****XXL-LESEPROBE**** Bitte bedenken Sie, dass Ihnen diese Leseprobe einen erweiterten Einblick in das Buch INGESCHENK geben soll. Komplett erhältlich als Ebook auf Amazon.de unter: http://www.amazon.de/dp/B00FE1AM6M Erhältlich als Buch auf Amazon.de unter: http://www.amazon.de/dp/149281962X INGESCHENK Roman 3. Auflage 2013 Autor: Steffen Wittenbecher Copyright 2013 Steffen Wittenbecher Covergestaltung: Steffen Wittenbecher Coverfotos: pixabay Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten und liegen bei dem Autor. Dies gilt ebenso für das Recht der mechanischen, elektronischen und fotografischen Vervielfältigung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 2 Die Handlung und die handelnden Personen, sowie alle Namen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden, verstorbenen und/ oder realen Personen ist rein zufällig. Sie erreichen den Autor unter: [email protected] www.fackelputzer.de Twitter: @wittenbechers Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Helmuts Traum (?) Die Anstalt Das Halloween-Special Über den Autor 4 Erweitertes Impressum Kapitel 1 Sie faltete die rot geblümte Kittelschürze und ihre schwere leinene Unterwäsche zu kleinen Paketen und legte sie mit Bedacht in den bereitgestellten Schmutzwäschekorb. Sorgsam entblätterte sie ein neues Stück Seife und achtete wie ein LUX darauf, dass die papierne Ummantelung nicht einfach auf den Boden fiel, sondern exakt nach den Falzvorgaben des Verpackungsherstellers zurückgefaltet in das Altpapier gelangte. Die Heizung des Badezimmers hatte dafür zwei Stunden benötigt, aber nun befand sich das Quecksilber des auffälligen Wandthermometers genau auf den von ihr angestrebten 28,5 Grad. Frau Ginster schob ihren Kopf vor und wischte mit einer bedächtigen Handbewegung den Nebel von der Anzeige des Thermometers. Um auch wirklich sicherzugehen, dass die Temperatur erreicht war, schnippte sie noch einmal mit den Fingern gegen das Glasröhrchen. Perfekt. Mit zwei ausgestreckten Händen schlüpfte sie in die Duschhaube, die an einem gesonderten Haken hing, und zog sie vorsichtig über ihr gewelltes Kopfhaar. Keineswegs durfte es heute bereits nass werden, nicht auszudenken, dreizehn Tage vor ihrem nächsten Friseurtermin. Jeden Dienstag, Freitag und Sonntag war solch ein Duschtag. Vorsichtig drehte sie das Wasser auf, und während sich eine dampfende Wolke um sie hüllte, überprüfte sie mit ihrer Hand die Temperatur. Noch etwas kaltes Wasser dazu, und schon schien alles seine Richtigkeit zu haben. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr das Wichtigste ein. Kurz entschlossen verließ sie in ihren gelb geblümten Badelatschen das Badezimmer und schlurfte in die Diele ihres Hauses, um dem Kittelschürzenschrank eine frische Kittelschürze zu entnehmen. Keineswegs wollte sie bei den Nachbarn als eine Frau gelten, die jeden Tag dasselbe trug. Wohl auch deshalb besaß sie neun dieser Kittelschürzen aus nahezu echt wirkendem Baumwollimitat. Nach kurzem Innehalten und Nachdenken, ob sie heute noch Besuch erwartete, wählte sie die blau geblümte Kittelschürze aus. 6 »Ach, Ingeborg, manch einer Frau mögen neun Schürzen nicht genug Auswahl sein. Doch ich finde sie ausreichend, um zumindest jeden Tag der Woche in einem anderen neuen Licht zu erscheinen.« Umsichtig befreite sie die penibel gebügelte Kittelschürze von dem störrischen Holzbügel und hing sie vorsichtig und ohne zu knittern an den Kittelschürzenhaken des Badezimmers. Jetzt dürfte alles fertig vorbereitet sein. Bevor sie nun endgültig unter die Dusche stieg, hielt sie noch einmal nachdenklich inne. »Ingeborg? Habe ich nun wirklich nichts mehr vergessen?« Sie kratzte sich am Ellenbogen, während sie sich im Badezimmer umsah. »Nein, es sieht mir nicht danach aus. Jedenfalls nach meinem derzeitigen Kenntnisstand nicht.« Leise summte sie „Dornröschen“ und stieg erfreut in die Dusche. Offensichtlich genoss Frau Ginster ihre Duschtage und niemand, der sie auch nur ein bisschen näher kannte, würde es wagen, sie an einem solch außerordentlich wichtigen Tag zu stören. Wirklich niemand? Ganze 14 Sekunden war sie bereits vom warmen Wasser umspült worden, als plötzlich das Telefon klingelte. »Das darf doch nicht wahr sein, Ingeborg!« Nach einigem Suchen fand und schob sie den Knopf ihres Duschkopfes in die Halteposition, der umgehend die Wasserversorgung mit einem spürbaren Rückschlag unterbrach. Beinahe wäre er ihr dadurch aus der Hand gerutscht und nur durch rasches Nachgreifen mit ihrer anderen Hand hatte sie dies geschickt zu verhindern gewusst. Den Duschkopf hängte sie ärgerlich murmelnd in seine Halterung. »Ingeborg, wer wagt es, dich an einem deiner Duschtage zu stören? Gut, dass ich noch nicht eingeseift war, denn dann könnte derjenige etwas erleben. Andererseits, was erleben wird derjenige auch so. Doch beruhige dich, Ingeborg. Du weißt nicht, ob es nicht vielleicht doch etwas Wichtiges ist. Womöglich die nette Frau vom letzten Mal, die dich auf das unschlagbare Angebot dieses 1kg Meersalzgesichtscremetopfes hingewiesen hat.« Während es bereits zum zweiten Mal klingelte, entstieg sie behände der Duschkabine und schlüpfte, tropfnass, wie 8 sie war, in die bereitgestellten Badelatschen. Im Vorbeigehen versicherte sie sich mit einem kurzen Blick in den Spiegel, dass die Duschhaube noch immer korrekt an ihrem Platz saß. »Nun gut, derjenige hat es wohl tatsächlich nicht anders gewollt. Halt dich fest mein Freund. Oh, halt dich fest!« Längst hatte sie ihren »Drinnenbademantel« ergriffen, und während sie sich den überwarf und den Gürtel um ihre Hüften festzurrte, klingelte das Telefon bereits zum dritten Mal. Kurz darauf war sie im Wohnzimmer und am Telefontischchen angelangt. Ihre ausgestreckte Hand schwebte über dem Telefonhörer, und sie lauerte auf ein weiteres Klingelzeichen. Doch nichts geschah. So stand sie einige Zeit, bis sie sich dazu entschloss, ihren Duschtag an der Stelle fortzusetzen, an der sie ihn beendet hatte. Mit angespannt entnervtem Gesicht befand sie sich bereits auf der Höhe der Badezimmerschwelle, als das Telefon abermals klingelte. Es läutete schrill und dieses Geräusch machte sie nun doch außerordentlich wütend. »Das kann doch … «, rasch wandte sie sich um, eilte in das Wohnzimmer, entriss den Hörer förmlich seiner Halterung und hielt ihn sich an ihr Ohr. »Wer stört mich und noch dazu an meinem Duschtag?«, entfuhr ihr es ungehalten. Doch es blieb still am anderen Ende der Leitung und nur ein atmendes Rauschen ließ sie fragend aufblicken. »Ich erwarte umgehend eine Antwort auf diese einfache Frage! Hallo? Ginster am Apparat. Habe ich extra meinen Duschtag unterbrochen, um mir Ihre rasselnde Atmung anzuhören?« Gerade wollte sie den Hörer wieder auflegen, als sie ein Schnalzen hörte, beinahe, als ob sich ein Mund zum Sprechen öffnen würde. »… Ingeborg …«, sprach eine seltsam verändert klingende Stimme. Sie streckte ihren Arm aus, sah auf und hinter den Telefonhörer und hielt ihn sich wieder an ihr Ohr. »Ingeborg? Ingeborg, wer? Ist dort die Ingeborg … die graumelierte Kröte von der letzten Kaffeefahrt? Sie sollten weniger rauchen, das sagte ich Ihnen bereits.« Es blieb still und abermals hörte sie dieses Schnalzen, welches das Rauschen der Leitung unterbrach. 10 »… I n g e b o r g! …« Diesmal hatte sich die Stimme besonders viel Zeit gelassen und den Namen hauchend und zum Ende hin beinahe wimmernd ausgesprochen. Ein fürchterlich schauerliches Kichern folgte. »Ich sagte Ihnen doch bereits, … Frau … Frau Ingeborg, dass ich nicht mehr genau weiß, welche Wolle ich genau für meine Stricksocken verwendet habe. Von „Wolle Johann“ ist sie jedenfalls nicht! Und für Sie werde ich ganz bestimmt nicht …«. In der Leitung wurde es plötzlich still und ein pulsierendes Tuten ertönte. Kopfschüttelnd legte Frau Ginster den Hörer auf und ging zurück in das Badezimmer. So etwas hatte sie bisher noch nicht erlebt und beim nächsten Zusammentreffen würde sie dieser Dame ein paar Takte erzählen. »Herrje, die kann sich auf was gefasst machen!« Dessen war sie sich sicher, als sie kurz darauf wiederum in der Duschkabine stand. Insgesamt war Frau Ginster nun ganze 72 Sekunden vom warmen Wasser umspült worden, als es an diesem Dienstagmorgen um 08.26 Uhr im Mai des Jahres 1986 abermals läutete. Doch dieses Mal war es nicht das Telefon, welches ihre knapp terminierte Tagesplanung durcheinander warf, sondern das Gartentor. Soeben hatte sie vorgehabt, sich einzuseifen. »Herr Gott, Ingeborg! Wer ist das denn nun wieder um diese gottlose Zeit? Neuerdings darf sich eine Dame nicht einmal mehr duschen, ohne von einem Klinkenputzer belästigt zu werden? Wäre mein Mann noch bei mir, er hätte ihn sicher längst davongejagt, und ich hätte davon nicht einmal etwas mitbekommen!« Nach einigem Hin und Her bemühte sie sich redlich darum, das Betteln um Einlass einfach überhört zu haben. »Ingeborg, nun sei doch mal ehrlich, wer soll es schon sein? Amor lässt sich hier schon länger nicht mehr blicken und der Gevatter hob sich einen Bruch, als er das letzte Mal hier bei mir zu Besuch war. Bestimmt ist es wieder einer dieser Teppichvertreter, oder noch schlimmer, einer der Wachturmzeugen.« Weiter ließ sie sich nicht beirren und hoffte, dass der »unverschämte Unhold« ein Haus weiter sein Glück versuchen würde. Trotzig hob sie einen Arm und begann nun mit Nachdruck, ihre Achseln einzuschäumen. 12 »Ingeborg, die können dir doch alle gestohlen bleiben. Wollen doch ohnehin nur an die Rente und an das bisschen Ersparte.« Doch nur wenig später läutete es noch einmal, und dieses Mal ließ derjenige besonders lange seinen Finger auf dem Klingelknopf. War er etwa darauf eingeschlafen oder gar mit dem Finger an dem Klingelknopf hängen geblieben? Sie horchte auf und stellte vorsorglich die Dusche ab. »Das fehlt gerade noch, ein Unfall vor meinem Gartentor. Nicht auszudenken, diese Scherereien.« Doch nein, derjenige nahm sich einfach nur heraus, außerordentlich penetrant die Klingel zu betätigen. »Das darf doch nicht wahr sein … Ingeborg, ignoriere es einfach. Aber was ist, wenn es nun doch etwas Wichtiges ist? Etwas außerordentlich Wichtiges? Ingeborg, es wird mit Sicherheit etwas herausragend Wichtiges sein! Es hilft alles nichts, du musst die Einseiferei beenden und nachsehen.« Für Unwissende möglicherweise befremdlich, verwickelte sich Frau Ginster recht häufig in solcherlei Selbstgespräche. Es war ja sonst niemand da, der ihren Gesprächen lauschen konnte. Zwar bewohnte noch ein Kater seit Kurzem ihr Häuschen, doch der hatte etwas mit seinen Ohren. Das arme Tier schien nur dazu imstande zu sein, das Klappern der Futterdose und die Gartentorklingel zu vernehmen. Doch zurück zum »ominösen Klingelkobold«. Entweder nahm er an, dass ein Hausbewohner stets in seinem Haus anwesend sein müsste oder, was bei Weitem unangenehmer wäre, es war einer dieser Klingelvertreter. Angeblich sollten die tagsüber umherziehen und durch endloses Klingelknopfbetätigen die aufwändige und äußerst komplizierte Mechanik einer Klingel derart strapazieren, dass sie irreparabel zerstört würde. Nach einigen Tagen, und wie rein zufällig, warfen dieselben Klingelvertreter einen Prospekt in den Briefkasten, auf dem auf bestem Hochglanzpapier darauf hingewiesen wird, wann und wo es die schönsten Klingeln zu kaufen gäbe. Ein einträgliches Geschäft, wie Frau Lisbeth erst letztens befand. Frau Lisbeth war die Freundin Frau Ginsters, die recht häufig solch wirres Zeug verbreitete, 14 doch Frau Ginster war sich nun nicht mehr so sicher, ob Gertrud ausnahmsweise nicht doch mal einen ihrer lichten Momente gehabt hatte. Nun klingelte es bereits zum dritten Mal. Lang, frech, zudringlich, und es schmerzte sie in den Ohren. »Himmel Herr, unerhört ist das, jetzt läutet der auch noch Sturm und das gleich dreimal! Na, der kann was erleben!« Umsichtig entstieg Frau Ginster der Duschkabine und ergriff entschlossen das bereitgelegte Handtuch. Was der ominöse »Läuterer« in diesem Moment ebenfalls nicht ahnen konnte oder auch geflissentlich ignorierte: Soeben wurde auch noch die Handtuchplanung der gesamten Woche durcheinandergewirbelt. Während sie sich das seifige Wasser aus ihren Augen rieb, machte Frau Ginster ihrem Ärger weiterhin reichlich Luft. »Ich bin weiß Gott nicht taub … Doktor Schubert, diag… diagnase… ach, erzählte mir erst kürzlich, dass ich das Hörvermögen einer Vierzigjährigen hätte. Was läutet derjenige also derart penetrant? Unbegreiflich ist mir das, und ich könnte mich bereits jetzt dafür ohrfeigen, dass ich aus der Dusche gestiegen bin. Einfach ignorieren sollen hätte ich die Läuterei… einfach ignorieren … Ingeborg, es hilft nun alles nichts, du wirst nachsehen müssen.« Während sie sich auf den Weg zur Haustür machte, warf sich Frau Ginster ihren rosa gestreiften »Draußenbademantel« über und zurrte den Stoffgürtel kämpferisch fest. Kater Helmut, der dank seiner selektiven Taubheit die Klingel ebenfalls vernommen hatte, war längst von seinem Lieblingsstuhl gesprungen und hoffte nun auf eine Gelegenheit, um gegebenenfalls seinen »Raubzug in die Umgebung« fortsetzen zu können. Natürlich wussten Helmut und Ingeborg, dass ihm eine »Flucht aus dem Haus«, wie sonst auch, gelingen würde. Allerdings war Helmut einer dieser Kater, die reumütig zurückkehrten und nach Futter bettelten, sobald sie auch nur die geringsten Anzeichen von Hunger verspürten. Da sie Helmut nun wenigstens eine Stunde nicht zu Gesicht bekommen würde, kraulte Frau Ginster ihm zum Abschied noch einmal vorsorglich den Rücken. »Helmut, du willst wohl wieder flüchten, pass bloß auf dich auf und mach mir keine Scherereien. Ja, ich 16 weiß, dass ich mich jeden Tag wiederhole und du kannst mich ohnehin nicht hören. Achte mir jedoch auf die Polizei bei deinen Raubzügen und vor allen Dingen auf diese Tierfänger. Die werden dich womöglich an diese Institute verkaufen. Dort rasiert man dir das Fell und schmiert dich mit Kosmetik ein. Und eins glaube mir Helmut, mit Kosmetik möchtest du als Kater nichts zu tun haben. Hast du mich verstanden, Helmut?« Nein, hatte er nicht. Wie denn auch, der Ärmste? Während sie ihm weiter die üblichen Sicherheitsvorkehrungen in das vermeintliche Gedächtnis zurückrief, sah Helmut zur Haustür und krümmte seinen Rücken derart unter Frau Ginsters Hand, dass sie sich bereits sorgte, ob sich sein Rücken jemals wieder in die Ursprungsform zurückbiegen ließe. Mit einer anständigen Prise Argwohn betrachtete sie sich seinen Rücken. »Helmut, falls ich jemals vor dir liegen sollte und das jammernd mit solch einem geformten Rücken, wie dem deinen jetzt hier … Helmut, dann musst du die 112 am Telefon wählen … hörst du Helmut? Die 112 und sag denen „Brombeerstrauchweg 65, Rücken“.« Nein, auch das hatte Helmut nicht gehört. Allerdings hoffte Frau Ginster wohl noch immer auf eine spontane Selbstheilung der kätzischen Gehörgänge. Kurz darauf erreichte sie die Wechselsprechanlage ihres Hauses. »Ich kann einfach nicht glauben, dass ich das hier mache, Ingeborg. Soll ihn doch der Teufel holen, pah … der traut sich allerdings auch nicht mehr hierher, seit er sich meinen Mann geholt hat.« Noch einmal zurrte sie den Bademantel fest und achtete flüchtig auf einen ordentlichen Sitz. Nach letztmaligem Innehalten und Horchen, ob der dubiose »Läuterer« es noch einmal wagte, den Klingelknopf zu betätigen, hob sie den Hörer ab. Ein knappes »Ja!« sollte nach dieser Hetzerei genügen. Der Unbekannte, am anderen Ende der Wechselsprechanlage war wohl ebenfalls ihrer Meinung. »Tag, Post!