Quelle: Mag. Monika Kunesch, L.L.M. in PVInfo 4/2010 Inkrafttreten der neuen EU-Sozialrechtsverordnung VO (EG) 883/2004 mit 1. 5. 2010 Die bereits vor Langem beschlossene neue EU-Sozialrechtsverordnung VO (EG) 883/2004 tritt nunmehr mit 1. 5. 2010 endgültig in Kraft – dies dank der Durchführungsverordnung DFVO (EG) 987/2009. Bereits in PV-Info 1/2005, Seite 14 ff, habe ich detailliert die Grundsätze und Funktionsweise für die Bestimmung der Sozialversicherungszuständigkeit (SV-Zuständigkeit) der derzeit geltenden EUSozialrechtsverordnung VO (EWG) 1408/71 sowie in PV-Info 4/2006, Seite 19 ff, die wesentlichsten Änderungen in der Nachfolgeverordnung dargestellt. Im Folgenden finden Sie eine Zusammenfassung der neuen Bestimmungen, Details und Klarstellungen dazu sowie Hinweise auf Übergangsregelungen. Vorgehensweise bei der Lösung einer internationalen Sozialversicherungsfrage Nach dem Stufenbau der Rechtsordnung sind Fragen hinsichtlich internationaler Sozialversicherungszuständigkeit nach folgender Reihenfolge zu klären: 1. Recht der Europäischen Union: o Verordnung (VO) (EWG) 1408/71 und Durchführungsverordnung (DFVO) (EWG) 574/72, o VO (EG) 883/2004 in der Fassung VO (EG) 988/2009 und DFVO (EG) 987/2009; 2. zwischenstaatliche Abkommen über soziale Sicherheit (derzeit 14 Abkommen); 3. nationales Sozialversicherungsrecht. Geltungsbereich Der Geltungsbereich der VO (EWG) 1408/71 und der VO (EG) 883/2004 umfasst grundsätzlich die EU-Staaten (Stand 1. 3. 2010: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn, Vereinigtes Königreich, Zypern), EWR-Staaten (27 EU-Staaten und Island, Liechtenstein und Norwegen) und die Schweiz. Allerdings tritt gegenüber dem EWRund der Schweiz die VO (EG) 883/2004 noch nicht mit 1. 5. 2010 in Kraft, da die entsprechenden Abkommen über die Freizügigkeit noch nicht angepasst wurden. Daher ist gegenüber diesen Staaten nach wie vor die VO (EWG) 1408/71 anzuwenden. (Unveränderte) Prinzipien der VO (EWG) 1408/71 und VO (EG) 883/2004 Beiden Verordnungen liegen die Prinzipien zugrunde, dass nur ein Staat für die Sozialversicherung zuständig ist (Prinzip der Einfachversicherung) und grundsätzlich die SV-Zuständigkeit im Tätigkeitsstaat liegt (Tätigkeitsstaatprinzip, Territorialitätsprinzip). PV-Info 4/2010, 33 Da das Territorialitätsprinzip dem Prinzip der Einfachversicherung untergeordnet ist, bestehen folgende Ausnahmen zum Territorialitätsprinzip, um dem Prinzip der Einfachversicherung gerecht zu werden: bei Entsendung, dh vorübergehender, punktueller Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat; bei mehrfachen Erwerbstätigkeiten (Kollisionsnormen), dh gleichzeitiger oder kontinuierlich abwechselnder Ausübung von mehreren Erwerbstätigkeiten; bei Ausnahmevereinbarungen. Entsendung Art 14 Abs 1 VO (EWG) 1408/71 Art 12 Abs 1 VO (EG) 883/2004 Ausstrahlungsprinzip: sowohl bei kurzfristiger Ausübung einer abhängigen (in Österreich sind das auch „freie Dienstnehmer“ im Sinn des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes – ASVG) als auch einer selbständigen Tätigkeit im Ausland. Entsendung von Arbeitnehmern ist eine zeitlich befristete Tätigkeit im Ausland im Auftrag des Arbeitgebers. Die voraussichtliche Dauer der Tätigkeit im Ausland darf 12 Monate nicht übersteigen, eine Verlängerung um weitere 12 Monate ist jedoch möglich. 