endlich sprach sie wie zu sich selbst:
"Müsst' schon die Mutter Holle sein, die Alte der Zeit, die könnt' das arme Wurm
gesund machen.....ja, ja, hat auch die richtige Medizin..."
Luca riss die Augen auf und fragte atemlos vor Aufregung. "Sag mir, wo ich sie
finden kann, die Alte der Zeit! Ich werde sie suchen und meinem Schwesterchen die
Medizin bringen. Sag mir, wo finde ich sie?"
Die Weise Frau sah Luca lange prüfend an. Dann sprach sie ernst: "Ist ein langer
und beschwerlicher Weg. Ist weit, weit, dort hinter den fernen Bergen und noch
weiter. Viele haben ihn schon vor dir gesucht und sind niemals wiedergekehrt.
Könntest ihn schon finden, bist ein aufrechter und ehrlicher Bursche und liebst deine
Schwester wirklich, das seh' ich. Könntest ihn finden, ja, ja..."
Und so geschah es. Nicht die Besorgnis seiner Mutter, nicht die Einwände seines
Vaters konnten ihn aufhalten. Er hatte beschlossen, seinem Schwesterchen die
Medizin zu bringen, koste es, was es wolle. Sein Vater gab ihm den besten Bogen
und seine schnellsten Pfeile mit auf den Weg, seine Mutter stattete ihn mit den
wärmsten Fellen aus und gab ihm einen großen Sack voll Nahrung mit auf den Weg:
getrocknete Wurzeln und Beeren, Trockenfleisch, Samen und Nüsse. Alle küssten
ihn zum Abschied mit Tränen in den Augen. Sie fürchteten, ihren Jungen niemals
wiederzusehen. Lange sahen sie ihm nach, bis seine Gestalt hinter den großen
Bäumen am Rande des Tales verschwunden war.
Luca ging und ging, er wollte das spärliche Tageslicht ausnützen. Als es Nacht
wurde, zündete er ein Feuer an und deckte all seine Felle über sich. Trotzdem war es
bitter kalt. Nach einer Weile sah er zwei Lichter am Rande des Waldes glimmen. Es
waren die Augen eines Wolfes, der in immer engeren Runden seine Lagerstatt
umkreiste. Er war hungrig und alt und schon zu schwach zum Jagen. "Komm her,
mein Freund," forderte Luca ihn auf, "und raste ein wenig bei mir am Feuer!" Dabei
gab er dem Wolf ein paar Bissen von seinem kostbaren Trockenfleisch ab. Er selbst
war ja jung und konnte jagen, er würde schon nicht verhungern! Der Wolf schlang
gierig die rettende Nahrung hinunter. Dann leckte er dem Jungen dankbar die Hand
und verschwand wieder, wie er gekommen war, lautlos, als wäre er nie da gewesen.
Früh, in der ersten Tagesdämmerung, zog Luca weiter. Er hatte nur ein Ziel, es lag
weit hinter den fernen Bergen, und er musste sich beeilen, um sein Schwesterchen
zu retten.
Später am Tage stärkte er sich mit einigen Nüssen und getrockneten Beeren, als es
im gefrorenen Laub raschelte und ein kohlschwarzer Rabe herangehumpelt kam.
Einer seiner Flügel hing kraftlos herab und schien gebrochen zu sein. "Du armer
Wicht," sprach Luca mitleidig, "komm her und lass dir deinen Flügel schienen, dass
er wieder zusammenwachsen kann!" Und er brach zwei von Vaters besten Pfeilen in
der Mitte durch, um den Flügel des Raben damit zu stützen. Er besaß ja noch zwei
weitere, das würde schon genügen. Dann gab er dem Raben noch einige Samen aus
seinem Reiseproviant zu fressen und setzte sich den Vogel auf die Schultern, um ihn
mitzunehmen. Der Arme konnte ja so verletzt nicht alleine überleben.
Bald gelangten die Beiden auf eine Lichtung, auf der ein kleines, windschiefes
Häuschen stand, durch dessen Ritzen, das konnte man sehen, arg der Wind pfeifen
musste. Luca dachte bei sich: "Hier will ich einmal anklopfen und nach dem Weg
fragen. Vielleicht kann man mir hier weiterhelfen." Auf sein Klopfen hin öffnete ihm
ein altes, verhutzeltes Weiblein. Klein und gebückt stand es auf der Türschwelle und
lud den Jungen ein, einzutreten. Luca sah, dass ihre Kleider nur dünne,
zerschlissene Lumpen waren und das Weiblein schwerlich warm halten konnten. Die
Alte fragte mit dünner, zittriger Stimme: "Woher und wohin, Söhnlein, in dieser Kälte
und Finsternis?"