« Wie die Dinge nun lagen, sah Frau Ginster keinen Anlass mehr, weitere Nachforschungen anzustellen. Im Prinzip 18 war klar, wer derart entschlossen und so früh am Morgen um das Betreten ihres Gartens gebeten hatte. Nach einigem Suchen fand und drückte sie den großen, rot leuchtenden Knopf, der das Schloss des Gartentores elektrisch summend entriegelte. »Na, wer soll denn so etwas ahnen? Der Herr Schmidt. Der weiß doch ganz genau, dass heute mein Duschtag ist! Na warte, Ingeborg. Der wird was zu hören kriegen.« Umgehend färbten sich ihre Wangen rot, und nur einen Moment später hatte sie es sich bereits wieder anders überlegt. »Möglicherweise werde ich doch einmal darüber hinweg sehen. Es werden mit Sicherheit die Kräuterpillen und die Meersalzgesichtscreme sein. Und wer weiß, vielleicht nimmt Herr Schmidt einfach nur an, ich bräuchte die beruhigende Meersalzcreme sofort nach dem Duschen, … doch woher soll er denn wissen, was er mir bringt? Ob er wohl etwas ahnt? Ach, mein Herr Schmidt … wenn es einer ahnen kann, dann er. Dass ich ihn derart schlampig bekleidet empfangen muss … jegliche Ausflüchte meinerseits wären vollkommen absurd. Du bist eine Schande, Ingeborg. Wahrlich eine Schande für die gesamte Damenwelt.« Just als Frau Ginster in der Haustür stand, sah sie aus ihren Augenwinkeln, wie sich seitlich von ihr etwas an der Hauswand entlang bewegte. Erschrocken wandte sie sich in die Richtung. Als sie jedoch nur eine schwarze Schwanzspitze um die Hausecke verschwinden sah, wurde es ihr wieder schmerzlich bewusst, dass sich Kater Helmut bereits wieder auf einem seiner Raubzüge befand und letztlich nur einen Unterschlupf für die Nacht bei ihr gesucht hatte. Da die Sonne sie blendete, kniff sie ihre Augen etwas zusammen und blickte in Richtung des Gartentores. »Das ist doch nicht mein Herr Schmidt«, flüsterte sie, als sie sich den Mann in der gelben Uniform näher betrachtete. Mit einer Hand beschattete sie sich ihre Augen. Weite sichere Schritte bewegten einen Enddreißiger den Gartenweg entlang. Erst vor Kurzem hatte sie den Weg peinlichst genau von Flugstaub befreit. Ihr Blick fiel auf einen Löwenzahn, der sich zwischen zwei Gehwegplatten seinen Platz an der 20 Sonne zurückerobert hatte. »Na warte, Freundchen … ich sagte dir doch, dass dein Platz im Garten ist.« Zu allem entschlossen blickte sie wieder auf. Es war tatsächlich ein Postbote, denn unter seinen Armen trug er ein Paket und ein Klemmbrett mit sich. Schweifenden Blickes entdeckte er Frau Ginster in der Haustür und ahnte wohl bereits, dass er die Dame (die ihn mit Duschhaube und Bademantel bewaffnet erwartete) bei etwas Wichtigem gestört haben dürfte. Sorgsam vermied er jeglichen Augenkontakt und sah sich in weiten Kreisen um, wie schön diese Dame zu wohnen pflegte. Reichlich außer Puste gelangte er daraufhin vor den Stufen, die zur Haustür führten, an. Das verwunderte sie doch sehr, denn so, wie die Hose dieses Herren aussah, schien er doch regelmäßig durch kniehohen Schlamm zu »jocken«. Nachdenklich sah der Postbote auf das Klemmbrett, das er sich, wie das Schild eines Ritters, vor das Gesicht gehoben hatte. »Guten Morgen, Fraaau Ginser.« Sie blickte ihn fragend an und entgegnete ebenfalls eine der unumgänglichen Höflichkeitsfloskeln. »Guten Morgen, Ginster mein Name, Ingeborg Ginster.« »Ach, Frau Ginster, entschuldigen Sie, Landlunge mein Name, ich bin dann wohl Ihr neuer Postbote.« Er senkte das Klemmbrett und zum Vorschein kam ein »verschwitztes, strähnig haariges Lurchgesicht«. Das „Lurchgesicht“ kam Frau Ginster spontan in den Sinn, als sie sich das Gesicht ihres Gegenübers genauer betrachtet hatte. Da stand er nun, der Neue, und hatte es gewagt, ihren Duschtag zu stören. Es ist doch halb so schlimm, könnte man meinen, dann könnte sie doch später einfach weiter duschen? Nicht in Frau Ginsters Welt. Denn wer mit ihr Bekanntschaft gemacht hatte, der störte ihren Duschtag höchstens nur dann noch, wenn der letzte Tag auf Erden angebrochen war und einige Dinge nicht unausgesprochen bleiben sollten. Der Gevatter Tod höchstpersönlich würde an einem ihrer Duschtage unschlüssig vor dem Gartentor herumlungern und schließlich unverrichteter Dinge von dannen ziehen. Im Brombeerstrauchweg munkelten die Nachbarn daher, dass dieses Teufelsweib ewig leben könnte, wenn sie nur 22 ununterbrochen würde. Duschtage anberaumen Was allerdings nur die wenigsten wussten, den letzten Postboten, der es gewagt hatte, sie bei einem ihrer Duschtage zu stören, hatte sie tatsächlich mit Schimpf und Schande von ihrem Gartentor vertrieben. Regelrecht fortgejagt hatte sie ihn. Zwar hatte sie sich letztlich bei der Post entschuldigt, da sie keinerlei Briefe mehr erhalten hatte, doch erfuhr sie dort auch, dass der entsprechende Postbote seinen Posthut an den Nagel gehängt hatte. Statt darüber bestürzt zu sein, hatte sie nur darum gebeten, dass man ihr doch mitteilen möge, falls die Post mal wieder jemanden Unbekanntes zu ihr schicken würde. Tatsächlich hatte sie obendrein noch etwas geflunkert und angegeben, dass sie gedacht hatte, ein Klingelvertreter würde vor ihrem Gartentor stehen und ihre Klingel zerstören wollen. Am heutigen Morgen verwunderte es sie doch sehr, dass dieses Postamt die Dreistigkeit besaß, einfach doch wieder jemanden Unbekanntes zu ihr zu schicken, ohne sie vorher darüber unterrichtet zu haben. Jemanden, der nicht ihr Lieblingspostbote Schmidt war. Doch dieser Postbote Landlunge hatte anscheinend Glück im Unglück. Die Sonne schien warm auf die hellblaue Duschhaube herab und ihr war es eigentlich nicht danach, wieder jemanden zu verjagen. Mit dem Einzug Helmuts hatte sie sich darüber hinaus vorgenommen, versuchsweise etwas netter zu Unbekannten sein zu wollen. Sie hatte wohl begriffen, dass etwas Fremdes nicht immer mit etwas Bösem gleichzusetzen ist. Zudem war sie neugierig zu erfahren, wo denn ihr Postbote Schmidt abgeblieben sei. Und die finsteren Zeiten, als Boten umgehend hingerichtet wurden, falls ihre Botschaften unerfreulich waren, hatte sogar sie längst überwunden. Frau Ginster bemühte sich daher, sanft zu lächeln. »Ich befand mich soeben unter der Dusche und da hörte ich es läuten. Ist denn der Herr Schmidt erkrankt, ich kann ihn nicht sehen, ist er möglicherweise mit Ihnen hergefahren? Haben Sie ihn im Postamt vergessen?« Über die Schultern des Postboten hinweg hoffte sie, im Postauto 24 irgendetwas »Zurückgelassenes« erkennen zu können. Postbote Landlunge hingegen dachte kaum darüber nach, was er gefragt worden war. »Schmidt? Herr Schmidt? Ist mir nicht bekannt. Ich hätte hier allerdings ein Paket für … Moment … für Frau Wagner. Könnten Sie mir das bitte abnehmen? Ich lege ihr einen Zettel in den Briefkasten, dass das Paket bei Ihnen ist.« Gelangweilt blickte der Postbote um sich und an Frau Ginster vorbei sogar in ihr Haus. Über die Bitte des Postboten dachte Frau Ginster nun ausgiebiger nach, als sie eigentlich vorgehabt hatte. ›Herrje, das haut dem Fass doch die Krone ins Gesicht … Jetzt habe ich meinen Duschtag dafür und für die Wagner unterbrochen? Als ob ich dieses Paket jetzt noch ablehnen könnte. Falls ich es ablehne und Landlunge sieht Helmut vor sich herlaufen, dann fährt er ihm mit Absicht über den Schwanz.‹ Sie tat also, was notwendig war, um den neuen Postboten nicht gleich zu verärgern. ›Immerhin bin ich durch Helmut erpressbar geworden und die meisten Postboten haben zwar Angst vor winzigen Hunden, doch was ihren Respekt vor Katzen anbetrifft, darüber möchte ich lieber nicht am Vormittag nachdenken.‹ Ihr Mund verzog sich zu einem zuckersüßen Lächeln. »Ach, das Paket ist für Frau Wagner … Ja, dann werde ich das doch mal annehmen. Jammerschade ist das …«, und da sie schon einmal dabei war – Nettes wird stets mit Nettem vergolten: »Würden Sie sich bitte nach Herrn Schmidt erkundigen? Er muss bei Ihnen arbeiten, er ist derjenige, der mir sonst die Post vorbeibringt.« Postbote Landlunge sah auf das Klemmbrett und ohne aufzusehen wartete er darauf, dass Frau Ginster ihm das Paket abnahm. »Hören Sie, ich bin neu in der Poststelle und habe ohnehin kaum Zeit. Mich über einen Herrn Schmidt zu erkundigen … er hieß doch Schmidt? Dafür fehlt mir einfach die Zeit. Da ich aber nun anscheinend seine Tour fahre, wurde er womöglich entlassen oder aber er ist krank, oder was auch immer. Paket ist Paket und Brief ist Brief. Letztlich ist es doch egal, wer es zu Ihnen bringt. Meinen Sie nicht?« Frau Ginster hob ihre Augenbrauen und schüttelte unmerklich ihren Kopf. »Könnten 26 Sie bitte eine Ausnahme machen? Der Herr Schmidt ist doch so ein sympathischer Mensch und ich fände es schlimm, wenn ihm Derartiges geschehen wäre.« Unterdessen nahm sie das Paket an sich und stellte es auf den Schuhschrank aus Kirschbaumholz, der in der Diele stand. Anschließend rückte sie das gestickte Schrankdeckchen zurecht. Durch das Paket war es ein wenig verrutscht. Frau Ginster bewegte sich wie in Zeitlupe und hoffte, dass Herr Landlunge auf diese Weise ausreichend Zeit fände, um noch einmal über Herrn Schmidts Verbleib nachzudenken. Doch an dem war es keineswegs. »Frau Ginser? Würden Sie bitte hier, dort und dort … und hier unterschreiben?« Sie sah enttäuscht zu ihm auf. »Ginster ist mein Name, Ingeborg Ginster. Vier Unterschriften? Oh natürlich, vier … entschuldigen Sie.« Postbote Landlunge hielt ihr das Klemmbrett entgegen und zeigte auf die Stellen, wo es zu unterschreiben galt. Dafür reichte er ihr seinen gelben Postkugelschreiber, welchen Frau Ginster mit einem erfreuten Blick annahm. Allerdings hatte sie keinerlei Ahnung, wie bei diesem Stift der klickende Drücker für die Kugelschreibermine zu betätigen war. »Herr Landlunge, ihr Kugelschreiber besitzt keinen solchen Klicker, Sie wissen schon, um mit ihm schreiben zu können? Es tut mir leid, mit solch neumodischem Kram habe ich nichts am Hut. Der Herr Schmidt allerdings, der würde wissen, wie so etwas funktioniert. Der weiß das mit Sicherheit, könnten Sie ihn nicht vielleicht befragen, wenn Sie ihm nachher begegnen?« Da sie keinerlei Antwort erhielt, wollte sie soeben ihren eigenen Kugelschreiber holen gehen - allerdings hätte es womöglich sein können, dass just auf ihrem Weg in die Küche dem Postboten eingefallen wäre, was es mit ihrem Lieblingspostboten auf sich hatte. Für Herrn Schmidt überwand sie sich schließlich und blickte fragend und abwechselnd Herrn Landlunge und den Kugelschreiber an. Offensichtlich genervt zog der Postbote seinen Blick vom Hausinneren weg und richtete ihn auf Frau Ginsters Hand. »Drehen Sie … ach, geben Sie mal her … 28 Sie müssen an der Spitze drehen, dann kommt die Mine heraus. Sehen Sie … drehen … d r e h e n …«. Mit einer nervösen Hand wischte er sich über seine Stirn. »Puh, richtig heiß heute, und das Auto blieb auch noch auf halber Strecke liegen. Es dauerte eine Stunde, bis Ersatz vor Ort war und eine weitere halbe Stunde, bis wir die Pakete umgeladen hatten. Das war vielleicht eine Hetzerei.« Frau Ginster ihrerseits ließ sich keineswegs hetzen. Sie konnte sehr langsam schreiben, wenn sie es wollte, und manch einer würde es nicht für möglich halten, wie lange jemand tatsächlich für solch eine kurze Unterschrift benötigen konnte. Nach der zweiten Unterschrift zögert sie einen Moment und sah auf. »Dürfte ich Sie noch einmal darum bitten, sich nicht vielleicht doch zu erkundigen, was mit Herrn Schmidt genau geschehen ist?« Statt einer Antwort zuckte eines der Augen des Postboten und fordernd wackelte er am Klemmbrett. Das war Zeichen genug und in Ingeborg Ginsters Kopf rumorte es, während sie zwei weitere Unterschriften leistete. ›Ingeborg, was ist denn, wenn der Kerl genau weiß, wo sich mein Herr Schmidt befindet und es mir nur nicht erzählen will?‹ Warum war Frau Ginster derart von diesem Postboten namens Schmidt besessen? Herr Schmidt war einfach jemand, der sich stets danach richtete, wann Frau Ginster ihre Duschtage anzuberaumen pflegte. An diesen Tagen verlegte er sie an das Ende seiner Tour. Für solcherlei Rücksichtnahme wartete stets ein Glas Orangensaft auf ihn. Im Gegenzug brachte er wiederum Zeit für ein Schwätzchen mit. Das war eigentlich die ganze Kunstfertigkeit, die nötig gewesen war, um Frau Ginster für sich zu gewinnen. Als sie den Kugelschreiber zum vierten Mal absetzte, riss ihr der Postbote geradezu das Klemmbrett aus den Händen und überprüfte akribisch jede einzelne ihrer Unterschriften. Kurz darauf verzog sich sein Mund zu einem schiefen Grinsen. »Soo, ich danke Ihnen. Das war doch nicht weiter schlimm? Bis zum nächsten Mal, Frau Ginser. Oh, Frau G i n s t e r …« Seine Augen flackerten aufgeregt, während er auf eine Regung ihrerseits lauerte. Sie schüttelte schweigend ihren Kopf, was etwas darüber hinwegtäuschte, dass es für 30 sie selbstverständlich schlimm, geradezu unerträglich war, über den Verbleib ihres Herrn Schmidt nicht genauestens unterrichtet worden zu sein. Zudem sah sie sich plötzlich in Zeitnot. Sie fasste sich ein Herz. Kein Postbote würde jemals einem Glas gekühlten Orangensaft widerstehen können. »Herr Landlunge, mögen Sie vielleicht hereinkommen? Dort wartet ein Gläschen gekühlter Orangensaft auf Sie.« Der Postbote stand jedoch steif da, während er sich das Klemmbrett unter seinen Arm schob. »Landau, L a n d a u, mein Name und nein, ganz gewiss nicht. Ich muss schnellstens weiter. Ich bin ohnehin schon viel zu spät dran, und die Pakete verteilen sich nicht von selbst.« Diese Antwort traf Frau Ginster doch sehr. »Das ist jammerschade. Der Herr Schmidt, Ihr Kollege, mag jedenfalls meinen Orangensaft über alles.« Sie blickte an sich hinunter und zog den Gürtel ihres Bademantels fest. »Vielleicht bringen Sie das nächste Mal einfach etwas mehr Ihrer kostbaren Zeit mit?« Postbote Landau verzog seinen Mund abermals zu einem schiefen Lächeln und schüttelte seinen Kopf, während er auf ihre Duschhaube starrte. »Ich denke eher nicht. Es gibt reichlich zu tun. Schönen Tag auch.« Auf der Stelle wandte er sich um und ohne noch einmal zurückzublicken, lief er in Richtung Gartentor. »Tag auch …«, knurrte Frau Ginster ihm leise hinterher. »Herr Schmidt blickt stets noch einmal zurück und das nicht, um sich neugierig umzusehen, wie jemand haust. Was stimmt mit dem nur nicht? Jeder Postbote mag Orangensaft …«. Während sie durch die Tür ging, zischte sie weiterhin Unverständliches. In ihrem Haus angelangt ließ sie die schwere Haustür von selbst in das Schloss fallen. So rasch es ihr möglich war, lief sie daraufhin an das Küchenfester. Unterwegs ergriff sie die Kittelschürze und zog sich den mittlerweile zu warm gewordenen Bademantel aus. Vom Fenster aus beobachtete sie Postbote Landau, wie er ein weiteres Paket dem Postauto entnahm und drei Gartentore weiter auf den Klingelknopf drückte. Unerwartet entdeckte Frau Ginster dort Helmut, der ausgerechnet bei diesem Nachbarn eine Pause seines morgendlichen Raubzugs eingelegt hatte. Dazu hatte sich Helmut räkelnd auf dem Gartenweg der 32 Familie Nascher niedergelassen. Landau kam ihm bereits verdächtig nahe. »Ach herrje, er wird doch nicht über Helmut stürzen!?« Kurz darauf sah es jedoch so aus, als ob Landau knapp an ihm vorbei laufen würde. »Gott sei Dank, ich dachte bereits, dass der Postbote … nicht auszudenken, ein Unfall, in den mein Helmut verwickelt ...