Kapitel 1

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INGESCHENK
Roman
3. Auflage 2013
Autor: Steffen Wittenbecher
Copyright 2013 Steffen Wittenbecher
Covergestaltung: Steffen Wittenbecher
Coverfotos: pixabay
Alle Rechte, einschließlich das des
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Nachdrucks in jeglicher Form sind
vorbehalten und liegen bei dem Autor. Dies
gilt ebenso für das Recht der mechanischen,
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Die Handlung und die handelnden Personen,
sowie alle Namen sind frei erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden,
verstorbenen und/ oder realen Personen ist
rein zufällig.
Sie erreichen den Autor unter:
[email protected]
www.fackelputzer.de
Twitter: @wittenbechers
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Helmuts Traum (?)
Die Anstalt
Das Halloween-Special
Über den Autor
4
Erweitertes Impressum
Kapitel 1
Sie faltete die rot geblümte Kittelschürze
und ihre schwere leinene Unterwäsche zu
kleinen Paketen und legte sie mit Bedacht in
den bereitgestellten Schmutzwäschekorb.
Sorgsam entblätterte sie ein neues Stück
Seife und achtete wie ein LUX darauf, dass
die papierne Ummantelung nicht einfach auf
den Boden fiel, sondern exakt nach den
Falzvorgaben des Verpackungsherstellers
zurückgefaltet in das Altpapier gelangte.
Die Heizung des Badezimmers hatte dafür
zwei Stunden benötigt, aber nun befand sich
das
Quecksilber
des
auffälligen
Wandthermometers genau auf den von ihr
angestrebten 28,5 Grad. Frau Ginster schob
ihren Kopf vor und wischte mit einer
bedächtigen Handbewegung den Nebel von
der Anzeige des Thermometers. Um auch
wirklich sicherzugehen, dass die Temperatur
erreicht war, schnippte sie noch einmal mit
den Fingern gegen das Glasröhrchen.
Perfekt. Mit zwei ausgestreckten Händen
schlüpfte sie in die Duschhaube, die an
einem gesonderten Haken hing, und zog sie
vorsichtig über ihr gewelltes Kopfhaar.
Keineswegs durfte es heute bereits nass
werden, nicht auszudenken, dreizehn Tage
vor ihrem nächsten Friseurtermin. Jeden
Dienstag, Freitag und Sonntag war solch ein
Duschtag.
Vorsichtig drehte sie das Wasser auf, und
während sich eine dampfende Wolke um sie
hüllte, überprüfte sie mit ihrer Hand die
Temperatur. Noch etwas kaltes Wasser
dazu, und schon schien alles seine
Richtigkeit zu haben. Gerade noch
rechtzeitig fiel ihr das Wichtigste ein. Kurz
entschlossen verließ sie in ihren gelb
geblümten Badelatschen das Badezimmer
und schlurfte in die Diele ihres Hauses, um
dem Kittelschürzenschrank eine frische
Kittelschürze zu entnehmen. Keineswegs
wollte sie bei den Nachbarn als eine Frau
gelten, die jeden Tag dasselbe trug.
Wohl auch deshalb besaß sie neun dieser
Kittelschürzen aus nahezu echt wirkendem
Baumwollimitat. Nach kurzem Innehalten
und Nachdenken, ob sie heute noch Besuch
erwartete, wählte sie die blau geblümte
Kittelschürze aus.
6
»Ach, Ingeborg, manch einer Frau mögen
neun Schürzen nicht genug Auswahl sein.
Doch ich finde sie ausreichend, um
zumindest jeden Tag der Woche in einem
anderen neuen Licht zu erscheinen.«
Umsichtig befreite sie die penibel gebügelte
Kittelschürze
von
dem
störrischen
Holzbügel und hing sie vorsichtig und ohne
zu knittern an den Kittelschürzenhaken des
Badezimmers. Jetzt dürfte alles fertig
vorbereitet sein. Bevor sie nun endgültig
unter die Dusche stieg, hielt sie noch einmal
nachdenklich inne. »Ingeborg? Habe ich nun
wirklich nichts mehr vergessen?«
Sie kratzte sich am Ellenbogen, während sie
sich im Badezimmer umsah. »Nein, es sieht
mir nicht danach aus. Jedenfalls nach
meinem derzeitigen Kenntnisstand nicht.«
Leise summte sie „Dornröschen“ und stieg
erfreut in die Dusche. Offensichtlich genoss
Frau Ginster ihre Duschtage und niemand,
der sie auch nur ein bisschen näher kannte,
würde es wagen, sie an einem solch
außerordentlich wichtigen Tag zu stören.