"Ich komme aus dem Tal da hinten und suche die Alte der Zeiten, um von ihr Medizin
zu erbitten für mein todkrankes Schwesterlein. Weißt du vielleicht den Weg, Frau und
kannst mir die Richtung weisen?"
"Je nun," sprach das Weiblein geheimnisvoll, "jede Richtung ist die richtige, wenn du
der Richtige bist, sie zu finden, und jede ist falsch, wenn du es nicht bist."
Jetzt war Luca verwirrt, die Alte sprach in Rätseln. Er fragte: "Bin ich denn der
Richtige? Kannst du mir das sagen, Frau?"
"Das kann ich dir nicht sagen, Söhnlein. Niemand kann das. Du musst den Weg
schon gehen, um das zu wissen."
Nun, die Alte war ihm wohl keine wirkliche Hilfe, das sah er schon. Sie dauerte ihn
aber wegen ihrer dünnen Lumpen. Deshalb gab er ihr eines seiner wärmenden Felle
für ihre alten, erfrorenen Glieder zum Abschied. Ihm würde das Eine wohl auch
genügen, er war jung und konnte sich besser warm halten. Mit dankbarem Blick
nahm sie das Geschenk entgegen und wünschte ihm eine gute Reise.
Wie hatte die Alte gesagt? Jede Richtung war die richtige, wenn.......Nun, dann wollte
er schleunigst eine einschlagen und sich dabei von seinem Gefühl leiten lassen!
Bald stand er am Fuß der hohen Berge, die er überqueren musste. Ein langer,
beschwerlicher Anstieg lag vor ihm. Luca stieg und stieg, der Berg schien kein Ende
nehmen zu wollen. Zum Schluss kroch der Junge müde auf allen Vieren dem
sturmumtosten Gipfel zu und fiel, oben angekommen, in einen erschöpften Schlaf.
"He, du, aufwachen, sonst erfrierst du!" krächzte ihm sein neuer Freund, der Rabe,
ins Ohr und zupfte dabei an seinen Ohrläppchen, "komm weiter, steh auf, steh' schon
auf!" Aufgeregt schlug er mit seinem gesunden Flügel, als wolle er versuchen, zu
fliegen und gab nicht eher Ruhe, bis sein Freund erwachte und sich umblickte, als
wüsste er nicht, wo er sei. "He, hast du vergessen, was du willst? Denk an deine
kranke Schwester und spute dich!" krächzte der Schwarze und zupfte wieder an
Lucas Ohr. Ach ja, der Weg, er musste ihn suchen! Luca hatte gehofft, vom Gipfel
des Berges den richtigen Weg sehen zu können. Doch überall, wohin er auch blickte,
erstreckten sich Berggipfel. Nirgends war ein Weg zu sehen. Nun, er musste weiter.
So stolperte er also, müde und traurig weiter, hinunter in das unbekannte Tal.
Vielleicht würde er dort ja den richtigen Weg finden! Bald schon würde die Dunkelheit
wieder hereinbrechen. Bis dahin wollte er im Tal angekommen sein. War der Rücken
des Berges kahl und ohne Baum und Strauch gewesen, rückten nun Gestrüpp und
Bäume wieder enger zusammen, immer enger, bis Luca bald keinen Pfad mehr
durch das Dickicht finden konnte. Es ging nicht vorwärts und nicht zurück. Er hatte
sich heillos verirrt. So endete also seine Suche, und Miranda wartete vergeblich auf
die lebensrettende Medizin. Sie würde sterben, so wie er, hier, in der kalten,
undurchdringlichen Wildnis. Sein Freund, der Rabe krächzte ihm vergeblich Trost zu,
auch er konnte ihm hier nicht helfen. Es war aus. Luca schloss die Augen und dachte
an seine Lieben zu Hause. Tränen rannen ihm über die Wangen.
Etwas zupfte ihn am Ohrläppchen: der Rabe. Aufgeregt flatternd hüpfte er auf Lucas
Schulter auf und ab. Widerwillig öffnete der Junge seine Augen. Zwei Lichter
leuchteten vor ihm auf. Was war.....? Der Wolf, der alte Wolf, den er vor Tagen vor
dem Verhungern gerettet hatte, war hier und strich um seine Beine! Dann lief er in
eine Richtung davon, um gleich darauf wieder umzukehren und zu sehen, ob Luca
ihm auch folgte, ganz so, wie es Hunde tun, wenn sie mit Menschen unterwegs sind.