«. Plötzlich erschrak Frau Ginster, als sie sah, dass sich Landau unerwartet doch auf Helmut zubewegte. Ihr wurde es ganz heiß und sie ahnte bereits Schlimmes. Augenblicke später geschah es bereits und sie musste hilflos mit ansehen, wie Helmut vor die Füße des Postboten geriet und mit einem kräftigen Tritt aus dem Weg befördert wurde. Helmut hatte wohl etwas Futter oder eine kraulende Hand und schon gar keinen tretenden Fuß erwartet. Sein Buckel war noch immer ganz krumm, als er sich einen halben Meter hoch und weit durch die Luft bewegte. Auf dem Boden zurückgekehrt setzte er sich umgehend auf seinen Katerhintern und leckte aufgeregt zwei-, dreimal die Stelle, an der er getroffen worden war. Helmut erholte sich rasch von dieser beispiellosen Enttäuschung. Doch es gab nun keinerlei Grund mehr für ihn, länger als irgend nötig an diesem Ort zu verweilen. Frau Ginster biss sich derweil in ihre Faust und redete beruhigend auf sich ein. »Helmut, du hast dich keine Sekunde zu früh von diesem Ausflug erholt … wenn ich nur zwanzig Jahre jünger … und hätte es eher mitbekommen ... ich hätte mich umgehend zwischen Landzunges Fuß und dich geworfen … beinahe bereue ich es, dass ich mich gegenüber Unbekannten etwas zurücknehmen wollte und mich um den Postboten gesorgt habe. Mit Anlauf in den Allerwertesten hätte ich dem treten sollen!« 34 Kapitel 2 Kurz darauf war Helmut zwei Gärten weiter gezogen. Als der Postbote ohne zu halten an diesem Garten vorbeifuhr, gab es für sie keinerlei Grund mehr, länger am Küchenfenster zu verweilen. Sie wandte sich um, zog sich ihre Schürze zurecht und war fürs Erste beruhigt. Kurz entschlossen eilte sie in das Wohnzimmer und setzte sich in den Beistellsessel, der neben dem Telefontischchen stand. Wütend griff sie sich den Hörer des Telefons und das Notizbuch, in dem alle wichtigen Nummern verzeichnet waren. Ihre Finger wirbelten durch die Seiten des winzigen Buches. »Naturzäune Ehmke … naturnahes Katzenfutter … naturidentisches Katzenfutter Plauder … Mäusespielzeug aus Katzenfell … ach nein, Katzenspielzeug aus naturidentischem Mäusefell … ach, zu weit … ach, hier … Nascher.« Unruhig erhob sie sich wieder aus dem Beistellsessel, und während sie die einzelnen Nummern geradezu einhämmerte, erfüllte ein beinahe unheimliches Summen das Wohnzimmer. »Him, him, hmm, hmmm, him, him, hum, ham.« Bei „ham“ drückte sie derart beherzt auf den Tastenblock des Telefons, dass dieses ein Stück weit »Ach herrje, Ingeborg!« verrutschte und an der Schnur hängend hinabglitt. »Siehst du? Das habe ich irgendwann einmal kommen sehen. Es steht nun einmal nicht direkt auf dem Telefonbeistelltisch und somit sicher. Nein, ein Spitzendeckchen musste unter das Telefon drapiert werden.« Sie hob das Telefon wieder auf den Beistelltisch, und nachdem sie sich einen genaueren Überblick über die Standfestigkeit verschafft hatte, hielt sie sich beruhigt den Hörer an ihr Ohr. Es tutete bereits. Es tutete ein weiteres Mal. Vorsichtig zog sie Deckchen und Telefon wieder in die alte Position. Es tutete abermals. Sie räusperte sich und wurde bereits etwas ungeduldig, als es endlich im Telefonhörer knackte: »Nascher?« 36 »Ja, ach der Herr Nascher. Guten Tag, Ginster am Apparat, Ingeborg Ginster, von weiter nebenan, wissen Sie … aus der Fünfundsechzig. Recht lange haben Sie mich eben warten lassen … allerdings rufe ich deswegen nicht bei Ihnen an. Sie kennen mich sicherlich noch oder aber Sie kannten meinen Mann. Sie wissen doch, der Ärmste verstarb schon vor langer Zeit an dieser schlimmen Kunstgrasallergie.« »Guten Tag, Frau Ginster. Ihr Mann? Ja, der ist mir bekannt. Ich sah ihn ab und an, als er das Haus verließ und ansonsten … Naja, Sie wissen, wie das ist unter Nachbarn. Man sieht sich hier und da, und das war es eigentlich auch schon. Was gibt es denn, wo brennt es?« »Ja, es brennt die Luft, das kann ich Ihnen sagen. Eine Unverschämtheit sondergleichen ist das. Ich hoffe, Sie haben diesem Landlunge mal ordentlich die Meinung gegeigt?« Herr Nascher räusperte sich. »Was hat denn der Junge wieder angestellt? Haben Sie ihn beim Rauchen erwischt? Na, der Bengel soll mir mal nach Hause kommen.« Frau Ginster wusste zwar nicht, wie Herr Nascher darauf kam, doch packte sie gleich einmal die Gelegenheit beim Schopfe. »Ihr Sohn? Ja, dem geigen Sie mal ordentlich Ihre Meinung. Letztens habe ich ihn diese neumodischen Kopfhörer tragen sehen. Die Jugend von heute hört lieber Musik, statt den Erwachsenen zuzuhören. Zu meiner Zeit waren es wenigstens noch Schwarze, die schöne Musik gespielt haben. Heute spielen schöne Menschen schwarze Musik und beten dabei sogar noch den Teufel an. Wo das noch mal enden soll? Und wo bitte geht denn der Ärmste zum Friseur, er sieht ja schrecklich aus, Ihr Junge. Dass solch ein hübscher Junge sich derart verunstalten lassen muss.« »Ja nun … beim Rauchen haben Sie ihn allerdings nicht erwischt?« »Ach, der Bengel raucht auch noch? Ich glaube, Sie haben ihn verloren, Herr Nascher. Er ist sicher längst einer Sekte beigetreten oder, bei Weitem unerfreulicher, diesen Wachturmzeugen.« »Nun ja, wir sind kürzlich ebenfalls den Zeugen beiget … weswegen rufen Sie eigentlich an, Frau Ginster? Doch nicht, um 38 mir zu sagen, dass mein Junge Musik hört oder um zu erfahren, welcher Kirche wir beigetreten sind?« »Nein, ich würde mir kein Urteil über die Mitglieder einer Kirche erlauben. Wenn es denn Mitglieder einer Kirche sind und keiner Sekte. Haben Sie möglicherweise gesehen, dass mein Helmut getreten wurde? Ich benötige einen Zeugen, um Anzeige bei der Polizei zu erstatten.« »Nein, ich habe nicht gesehen, wie ein Helmut getreten wurde. Sollte ich dies gesehen haben?« »Helmut saß doch auf Ihrem Gehweg und wurde vom Postboten getreten. Das müssen Sie doch gesehen haben. Ich bitte Sie!« »Nein, ich habe den Postboten niemanden treten sehen und erst recht saß niemand auf meinem Gehweg?« »Hören Sie, welche Verschwörung ist dort im Gange? Auf Ihrem Gehweg wurde mein Helmut getreten und Sie wollen von alldem nichts gesehen haben? Ist der Postbote möglicherweise Mitglied in Ihrer Sektenkirche? Haben Sie ein Schweigegelübde ablegen müssen? Mir können Sie es doch sagen. Ich nehme es Ihnen nicht krumm. Wir machen doch alle mal Fehler.« »Nein, und ich wiederhole, nein. Hier auf meinem Gehweg wurde niemand getreten. Ich muss jetzt auch zur Arbeit und wünsche Ihnen weiterhin eine angenehme Geisterjagd!« »Könnten wir nicht wenigstens so tun, als ob Sie es gesehen hätten? Es wäre mir eine große Freude, und ich würde es Ihnen nicht vergessen. Herr Nascher, kommen Sie schon. Anderen etwas vorzumachen dürfte Ihnen doch nichts Unbekanntes sein? … Hallo? Halloo? Hallo, Herr Nascher?« Es tutete bereits im Hörer. Doch dieses Mal hatte dieses Tuten etwas Endgültiges und Verzweifeltes an sich. Erschöpft ließ sich Frau Ginster in den Beistellsessel fallen, und während sie über ihre weiteren Schritte nachdachte, tippte ihr Zeigefinger auf dem Spitzendeckchen herum. Sie beobachtete, wie sich kleinste Knitterfalten unter ihrem Finger bildeten und sie fühlte, wie sich auch in ihr diese Unordnung breitmachte. 40 Schließlich entschloss sie sich dazu, eine weitere Front zu eröffnen und wählte die Nummer, die ihr bereits hinreichend bekannt war. Die Nummer der Beschwerdestelle des Postamtes. Sie war ganz aufgeregt, als sie den Telefonhörer in die Hand nahm. In wenigen Momenten würde sie dorthin einen Draht legen, wo ihr Herr Schmidt ständig ein- und ausging. Während sie den Hörer an ihr Ohr nahm, konnte sie beinahe ihr Herz schlagen hören. Es tutete im Hörer. Es tutete ein zweites Mal. »Ingeborg, bring dich zur Räson, du willst nicht wieder Ärger mit dem Postamt …« Es tutete ein drittes Mal. Es klickte im Hörer. »Beschwerdestelle Post, Schirmherr am Telefon.« »Ja, weshalb haben Sie mich so lange warten lassen? Guten Tag, Ingeborg Ginster am Apparat. Vergessen Sie es, das war nicht der Zweck meines Anrufs. Ich möchte mich allerdings über einen Ihrer Mitarbeiter erkundigen. Herr Schmidt, ich wiederhole, Herr Schmidt … Schmidt.« »Ja … von wo aus rufen Sie denn an?« »Ich rufe aus Oberklang an. Ingeborg Ginster, Oberklang an der Unteraue, Brombeerstrauchweg 65.« »Einen Moment, ach ja … gibt es denn ein Problem?« »Ja, es gibt durchaus eins. Ich möchte wissen, was mit Herrn Schmidt geschehen ist. Ist der Ärmste krank oder wurde er gar entlassen? Er ist derjenige, der mir ansonsten die Post vorbeibringt, und mit dem jetzigen Postboten, Herrn Landlunge … Landau, mag ich mich nicht, so schwer es mir fällt, anfreunden. Er quält Katzen und ist unhöflich … und will mir partout nicht erzählen, wo Herr Schmidt abgeblieben ist.« »Warten Sie einen Moment. Bleiben Sie solange am Apparat.« Frau Ginster nickte und spielte derweil mit einer Hand „Däumchen drehen“. Plötzlich raschelte wieder etwas im Hörer. »Unsere Mitarbeiter sind nicht befugt, aus den Interna der Post zu berichten. So leid es mir tut, doch Herr 42 Landlunge-Landau hat in diesem Fall vollumfänglich richtig gehandelt.« Frau Ginster starrte erbost in die Luft. »Sie meinen, es ist richtig, dass er Katzen quält?« »Kein Mitarbeiter der Post quält Katzen, da müssen Sie sich verguckt haben.« »Er hat den Helmut doch getreten. Ich habe es mit eigenen Augen beobachten können. Ich möchte Sie daher bitten, ihn umgehend zu entlassen und Herrn Schmidt stattdessen die Post bringen zu lassen. Wären Sie bitte so freundlich?« »Er hat einen Herrn Helmut getreten? Ich dachte, es wäre eine Katze? Passen Sie auf, ich notiere mir, dass Herr Helmut getreten wurde. Sollte in den nächsten Tagen eine Anzeige hier eintreffen, werde ich es umgehend an den Bezirksleiter weiterreichen.« »Ja … selbstverständlich … das wird sie mit Sicherheit … die Anzeige … damit wäre dann alles geklärt. Ich entschuldige mich für die in Anspruch genommene Zeit und bedanke mich bei Ihnen im Voraus. Sie werden froh sein, wenn Sie den Herrn Landlunge los sind, er bereitet Ihnen ohnehin nur Ärger.« Erleichtert legte Frau Ginster den Telefonhörer auf und ließ sich abermals erschöpft an die Rückenlehne fallen. Plötzlich fiel ihr brennend heiß etwas anderes ein. Sie sprang auf und lief hastig erschrocken vor den Dielenspiegel. Dort hob sie vorsichtig die Duschhaube von ihrem Kopf, und als sie mit Schrecken entdeckte, was durch die Sonne angerichtet worden war, gelangten ihr drei gezischte Worte über ihre Lippen. »Dieser Esel Landlunge!« Weitere solcher Worte wären ohnehin überflüssig gewesen, denn sie beschrieben recht gut, was sie in diesem Moment empfand. Durch die Hitze unter der Duschhaube hingen feucht glänzende Strähnen ihres einst so »schillernden Haares« bis weit über die Stirn herab. Sonst »nahezu perfekt gewellt«, glich ihr Kopf nun einem dieser »Plastikköpfe, an denen ein Friseurlehrling seinen ersten Schnitt üben darf«. Verzweifelt hob sie einzelne »Haarleichen« an und versuchte, mit einer Rundbürste zu retten, was längst nicht mehr 44 zu retten war. Letztlich gab sie auf, wusch ihren Kopf, und während sie dieses »einzige Trümmerfeld« um eine Vielzahl voluminöser Lockenwickler drehte, versprühten ihre Augen Verachtung und Hass. »Was du meinem Helmut angetan hast, wirst du bereuen. Was du mir und meinem Duschtag angetan hast ebenso.« Es dauerte eine geraume Zeit, bis sie diese »Fronarbeit eines Friseurknechts« beendet hatte. Doch letztlich war sie irgendwann soweit und sank abermals in den Beistellsessel. Beherzt griff sie zum Telefon. Im Hörer rauschte es und sie wählte die 110. Bereits nach dem ersten Klingelzeichen knackte etwas in der Leitung. Davon überrascht lauschte Frau Ginster still. »Polizeirevier Oberklang, Spatzeck. Guten Tag!« Wachtmeister Frau Ginster zuckte zusammen. »Guten Tag auch … Ingeborg Ginster … Ginster am Apparat …«. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, bei der Polizei anzurufen. »… ja, worum geht es … weswegen rufen Sie an? Hören Sie, das hier ist das Polizeirevier. Hier ruft man nicht zum Spaß an.« Doch sie fasste sich ein Herz. Immerhin ging es nicht um irgendwen, sondern um ihren Helmut und um Herrn Schmidt. Sie hörte es abermals im Hörer knacken. »Frau Ginster am Apparat, Brombeerstrauchweg 65, Oberklang.« »Ja, das sehe ich hier, Frau Ginster. Worum geht es nun!?« »Ich möchte Anzeige erstatten gegen einen Herrn Landlunge … Landau.« »Ah ja … einen Moment …« »Der Helmut wurde von einem Postboten getreten und ich möchte nun Anzeige gegen diesen Unhold erstatten.« »Ist der Täter noch vor Ort, wird er festgehalten?« »Nein, der Täter hat den Tatort verlassen. Es war der Postbote, wissen Sie, … der Herr Landau.« 46 »Kann der Herr Helmut laufen oder befindet er sich im Krankenhaus?« »Helmut ist zurzeit nicht da, und soweit ich gesehen habe, kann er sehr gut laufen.« »Ja, dann kommt Herr Helmut am besten her und erstattet persönlich Anzeige. Am Telefon geht das nicht und außerdem sollte er, wenn schon, persönlich anrufen, wenn es ihn betrifft. Oder ist ihm das nicht mehr möglich?« »Deswegen rufe ich ja an. Wenn er nach Hause kommt, legt er sich meistens gleich hin, und es wird mir kaum mehr möglich sein, mit ihm persönlich bei Ihnen vorbeizukommen. Er hört ohnehin nicht auf mich und wenn, dann hört er nur die Türklingel und die Dose, die ich für ihn öffne. Er ist eben alt und ein Starrkopf.« »Wohnt denn der Herr Helmut bei Ihnen, ist er ein Bekannter?« »Ja, selbstverständlich wohnt er bei mir. Eigentlich ist er nur auf der Fluch… Raub … Durchreise, wissen Sie. Ich bin eine alte Dame, mir gelingt es nicht mehr, den Helmut zu Ihnen zu bringen. Dazu habe ich einfach nicht die Kraft.« Während des Telefonierens schoss es Frau Ginster durch den Kopf. Beinahe hätte sie ihren Helmut, der sich auf einem seiner Raubzüge befand, an die Polizei verraten. »Er muss schon persönlich in das Revier kommen. Anders geht es nicht.« »Ja, selbstverständlich. Ich werde es ihm sofort sagen, wenn er nach Hause kommt, versprechen kann ich Ihnen jedoch nichts. Ich wünsche einen angenehmen Tag, Herr Wachtmeister. Auf Wiederhören!« Rasch wie selten zuvor und mit einem kräftigen Fingerdruck beendete Frau Ginster das Telefonat, indem sie den Unterbrecher betätigte. Hoffentlich war es noch rechtzeitig, bevor der Anruf zurückverfolgt werden könnte. So hatte sie es einmal in einem Spielfilm gesehen, und nur, wenn das Gespräch unter den magischen 30 Minuten blieb, war es nicht zurückzuverfolgen. Doch als sie nun darüber nachdachte, kam es ihr bereits wie Stunden vor, die sie mit Herrn Spatzeck telefoniert hatte. 48 »Ingeborg, das war reichlich unbedacht von dir. Wie konnte ich für Herrn Schmidt beinahe Helmut verraten?« Sie wurde ganz still, und plötzlich fühlte sie sich allein gelassen von sämtlichen Beschwerdestellen, der Polizei und allen Bezirksleitern. Es half alles nichts, sie musste die Dinge nun selbst in die Hand nehmen. Sie stand auf und ging in die Küche. Dort riss sie geräuschvoll einen Zettel vom Notizblock ab, legte den Zettel auf den Küchentisch, ergriff den Kugelschreiber und schrieb in ihrer typisch krakeligen Handschrift „den Postboten im Auge behalten und nach Herrn Schmidt erkundigen“. Diesen Zettel nahm sie und ging zum Kühlschrank hinüber. Dort positionierte sie ihn sorgsam neben vielen anderen Zetteln, die dort bereits hingen, und griff sich einen der Kühlschrankmagneten. Nach kurzem Überlegen entschied sie sich für den blauen Magneten in Katzensilhouettenform. Wenige Minuten später kehrte durch das Küchenfenster und längst sehnlichst erwartet Helmut heim. Nachdem er gierig eine mittelgroße Portion Katzenfutter verschlungen hatte, erzählte er aufgebracht und gebärdenreich, was er unterwegs hatte durchleiden müssen. Er sparte keineswegs an den Details und suchte händeringend Trost an diesem, seinem wohl liebsten Zufluchtsort. Nein, selbstverständlich erzählte Helmut ihr nichts von alledem, denn seit jeher war seine Sprachbegabung, ähnlich seiner Hörbegabung, recht eingeschränkter Natur. Doch war es heute nicht so, dass sich seit seiner Heimkehr sein Rücken ganz besonders eng an Frau Ginsters Hand anschmiegt hatte? »Du musst auch nicht reden, Helmutchen. Ich weiß längst, was dir draußen widerfahren ist. Und wenn ich dich so ansehe, hoffst du insgeheim längst auf eine zweite Portion Futter. Pass auf, nachher, wenn du erwachst, wirst du keinen Grund mehr haben, mürrisch dreinzublicken.