Wirklich niemand?
Ganze 14 Sekunden war sie bereits vom
warmen Wasser umspült worden, als
plötzlich das Telefon klingelte. »Das darf
doch nicht wahr sein, Ingeborg!« Nach
einigem Suchen fand und schob sie den
Knopf
ihres
Duschkopfes
in
die
Halteposition,
der
umgehend
die
Wasserversorgung mit einem spürbaren
Rückschlag unterbrach. Beinahe wäre er ihr
dadurch aus der Hand gerutscht und nur
durch rasches Nachgreifen mit ihrer anderen
Hand hatte sie dies geschickt zu verhindern
gewusst.
Den Duschkopf hängte sie ärgerlich
murmelnd in seine Halterung. »Ingeborg,
wer wagt es, dich an einem deiner
Duschtage zu stören? Gut, dass ich noch
nicht eingeseift war, denn dann könnte
derjenige etwas erleben. Andererseits, was
erleben wird derjenige auch so. Doch
beruhige dich, Ingeborg. Du weißt nicht, ob
es nicht vielleicht doch etwas Wichtiges ist.
Womöglich die nette Frau vom letzten Mal,
die dich auf das unschlagbare Angebot
dieses 1kg Meersalzgesichtscremetopfes
hingewiesen hat.«
Während es bereits zum zweiten Mal
klingelte, entstieg sie behände der
Duschkabine und schlüpfte, tropfnass, wie
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sie war, in die bereitgestellten Badelatschen.
Im Vorbeigehen versicherte sie sich mit
einem kurzen Blick in den Spiegel, dass die
Duschhaube noch immer korrekt an ihrem
Platz saß. »Nun gut, derjenige hat es wohl
tatsächlich nicht anders gewollt. Halt dich
fest mein Freund. Oh, halt dich fest!«
Längst hatte sie ihren »Drinnenbademantel«
ergriffen, und während sie sich den überwarf
und den Gürtel um ihre Hüften festzurrte,
klingelte das Telefon bereits zum dritten
Mal. Kurz darauf war sie im Wohnzimmer
und am Telefontischchen angelangt. Ihre
ausgestreckte Hand schwebte über dem
Telefonhörer, und sie lauerte auf ein
weiteres Klingelzeichen. Doch nichts
geschah.
So stand sie einige Zeit, bis sie sich dazu
entschloss, ihren Duschtag an der Stelle
fortzusetzen, an der sie ihn beendet hatte.
Mit angespannt entnervtem Gesicht befand
sie sich bereits auf der Höhe der
Badezimmerschwelle, als das Telefon
abermals klingelte. Es läutete schrill und
dieses Geräusch machte sie nun doch
außerordentlich wütend. »Das kann doch …
«, rasch wandte sie sich um, eilte in das
Wohnzimmer, entriss den Hörer förmlich
seiner Halterung und hielt ihn sich an ihr
Ohr. »Wer stört mich und noch dazu an
meinem Duschtag?«, entfuhr ihr es
ungehalten. Doch es blieb still am anderen
Ende der Leitung und nur ein atmendes
Rauschen ließ sie fragend aufblicken. »Ich
erwarte umgehend eine Antwort auf diese
einfache Frage! Hallo? Ginster am Apparat.
Habe ich extra meinen Duschtag
unterbrochen, um mir Ihre rasselnde
Atmung anzuhören?« Gerade wollte sie den
Hörer wieder auflegen, als sie ein Schnalzen
hörte, beinahe, als ob sich ein Mund zum
Sprechen öffnen würde.