"Nun schau nicht so lang, folge ihm doch! Geh' schon, geh!" trieb der Rabe den
Jungen an. Und der Wolf, immer wieder am Boden schnüffelnd, fand den Weg aus
dem Dickicht. Er fand den Weg in ein kleines Tal, das sich, von alten Apfelbäumen
bestanden, bald vor den Wanderern auftat. Ein runder, gemauerter Brunnen war im
verdorrten Gras zu sehen. Davor setzte sich der Wolf auf seine Hinterpfoten und sah
Luca aufmerksam an. Der Rabe setzte sich auf den Brunnenrand und krächzte: "Wir
sind angekommen. Das letzte Stück musst du alleine gehen. Dorthin können wir dich
nicht begleiten. Leb wohl, mein Freund."
"Was heißt, leb wohl?" Luca wusste nicht, was der Rabe meinte. "Wohin muss ich
denn jetzt gehen?" fragte er verwirrt und "werd' ich euch wiedersehen?"
"Vielleicht", krächzte der Rabe, "doch nun spring in den Brunnen, fürchte dich nicht!"
Sein Flügel schien mittlerweile verheilt, denn er streifte die beiden Hölzer ab, die dem
Flügel als Schiene gedient hatten und erhob sich hoch in die Luft. Zum Abschied ließ
er noch eine glänzend, schwarze Feder zurück. Der Wolf leckte noch einmal Lucas
Hand und verschwand im Wald. Nun war der Junge wieder alleine, und seine neuen
Freunde fehlten ihm. Trotzdem, er hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen.
Der Brunnen, hatte der Rabe gesagt, er solle in den Brunnen springen. Aber, im
Brunnen würde er ertrinken oder sich zu Tode stürzen....oder aber.....Nun, es würde
sich gleich erweisen. Nun war er so weit gekommen, er würde auch dies hier wagen.
Luca stieg auf den Brunnenrand, schloss die Augen und hielt sich die Nase zu, wie
daheim, im Teich, wenn er im Sommer schwimmen ging - und sprang........................
Er landete sanft auf einer grünen, Blumen bestandenen Wiese mit blühenden
Apfelbäumen. Seltsam, hier war nicht Winter, kein Eiswind blies ihm ins Gesicht.
Nein, hier war Blumenduft und Vogelgesang. Auch hier stand ein Brunnen. Träumte
er? War er vielleicht in der Kälte eingeschlafen und erfroren, und dies hier war......das
Sommerland, wo die Menschen hingingen, wenn sie gestorben waren? Seine
Großmutter hatte ihm oft davon erzählt. War er etwa tot?! Und die Medizin für
Miranda? Nein, er durfte nicht tot sein, Miranda brauchte ihn!
Am Rande der Wiese stand ein schmuckes, kleines Häuschen. Es war von Rosen
umrankt und wirkte gemütlich und einladend. Vielleicht konnte man ihm dort
weiterhelfen!
Die Türe tat sich von selbst auf, als er anklopfte. Eine alte Frau lud ihn lächelnd ein,
einzutreten. Sie war wunderschön: hochgewachsen, schlank und würdevoll.
Hochsitz. Ihr weißes Haar ließ erkennen, dass sie ziemlich alt sein musste. Trotzdem
schien sie auch wieder jung. Wo hatte er sie denn schon gesehen? Sie schien ihm
irgendwie bekannt, doch er konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal getroffen zu
haben.
"Willkommen im Sommerland!" sprach die wunderschöne Dame nun. Also war er
doch tot, er hatte es ja geahnt! "Wir kennen uns schon, du und ich, sieh her" und für
einen kurzen Moment nahm die Dame eine andere Gestalt an, die einer kleinen,
gebeugten Alten in zerschlissenem Gewand.
"Oh, du bist......! Wie kann das sein!" Luca verstand nun gar nichts mehr.
"Doch, du verstehst wohl, das sehe ich genau. Ja, ich bin es, die alte Frau im Wald,
der du dein wärmendes Fell geschenkt hast. Ich bin dir als arme, alte Frau
erschienen, um dein Herz auf die Probe zu stellen. Auch meinen Freunden hast du
liebevoll geholfen, obwohl dein eigenes Herz schwer von Kummer war über deine
todkranke Schwester."
Bei diesen Worten kam von draußen ein glänzendschwarzer Rabe zum Fenster
herein geflogen, und ein kräftiger, vor Gesundheit nur so strotzender Wolf sprang
durch die Tür, seiner Herrin zu Füßen. Der Rabe blinzelte Luca lustig zu, und der
Wolf wedelte freundlich mit seiner Rute.