« Sie zog ihren Lieblingsstuhl näher an den von Helmut heran und betrachtete seine Körperseite eingehend, während sich seine müden Augen vollständig schlossen. »Mein Helmut, schade, dass du kein Hund bist und sei es nur ein ganz kleiner … dann 50 hätte dieser Unhold wenigstens Respekt vor dir gehabt. Einen weiten Bogen hätte der um dich herum gemacht. Es tut mir so leid. Ich werde ihn davonjagen, sobald ich erfahren habe, wo unser Herr Schmidt abgeblieben ist. Allerdings müssen wir uns solange noch gedulden. Ja, und der Herr Ginster, den kennst du nicht mehr, er ging von mir, noch bevor du zu mir gekommen bist. Jedenfalls, der hätte ihn nach allen Regeln davongescheucht, dessen kannst du dir sicher sein. Schade eigentlich, dass du ihn nicht mehr kennengelernt hast. Im Gegensatz zu seiner eigenen Frau mochte er nämlich Katzen recht gut leiden. Nein, Landau wird dir nie wieder etwas antun, uns bei irgendetwas stören oder für dumm verkaufen.« So blieb sie noch einige Zeit bei Helmut sitzen und redete weiterhin mit beruhigenden Worten auf ihn ein. Wie war Frau Ginster überhaupt an diesen beinahe gehörlosen und vagabundierenden Kater geraten? Gar nicht, denn wie es sich für einen waschechten Dieb gehörte, gelangte der Kater zu ihr. Es war zur Mittagszeit gewesen, als er durch das Küchenfenster in ihr Haus eingestiegen war. Dort hatte er sich lauernd unter einem Stuhl verborgen, seinem zukünftigen Lieblingsstuhl. Frau Ginster war soeben in ihre Küche zurückgekommen und hatte sich einen Linseneintopf zu Gemüte führen wollen, als sie aus dem Stuhlschatten heraus zwei glühend blaue Augen anzwinkerten. Nachdem sich ihr anfänglicher Schrecken etwas gelegt hatte, musterte sie den diebischen Kater vorsichtig aus der Nähe. Er hatte sie frech zurückgemustert und um Unterschlupf und um etwas vom Mittagessen gebeten, was möglicherweise auch der Hauptgrund gewesen war, weshalb er ursprünglich in ihr Haus eingedrungen war. Frau Ginster, recht unerfahren in Katzendingen, hatte gar angenommen, dass dieser diebische Kater vor irgendetwas oder irgendjemanden auf der Flucht gewesen sei. Auf dem Halsband, das er um den Hals trug, stand sogar sein Name. Insgeheim hatte sich in ihr bereits die Hoffnung geregt, dass nun endlich wieder jemand da sein würde, der ihr zuhören könnte. Und tatsächlich wäre Kater Helmut auch beinahe der Richtige gewesen, wenn er, wie gesagt, nicht etwas mit seinen Ohren gehabt hätte. 52 Der restliche Tag verging rasch, und als es Abend wurde, begab sich Frau Ginster in das Schlafzimmer. Dort holte sie ein frisches Nachthemd aus der Nachthemdenschublade des Schlafzimmerschrankes, entfaltete es mit gekonntem Schwung und ließ es bedächtig auf das Bett herabgleiten. Soeben wollte sie in die Küche gehen, um Helmut begreiflich zu machen, dass sie nun schlafen ginge, da läutete es am Gartentor. Sofort fiel es ihr brennend heiß ein, wer dort läutete. Sie atmete einmal durch und fasste sich ein Herz, denn in Kürze würde sie ein zweites Mal dieses Paket berühren müssen. Den gesamten Tag über hatte sie nicht vergessen können, dass dieses Paket der Wagner in ihrem Haus und auf dem Kirschbaumholzschuhschrank der Diele lag. Längst war sie sich sicher, dass dieses Paket »Dinge, unsägliche Dinge, die ausschließlich Frauen des Schlages Wagner benutzen« beinhaltete. »Elektrische, neumodische Geräte«. Weiter mochte sie am Nachmittag nicht darüber nachdenken. Es bereitete ihr Kopfweh und Atemnot. Soeben schauderte es sie abermals bei dem Gedanken, dass sie so etwas in ihrem Haus aufbewahrte. Während ihr Herz bis zum Hals schlug, lief sie hoch erröteten Kopfes an die Wechselsprechanlage und wollte dieses »Paket der Schande« endlich aus ihrem Hause haben. Es läutete bereits zum zweiten Mal. Doch so leicht würde sie es der Wagner nicht machen, das hatte sie sich geschworen. Kater Helmut stand bereits bei Fuß und wartete ungeduldig auf die Fortsetzung seines Raubzuges. »Ach Helmut, wenn du ein Hund wärst, dann würdest du ebenfalls an dieser Stelle stehen. Und statt deinen Rücken derart zu verbiegen, würdest du kräftig knurren und keineswegs flüchten wollen.« Zum Abschied kraulte sie ihm noch einmal kräftig den Buckel, denn die nächsten ein bis zwei Stunden würde sie ihn nicht zu Gesicht bekommen. Es klingelte zum dritten Mal. Grund genug für Frau Ginster, zusammenzuzucken. »Das ist doch eine Frechheit ohnegleichen. Die Wagner kann es wohl nicht erwarten, das dort in ihre Finger zu bekommen?« Augen rollend räusperte sie sich, spitzte aufgeregt ihre Lippen und führte zögerlich den Hörer an ihr Ohr. »Ja, wer ist denn dort bitte?« 54 Im Hörer knackte es. Ein Rauschen schwoll an und unterbrach plötzlich. »Hallo, Frau Ginster?«, sprach eine freundliche mädchenhafte Stimme. Die Person schien darüber hinaus zu lächeln. »Guten Abend. Hier ist Frau Wagner, Ihre Nachbarin von gegenüber. Ich habe einen Zettel in meinem Briefkasten gefunden. Auf dem steht, dass sich ein Paket bei Ihnen befindet. Mein Paket wohl, und ich möchte es bei Ihnen abholen.« »Ja … Ingeborg Ginster am Apparat … guten Abend auch … einen Moment …«. Sie streckte ihren Arm weit aus und wartete einige Augenblicke ab, bevor sie den Hörer wieder an ihr Ohr führte. »Ja, hier befindet sich tatsächlich ein Paket … ja, und es ist für Sie … ich muss wohl vergessen haben, dass es hier liegt. Einen Moment bitte …« Nach einigem Suchen fand und drückte Frau Ginster einmal kräftig den rot leuchtenden Knopf, der umgehend das Schloss des Gartentores elektrisch summend entriegelte. Dieses Summen hörte sie auch im Hörer und es lief ihr eiskalt den Rücken herunter. Im nächsten Moment fiel es ihr wieder ein, was sie sich einige Abende zuvor auf einen der Kühlschrankzettel notiert hatte: „Nächtliches Fernsehprogramm überdenken“. Als sie sich diese Erinnerung geschrieben hatte, konnte Frau Ginster die allnächtliche nackte Haut und die sich ständig wiederholende Reklame für »neumodische, elektrische Geräte der Schande« nicht länger ertragen. Beinahe gleichzeitig öffneten sich Gartentor und Haustür. Helmut juckte es plötzlich am Rücken und er versuchte in der Zeitnot, die vermaledeite Stelle, von der aus das Juckgefühl streute, zu finden. Ebenso verzweifelt suchte Frau Ginster den Gartennachtlichtknopf. Den benutzte sie einfach zu selten. Doch endlich fand sie ihn, und als hätte sie es geahnt, befand sich der blau leuchtende Gartennachtlichtknopf direkt neben dem rot leuchtenden Gartentorknopf. Sie war erleichtert und drückte umgehend einmal kräftig diesen Knopf, der das elektrisch knisternde Gartennachtlicht entzündete. Das Licht flackerte noch etwas nach, während Frau Ginster tief Luft holte und Worte der Warnung in Richtung Gartentor rief: 56 »Frau Wagner? Ich bitte Sie, noch etwas zu warten, bis das Gartennachtlicht seine volle Leuchtkraft entfaltet hat. Das dauert nur wenige Augenblicke.« Doch längst hallte »klapperndes Schuhwerk« durch die Nacht und näherte sich zielstrebig ihrem Haus. Konturen der Frau Wagner erschienen im Kegel des Lichts. Ein langer Mantel umwehte eine große schlanke Gestalt. Als sie sich den Stufen näherte, die zur Haustür führen, lief ihr der von seinem Juckreiz befreite Helmut entgegen. Erhobenen Schwanzes lief er einen mittleren Bogen um sie herum und verschmolz ein Stückchen weiter im Garten mit der Schwärze der Nacht. »Sie sollten sich das nächste Mal ein Beispiel an Helmut nehmen. Er hat wenigstens gewartet, bis das Licht einigermaßen leuchtet. Sie hätten nicht in der Dunkelheit umherirren und ebenfalls warten sollen. Es dient nur Ihrer Sicherheit ... nicht auszudenken … ein Unfall auf meinem Gartenweg.« Frau Ginsters Stimme senkte sich mit dem Abstand der herannahenden Frau Wagner. Der leichte Abendwind hatte bereits eine Wolke des üblichen »Wagnerparfums« zu ihr getragen. »Ach, Frau Ginster, ich komme soeben von der Arbeit und habe nicht den ganzen Abend Zeit, um auf Ihr Licht zu warten. Sehen Sie, es hellt sich doch noch immer auf und ich konnte sehr gut auch so Ihren Gartenweg erkennen. Es ist allerdings lieb, dass Sie sich sorgen, und dass Sie mein Paket entgegengenommen haben selbstverständlich auch.« Frau Ginster tat überrascht. »Ach, Sie sind wegen Ihres Paketes hier? Ja, natürlich, warum auch sonst … einen Moment.« Zögernd überwand sie ihre Abscheu vor dem Paket und griff beherzt zu. ›Nur raus damit aus meinem Haus.‹ »Ich wollte mich soeben zu Bett begeben, als es läutete. Das waren Sie dann wohl … na, wer auch sonst, ich Dummerchen. So und hier ist es auch schon.« Während sie das Paket an Frau Wagner übergab, hielt sich Frau Ginster geradezu an dem Paket fest. »Das ist überaus freundlich von Ihnen.« Schüttelnd und aufmerksam das Gewicht prüfend verstaute Frau Wagner das Paket 58 unter ihrem Arm. »Ach, das sind mit Sicherheit die Kassetten meines Freundes. Da hat der sich letztens doch tatsächlich eine dieser neumodischen Videokameras gekauft. „Hi acht Sonie“ oder wie auch immer das heißt. Und seitdem er das Ding hat, filmt er einfach alles damit. Und damit meine ich alles, was Sie sich vorstellen können.« Während Frau Wagner genervt ihre Augen rollte und den Kopf schüttelte, blickte Frau Ginster erschrocken und schüttelte ebenfalls ihren Kopf. »Und seitdem nervt er mich ständig damit. Ich selbst mag allerdings nur ungern gefilmt werden, doch ihm zuliebe lasse ich ihn machen. Soll er doch seinem Hobby nachgehen. Er schneidet es im Nachhinein, nicht mit der Schere, es heißt trotzdem so, sagt er … jedenfalls wollte er nicht abwarten, bis er wieder bei mir ist, und hat mir die Filme zugeschickt. Nun ja, ich sehe es mir nachher an und derweil telefonieren wir und ich muss ihm erzählen, wie toll ich seine Filme finde.« Frau Ginster hatte die ganze Zeit geschwiegen und fand nur sehr langsam ihre Worte wieder. »Ach, oh je … natürlich. Herrje, Frau Wagner.« Sie blickte an sich hinunter und schloss die obersten beide Knöpfe ihrer Kittelschürze und strich diese anschließend mit ihrer flachen Hand glatt. Offensichtlich unverstanden legte sich Frau Wagners Stirn in Falten. »Oh je, herrje? Frau Ginster?« Frau Ginster sah unterdessen auf und nickte. »Ach herrje … Ist er noch immer nur Ihr Freund, Ihr Freund? Sie Arme … möchte er Sie denn nicht heiraten? Sie sollten den Kerl schnellstens loswerden. Sie sind doch schon länger als zwei Jahre mit dem zusammen. Allerdings könnte es durchaus sein, dass es ihr sehnlichster Wunsch ist, eines Tages einen Bastard in die zur Welt setzen? In dem Fall würde ich mich keinesfalls in Ihre Angelegenheiten einmischen wollen.« Entschlossen wandte sie sich halb um, um Platz für Frau Wagner zu machen. »Möchten Sie nicht vielleicht hereinkommen? Auf ein Glas Orangensaft oder möglicherweise zwei? Wir sollten uns mal darüber unterhalten, wie Sie Ihren Freund am schnellsten loswerden.« Wütend fuhr sich Frau Wagner durch ihr wild umherfliegendes Haar. »Frau Ginster!? Warum machen Sie es mir eigentlich jedes 60 Mal derart schwer? Ich wollte einfach nur dieses Paket bei Ihnen abholen. Können Sie es mir nicht einfach geben, ich bedanke mich bei Ihnen und gehe? Mir ist schon bewusst, dass Sie immer zu Hause sind und ich nie ein Paket von Ihnen annehmen könnte … als Ausgleich sozusagen … wie denn auch … Sie sind doch ständig in Ihrem Haus!« Damit war für Frau Ginster die Unterhaltung beendet. »Ach, ich vergaß, Sie wollten gehen … Sie haben keine Zeit, wie immer. Na, wenn mein Helmut und dieser Postbote nicht wären, hätte ich Ihr Paket ohnehin nicht angenom…« »Frau Ginster!«, unterbrach sie Frau Wagner. »Da Sie Ihren Kater soeben erwähnen, das trifft sich hervorragend. Ich fand heute Morgen den Dreck Ihres Katers auf meinem Rasen. Ich habe es aufgesammelt und entsorgt. Wissen Sie, wie das ist, fremden Katzendreck wegmachen zu müssen?« »Ja, der Helmut ist viel unterwegs im Gegensatz zu Ihrer Katze. Möglich, dass er bei Ihnen nach einem neuen Zufluchtsort … Behausung gesucht hat. Sie sollten etwas netter zu ihm sein und ihn ruhig auch mal zu sich lassen. Ich nehme an, hier bei mir ist er nicht allzu gern.« Mit ihrem ausgestreckten Finger zeigte Frau Wagner in die Richtung ihres Gartens. »Hören Sie, erwische ich Ihren Kater dabei oder finde Dreck auf meinem Rasen, rufe ich das Ordnungsamt an und anschließend die Tierfänger. Haben Sie mich verstanden?« Frau Ginster zeigte ebenfalls in diese Richtung. »Mein Helmut ist ein viel beschäftigter Kater. Genau wie Sie ist er den größten Teil des Tages unterwegs. Er macht nur das, was die Natur ihm vorgibt. Wie soll ich ihn davon abhalten? Verstehen Sie? Ohnehin ist er manchmal griesgrämig und hört nicht darauf, was ich ihm sage. Eigentlich hört er nur die Dose, die ich ihm öffne und die Türklingel. Wir können uns nur anschauen und ich fühle, dass er da ist. Was er dabei fühlt, weiß ich allerdings nicht. Und wenn ich heute Nacht außerordentliches Glück habe, schläft er auf seinem Lieblingsstuhl und nicht wieder irgendwo draußen. Das ist bereits die 62 gesamte Zuneigung, die Helmut bereit ist, mir zu geben.« »Das ist mir egal, sperren Sie ihn ein oder rufen Sie selbst bei den Tierfängern an. Gute Nacht!« Mit einem »Ach!« wandte sich Frau Wagner um und stolzierte klappernden und stechenden Schrittes zurück in Richtung ihres Hauses. Das Letzte, was Frau Ginster an diesem Abend von ihr zu Gesicht bekam, war ihr wehender Mantel. Das Letzte, was sie von ihr zu hören bekam, war ihre geräuschvoll zugeworfene Haustür. So lange hatte Frau Ginster noch abgewartet und ging kopfschüttelnd zurück in das Haus. Kapitel 3 Nachdem sie die Haustür verschlossen hatte, löschte sie das Gartennachtlicht und zog das »beschmutzte Schrankdeckchen« vom Schuhschrank. Still faltete sie es zu einem winzigen Päckchen zusammen, lief in das Bad und legte es in den Schmutzwäschekorb. Einen Moment hielt sie inne und holte es wieder aus dem Wäschekorb heraus und ging in die Küche. Dort wollte sie es soeben in den Mülleimer werfen, als sie es sich abermals anders überlegte. »Sonderbares zum Sonderabfall« und so gab sie das Deckchen in das kleine Müllsäckchen mit den leeren Batterien. Schließlich ging sie in die Diele zurück und zog ein frisches Deckchen aus der Deckchenschublade des Dielenschränkchens, legte das Bündel auf den Schuhschrank und faltete bedächtig eine Ecke nach der anderen in die vorgesehene Endposition. Zum Abschluss strich sie, einer Liebkosung gleich, einige Male mit der flachen Hand darüber. »Ingeborg, nun hat alles wieder seine Ordnung. Das ist mir doch überaus gut gelungen. Nun wird es Zeit für mich, die Wagner zu vergessen.