»… Ingeborg …«, sprach eine seltsam
verändert klingende Stimme.
Sie streckte ihren Arm aus, sah auf und
hinter den Telefonhörer und hielt ihn sich
wieder an ihr Ohr. »Ingeborg? Ingeborg,
wer? Ist dort die Ingeborg … die
graumelierte Kröte von der letzten
Kaffeefahrt? Sie sollten weniger rauchen,
das sagte ich Ihnen bereits.« Es blieb still
und abermals hörte sie dieses Schnalzen,
welches das Rauschen der Leitung
unterbrach.
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»… I n g e b o r g! …«
Diesmal hatte sich die Stimme besonders
viel Zeit gelassen und den Namen hauchend
und zum Ende hin beinahe wimmernd
ausgesprochen.
Ein
fürchterlich
schauerliches Kichern folgte.
»Ich sagte Ihnen doch bereits, … Frau …
Frau Ingeborg, dass ich nicht mehr genau
weiß, welche Wolle ich genau für meine
Stricksocken verwendet habe. Von „Wolle
Johann“ ist sie jedenfalls nicht! Und für Sie
werde ich ganz bestimmt nicht …«. In der
Leitung wurde es plötzlich still und ein
pulsierendes Tuten ertönte. Kopfschüttelnd
legte Frau Ginster den Hörer auf und ging
zurück in das Badezimmer. So etwas hatte
sie bisher noch nicht erlebt und beim
nächsten Zusammentreffen würde sie dieser
Dame ein paar Takte erzählen. »Herrje, die
kann sich auf was gefasst machen!« Dessen
war sie sich sicher, als sie kurz darauf
wiederum in der Duschkabine stand.
Insgesamt war Frau Ginster nun ganze 72
Sekunden vom warmen Wasser umspült
worden, als es an diesem Dienstagmorgen
um 08.26 Uhr im Mai des Jahres 1986
abermals läutete. Doch dieses Mal war es
nicht das Telefon, welches ihre knapp
terminierte Tagesplanung durcheinander
warf, sondern das Gartentor. Soeben hatte
sie vorgehabt, sich einzuseifen. »Herr Gott,
Ingeborg! Wer ist das denn nun wieder um
diese gottlose Zeit? Neuerdings darf sich
eine Dame nicht einmal mehr duschen, ohne
von einem Klinkenputzer belästigt zu
werden? Wäre mein Mann noch bei mir, er
hätte ihn sicher längst davongejagt, und ich
hätte
davon
nicht
einmal
etwas
mitbekommen!« Nach einigem Hin und Her
bemühte sie sich redlich darum, das Betteln
um Einlass einfach überhört zu haben.
»Ingeborg, nun sei doch mal ehrlich, wer
soll es schon sein? Amor lässt sich hier
schon länger nicht mehr blicken und der
Gevatter hob sich einen Bruch, als er das
letzte Mal hier bei mir zu Besuch war.
Bestimmt ist es wieder einer dieser
Teppichvertreter, oder noch schlimmer,
einer der Wachturmzeugen.«
Weiter ließ sie sich nicht beirren und hoffte,
dass der »unverschämte Unhold« ein Haus
weiter sein Glück versuchen würde. Trotzig
hob sie einen Arm und begann nun mit
Nachdruck, ihre Achseln einzuschäumen.
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»Ingeborg, die können dir doch alle
gestohlen bleiben. Wollen doch ohnehin nur
an die Rente und an das bisschen Ersparte.«
Doch nur wenig später läutete es noch
einmal, und dieses Mal ließ derjenige
besonders lange seinen Finger auf dem
Klingelknopf. War er etwa darauf
eingeschlafen oder gar mit dem Finger an
dem Klingelknopf hängen geblieben? Sie
horchte auf und stellte vorsorglich die
Dusche ab. »Das fehlt gerade noch, ein
Unfall vor meinem Gartentor. Nicht
auszudenken, diese Scherereien.« Doch
nein, derjenige nahm sich einfach nur
heraus, außerordentlich penetrant die
Klingel zu betätigen.