"Du hast gezeigt, dass du der Richtige bist, deshalb hast du mich auch gefunden.
Nun werden wir deiner Schwester rasch die Medizin bringen, warte ein wenig."
Die Dame erhob sich und winkte Luca, ihr zu folgen. Sie führte den Jungen nach
draußen, wo es mittlerweile Nacht geworden war und ein Sternen übersäter Himmel
sich wölbte. "Hebe deine Arme hoch!" forderte sie ihn auf, und dann begann sie ein
wunderbares, zartes und doch machtvolles Lied zu singen. Und da! Mit einem Mal
lösten sich Sterne vom nachtschwarzen Himmel und fielen zu tausenden in Lucas
ausgebreitete Arme. Es war ein Glitzern und Funkeln, dass der Junge die Augen
schließen musste vor so viel Licht. Die Dame hielt nun ein ledernes Säckchen auf,
und Luca ließ die Sterne hineingleiten, vorsichtig, dass keiner daneben fiel. Die
Dame sagte. "Und nun, mach schnell, kehr heim mit deiner Medizin aus Himmelslicht
und Sternenglanz, du wirst schon sehnsüchtig erwartet!" Mit diesen Worten führte sie
ihn zum Brunnen und hieß ihn, hineinzuspringen. Luca verbeugte sich noch einmal
ehrfürchtig vor der Alten der Zeit, dankte ihr und sprang.................
Zu Hause, im Tal vor den großen Bergen, saßen Mutter und Vater sorgengebeugt
am Lager ihrer kleinen Tochter. Unverändert blass und still lag sie in ihren Fellen. So
lange war Luca nun schon fort! Und wenn er den Weg nicht gefunden hatte? Und
wenn er elendiglich umgekommen, in den frostigen Bergen verirrt, erfroren war?
Dann hätten sie beide Kinder verloren. Sie hätten ihn nicht gehen lassen sollen!
Doch horch!
Ging da nicht die Türe, wehte da nicht der Eiswind in die Hütte und ließ die Fackel
flackern? Da stand er im Raum, Luca, lebendig und munter, lachend und gesund! Er
nahm sich nicht die Zeit, alle zu umarmen, sich am Feuer zu wärmen, zu essen oder
zu erzählen. Er ging ans Krankenlager seines Schwesterchens und öffnete sein
Ledersäckchen.........
Daraus leuchtete Sternenglanz auf, wurde zu dichten Wolken, die zum Himmel
aufstiegen und ihn bald ganz verhüllten. Aus diesen Wolken aber fielen..... Sterne,
abertausend glitzernde Sterne! Immer dichter fielen sie vom Himmel herab und
bedeckten bald das ganze Land, weiß und weich, Schnee! Die Weiße des Schnees
erhellte das ganze Land, sie vertrieb Dunkelheit und Trauer aus den Herzen der
Menschen, sie vertrieb die Krankheit von Miranda und machte sie wieder ganz
gesund. Die Kinder lachten und jauchzten vor Freude über die glitzernde Pracht. Die
Väter mussten eiligst Schlitten bauen, das Schifahren wurde erfunden, und die
Menschen wurden von nun an jedes Jahr durch das helle Schneegeglitzer für das
lange Dunkel des Winters entschädigt. Sie waren dankbar für das Geschenk,
welches Luca ihnen aus dem Reich der Frau Holle gebracht hatte. Denn, dass die
Dame im Sommerland unsere Frau Holle war, das habt Ihr ja sicher erraten, nicht
wahr?
So, nun ist Merlins Sack aber leer, kein noch so winziges Ding verbirgt sich mehr in seinem
Inneren. Ja, natürlich! Merlin, als Zauberer, könnte seinen Zaubersack natürlich mit einem
Huii wieder füllen, das wäre ein Klacks für ihn! Aber er muss jetzt wieder weiter. Auch
anderswo warten Kinder auf seine Geschichten. Da kommt mir eine Idee! Wie wäre es,
wenn ihr selbst einen ganz persönlichen Zaubersack hättet, mit eigenen Anderswelt –
Dingen? Es warten ja so viele von ihnen darauf, von euch gefunden zu werden: besondere
Steine, Federn, Ästchen, Wurzeln..........und noch vieles andere mehr. Sie alle warten
darauf, euch ihre Geschichten zu erzählen. Wie Ihr in die Anderswelt kommt, das wisst Ihr
ja jetzt. Also, gute Reise und viele, bunte Geschichten – Abenteuer!
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