« 64 Da fiel ihr ein, dass sie sich, sofort, nachdem die Haustür in das Schloss gefallen war, etwas notieren gehen wollte, doch war ihr auf dem Weg dorthin das »Schrankspitzendeckchen der Schande« dazwischen geraten. Selbst mehrmals gewaschen hätte sie es nicht ertragen können, wenn es weiterhin in ihrem Haus, in ihrer Diele, auf ihrem Schuhschrank herumgelungert hätte. Tatsächlich gab es nun keinen Grund mehr, die Notiz weiter hinauszuzögern. Doch als sie die Küche betrat, wurde sie unversehens von sich selbst abgelenkt. Spiegelnd hatte sie sich im Küchenfenster entdeckt und gab unumwunden zu, dass sie trotz der Umstände und der Schwierigkeiten des Tages noch großartig aussah. Sie atmete durch, ergriff den Kugelschreiber und riss zögerlich und doch bestimmt einen Zettel ab. Den Zettel legte sie auf den Küchentisch und notierte sich … nichts. Da sie vergessen hatte, den Klicker des Kugelschreibers zu betätigen, stand auf dem Zettel nur der „Abdruck der Kugelschreiberspitze“. Sie konnte darüber nur müde lächeln und verstand es darüber hinaus, mit den Steinen, die ihr in den Weg gelegt wurden, eine Burg zu errichten. Der Mörtel war ihr Humor und das Fundament ihr Selbstvertrauen. Nach kurzem Suchen fand und drückte sie einmal kräftig den Klickerknopf des Kugelschreibers. Anschließend drückte sie ihn noch einmal, und um sicherzugehen gleich noch einmal. Dabei beobachtete sie misstrauisch die Mine, ob diese wirklich keinen weiteren Schabernack mit ihr trieb. Als die Mine nun offensichtlich in ihrer Schreibposition gefangen war, notierte in ihrer typisch krakeligen Handschrift: „Ordnungsamt und Tierfänger benachrichtigen.“ Mit dem Zettel ging sie hinüber zum Kühlschrank und suchte einen gut einsehbaren Platz für diese Notiz. Zwischen den vielen Zetteln, die dort bereits hingen, war jedoch keine Lücke mehr ausfindig zu machen. Diese Erinnerung sollte doch wenigstens in Sichthöhe hängen. Mit etwas Geduld gelang es ihr, den Zettel so zu positionieren, dass er zwar einsehbar, doch zu zwei Dritteln über den Rand des Kühlschranks hinausragte. Mit dem 66 nächsten Windzug würde er fortgerissen werden und womöglich unter den Küchenschrank gleiten. Wie sollte er dort den Zweck des Erinnerns erfüllen? Mit einem Seufzer wandte sie sich um, legte den Zettel auf den Küchentisch und ergriff den gelben Zettelkarton, der stets neben dem Notizblock auf dem Küchenschrank stand. „Nicht mehr benötigte Notizen“ stand darauf. Gut, dass sie vor einigen Jahren damit begonnen hatte, die Dinge, die sie sehr oft benutzte, zu beschriften. Anschließend las sie eingehend die Zettel, die am Kühlschrank hingen, um die Zettel, die nicht mehr benötigt wurden, in den bereitgestellten Karton zu befördern. „Wintersocken für die Wagner stricken“ »Tja, wer meinem Helmut droht, der soll eben leiden. Niemals stricke ich etwas für eine Katzenrassistin! Ab in den Karton damit.« „Wagner darum bitten, weniger telefonisch einzukaufen“ »Das mit den Pakten hat sich ohnehin erledigt. Um die Ernte ihrer Kaufsucht einzufahren, wird sie von nun an jeden Samstagvormittag mit einem Handwagen zum Postamt gehen müssen. Ach herrje, Ingeborg. Dann siehst du allerdings Herrn Schmidt seltener, falls er demnächst wieder arbeitet. Nun gut, diesen Punkt werde ich später noch einmal überdenken.« „Der Wagner loszuwerden“ helfen, ihren Freund »Auch hier wird sich in Kürze bestätigen: Wer nicht hören will, muss leiden. So ähnlich war doch der Spruch? Ich muss mir den bei Gelegenheit mal notieren … vielleicht, wenn Gertrud zum Kaffee erscheint und eine ihrer hellen Minuten mitbringt. Der nächste Zettel.« „Nächtliches überdenken.“ Fernsehprogramm »Du kannst ebenfalls in den Karton. Ich muss erst herausfinden, was auf den Wagnervideos zu sehen sein könnte. Ach und Ingeborg, trotz deiner Recherche, vergiss rasch wieder, was du dort gesehen hast, sonst wirst du wohl oder übel umziehen müssen. Denke doch nur an das Schrankdeckchen, das du nicht mehr 68 ertragen konntest. Nun gut, dennoch ab in den Karton mit dir zu den anderen Zetteln. „Rasensprenger Wagner, 15 Uhr anstellen. Und um 16 Uhr abstellen.“ »Du kennst den Weg … der nächste Zettel …« „Herr Schmidt ist wegen einer Frau unglücklich!“ Ursprünglich wollte sie diesen Zettel stillschweigend zu den anderen Zetteln legen. Doch kurz bevor er im Zettelmeer versank, hielt sie inne. »Ach, der Herr Schmidt … mein Herr Schmidt. Bestimmt sehe ich ihn nie wieder … Andererseits wäre es doch möglich, dass er nur erkrankt ist und schon bald wieder seine Tour fortsetzen kann. Möglich, dass sich die Krankheit auch Monate hinzieht oder Jahre. Warum will Herr Landzunge mir nicht erzählen, was mit ihm geschehen ist? Regeln sind doch dazu da, um gebrochen zu werden.« Nein, der Zettel war mitnichten einer dieser Zettel, die in dem Karton verschwinden durften. Er musste zurück an den Kühlschrank, und sie entschied sich diesmal für einen anderen Magneten. Einen roten Kühlschrankmagneten in Herzform, und so fand der Zettel seinen neuen alten Platz. „Den Postboten im Auge behalten und nach Herrn Schmidt erkundigen“ »Hochaktuell und brisant. Ingeborg, der Zettel bleibt selbstverständlich dort, wo er ist.« So und was haben wir hier? „Ordnungsamt benachrichtigen.“ und Tierfänger Nachdenklich hielt Frau Ginster inne. »Ingeborg! Den Zettel schrieb ich doch eben erst! Ja, das muss doch vorhin gewesen sein! Der lag doch dort auf dem T … «, sie sah zum Tisch hinüber. Dort lag jedoch kein Zettel. »Hatte ich denselben Zettel schon einmal geschrieben? Und falls ja, weshalb liegt der Zettel nicht auf dem Küchentisch? Nein, er liegt nicht auf dem Tisch. Ich halte ihn doch in der Hand. Ich könnte schwören, ich hatte ihn auf den Tisch gelegt. Dieser hier hing doch eben noch am Kühlschrank?« 70 Nachdenklich blickte sie in das Küchenfenster und betrachtete ihr Spiegelbild. Es war irgendwie verzerrt, und sie fand sich nun überhaupt nicht mehr großartig aussehend. Ängstlich geweitete Augen starrten sie an. Ihr Haar hing strähnig herunter, als hätte sie es nie um einen Wickler gelegt. Während sie weiter über ihr Aussehen nachdachte, erkannte sie zusätzlich zu ihrem Spiegelbild eine schemenhafte Gestalt. Diese Gestalt bewegte sich fließend, beinahe wie ein Schatten und auch ihr Spiegelbild bewegte sich. Erst zögernd, dann abgehackt und plötzlich verschwand es mit einem Ruck vollständig aus dem Fenster. Klirrend zerbarst etwas auf dem Boden, und während sie erschrocken aufschrie und nach unten blickte, trauerte sie bereits um ihre Lieblingstasse. Nun erst wurde es ihr bewusst, dass Helmut heimgekehrt war. Er stand noch immer auf dem Fensterbrett und sah sich erhobenen Schwanzes an, was Frau Ginster dort unten auf dem Boden angerichtet hatte. Eigentlich sollte sie doch wissen, dass er sich stets um das angelehnte Fenster herumschlängelte, und dass er das Fenster dazu von außen nach innen aufdrücken musste. Sie wollte doch nie eine dieser Katzenklappen einbauen lassen. Und selbst wenn sie eine einbauen ließe, so war er sich nun sicher, würde er dennoch durch das Fenster hereinkommen wollen. Viel zu spannend war die Hektik, die durch sein unangemeldetes Heimkommen ausgebrochen war. Wozu ließ Frau Ginster denn sonst das Küchenfenster angelehnt und stellte ab und an eine ihrer derzeitigen Lieblingstassen dort ab? Heute Abend war es zur Abwechslung eine dieser neumodischen Fototassen gewesen. Nach der zwanzigsten gemeinsamen Kaffeefahrt war Frau Ginster von Frau Lisbeth mit diesem außergewöhnlichen Andenken überrascht worden. »Mädchen, spüle diese Tasse nicht zu oft«, hatte Frau Lisbeth sie daraufhin inständig gebeten. Doch was sollte sie tun, es war doch ihre derzeitige Lieblingstasse und sie benutzte sie eben häufig. »Das ist das Zeichen unserer Freundschaft. Wenn das Foto ausbleicht, ergeht es unserer Freundschaft ebenso«, hatte Frau Lisbeth obendrein orakelt. Längst war das Bild verblichen, aber ihre Freundschaft war noch ebenso frisch wie am ersten Tag. Doch da, wo Frau 72 Lisbeth einst so stolz die Wärmedecke in die Fotokamera gehalten hatte, lagen nun Dutzende, gar Hunderte kleiner Wärmedeckchen. »Was soll ich nur machen? Ach, Helmut, entschuldige. Ich habe vergessen, die Tasse fortzuräumen. Ich will nicht hoffen, dass sie dich allzu sehr verschreckt hat? Ach nein, verzeih. Ich vergaß einen Moment deine Gehörlosigkeit und wollte mich keineswegs über deine Behinderung lustig machen.« Helmut war nicht eingeschnappt. Er hatte gar nicht erst versucht, darauf zu hören, was ihm gesagt wurde. Längst hatte er wichtigere Dinge in seinem Kopf und die hatten vordergründig mit seinem Lieblingsstuhl zu tun. Voller Ungeduld nahm er den Umweg über den Tisch und im Sprung sah es keineswegs so aus, als ob er eine Antwort zu der Tassenfrage parat gehabt hätte. Es klapperte metallisch borstig, als Frau Ginster den Mülleimer beiseite stieß und Handfeger und Müllschippe unter der Spüle hervorzog. Eilig lief sie zurück und fegte selbst die winzigsten Splitter zusammen. »Ich muss die Tasse schleunigst verstecken, Helmut. Wenn Gertrud sie am Donnerstag findet, gibt es gewaltigen Ärger … gewaltigen Ärger wird es geben. Ach, was mache ich denn nur? Was ist, wenn Gertrud ihre Tasse mitbringt und möchte, dass wir gemeinsam aus unseren Tassen trinken? Was ist, wenn sie mit mir anstoßen oder einfach nur vergleichen will, welches von den Tassenfotos ausgeblichener ist? Helmut?« Während des Sprunges musste Helmuts Blick zufällig auf den leeren Fressnapf gefallen sein und die Scherbe, die dieser Anblick in seinem Magen hinterließ, würde nun erst einmal verdaut werden müssen, denn er hatte bereits die Augen geschlossen. »Helmut, du hast dich der Lösung des Problems auf deine Art angenommen. Ist recht so, ich werde es dir in Kürze gleichtun.« Frau Ginster beförderte die Scherben in den Mülleimer. Sie stellte Müllschippe und Handfeger an ihren Platz und ging anschließend in die Diele. Dort griff sie sich die Tageszeitung. Ein kurzer Blick darauf genügte, es war die vom Dienstag. Sie war 74 einfach nicht dazu gekommen, sie zu lesen, und morgen würde sie ohnehin nicht mehr aktuell sein. Damit lief sie zurück in die Küche und legte die Zeitung in den offenen Mülleimer und zog sie sorgsam über die Scherben. Nach getaner Arbeit überzeugte sie sich von der Qualität ihres perfiden Werkes, indem sie den Deckel auf den Mülleimer hob, einige Male gegen den Mülleimer schlug und den Deckel wieder abhob. »Nichts zu sehen, außer der Zeitung … Ingeborg, du bist ein Miststück.« Das Ganze hatte den alleinigen Zweck gehabt, dass Frau Lisbeth der direkte Blick in den Untergrund des Mülleimers verwehrt bleiben würde. Mit jeweils verschiedenen Gewichtungen legte sie nun den Deckel auf den Mülleimer und hob ihn wieder ab und sah aus unterschiedlichen Blickwinkeln abermals hinein. Ein letztes Mal setzte sie ihn auf, um den Mülleimer unter die Spüle zu schieben. Die Scherben sollten nun selbst dem geübtesten Auge verborgen bleiben. Falls Frau Lisbeth wieder die Folie des Kaffeekuchens entsorgen sollte, warum auch immer entsorgte stets Gertrud sie, würde selbst der »geübte Mülleimerblick eines Aasgeiers« nichts entdecken können. Bevor Frau Ginster nun in ihr Bett entschwinden konnte, erfolgte geschwind Teil zwei ihres teuflischen Plans. Bereits dreißig Minuten später stand alles, was sie dafür benötigte, auf dem Küchentisch bereit. 1. Eine ähnliche Tasse wie die Zerbrochene. Selbstverständlich noch ohne Foto. 2. Ein ähnliches Foto wie das zerbrochene Foto, allerdings noch ohne Tasse. »Ingeborg, du hast wahrlich einen Volltreffer gelandet, als du den Reiseleiter darum batest, dieses Foto zu knipsen.« Unter den vielen Fotos von anderen Kaffeefahrtenfotos hatte sie eines von der sechszehnten Kaffeefahrt entdeckt, bei dem jedes Detail übereinstimmte. Es war wie verhext, als sie es sich genauer betrachtete. Dieselbe Kleidung, dieselbe Frisur, dieselbe Wärmedecke. Als ob sie damals schon geahnt hätte, dass sie dieses Foto irgendwann einmal benötigen würde. 3. Schere (die sie letztendlich Spülbecken aufgefunden hatte) 76 im 4. Rolle durchsichtiges Klebeband Sie sah recht zufrieden mit sich aus, als nach getaner Arbeit und unter ihrer Hand das fertige Ergebnis einen langsamen Walzer auf dem Tisch tanzte. »Wenn ich die Tasse nur schnell genug bewege, merkt Gertrud nichts davon. Ingeborg, du bist manchmal wahrhaftig ein Biest. Morgen wird die Tasse den gesamten Tag zum Ausbleichen in der Sonne stehen. Das sollte dieses Fototassenfaksimile perfekt machen.« Erleichtert schwang sie sich auf. »So, Ingeborg, nun ist es an der Zeit, in das Bett zu gehen.« Mit einem sanften Krauler verabschiedete sie sich bei Helmut und löschte mit einem letzten prüfenden Blick das Licht in der Küche. Sie ging ins Bad, legte die Schürze in den Wäschekorb und wusch sich. Auch ein Blick in den Spiegel gehörte zur allabendlichen Pflicht. Morgen früh würde sie wieder etwas älter sein. Mit der angenehmen Erinnerung an ihr Dienstagsspiegelbild ging sie in das Schlafzimmer, zog das blau gesprenkelte Nachthemd über ihren Kopf und achtete, nachdem sie wieder etwas sehen konnte, auf einen knitterfreien Sitz. Mit einem geübten Schwung zog sie die Bettdecke zurück und legte sich mit einem erlösenden Seufzer auf das Bett. Da sie vergessen hatte, das Schlafzimmerlicht zu löschen, erhob sie sich abermals und entzündete vorher die Nachttischlampe. »Ach Ingeborg, du bist ein Fuchs.« Als das nun geklärt war und sie endlich ins Liegen und zur Ruhe gelangt war, gingen ihr noch einige Gedanken und Bilder durch den Kopf. Sie handelten vom Postboten Landzunge, der Polizei und dem, was am nächsten Tag alles erledigt werden müsste. Nach und nach verschwommen ihre Gedanken und plötzlich war sie wieder da, die, von der sie so sehr gehofft hatte, dass sie sie längst vergessen gehabt hätte. ›Ich kann nicht begreifen, wozu die Wagner das Ordnungsamt anrufen will. Sie sollte besser einsehen, dass es die natürliche Ordnung der Dinge ist, dass Helmut in ihrem Garten nach dem Rechten sieht. Anstatt froh zu sein, dass sie keinen Ärger mit Mäusen und Getier jeglicher Art hat, regt sie sich mit Hingabe darüber auf, dass Helmut seinen Instinkten folgt. Wenn 78 Helmut ihr Freund wäre, dann dürfte er sie sogar filmen und das, obwohl sie das nicht möchte. Es wäre dann sein Hobby, dem er nachgehen dürfte. Ich glaube allerdings nicht, dass Helmut sie wirklich filmen wollte. Er ist ein gesitteter Kater, mit reichlich kätzischem Anstand. Helmut arbeitet den ganzen Tag mit Hingabe an seinen Raubzügen, an seiner Flucht aus dem Haus und geht sonstigen Katerdingen nach. Ingeborg, nun wird es aber Zeit, das Licht auszumachen.‹ Ohne längeres Suchen fand und drückte sie den Knopf, der die Nachttischlampe zum Erlöschen brachte. Die mondlose Finsternis dieser Nacht umhüllte sie schlagartig. Angenehme Gedanken an eine längst vergangene Reise verdrängten die bisherigen Sorgen. An einem Strand liegend konnte sie beinahe den Seewind in ihrem Nacken spüren. In ihren Gedanken blickte sie auf das blauschwarze gischende Meer hinaus. Ihr Herz schlug gleichmäßig und ruhig. Sie fühlte, dass sie jeden Moment einschlafen würde. Wie angenehm dieser sanfte Wind doch war und er wehte tatsächlich in ihr Gesicht. ›Wo stammt bloß der Wind her? Ich liege doch in meinem Bett in meinem Haus … INGEBORG! Woher stammt dieser Wind?‹ Aufgeschreckt ließ ihr die einzig mögliche Antwort ein Zucken durch sämtliche ihrer Glieder fahren. Augenblicklich schoss Adrenalin durch ihren Körper. Im nächsten Moment war sie hellwach und konnte sich dennoch nicht rühren. Schreckliche Angst lähmte bereits ihren Körper. So achtete sie doch penibel stets darauf, dass nachts sämtliche Fenster geschlossen waren. Woher stammte dann dieser Luftzug, der stoßartig ihren Nacken umwehte? Als Nächstes dachte sie an einen Einbrecher, der ein vergessenes und offenes Fenster entdeckt und nur darauf gewartet hatte, bis das Licht gelöscht wurde und er das Fenster unentdeckt öffnen konnte. Langsam tastete ihre Hand in Richtung des Lichtschalters. Sie fand ihn nicht. Kaum wagte sie zu atmen, um keines der möglichen Geräusche zu überhören. ›Ingeborg, was war das gerade?!