»Das darf doch nicht wahr sein … Ingeborg,
ignoriere es einfach. Aber was ist, wenn es
nun doch etwas Wichtiges ist? Etwas
außerordentlich Wichtiges? Ingeborg, es
wird mit Sicherheit etwas herausragend
Wichtiges sein! Es hilft alles nichts, du
musst die Einseiferei beenden und
nachsehen.«
Für
Unwissende
möglicherweise
befremdlich, verwickelte sich Frau Ginster
recht häufig in solcherlei Selbstgespräche.
Es war ja sonst niemand da, der ihren
Gesprächen
lauschen
konnte.
Zwar
bewohnte noch ein Kater seit Kurzem ihr
Häuschen, doch der hatte etwas mit seinen
Ohren. Das arme Tier schien nur dazu
imstande zu sein, das Klappern der
Futterdose und die Gartentorklingel zu
vernehmen.
Doch
zurück
zum
»ominösen
Klingelkobold«. Entweder nahm er an, dass
ein Hausbewohner stets in seinem Haus
anwesend sein müsste oder, was bei Weitem
unangenehmer wäre, es war einer dieser
Klingelvertreter. Angeblich sollten die
tagsüber umherziehen und durch endloses
Klingelknopfbetätigen die aufwändige und
äußerst komplizierte Mechanik einer Klingel
derart strapazieren, dass sie irreparabel
zerstört würde. Nach einigen Tagen, und wie
rein
zufällig,
warfen
dieselben
Klingelvertreter einen Prospekt in den
Briefkasten,
auf dem auf
bestem
Hochglanzpapier darauf hingewiesen wird,
wann und wo es die schönsten Klingeln zu
kaufen gäbe. Ein einträgliches Geschäft, wie
Frau Lisbeth erst letztens befand. Frau
Lisbeth war die Freundin Frau Ginsters, die
recht häufig solch wirres Zeug verbreitete,
14
doch Frau Ginster war sich nun nicht mehr
so sicher, ob Gertrud ausnahmsweise nicht
doch mal einen ihrer lichten Momente
gehabt hatte.
Nun klingelte es bereits zum dritten Mal.
Lang, frech, zudringlich, und es schmerzte
sie in den Ohren. »Himmel Herr, unerhört
ist das, jetzt läutet der auch noch Sturm und
das gleich dreimal! Na, der kann was
erleben!«
Umsichtig entstieg Frau Ginster der
Duschkabine und ergriff entschlossen das
bereitgelegte Handtuch. Was der ominöse
»Läuterer« in diesem Moment ebenfalls
nicht ahnen konnte oder auch geflissentlich
ignorierte: Soeben wurde auch noch die
Handtuchplanung der gesamten Woche
durcheinandergewirbelt. Während sie sich
das seifige Wasser aus ihren Augen rieb,
machte Frau Ginster ihrem Ärger weiterhin
reichlich Luft. »Ich bin weiß Gott nicht taub
… Doktor Schubert, diag… diagnase… ach,
erzählte mir erst kürzlich, dass ich das
Hörvermögen einer Vierzigjährigen hätte.
Was läutet derjenige also derart penetrant?
Unbegreiflich ist mir das, und ich könnte
mich bereits jetzt dafür ohrfeigen, dass ich
aus der Dusche gestiegen bin. Einfach
ignorieren sollen hätte ich die Läuterei…
einfach ignorieren … Ingeborg, es hilft nun
alles nichts, du wirst nachsehen müssen.«
Während sie sich auf den Weg zur Haustür
machte, warf sich Frau Ginster ihren rosa
gestreiften »Draußenbademantel« über und
zurrte den Stoffgürtel kämpferisch fest.
Kater Helmut, der dank seiner selektiven
Taubheit die Klingel ebenfalls vernommen
hatte, war längst von seinem Lieblingsstuhl
gesprungen und hoffte nun auf eine
Gelegenheit, um gegebenenfalls seinen
»Raubzug in die Umgebung« fortsetzen zu
können. Natürlich wussten Helmut und
Ingeborg, dass ihm eine »Flucht aus dem
Haus«, wie sonst auch, gelingen würde.