24 Monate nicht übersteigen, es besteht keine weitere Verlängerungsmöglichkeit. Entsendungszeitraum: In folgenden Fällen erfolgt keine Zusammenrechnung der Einsatzzeiten, sondern diese werden hinsichtlich der SV-Zuständigkeit getrennt je Einsatz betrachtet: bei aufeinanderfolgenden Einsätzen eines Arbeitnehmers in ein- und denselben Mitgliedstaat bei Unterbrechung von mindestens 2 Monaten (kurze Unterbrechungen aufgrund Erkrankung, Urlaub oder Schulung führen nicht zu einer neuerlichen Entsendung); bei unmittelbar aufeinanderfolgenden Entsendungen in verschiedene Mitgliedstaaten; zB ein österreichischer Arbeitnehmer wird von einem österreichischen Arbeitgeber zuerst für 12 Monate nach Deutschland entsendet und gleich anschließend für 11 Monate nach Frankreich. Wesentlich sind die weiter bestehende Anbindung des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers an den Entsendestaat und das Weiterbestehen der arbeitsrechtlichen Bindung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Auch die Aufnahme für die Auslandstätigkeit ist als Entsendung zu qualifizieren, sofern der entsandte Arbeitnehmer nach der Entsendung die Möglichkeit hat, in dem entsendenden Stammbetrieb weiterzuarbeiten. Klarstellung , dass der Arbeitnehmer unmittelbar vor (mindestens 1 Monat) der Entsendung den Rechtsvorschriften, dh den SV-rechtlichen Bestimmungen, des Entsendestaates unterliegen muss (zB bei Mit- oder Weiterversicherung, auch durch Wohnen, Studium, Arbeitslosengeld). Art 14 Abs 1 VO (EWG) 1408/71 Art 12 Abs 1 VO (EG) 883/2004 Keine Entsendung liegt vor bei einer geplanten Entsendedauer von mehr als 12 Monaten bei Karenzierung eines Arbeitnehmers: Ein österreichischer Arbeitnehmer wird zB vorübergehend für 11 Monate karenziert, um ein Dienstverhältnis zu einem slowakischen (Konzern-)Unternehmen einzugehen. Dies gilt auch, wenn ein österreichischer Arbeitgeber einen Arbeitnehmer zB nach Polen entsendet, der dann zugleich ein zweites Dienstverhältnis zum polnischen Tochterunternehmen eingeht, da das Vorliegen einer Entsendung im Sinn des Art 12 der VO (EG) 883/2004 voraussetzt, dass im Tätigkeitsstaat keinerlei arbeitsvertragliche Bindung besteht. In diesem Fall sind beide Tätigkeiten nach dem Territorialitätsgrundsatz in Polen zu versichern; bei Ersatz eines Arbeitnehmers mit gleicher Funktion, um die Entsendefrist zu umgehen (möglich ist jedoch die anschließende Entsendung von Arbeitnehmern unterschiedlicher Funktionen) – „Ablöseverbot“; bei Einstellung von Ortskräften, das sind Arbeitnehmer, die bereits im Tätigkeitsstaat wohnen; bei Arbeitskräfteüberlassung, wenn der Überlasser im Entsendestaat keine nennenswerte Tätigkeit ausübt (zB es wird nur ein Büro unterhalten, um Arbeitnehmer zu entsenden). bei einer geplanten Entsendedauer von mehr als 24 Monaten Klarstellung , dass der Arbeitskräfteüberlasser im Entsendestaat nicht nur Verwaltungstätigkeiten ausüben darf – zumindest 25 % operativer Umsatz im Entsendestaat sollten erzielt werden. Sollte keine Entsendung vorliegen, kann eine Ausnahmegenehmigung nach Art 17 der VO Art 16 der VO beantragt werden (siehe ausführlicher nachfolgend). Formulare E 101 A1 zu beantragen beim zuständigen Sozialversicherungsträger (SV-Träger); in Österreich ist dies die zuständige Gebietskrankenkasse. Eine vorzeitige Beendigung der Entsendung ist der zuständigen Gebietskrankenkasse (formlos) zu melden. Bei Verlängerung E 102; zu beantragen beim zuständigen SVTräger im Tätigkeitsstaat. Übergangsregelung: Entsendungen, die über das Inkrafttreten der neuen VO (EG) 883/2004 mit 1. 5. 2010 hinausgehen, dürfen in Summe die Maximaldauer von 24 Monaten nicht überschreiten. Beispiel 1 Entsendung von 1. 6. 2009 bis 31. 5. 2010: Ausgestellt wurde das Formular E 101. Eine Verlängerung bis maximal 31. 5. 2011 ist möglich; das Formular A 1 ist auszustellen. Beispiel 2 Entsendung von 1. 6. 2008 bis 31. 5. 2009: Ausgestellt wurde das Formular E 101; weiters erfolgt eine Verlängerung mit dem Formular E 102 bis 31. 5. 2010. In diesem Fall ist keine weitere Verlängerung der Entsendung möglich (allenfalls könnte ein Ausnahmeantrag nach Art 16 der VO [EG] 883/2004 gestellt werden).