‹ Dort hörte sie doch jemanden atmen. Dieses Geräusch war ihr so schrecklich nah. Ihr Blut pulsierte wie ein reißender Fluss, und sie spürte die 80 verzweifelten und hämmernden Schläge ihres Herzens bis in die engsten Äderchen ihres Körpers. Wie konnte das nur möglich sein? Schweiß rann ihr aus sämtlichen Poren. ›War dieser Einbrecher bereits länger im Haus? Die Tasse! Warum wurde die nicht heruntergeworfen? Mein Spiegelbild! War der Schatten, den ich dort sah, überhaupt Helmuts Schatten?‹ Vorsichtig wandte sie ihren Kopf in die Richtung, aus der sie das Geräusch vermutete. Dort stand er an ihrem Bett! Ein Teufel in Menschengestalt. Schwarz wie ein Rabe, ein schweigsamer Umriss des Bösen. Zwei glühende Augen starrten sie an. Der kühle Atem dieses Gauners war es, der bis zu ihr wehte und schrecklich sanft den Haaransatz, die Stirn, das Ohr und den Hals umspielte. Das war diese Art schweigsamer Einbrecher, die sie aus unzähligen Spielfilmen her kannte, doch hatte sie nie daran geglaubt, solch einem selbst einmal gegenüberzuliegen. Nach nochmaligem Suchen fand sie endlich den Schalter und drückte beherzt den Knopf der Nachttischlampe, deren grelles Licht umgehend das Schlafzimmer erhellte. Helmut saß auf ihrem Kopfkissen. Soeben konnte sie noch beobachten, wie sich seine Augen zu einem schmalen Schlitz zusammenkniffen. Das plötzliche Licht war ihm wohl unangenehm gewesen. Es war das erste Mal, dass sich Helmut überhaupt in ihrem Schlafzimmer befand, und erst recht befand er sich das erste Mal auf ihrem Bett. Erleichtert zog sie ihren Kopf zurück und sah in die schwarze und fiepend atmende Katzensilhouette. Offensichtlich hatte er sich auch durch das Löschen des Küchenlichts nicht davon abbringen lassen, dass Frau Ginster vergessen hatte, sein Futter für ihn bereitzustellen. Helmut gehörte nämlich zu den Katern, die ihre Futterdosen nicht allein öffnen konnten oder es einfach nicht wollten. Sie wusste dies nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Irgendwann war er wohl entnervt aufgesprungen, denn wollte er nicht elendig verhungern, musste er entweder selbst etwas jagen gehen oder die restliche Energie dazu nutzen, um durch das Haus zu schleichen und irgendwie auf sich aufmerksam zu machen. Vor Jahrtausenden hatten sich die meisten Kater wohl für die Jagd entschieden, und ganz nach Darwin blieben 82 die Erfolgreicheren über, die ihre Chance rechtzeitig erkannt und ergriffen hatten. Die überlebenden Helmuts dieser Welt saßen irgendwann auf den Kopfkissen ihrer Knechte und rissen sie geräuschvoll atmend aus ihren Träumen und letztendlich so aus ihren Betten und an die Futternäpfe. »Helmut, warum tust du mir das an? Weißt du eigentlich, was ich durchgemacht habe?« Natürlich wusste Helmut sehr genau, was Frau Ginster durchgemacht hatte. Das war doch der eigentliche Sinn seiner nächtlichen Hausbeschleichung gewesen. Ein zweites Mal würde sie nicht vergessen, seinen Futternapf zu füllen. So war er es gewohnt und so war es Gesetz. Und Gesetze waren für ihn nicht nur ausschließlich dazu da, um gebrochen zu werden. »Helmut, entschuldige. Ich vergaß doch tatsächlich dein Futter. Mit mir hast du es aber auch nicht leicht«, sprach Frau Ginster erleichtert und erhob sich ächzend aus ihrem Bett. Helmut zögerte ebenfalls keinen Moment. In der Küche angelangt nahm Frau Ginster das Katzentrockenfutter, welches sie stets nach dem Einkauf in eine Cornflakesplastikdose umfüllte. Geschwind überzeugte sie sich davon, dass es sich auch um die richtige Dose handelte. Ja, auf der stand mit einem gelben Klebezettel geschrieben: „Helmuts Lieblingsessen“. Sie schüttelte solange Futter in Helmuts Futternapf, bis ein ansehnliches Hügelchen entstanden war. Keinesfalls durfte etwas davon auf den Boden gelangen, denn Helmut sollte nicht von dort essen müssen. »Wohlerzogene Kater tun so etwas nicht.« Als »die Fronarbeit einer müden Magd« erledigt war, löschte sie das Küchenlicht und schlurfte, noch immer etwas schreckensgelähmt, zurück in das Schlafzimmer. Überrascht stellte sie dort fest, dass Helmut ihr Kopfkissen längst als sein Körperkissen bestimmt und vereinnahmt hatte. Eingerollt lag er bis zur Hälfte darin versunken und schlief längst fest. »Ich war doch nur wenige Sekunden in der Küche! Helmut sieht aus, als ob er bereits seit Stunden schliefe. Helmut, das ist mein Bett und auch mein Kopfkissen … ach, entschuldige, du kannst mich ohnehin nicht hören. Ich dachte, du hast Hunger? Kannst du mir mal sagen, was das soll? Ach …«. 84 Sie ging um das Bett herum und setzte sich vorsichtig tastend auf die Bettkante. Helmut störten die Bewegungen des Bettes keineswegs. Er öffnete nicht einmal ein Auge, nur seine Schwanzspitze zitterte leicht, als sie langsam das Kopfkissen weit bis an den Rand des schmalen Bettes zog. Währenddessen dachte sie längst darüber nach, im Beistellsessel am Telefonapparat zu nächtigen. Die Couch kam dafür nicht infrage. Die war beinahe neu und nur zum Anschauen gedacht und keineswegs zum Sitzen. Und zum Liegen noch viel weniger. Es galt also, einen Versuch des gemeinsamen Nächtigens zu wagen. Wie in der ultrapeniblen Zeitlupe der Olympiadeübertragung der russischen und ostdeutschen Turmspringer legte sich Frau Ginster rücklings auf das Bett und prüfte eingehend, ob auf diese Weise überhaupt an einen erholsamen Schlaf zu denken war. ›Erholsam kaum, doch bei Weitem erholsamer, als im Beistellsessel zu nächtigen‹, dachte sie sich, und lies sich, etwas hölzern zwar, endgültig fallen. Sie atmete durch. Das Etappenziel war sicher erreicht und es blieb noch etwas Zeit, die Aussicht zu genießen. Sie drehte den Kopf zur Seite und warf einen ehrfurchtsvollen Blick auf den Mount Helmut, der sich majestätisch und unweit von ihr emporhob. Nun war sie sich beinahe sicher, dass ein erholsamer Schlaf gelingen könnte. Die Bettdecke über ihren Körper und bis an den Hals gezogen, achtete sie sorgsam darauf, dass sowohl ihr ehemaliges Kopfkissen als auch Helmut weiträumig ausgespart blieben. Nicht auszudenken, wenn Gertrud erführe, dass sie im selben Bett mit diesem Kater geschlafen hätte. Erhobenen Fingers hörte sie ihre Freundin bereits »Sodom und Gomorrha« rufen. Das wollte sie unter allen Umständen ihrer Gertrud ersparen. Nun, erfahren müsste sie es dennoch, immerhin war sie ihre beste Freundin, und sie hatten keinerlei Geheimnisse voreinander. Wenn es brenzlig würde, könnte sie noch immer darauf bestehen, dass sie keineswegs unter derselben Bettdecke mit dem Kater geschlafen hätte. Ein wichtiges Detail, welches Gertrud durchaus anzuerkennen wüsste. 86 Nun drehte sie ihren Kopf in die Richtung der Nachttischlampe und entdeckte sofort den Schalter. Nach einigem Recken und Strecken gelang es ihr auch tatsächlich, ihn zu erreichen. Jetzt müsste sie nur noch mit dem Finger zucken und sie könnte endlich schlafen. Es brauchte dennoch einige Zeit, bis sie sich zutraute, neben dem stadtbekannten Räuber in den Schlaf zu versinken. Einige Stunden später schreckte sie noch einmal zuckend auf und erfuhr in dieser Nacht, dass Helmut auch schnarchen konnte. Als sie am Morgen erwachte, kitzelten bereits die ersten Sonnenstrahlen ihre Nasenspitze. Mit dem ersten Augenaufschlag fiel es ihr sogleich ein, neben wem sie die gesamte Nacht verbracht hatte. Sie wollte ihn umgehend mit einem Krauler begrüßen. Doch im Gegensatz zu ihr, die sich kaum gewagt hatte zu rühren, zeugte nur noch eine tiefe Delle auf dem Kopfkissen davon, dass sie sich die Geschehnisse der letzten Nacht keineswegs nur eingebildet hatte. »Typisch, sind doch alle gleich diese Kerle«, ächzte sie und machte Anstalten, sich zu erheben. Noch vor dem Frühstück wollte sie die Fototasse in die Sonne verbringen. »Auf dass sich das Foto dem gestrig Zerbrochenen angleichen möge«. Kaum ein Tag verblieb ihr noch, bis Gertrud zum Kaffee bei ihr erscheinen würde. »Ingeborg, das gemeinsame Trinkerlebnis aus einer oft bespülten Fototasse soll keineswegs dadurch getrübt werden, dass diese nicht wie bespült aussieht.« Der Rücken schmerzte und nun, als sie versuchte, sich etwas zu bewegen, spürte sie, dass keine Stelle an ihrem Körper existierte, die nicht höllisch wehtat. »Ingeborg, du kannst doch hier nicht so liegen bleiben. Wie lange soll denn das gut gehen? Helmut hat in Kürze kein Futter mehr. Du weißt doch, dass er es sich selten einteilt. Landlunge klingelt ebenfalls bald und bringt meine Kräuterpillen und die Meersalzcreme. Herrje, auf die Toilette musst du nun obendrein noch. Vom Zurechtmachen mal abgesehen, musst du heute erfahren, wo dein Herr Schmidt abgeblieben ist. Und nicht zu vergessen sind da noch die Anrufe beim Ordnungsamt und bei den Tierfängern.« 88 Diese Gedanken mobilisierten Energien in ihr, von denen sie gedacht hatte, dass sie die seit ihrer Jugend nicht mehr besessen hatte. Sie betrachtete sich die Zimmerdecke und suchte sich verzweifelt einen Punkt, auf den sie ihre Aufmerksamkeit lenken konnte. Eine sich putzende Stubenfliege kam ihr dabei recht gelegen. »Ingeborg, bewege den Arm, den anderen Arm, Finger … alle Finger, Bein … Beine, Zeh … Zehe, Knie … anderes Knie … Hintern hoch … Kopf … Kopf seitlich? Kopf! Der Kopf ging doch vorhin schon? Ja Ingeborg, sicher ist sicher. Er lässt sich ohne Weiteres neigen und wenden … na also, was beschwerst du dich dann?« Alle Gliedmaßen funktionierten ordnungsgemäß und waren ihrem Alter entsprechend beweglich. Ihre Hände ruhten unter der Bettdecke und lagen rücklings auf der Matratze. Zuversichtlich begann sie nun, von zehn an rückwärts zu zählen. Dazu klappte Sie jeweils einen ihrer Finger ein, bei „null“ und zwei geballten Fäusten wollte sie sich, komme, was da wolle, erheben. »9. Die Toilette schreit förmlich nach dir, Ingeborg. Nicht auszudenken, was geschieht, falls du es nicht mehr bis dahin schaffst. 8. Denke an das Futter für Helmut. Er wird dir das sonst nie verzeihen. 7. Erinnere dich doch nur daran, was geschah, als du es gestern Abend vergessen hattest. 6. Und da hatte er bereits viermal gefressen. 5. Herr Schmidt. Es geht um den Verbleib von Herrn Schmidt. 4. Das Ordnungsamt, Ingeborg … das Ordnungsamt muss angerufen werden. Sonst schicken die noch jemanden Unbekanntes zu dir. Womöglich noch jemanden, der dir etwas über Katzendreck erzählen will. 3. Die Tierfänger, Ingeborg, … Helmut und Kosmetik. Denk doch nur an sein mürrisches Gesicht, das dich auf ewig verfolgen wird. 2. Die Fototasse muss in die Sonne, Ingeborg. Zur Not könnte ich sie auch den restlichen Tag bespülen. Ich weiß allerdings nicht, ob das Foto von „Foto und Fotoausrüstung Pütze“ so empfindlich auf 90 Putzmittel reagiert, wie das originale Tassenfoto. Was ich doch sehr hoffe. 1. AU! VERDAMMICH! … HELMUT! Was sollte das denn?«, kreischte sie auf. Auf dem Bett saß der blinzelnde Helmut und hatte Frau Ginster auf seine Weise motiviert aufzustehen. Sie hatte sich tatsächlich aufgerichtet und betrachtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Hand. Die einklappenden Finger hatte Helmut wohl für ein Mäuschen gehalten und herzhaft zugeschnappt. Es war nicht sehr heftig, es blutete nicht und hinterließ keine bösartigen Zahnabdrücke. Nein, nicht einmal rot wurde es, da die Bettdecke schützend dazwischen gelegen hatte. Durch den kleinen Zwischenfall wusste sie nun zumindest, dass sie noch immer Gefühl in den Fingern hatte und somit auch die Extremitäten durchblutet wurden. »Helmut, darüber reden wir noch!« Lächelnd ballte sie abwechselnd ihre Hand und streckte ihre Finger. »Was fällt dir denn ein? Du denkst, du verbringst eine Nacht in meinem Bett und kannst … nicht nur, dass du mich am Morgen hier einfach liegen lässt … Ach, ist schon gut. Aua … Bösartigkeit möchte ich dir keineswegs unterstellen. Nein, dazu müsstest du erst einmal ein Mensch sein.« Vorsichtig stieg sie aus dem Bett. Auf dem Boden sicher zum Stehen gekommen, vollzog sie eine nahezu perfekte Kniebeuge, welche ohne hörbares Knacken oder Knirschen gelang. Nun wurde es aber Zeit, sich auf den Tag vorzubereiten. Noch immer etwas steif lief sie stöhnend in ihr Badezimmer, stellte sich an das Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf. »Ach herrje, Ingeborg, nun bist du wieder eine Nacht älter und … was ist hier los!?« Spinnennetzartige Risse durchzogen den Spiegel und statt einer blickten sie Hunderte kleiner Ingeborgs an. »Was zum Teufel?« Neben einer der kleinen Ingeborgs entdeckte sie die Duschhaube, die nicht an ihrem angestammten Haken, sondern am Thermometer hing. »Die habe ich dort gewiss nicht aufgehängt.« Sie wandte sich um und lief zu dem eindrucksvollen Badezimmerthermometer hinüber, welches dort einst von ihrem Mann an die Wand montiert worden war. »Ingeborg, ich könnte 92 beschwören, dass du die Duschhaube nicht am Thermometer, sondern am Haken aufgehängt hast?« Grüblerisch ergriff sie die Duschhaube und lief zur Duschkabine hinüber, um sie dort aufzuhängen. Während sie sich wusch, dachte sie kopfschüttelnd über sich nach, wie ihr Zorn und ihre Vergesslichkeit noch einmal enden sollten. Kapitel 4 Grünblumig beschürzt stand Frau Ginster kurze Zeit später in ihrer Küche und sinnierte darüber nach, welche weiteren Schritte es zu unternehmen galt. Die Fototasse stand relativ katergeschützt draußen auf der Küchenfensterbank und das angeklebte Foto verlor in der bleichenden Sonne hoffentlich stündlich an seiner Brillanz. Helmut hatte gerade noch pünktlich sein Futter erhalten. Während er vor sich hin verdaute, wachte er mit einem geöffneten Auge auf eine Gelegenheit, um aus dem Haus zu flüchten. Für Frau Ginster gab es wie jeden Morgen zwei Scheiben Knäckebrot mit Erdbeermarmelade und eine Tasse Pfefferminztee. Bald stand alles bereit und sie musste nur noch die Tageszeitung herbeischaffen. Dazu musste sie allerdings das Haus verlassen und bis an den Briefkasten laufen. Helmut wusste das ganz genau und äugte wohl deshalb so entspannt auf das Knäckebrot. Frau Ginster hob den Finger und wedelte damit herum. »Helmut, du weißt genau, dass 94 du nichts auf dem Tisch zu suchen hast. Das ist eine rote Linie der Kater-IngeborgBeziehung, die nicht überschritten werden sollte.« Helmut verstand das Zeichen und hielt sich selbstverständlich an diese vermeintliche und imaginäre rote Linie. Allerdings sollte nicht unerwähnt bleiben, dass er bereits mehrmals eingehend sensorisch überprüft hatte, ob sich Knäckebrot, Marmelade und Pfefferminztee mit Katern seines Schlages vertragen. Selbstverständlich nur, wenn er sich unbeobachtet genug gefühlt hatte. Nein, das war nicht der Maus- und Vogelgeschmack, den er sich ursprünglich erhofft hatte. Es waren auch keine würzig-fettigen Gaumenfreuden, die er vom sonstigen Menschenessen her kannte. Nachdem er die unzähligen Male, die er bereits dort oben gewesen war, einfach nichts hatte entdecken können, gab er die Überprüfungen irgendwann frustriert auf. Gelangweilt und mit stetig schwindender Hoffnung erkannte er jeden Morgen aus der Entfernung, dass sich das Futter dort auf dem Tisch einfach nicht verändern oder wenigstens anders riechen wollte. Helmut akzeptierte daher die „rote Linie“ schlicht aufgrund seiner andauernden Erfolglosigkeit. Kurz darauf ging er wohl auch deshalb zusammen mit Frau Ginster vor die Haustür und verließ sie auch an diesem Morgen, ohne noch einmal zurückzublicken. Um einen Kater ärmer, dafür jedoch um einen ansehnlichen Stapel Papier reicher, saß Frau Ginster einige Zeit später wieder am Küchentisch. Sorgsam breitete sie ein bedrucktes Kleinod nach dem anderen vor sich aus. »Der Kleinanzeigenpostillion für Unter-, Mittel- und Oberklang … na wollen wir doch mal sehen, was so Schönes angeboten wird«, geräuschvoll blätterte sie die Zeitung auf, » … aha, „Kater am 15.05. entlaufen, schwarzes Fell, ziemlich stattlich, mürrischer Gesichtsausdruck, Rundweg Ecke Steinstraße … hört manchmal auf den Namen Tom.