Allerdings war Helmut einer dieser Kater,
die reumütig zurückkehrten und nach Futter
bettelten, sobald sie auch nur die geringsten
Anzeichen von Hunger verspürten.
Da sie Helmut nun wenigstens eine Stunde
nicht zu Gesicht bekommen würde, kraulte
Frau Ginster ihm zum Abschied noch einmal
vorsorglich den Rücken. »Helmut, du willst
wohl wieder flüchten, pass bloß auf dich auf
und mach mir keine Scherereien. Ja, ich
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weiß, dass ich mich jeden Tag wiederhole
und du kannst mich ohnehin nicht hören.
Achte mir jedoch auf die Polizei bei deinen
Raubzügen und vor allen Dingen auf diese
Tierfänger. Die werden dich womöglich an
diese Institute verkaufen. Dort rasiert man
dir das Fell und schmiert dich mit Kosmetik
ein. Und eins glaube mir Helmut, mit
Kosmetik möchtest du als Kater nichts zu
tun haben. Hast du mich verstanden,
Helmut?«
Nein, hatte er nicht. Wie denn auch, der
Ärmste? Während sie ihm weiter die
üblichen Sicherheitsvorkehrungen in das
vermeintliche Gedächtnis zurückrief, sah
Helmut zur Haustür und krümmte seinen
Rücken derart unter Frau Ginsters Hand,
dass sie sich bereits sorgte, ob sich sein
Rücken jemals wieder in die Ursprungsform
zurückbiegen ließe. Mit einer anständigen
Prise Argwohn betrachtete sie sich seinen
Rücken. »Helmut, falls ich jemals vor dir
liegen sollte und das jammernd mit solch
einem geformten Rücken, wie dem deinen
jetzt hier … Helmut, dann musst du die 112
am Telefon wählen … hörst du Helmut? Die
112 und sag denen „Brombeerstrauchweg
65, Rücken“.« Nein, auch das hatte Helmut
nicht gehört. Allerdings hoffte Frau Ginster
wohl noch immer auf eine spontane
Selbstheilung der kätzischen Gehörgänge.
Kurz
darauf
erreichte
sie
die
Wechselsprechanlage ihres Hauses. »Ich
kann einfach nicht glauben, dass ich das hier
mache, Ingeborg. Soll ihn doch der Teufel
holen, pah … der traut sich allerdings auch
nicht mehr hierher, seit er sich meinen Mann
geholt hat.« Noch einmal zurrte sie den
Bademantel fest und achtete flüchtig auf
einen ordentlichen Sitz. Nach letztmaligem
Innehalten und Horchen, ob der dubiose
»Läuterer« es noch einmal wagte, den
Klingelknopf zu betätigen, hob sie den
Hörer ab.
Ein knappes »Ja!« sollte nach dieser
Hetzerei genügen.
Der Unbekannte, am anderen Ende der
Wechselsprechanlage war wohl ebenfalls
ihrer Meinung.
»Tag, Post!«
Wie die Dinge nun lagen, sah Frau Ginster
keinen
Anlass
mehr,
weitere
Nachforschungen anzustellen. Im Prinzip
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war klar, wer derart entschlossen und so früh
am Morgen um das Betreten ihres Gartens
gebeten hatte. Nach einigem Suchen fand
und drückte sie den großen, rot leuchtenden
Knopf, der das Schloss des Gartentores
elektrisch summend entriegelte.
»Na, wer soll denn so etwas ahnen? Der
Herr Schmidt. Der weiß doch ganz genau,
dass heute mein Duschtag ist! Na warte,
Ingeborg. Der wird was zu hören kriegen.«
Umgehend färbten sich ihre Wangen rot,
und nur einen Moment später hatte sie es
sich bereits wieder anders überlegt.
»Möglicherweise werde ich doch einmal
darüber hinweg sehen. Es werden mit
Sicherheit die Kräuterpillen und die
Meersalzgesichtscreme sein. Und wer weiß,
vielleicht nimmt Herr Schmidt einfach nur
an, ich bräuchte die beruhigende
Meersalzcreme sofort nach dem Duschen,
… doch woher soll er denn wissen, was er
mir bringt? Ob er wohl etwas ahnt? Ach,
mein Herr Schmidt … wenn es einer ahnen
kann, dann er. Dass ich ihn derart schlampig
bekleidet empfangen muss … jegliche
Ausflüchte meinerseits wären vollkommen
absurd. Du bist eine Schande, Ingeborg.
Wahrlich eine Schande für die gesamte
Damenwelt.«
Just als Frau Ginster in der Haustür stand,
sah sie aus ihren Augenwinkeln, wie sich
seitlich von ihr etwas an der Hauswand
entlang bewegte. Erschrocken wandte sie
sich in die Richtung. Als sie jedoch nur eine
schwarze Schwanzspitze um die Hausecke
verschwinden sah, wurde es ihr wieder
schmerzlich bewusst, dass sich Kater
Helmut bereits wieder auf einem seiner
Raubzüge befand und letztlich nur einen
Unterschlupf für die Nacht bei ihr gesucht
hatte.
Da die Sonne sie blendete, kniff sie ihre
Augen etwas zusammen und blickte in
Richtung des Gartentores. »Das ist doch
nicht mein Herr Schmidt«, flüsterte sie, als
sie sich den Mann in der gelben Uniform
näher betrachtete. Mit einer Hand
beschattete sie sich ihre Augen. Weite
sichere
Schritte
bewegten
einen
Enddreißiger den Gartenweg entlang. Erst
vor Kurzem hatte sie den Weg peinlichst
genau von Flugstaub befreit. Ihr Blick fiel
auf einen Löwenzahn, der sich zwischen
zwei Gehwegplatten seinen Platz an der
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Sonne zurückerobert hatte. »Na warte,
Freundchen … ich sagte dir doch, dass dein
Platz im Garten ist.«
Zu allem entschlossen blickte sie wieder auf.
Es war tatsächlich ein Postbote, denn unter
seinen Armen trug er ein Paket und ein
Klemmbrett mit sich. Schweifenden Blickes
entdeckte er Frau Ginster in der Haustür und
ahnte wohl bereits, dass er die Dame (die
ihn mit Duschhaube und Bademantel
bewaffnet erwartete) bei etwas Wichtigem
gestört haben dürfte. Sorgsam vermied er
jeglichen Augenkontakt und sah sich in
weiten Kreisen um, wie schön diese Dame
zu wohnen pflegte. Reichlich außer Puste
gelangte er daraufhin vor den Stufen, die zur
Haustür führten, an. Das verwunderte sie
doch sehr, denn so, wie die Hose dieses
Herren aussah, schien er doch regelmäßig
durch kniehohen Schlamm zu »jocken«.
Nachdenklich sah der Postbote auf das
Klemmbrett, das er sich, wie das Schild
eines Ritters, vor das Gesicht gehoben hatte.
»Guten Morgen, Fraaau Ginser.«
Sie blickte ihn fragend an und entgegnete
ebenfalls
eine
der
unumgänglichen
Höflichkeitsfloskeln.
»Guten
Morgen,
Ginster mein Name, Ingeborg Ginster.«
»Ach, Frau Ginster, entschuldigen Sie,
Landlunge mein Name, ich bin dann wohl
Ihr neuer Postbote.« Er senkte das
Klemmbrett und zum Vorschein kam ein
»verschwitztes,
strähnig
haariges
Lurchgesicht«. Das „Lurchgesicht“ kam
Frau Ginster spontan in den Sinn, als sie
sich das Gesicht ihres Gegenübers genauer
betrachtet hatte. Da stand er nun, der Neue,
und hatte es gewagt, ihren Duschtag zu
stören. Es ist doch halb so schlimm, könnte
man meinen, dann könnte sie doch später
einfach weiter duschen? Nicht in Frau
Ginsters Welt. Denn wer mit ihr
Bekanntschaft gemacht hatte, der störte
ihren Duschtag höchstens nur dann noch,
wenn der letzte Tag auf Erden angebrochen
war
und
einige
Dinge
nicht
unausgesprochen bleiben sollten. Der
Gevatter Tod höchstpersönlich würde an
einem ihrer Duschtage unschlüssig vor dem
Gartentor herumlungern und schließlich
unverrichteter Dinge von dannen ziehen. Im
Brombeerstrauchweg
munkelten
die
Nachbarn daher, dass dieses Teufelsweib
ewig leben könnte, wenn sie nur
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ununterbrochen
würde.