“ Ach herrje … „Kater am 15.05. zugelaufen, schwarzes Fell, zufriedener Gesichtsausdruck, abzuholen bei Halmichs… Plundergasse 19 … FIM“ FIM? Ach, Finderlohn ist mitzubringen … 96 „Kater am 16.05. entlaufen: schwarzes Fell, stattliche Figur, mürrischer Gesichtsausdruck, Rundweg Ecke Steinstraße“ Das ist hier doch ganz in der Nähe. Vielleicht habe ich demnächst zwei schwarze Kater zu versorgen. Hi, hi, hi … „Kater am 18.05. zugelaufen: schwarzes Fell, ziemlich fett, seltsamer Blick, Brandgasse 7, FIM, Tel.“ Ingeborg, stell dir mal vor, du würdest jedes Mal eine Anzeige aufgeben, wenn Helmut aus deinem Haus flüchtet. Nicht auszudenken, was das alles kostet … so, das genügt vorerst. Ich habe genug von den Anzeigen. Allerdings … oh, was haben wir denn da? Eine Hochglanzwerbung … für … Haustürklingeln? Ingeborg, Haustürklingeln! „Unschlagbar günstig! Nur für kurze Zeit! Nur bei Klingelkalle! Sonderrabatt ausschließlich für Rentner und Witwen! Nehmen Sie drei und behalten Sie zwei!“ Ach, nein … „Nehmen Sie drei und bezahlen Sie nur zwei!“ Na, umso besser, Ingeborg. Hervorragend. Das werde ich mir gleich mal in die Anzeigenschublade des Dielenschränkchens legen. Vielleicht benötige ich demnächst drei neue Haustürklingeln und dann weiß ich, wo ich am günstigsten welche herbekomme. Ja, das kann ich immer mal gebrauchen. Und dabei dachte ich stets, dass diese elenden Werbezettel nutzlos seien …« Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck saß Frau Ginster bald wieder am Küchentisch. Sie biss vom Knäckebrot ab und trank einen großen Schluck Pfefferminztee. »Dann wollen wir doch mal sehen. Klänger Kurierschwalbe, Mittwochsausgabe. 28. Mai 1986, Einzugsbereich: Ober-, Mittel-, Unterklang und Klang. Oh, haben wir denn heute schon Mittwoch? Morgen kommt Gertrud zu Besuch. Das darf ich keinesfalls vergessen … Die Titelseite … „Clint Eastwood zum Bürgermeister ernannt!“ Na, das wurde auch mal Zeit. Der Herr Eastwood hat sich mit Sicherheit sehr verdient gemacht um die Belange seiner Gemeinde. 98 „Tschernobyl: Reaktorkatastrophe nimmt erschreckendes Ausmaß an!“ Gut, dass wir diesen Eisernen Vorhang haben. Und gut, dass wir vor dem Eisernen Vorhang sitzen, nicht wahr, Helmut … Helmut? Ach, Helmut ist unterwegs … oh, da fällt mir ein … die armen eingesperrten Bürger der DDR. „Sri Lanka: Damm der Kantale-Talsperre gebrochen!“ Dutzende Dörfer überschwemmt … 176 Tote … unzählige Verl… Ach herrje, dieser Damm hätte von jemandem gebaut werden sollen, der sich damit auskennt. Der Herr Schmidt, der hätte das mit Sicherheit gekonnt. Erzählt er mir doch oft von seinem Garten und dem Teich, den er extra für diese wohlhabenden Karpfen angelegt hat. Nun gut Ingeborg, es ist nun mal geschehen, und im Nachhinein auf jemanden mit dem Finger zu zeigen, geziemt sich nicht. Ich hoffe nur, die haben dort daraus gelernt. Seite 5 … Endlich, Seite 5 der Klänger Kurierschwalbe, und ein wahres Feuerwerk an Ereignissen springt mir entgegen. „Mittelklang: Unglaubliche Sensation! Ringeltaubenzüchterverband Mittelklang wählt nach dreißig Jahren neuen Verbandsleiter! Wie die Redaktion aus gut unterrichteten Kreisen erfahren hatte, wurde der bisherige und auf den Tag genau seit dreißig Jahren amtierende Verbandsleiter Bischoff abgewählt, und es mussten daraufhin kurzfristig neue Wahlen angesetzt werden. Wann diese Wahlen stattfinden werden, darüber dürfen wir vorerst nicht berichten … einige der befragten Verbandsmitglieder allerdings … dessen Namen … nach heftigen Diskussionen … zitiert … „Mit eiserner Hand regierte er zuletzt … Herr Bischoff ist mit Verlaub, ein Quadrat****!“ Bitte was? Ein Quadratvierfachsternchen? Ach, Quadratarschloch … darauf soll einer kommen. Oh, da ging es aber ordentlich zur Sache! Ingeborg, du bist ganz aufgeregt, nicht wahr? Seite 6 … 100 „Schwerverbrecher Midrel aus JVA entflohen!“ Der zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilte Schwerverbrecher Midrel ist aus der Justizvollzugsanstalt der Nachbargemeinde Missklang geflohen.“ Oh, da ist sogar ein Bild von ihm … eigentlich ein nett aussehender junger Mann, wenn er sich denn jemals dazu entschlösse, sich die Haare schneiden zu lassen … und wohl auch sich gründlich zu rasieren. Ach, da steht noch etwas: „Werte Mitbürger Klangs. Wir bitten Sie, sich dieses Bild des Schwerverbrechers Midrel genau einzuprägen oder aber es stets bei sich zu tragen. Achtung! Besondere Kennzeichen gibt es keine. Achten Sie des Weiteren in Ihrer Nachbarschaft auf ungewöhnliche Fluchtund Wanderbewegungen. Veränderungen des Gesichtes, der Mimik und/ oder der Gestalt Midrels sind keineswegs ausgeschlossen. »Es ist doch ein außerordentlicher Glücksfall, dass Missklang derart weit von hier entfernt liegt. Nicht auszudenken, was ein nett aussehender Schwerbrecher in unserer friedvollen Kleinstadt so alles anrichten könnte. Hach ja, dann wollen wir mal losschneiden … wo ist denn nur die Schere wieder hin ... Ich würde mir sofort dieses Foto ausschneiden, wenn … wo hast du sie zuletzt nur hingetan, Ingeborg? Nein, in das Bett hast du sie ganz gewiss nicht mitgenommen. Ach, dieser Schwerverbrecher langweilt mich doch plötzlich sehr. Ich blättere mal seelenruhig weiter, versprochen … oder doch nicht? … du hast es mir versprochen, Ingeborg … dann tu es bitte auch.« Seite 7 … »Hier wird es endlich wieder spannend, Ingeborg.« Mittelklang: Ringeltaubenzüchterverband wählt neuen Verbandsleiter! Wie Teile der Redaktion bereits berichteten, wurde durch heftige Streiterei und handfestes Gemenge der bisherige und auf den Tag genau seit dreißig Jahren amtierende Verbandsleiter Bischoff abgewählt. Kurzfristig mussten daher neue Wahlen angesetzt werden. Wann diese stattfinden sollen, konnten wir bis zuletzt nicht in Erfahrung bringen. Für eine Stellungnahme war keiner der beiden 102 Kontrahenten zu erreichen. Allerdings erhielten wir kurz vor Redaktionsschluss ein bissiges Fax aus dem Vorstandsbüro des Ringeltaubenzüchterverbands. Aus dem ging in etwa hervor, dass sich die Journalisten der Klänger Kurierschwalbe auf ihre Kernkompetenzen beschränken sollten.“ Na, schau mal an, Ingeborg, da hat wohl irgendwer seine Kompetenzen überschritten. Zudem wollte da jemand wohl unbeobachtet Wahlfälschungen betreiben? Eine Unverfrorenheit sondergleichen, falls du mich fragst. Seite 9 … „Mittelklang: Neu gewählter Verbandsleiter des Ringeltaubenzüchterverbands seit Tagen vermisst! Wie die Redaktion der Kurierschwalbe bereits zuvor berichtet hatte, wurde der bisherige und auf den Tag genau seit dreißig Jahren amtierende Verbandsleiter Bischoff abgewählt, und es wurden kurzfristig neue Wahlen unter Ausschluss der interessierten Öffentlichkeit festgesetzt. Der neu gewählte Verbandsleiter sollte am Dienstag seine erste Rede halten, doch war er zu dieser nicht erschienen. Intensive Recherchen im Kreise der Angehörigen des Herrn Schmidts brachten Erschreckendes zutage: ´Weiß ich doch nicht, wo der sich rumtreibt. Mit Sicherheit bei diesem Flitt**** Fräulein ****. Soll mir nur recht sein, ich bin jedenfalls froh, dass der Kerl seit Tagen verschwunden ist´, so die Freundin des Vermissten.“ Seltsamer Zufall, Ingeborg … im Ringeltaubenzüchterverband wird ebenfalls ein Herr Schmidt vermisst? Da läuft doch was ganz Großes. Alle Schmidts dieser Welt verschwinden plötzlich? So, Ingeborg, nun überblätter ich mal ungelesen den Sportteil und gelange durch diesen geschickten Schachzug direkt zu der Seite mit dem Kreuzworträtsel. Wo ist denn nur wieder mein Kugelschreiber hin? Ingeborg, wo hast du ihn wieder hingetan … ach, Dummerchen … ich halte ihn doch in der Hand.« Nach kurzer Denkpause füllte Frau Ginster die Rätsel des Kreuzworträtsels aus, die sie ohne Weiteres lösen konnte. Für die restlichen Rätsel musste sie sich noch einen 104 Tag gedulden, bis Freundin Gertrud bei ihr erscheinen würde. » „Grünanlage“, 6 Buchstaben, waagerecht. Ingeborg, das dürfte dann wohl der „Garten“ sein … G A R T E N …Ja passt, wackelt und hat Luft. Sehr schön. Ingeborg, ich bin hoch erfreut, deine Bekanntschaft machen zu dürfen ... „Ego“; 3 Buchstaben, senkrecht. Das dürfte dann wohl das „EGO“ sein. Quatsch doch nicht, Ingeborg … „ICH“, nun gut, „ICH“. „Metallarbeiter“, 7 Buchstaben, waagerecht. Oh, das erfordert meine gesamte Aufmerksamkeit. Ach herrje und das gerade jetzt, wo ich noch so viel zu tun habe. Passt dennoch gut in das „ICH“ hinein … der „SCHMIED“ … ach, mein Herr Schmidt. Womöglich bringt er mir heute bereits das Paket. Das wäre mal eine Überraschung. „Lagerstatt“, 5 Buchstaben, senkrecht. Das ist knifflig, Ingeborg … das ist knifflig. Ah, die „LIEGE“, was sonst, das passt gut. Da hat sich die Kurierschwalbe mal wieder selbst übertroffen. Respekt! So fertig. Na, da wird Gertrud noch einiges zu rätseln haben. Umso besser, ich weiß ohnehin nie, was ich mit ihr bereden soll.« Sorgsam faltete sie alles zusammen, ging in die Diele und legte das Zeitungskonglomerat auf den Altpapierstapel. Als sie in die Küche zurückkehrte, war das Fenster bereits ein Stück weit geöffnet worden und Helmut hatte auf seinem Stuhl Platz genommen. »Na, Helmut, schön, dass du mal wieder hereinschaust. Ja, heute habe ich Katzenfutter im Angebot. Friss dreimal und lass dich nur zweimal kraulen. Du hast doch mit Sicherheit die entsprechende Hochglanzwerbung auf deinem Lieblingsstuhl entdeckt?« Sie lächelte und wollte Helmut soeben mit einem ihrer stürmischen Krauler begrüßen, als sie erschrocken innehielt. »Was ist das! Helmut? Du blutest ja, mein Junge! Oh je … lass mich mal sehen.« Helmut wollte jedoch nicht, dass Frau Ginster sich das ansah und sprang vom Stuhl herunter, duckte sich an ihr vorbei und verschwand in Richtung Diele und letztlich in das Wohnzimmer. 106 »Helmut, nun stell dich nicht so an! Ich will dir doch nichts Böses. Ich will nur nachsehen, was du da hast. Ach herrje, jetzt mach doch nicht solch ein Aufhebens darum. Ich bekomme dich doch ohnehin zu fassen … früher oder später … Du wirst dich umgehend von mir untersuchen lassen! Oder uns beide bis zur Erschöpfung durch das Haus jagen und dich anschließend trotzdem untersuchen lassen müssen. Was ist dir lieber?« An einer Wand der Diele befand sich bereits Blut. Frau Ginster wurde mit jeder Sekunde nervöser. »Oh nein, Helmut. Jetzt rennst du auch noch in das Schlafzimmer. Warum tust du mir das an? Muss ich etwa warten, bis du derart viel Blut verloren hast, dass du dich nicht mehr rühren kannst?« Helmut verschwand unter dem Bett. Hastig griff sie in die Schublade des Nachtschränkchens und kramte dort das wohl wichtigste Utensil ihres Schlafzimmers heraus. Ja, es war nun mal kein Mann zugegen, den sie antippen könnte, wenn er benötigt wurde und somit musste sie solcherlei Dinge selbst erledigen. Daher kam dieses prächtige Gerät vor allen Dingen dann zum Einsatz, wenn das Licht auf urplötzliche und unvorhergesehene Weise erloschen war. Leider waren die Batterien bereits schwach, ein Umstand, den sie möglicherweise recht bald bereuen würde. Sie ging in die Knie und kroch mit dem Oberkörper voran unter das Bett und Helmut hinterher. Bereits jetzt war sich nicht mehr sicher, ob sie sich jemals wieder selbst aus dieser Lage würde befreien können. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit, und als sich der Großteil der Staubmäuse gelegt hatte, entdeckte sie zwei leuchtende Augen, die sie aufgeregt anstarrten. Nach einigem Suchen und Tasten fand und schob sie beherzt den riesigen grün-fluoreszierenden Schiebeknopf, der die Taschenlampe umgehend zum Erglimmen brachte. »Ingeborg, gut, dass du hier mal nachgesehen hast. Ich werde hier unverzüglich mit dem Wischmob drunter gehen müssen. Jetzt ist es allerdings offiziell, du bist ein Ferkel. Doch vorerst bist du wichtiger, Helmutchen. Und denke bitte daran, dass sich mein Gesicht in der Nähe deiner sagenhaft spitzen und präzise 108 geschärften Krallen befindet. Mach mir bitte keinen Unsinn damit. So, nun zeig mal her, mein Junge.« Sichtlich erschrocken beobachtete Helmut, was Frau Ginster dort fuhrwerkte. Ihr großes rundes Gesicht rückte stetig und möglicherweise für ihn auch recht bedrohlich näher. Im Vergleich zu Helmut waren es riesige Hände, welche sich kurz drauf anschickten, um nach seinem Leib zu greifen. Plötzlich leuchtete ihm auch noch etwas (für ihn) unsäglich Helles in seine Augen, und er konnte nur noch schemenhaft erkennen, was weiter vor sich ging. Das war wohl auch der Grund, weshalb er sich nicht mehr zu rühren wagte und einfach mit sich machen ließ, was er ohnehin nicht verhindern konnte. Eigentlich recht ungewöhnlich für einen Kater seines Schlages. Nach einigem Wühlen entdeckte Frau Ginster die Stelle, an der das Haar mit Blut verklebt Strähnen bildete. Beherzt griff sie in die Umgegend, und auch dort befand sich etwas Blut, allerdings schien es bereits geronnen zu sein. Zudem tropfte, soweit sie es erkennen konnte, nichts mehr nach und Helmut lag in keiner Blutlache. Letztendlich gab es wohl keinen Grund, Helmuts Hinterteil zu rasieren und dieses mit allerlei Smiley- und Pustepuste-Pflastern zu bekleben. Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf die Wunde und sah genauer hin. »Es war nichts Spitzes oder Scharfes, was ihm diese Wunde zugefügt hat. Keineswegs die Kralle einer Nachbarskatze und auch nicht der Biss eines tollwütigen Spatzen. Es sieht wie eine Wunde aus, die sich ein Kater zuzieht, der sich an etwas stößt. Hä, Moment mal, Ingeborg ... Kater stoßen sich doch nie an irgendetwas. Geschickt gehen sie allem aus dem Wege, das sie auch nur um Haaresbreite berühren könnte. Sei es etwa eine kraulende Hand oder was auch immer für sie Unangenehmes. Falls sie allerdings Futter wollen und werden dabei unerwartet gestoßen oder gar getreten, .... Ingeborg, wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, dass Helmut getreten wurde. Dabei könnte er an etwas Kantiges, aber Unscharfes gekommen sein. Das war stumpfe Gewalt! Verdammich noch mal! Wer tut denn meinem Helmut so etwas an? Derzeit würde mir nur einer einfallen!« 110 Die flache Hand auf dem Boden abgelegt und vorsichtig unter Helmut geschoben, drückte sie ihn ein Stückchen weit hoch. Helmut beobachtete genau, was Frau Ginster an ihm herumhantierte. Allerdings konnte er es nicht einordnen und verhielt sich weiterhin still. Mit Akribie befühlte sie die andere Seite seines Körpers, ob sie geschwollen war oder sich anderweitig verändert hatte. »Dein Bauch fühlt sich tatsächlich geschwollen an, Helmutchen … Die Wagner, dieses Biest! Nein, Ingeborg, die ist doch überhaupt nicht da. Dann kann es nur dieser Landau gewesen sein! Nein, Ingeborg, der klingelt später bei mir. Sicher wartet er noch, bis ich unter der Dusche stehe. Da hat er sich jedoch geschnitten. Als Erstes sollten wir herausfinden, wo es geschehen ist und dann können wir den Täterkreis eingrenzen.« Frau Ginster löschte die Taschenlampe und drückte sich rückwärts und Stück für Stück unter dem Bett hervor. Dabei zog ihre Plastikschürze sämtliche Staubflusen mit sich, derer sie habhaft werden konnte. Nachdem das Licht erloschen war, konnte Helmut seine Augen wieder öffnen und sofort etwas sehen. Verdutzt sah er dem Gesicht nach, das sich nun ruckweise verkleinerte, und er beobachtete irritiert Frau Ginsters Hände, die rhythmisch auf den Boden patschten. Da der Ausgang nun wieder freigeworden war, beruhigte er sich zudem rasch. Müde sah er plötzlich aus, und da er ohnehin nun schon und auch einigermaßen bequem ruhte , blieb er auch gleich liegen, leckte sich noch einmal die Wunde und schlief darüber ein. Heil dem beengenden Unterbett entkommen holte sich Frau Ginster eine andere Kittelschürze aus dem Kittelschürzenschrank und zog sich diese schimpfend über. Ärgerlich schlüpfte sie anschließend in ihre »Draußenschuhe«. Hochrot stand ihr die Wut ins Gesicht geschrieben und wild flatterte ihr Haar in sämtliche Himmelsrichtungen. Auf einen knitterfreien Sitz der Kittelschürze pfiff sie obendrein. »Derjenige kann was erleben. Oh ja, Ingeborg kann fuchsteufelswild werden, was sicher kaum einer vermuten würde!