Duschtage
anberaumen
Was allerdings nur die wenigsten wussten,
den letzten Postboten, der es gewagt hatte,
sie bei einem ihrer Duschtage zu stören,
hatte sie tatsächlich mit Schimpf und
Schande von ihrem Gartentor vertrieben.
Regelrecht fortgejagt hatte sie ihn. Zwar
hatte sie sich letztlich bei der Post
entschuldigt, da sie keinerlei Briefe mehr
erhalten hatte, doch erfuhr sie dort auch,
dass der entsprechende Postbote seinen
Posthut an den Nagel gehängt hatte. Statt
darüber bestürzt zu sein, hatte sie nur darum
gebeten, dass man ihr doch mitteilen möge,
falls die Post mal wieder jemanden
Unbekanntes zu ihr schicken würde.
Tatsächlich hatte sie obendrein noch etwas
geflunkert und angegeben, dass sie gedacht
hatte, ein Klingelvertreter würde vor ihrem
Gartentor stehen und ihre Klingel zerstören
wollen.
Am heutigen Morgen verwunderte es sie
doch sehr, dass dieses Postamt die
Dreistigkeit besaß, einfach doch wieder
jemanden Unbekanntes zu ihr zu schicken,
ohne sie vorher darüber unterrichtet zu
haben.
Jemanden,
der
nicht
ihr
Lieblingspostbote Schmidt war. Doch dieser
Postbote Landlunge hatte anscheinend
Glück im Unglück. Die Sonne schien warm
auf die hellblaue Duschhaube herab und ihr
war es eigentlich nicht danach, wieder
jemanden zu verjagen.
Mit dem Einzug Helmuts hatte sie sich
darüber
hinaus
vorgenommen,
versuchsweise etwas netter zu Unbekannten
sein zu wollen. Sie hatte wohl begriffen,
dass etwas Fremdes nicht immer mit etwas
Bösem gleichzusetzen ist. Zudem war sie
neugierig zu erfahren, wo denn ihr Postbote
Schmidt abgeblieben sei. Und die finsteren
Zeiten, als Boten umgehend hingerichtet
wurden, falls ihre Botschaften unerfreulich
waren, hatte sogar sie längst überwunden.
Frau Ginster bemühte sich daher, sanft zu
lächeln. »Ich befand mich soeben unter der
Dusche und da hörte ich es läuten. Ist denn
der Herr Schmidt erkrankt, ich kann ihn
nicht sehen, ist er möglicherweise mit Ihnen
hergefahren? Haben Sie ihn im Postamt
vergessen?« Über die Schultern des
Postboten hinweg hoffte sie, im Postauto
24
irgendetwas »Zurückgelassenes« erkennen
zu können.
Postbote Landlunge hingegen dachte kaum
darüber nach, was er gefragt worden war.
»Schmidt? Herr Schmidt? Ist mir nicht
bekannt. Ich hätte hier allerdings ein Paket
für … Moment … für Frau Wagner.
Könnten Sie mir das bitte abnehmen? Ich
lege ihr einen Zettel in den Briefkasten, dass
das Paket bei Ihnen ist.« Gelangweilt blickte
der Postbote um sich und an Frau Ginster
vorbei sogar in ihr Haus. Über die Bitte des
Postboten dachte Frau Ginster nun
ausgiebiger nach, als sie eigentlich
vorgehabt hatte. ›Herrje, das haut dem Fass
doch die Krone ins Gesicht … Jetzt habe ich
meinen Duschtag dafür und für die Wagner
unterbrochen? Als ob ich dieses Paket jetzt
noch ablehnen könnte. Falls ich es ablehne
und Landlunge sieht Helmut vor sich
herlaufen, dann fährt er ihm mit Absicht
über den Schwanz.‹
Sie tat also, was notwendig war, um den
neuen Postboten nicht gleich zu verärgern.