« Geräuschvoll riss sie die Haustür auf und sah in einem weiten Umkreis in die 112 Nachbarschaft, um zu ergründen, wer sich alles in seinem Haus befand. Ihre Stirn legte sich in Falten. Still war es an diesem Vormittag. Verdächtig still. Nun suchte sie aufmerksam den Boden ab, um Helmuts Blutspuren zu entdecken. Während sie um das Haus herumschlich, streiften ihre Blicke mal nach rechts, mal nach links, mal vor die Füße, mal in die Ferne. Schließlich fand sie Blutspuren auf dem Fensterbrett, über welches Helmut heimgekehrt war. Das gesamte Repertoire ihres kriminalistischen Gespüres war plötzlich gefragt. Aus unzähligen Filmen wusste Frau Ginster, wie so etwas gemacht wird und stets war es dieselbe Reihenfolge, die eingehalten wurde: »10 Minuten lang werden die Spuren festgestellt, anschließend Zeugen befragt, Täter festgenommen, abgeurteilt, Gefängnisausbruch, in der 85. Minute wird der Täter auf der Flucht erschossen. Das hier ist kein Film, Ingeborg. Und ich bin auch keine Polizistin und schon gar kein Kommissar. Sollte ich den Täter in Kürze dingfest machen, läuft der Abspann in meinem Film bereits nach zwanzig Minuten.« Zwischen ihren Fingern zerrieb sie etwas von dem Blut und roch zögernd daran. ›Sieh an, sieh an. Es riecht seltsam kräftig. Leider gibt es kein Geruchsfernsehen. Aber er muss schon außerhalb des Hauses geblutet haben! Falls Blut auf die dunkle Erde getropft ist, wird es schwer werden, dieses dort zu entdecken. Im Garten wuchert das Grün und steht meterhoch. Vielleicht sollte hier mal gemäht werden? Ich muss mal den Jungen der Familie Nascher fragen, ob er nicht etwas Taschengeld für seine Zigaretten benötigt.‹ Im dichten Gewächs war nichts zu entdecken. Es war auch kein einziger Halm heruntergetreten worden, was nur bedeuten konnte, dass Helmut dem Unmenschen außerhalb des Gartenzaunes begegnet sein musste. Dessen wollte sie sich umgehend vergewissern und lief an den Gartenzaun. Dort lehnte sich etwas hinüber, um auch den Bereich außerhalb des Gartens im Auge zu behalten. Während sie ihr Haus umrundete, strich sie mit einer Hand am Zaun entlang. Am Gartentor fand sie obenauf wiederum Blut. Es war recht schwer für sie zu 114 ergründen, aus welcher Richtung dieses Blut abgestreift worden war. »Helmut kam höchstwahrscheinlich von außerhalb des Gartens und wollte zu mir in das Haus. Ja, ich muss davon ausgehen. Ich werde diesen Mistkerl erwischen, der Helmut das angetan hat.« Frau Ginster atmete schwer und spähte angestrengt in die Nachbarschaft, während sie leise das Gartentor öffnete. In weiten Kreisen blickte sie abermals um sich, während sie den Brombeerstrauchweg entlanglief. »Ingeborg, wenn ich nur wüsste, wie weit Helmut seine raubzügerischen Kreise zieht. Ich wohne in der 65. Zur anderen Seite geht es bis in die 100 und höher. Diese Seite hier geht bis zur 1. Herrje, wann soll ich einhundert Vorgärten durchsuchen?« Da erinnerte sie sich, dass Helmut zu rasch zurückgekehrt war, um großartige Raubzüge durch einhundert Vorgärten unternommen zu haben. Zudem hatte sie beobachtet, dass die Kater der Umgebung einander achteten und sich gegenseitig auffallend viel Platz ließen. »Der nächste Kater lebt in der 55 und zur anderen Seite etwa in der 78. Ingeborg, das dürfte das Suchgebiet um einiges einschränken.« Bald stand sie vor der 55 und entdeckte tatsächlich einen Kater. Der saß jedoch hinter der Küchenfensterscheibe und bereute in diesem Moment wohl, dass er sich nicht Frau Ginsters Haus als seinen Zufluchtsort auserkoren hatte. »Er muss wohl warten, bis ihn Familie Ebert hinauslässt. Soweit so gut, nun die andere Seite.« Zur Sicherheit warf sie noch einen Blick auf die 64. Der Garten der Frau Wagner. »Ingeborg, Helmut war tatsächlich hier. Das, was er dort im Gras hinterlassen hat, spricht eindeutig dafür. Allerdings ist kein Blut zu sehen. Nun gut, sie hat sich diesmal wirklich nichts zuschulden kommen lassen. Vielleicht nehme ich das ein oder andere Paket doch wieder für sie an.« Frau Ginster wandte sich um und blickte in den Garten ihres Hauses. »Am besten, ich stelle mir dazu ein Regal neben die Haustür und breite darauf reichlich Altpapier aus. Gute Idee, Ingeborg du bist wirklich unschlagbar, was das 116 Organisatorische angeht. Wenn Herr Schmidt wieder da ist, dann weiß er sowieso, dass ich diejenige im Brombeerstrauchweg bin, die die Pakete annimmt ... Solange Landlunge sein Unwesen treibt, werde ich bis auf Weiteres nichts mehr annehmen. Ach herrje, der Herr Schmidt … war das noch schön, als ich zum Briefkasten gehen konnte in der Gewissheit, er war dort gewesen. Wenn er nicht läutete, dann war zumindest irgendein Brief im Briefkasten. Irgendwie habe ich stets das Gefühl gehabt, er sei von ihm gewesen. Er hatte ihn immerhin berührt und ihn sich angesehen, bevor er ihn einwarf. Ingeborg, jetzt spinnst du aber … Bist du etwa? Du bist verknallt! ... Quatsch, ich bin doch nicht verknallt. Das ist nur dieses seltsame Gefühl, das Uniformträger selbst in reifen Damen wie mir auslösen. Keineswegs bin ich verknallt, pah, erzähl du doch nicht.« Von den letzten Erkenntnissen war sie gleichzeitig überrascht und durchaus auch erschüttert. In Gedanken versunken ging sie soeben an dem Briefkasten ihres Hauses vorbei und zog wie selbstverständlich den Briefkastenschlüssel aus ihrer Schürzentasche und öffnete den stählernen Kasten. Eigentlich wusste sie doch, dass der Postbote noch nicht durchgekommen war und der Briefkasten leer … »Ingeborg? … Ingeborg! Der Briefkasten ist nicht leer … Da liegt doch etwas drin und weißt du, was das ist? Das ist eine Benachrichtigung vom Postamt … ich soll heute Nachmittag ein Paket dort abholen? Weißt du, was das bedeutet, Ingeborg? Weißt du, was das bedeutet? Moment, da unten ist doch Blut!« Ihr Puls beschleunigte sich und das Atmen fiel ihr schwer. Das, was sie vorhin übersehen hatte, als sie den Blick zu den Nachbarn schweifen ließ, offenbarte sich ihr nun mit aller Konsequenz. Letztlich hatte ihr sogar Herr Schmidt dabei geholfen, das Blut zu finden. Sie sah es am Pfahl des Briefkastens kleben und bekam weiche Knie. »Landei … dieser Landei! Er hat einfach diese Karte eingeworfen, statt zu klingeln. Er hat den Helmut getreten … dort ist doch noch Blut zu sehen. Bist du dir überhaupt sicher, dass es Landei war? Wann soll er 118 denn die Karte eingeworfen haben, und warum hat er nicht geläutet? Dem bereitet es doch eine besondere Freude, dich unter der Dusche zu stören. Er weiß allerdings nicht, dass heute nicht mein Duschtag ist. Das wusste nur Herr Schmidt. Ach, herrje, was ist, wenn Herr Schmidt wieder arbeiten gehen durfte? Was ist, wenn letztendlich alle Postboten dieser Welt Katzen quälen? Quatsch doch kein wirres Zeug, Ingeborg! Die Unterschrift, die Unterschrift, Ingeborg! Ach, zeig mal her …« Frau Ginster untersuchte die Benachrichtigung und eine Unterschrift entdeckte sie dabei auch. Doch war es mehr ein Häkchen mit Strich und Kreis, als eine Unterschrift. Diese Hieroglyphen konnten alles und nichts bedeuten. Dennoch dachte sie fieberhaft darüber nach. ›Habe ich irgendwo eine ältere Benachrichtigung herumliegen? Nein, ich bin stets im Haus und dieses eine Mal, als ich eine Benachrichtigung bekam, wurde sie später im Postamt einbehalten. Die Post weiß schon genau warum … Verdammich!« Nun bereute Frau Ginster zutiefst, dass sie sich nie die Unterschriften von Herrn Schmidt oder von Landau eingeprägt oder wenigstens genauer angesehen hatte. Neuer Postbote, neue Unterschrift! »Das nächste Mal weiß ich besser Bescheid. Am besten, ich mache mir ein Foto von der Unterschrift und notiere mir, wessen Unterschrift das ist.« Nachdenklich dreinblickend schlenderte sie zu ihrem Haus zurück. »Ingeborg, nun bleib mal auf dem Teppich. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Herr Schmidt heute wieder arbeiten gehen konnte, nicht geläutet und nebenbei auch noch Helmut getreten hat. Mit Verlaub. Spinnst du? Wer hat denn gestern den Helmut getreten, das war doch ganz sicher nicht Herr Schmidt? Dem traust du so etwas zu? Dann kann es genauso gut … ja, du könntest es genauso gewesen sein! Ha, jetzt hast du was zum Grübeln. So und nun erzähle mir bitte, weshalb du es nicht gewesen warst?« Erschrocken hielt Frau Ginster inne und sah auf den Löwenzahn herab, der zwischen zwei Gehwegplatten geradezu alle viere von sich streckte. »Ich … weil … weil ich so etwas nie tun würde. Punkt … Siehst du und Herr Schmidt ebenfalls nicht. Den kannst du 120 endlich mal außen vor lassen, Dummerchen. Die besondere Erkenntnis von vorhin hat dir dermaßen den Kopf verdreht, dass du überall verschwundene und bösartige Schmidts siehst. Fühlst du dich etwa allein gelassen von ihm und nun beschuldigst du ihn mit hanebüchenem Mist, auf dass er sich rechtfertigen muss? Es war Landau, du weißt es genau. Und dass er es tatsächlich war, werden wir erfahren, wenn wir gleich beim Postamt anrufen und uns erkundigen, wer heute die Post im Brombeerstrauchweg ausgefahren hat. Punkt meinerseits.« Frau Ginster ersparte sich den beschwerlichen Weg zur 78, um nachzusehen, ob tatsächlich ein Kater dieses Haus als Zufluchtsort nutzte. Das war nicht mehr wichtig, seit sie das Blut am Briefkastenpfahl entdeckt hatte. Zumindest hatte der Aufklärungsgang zur 78 Zeit, bis wichtigere Dinge geklärt worden wären. Einige Minuten und einige HelmutBeinahekrauler später saß Frau Ginster wieder in ihrem Beistellsessel und hatte mit ihrem Zeigefinger die Nummer der Beschwerdestelle des Postamtes in den Ziffernblock ihres eingemeißelt. Telefons geradezu Es tutete. Es tutete ein zweites Mal. Es tutete ein drittes Mal. Ein Knacken erklang im Hörer. »Ja! Augenblick, bleib in der Leitung … hör mal, ich habe hier zu telefonieren, Mutter! Frank hat doch gesagt, er ruft an, sobald er sich entschieden hat … würdest du nun bitte mein Zimmer verlassen!? Oh nein, Moment …« Unter den polternden Laufgeräuschen, die plötzlich zu hören waren, zuckte Frau Ginster merklich zusammen. »Verdammt Mutter, ich frage mich, was ich hier noch tue!« Eine schwere Tür fiel in ihr Schloss, und die aufgeregte Stimme näherte sich wieder dem Telefon. »Danke, dass du gewartet hast. Hallo noch mal, sorry.« 122 »Was Sie dort tun? Ja, das frage ich mich ebenfalls. Und ich frage Sie obendrein, weshalb Sie das Telefon stets dreimal klingeln lassen, bevor Sie an den Telefonapparat gehen? Sie sehen wohl, dass ich anrufe, und tun dies mit Absicht? Ingeborg Ginster am Apparat. Brombeerstrauchweg 65.« »Ja, ähhm Meier hier …« »Und noch etwas, Ihre Privatgespräche können Sie zu Hause führen. Gut, dass ich bereits mit der Beschwerdestelle des Postamtes verbunden bin, da können Sie sich gleich einmal selbst notieren. Sie haben doch sicherlich einen Kugelschreiber zur Hand? Falls Sie nicht wissen, wie der funktioniert, ich kann Ihnen behilflich sein. Drehen Sie an der Spitze. Ja, drehen, verstehen Sie? D r e h e n.« Im Telefonhörer erklang ein atmendes Rauschen und die Stimme am anderen Ende holte tief Luft. »Hören Sie, Frau Gangster, würden Sie bitte diese Leitung freimachen, ich erwarte einen dringenden Anruf meines Freundes. Es geht, wenn Sie es so wollen, um Leben und Tod!« Solch eine Unverfrorenheit hatte Frau Ginster noch nicht erlebt und sie errötete vor Wut. »Papperlapapp, hier geht es ebenfalls um Leben und Tod! Wenn Sie es so wollen. Falls Sie sich nun endlich einmal selbst notiert haben, können Sie mir eine Frage beantworten. Ich möchte mich über Herrn Landau beschweren. Postbote Landau. Er war doch heute im Brombeerstrauchweg unterwegs?« »Das weiß ich doch nicht, und warum sollte ich mich bitteschön notieren. Im Prinzip können Sie mich doch mal. Notieren Sie sich doch selbst, Sie unverschämte Ziege!« »Das hört mir aber sofort auf! Ich würde mich umgehend selbst notieren, falls ich mich wie Sie benehmen würde! Letztlich ist es doch überhaupt kein Wunder, dass Ihr Freund Sie nicht heiraten will. Er wird sich nie für Sie entscheiden. Sie können sich ja noch nicht einmal eingestehen, dass Sie einen Fehler begehen.« Plötzlich wurde es ziemlich still am anderen Ende der Leitung. 124 »Meinen Sie wirklich? Der Frank liebt mich nicht, oder? Und Sie sollen mich anrufen, um mir das begreiflich zu machen?« Leise schluchzte es im Hörer. »Ja, wenn Sie es so wollen. Ich tue, was ich kann, um zu verhindern, dass jemand offenen Auges in sein Unglück stürzt. Ich bemerke allerdings, dass Sie nicht mehr fähig sind, sich klar auszudrücken und eine einfache Antwort auf meine Frage zu geben. Ich bin nachher ohnehin im Postamt und glauben Sie mir, ich werde erfahren, wer heute Morgen an meinem Briefkasten war. Das schwöre ich Ihnen, so wahr ich Ingeborg Ginster heiße! Ihre Verschleierungstaktiken können Sie anwenden, wenn Sie wieder einmal um lukrative Postadressen gebeten werden.« Das Schluchzen wollte einfach nicht aufhören. »Sagen Sie ihm, es tut mir leid. Ich bin des Öfteren ein solches Ekel gewesen. Und es tut mir außerdem leid, dass ich mit Adrian geschlafen habe.« »Das sollte es auch, und falls ich Adrian treffe, werde ich ihm sagen, was Sie für ein Früchtchen sind! Darauf haben Sie mein Wort. Einen schönen Tag noch.« …. ****XXL-LESEPROBE**** Bitte bedenken Sie, dass Ihnen diese Leseprobe einen erweiterten Einblick in das Buch INGESCHENK geben soll. Komplett erhältlich als Ebook auf Amazon.de unter: http://www.amazon.de/dp/B00FE1AM6M Erhältlich als Buch auf Amazon.de unter: http://www.amazon.de/dp/149281962X 126 …. Über den Autor Geboren 1972 wuchs Steffen Wittenbecher in der ehemaligen DDR auf und lebt heute zwischen den manchmal immer noch ungleichen Welten des Ostens und des Westens Deutschlands in NordrheinWestfalen. Hauptberuflich IT-ler hatte er bereits seit vielen Jahren das Bedürfnis, Gedanken niederzuschreiben und seiner regen Fantasie auf diese Weise Ausdruck zu verleihen. Die Ideen zu seinen Geschichten kommen plötzlich, während alltäglicher Situationen in sein Bewusstsein und reifen. Längst hat er sich damit abgefunden, dass es Dinge gibt, die man nicht beschreiben kann, sondern ausschließlich selbst erfahren muss, um sie wirklich verstehen zu können. Doch davon wollte er sich nicht entmutigen lassen und zumindest versuchen, sie zu beschreiben. Als Kind liebte er die Märchen der Gebrüder Grimm und Welten, deren Zeitrechnungen weit in der Zukunft lagen. Er las viel und ausgiebig und die Grenze bildete nicht nur das Inventar der kleinen Bibliothek seines Wohnblocks. Eines Nachts, und bereits jenseits der 40, im September 2012 entschloss er sich, einfach die Gedanken niederzuschreiben, die in seinem Kopf herumschwirrten. Das zu tun, wofür sein Herz brennt, etwas aus seiner Kindheit zurückzugeben und die Grenze von damals für zukünftige Generationen zu erweitern. 128 Dortmund, 25.09.2013 Steffen Wittenbecher Erweitertes Impressum Ingeschenk 3. Auflage und das Halloween Special 1. Auflage von Steffen Wittenbecher Alle Rechte vorbehalten. Steffen Wittenbecher, Hostedder Straße 43, 44329 Dortmund Gewidmet meiner Nicola Ingeschenk und das Halloween Special ist als Ebook und Buch bei Amazon erhältlich.