›Immerhin bin ich durch Helmut erpressbar
geworden und die meisten Postboten haben
zwar Angst vor winzigen Hunden, doch was
ihren Respekt vor Katzen anbetrifft, darüber
möchte ich lieber nicht am Vormittag
nachdenken.‹
Ihr Mund verzog sich zu einem zuckersüßen
Lächeln. »Ach, das Paket ist für Frau
Wagner … Ja, dann werde ich das doch mal
annehmen. Jammerschade ist das …«, und
da sie schon einmal dabei war – Nettes wird
stets mit Nettem vergolten: »Würden Sie
sich bitte nach Herrn Schmidt erkundigen?
Er muss bei Ihnen arbeiten, er ist derjenige,
der mir sonst die Post vorbeibringt.«
Postbote Landlunge sah auf das Klemmbrett
und ohne aufzusehen wartete er darauf, dass
Frau Ginster ihm das Paket abnahm. »Hören
Sie, ich bin neu in der Poststelle und habe
ohnehin kaum Zeit. Mich über einen Herrn
Schmidt zu erkundigen … er hieß doch
Schmidt? Dafür fehlt mir einfach die Zeit.
Da ich aber nun anscheinend seine Tour
fahre, wurde er womöglich entlassen oder
aber er ist krank, oder was auch immer.
Paket ist Paket und Brief ist Brief. Letztlich
ist es doch egal, wer es zu Ihnen bringt.
Meinen Sie nicht?«
Frau Ginster hob ihre Augenbrauen und
schüttelte unmerklich ihren Kopf. »Könnten
26
Sie bitte eine Ausnahme machen? Der Herr
Schmidt ist doch so ein sympathischer
Mensch und ich fände es schlimm, wenn
ihm
Derartiges
geschehen
wäre.«
Unterdessen nahm sie das Paket an sich und
stellte es auf den Schuhschrank aus
Kirschbaumholz, der in der Diele stand.
Anschließend rückte sie das gestickte
Schrankdeckchen zurecht. Durch das Paket
war es ein wenig verrutscht. Frau Ginster
bewegte sich wie in Zeitlupe und hoffte,
dass Herr Landlunge auf diese Weise
ausreichend Zeit fände, um noch einmal
über
Herrn
Schmidts
Verbleib
nachzudenken. Doch an dem war es
keineswegs.
»Frau Ginser? Würden Sie bitte hier, dort
und dort … und hier unterschreiben?« Sie
sah enttäuscht zu ihm auf. »Ginster ist mein
Name,
Ingeborg
Ginster.
Vier
Unterschriften? Oh natürlich, vier …
entschuldigen Sie.«
Postbote
Landlunge
hielt
ihr
das
Klemmbrett entgegen und zeigte auf die
Stellen, wo es zu unterschreiben galt. Dafür
reichte
er
ihr
seinen
gelben
Postkugelschreiber, welchen Frau Ginster
mit einem erfreuten Blick annahm.
Allerdings hatte sie keinerlei Ahnung, wie
bei diesem Stift der klickende Drücker für
die Kugelschreibermine zu betätigen war.
»Herr Landlunge, ihr Kugelschreiber besitzt
keinen solchen Klicker, Sie wissen schon,
um mit ihm schreiben zu können? Es tut mir
leid, mit solch neumodischem Kram habe
ich nichts am Hut. Der Herr Schmidt
allerdings, der würde wissen, wie so etwas
funktioniert. Der weiß das mit Sicherheit,
könnten Sie ihn nicht vielleicht befragen,
wenn Sie ihm nachher begegnen?«
Da sie keinerlei Antwort erhielt, wollte sie
soeben ihren eigenen Kugelschreiber holen
gehen - allerdings hätte es womöglich sein
können, dass just auf ihrem Weg in die
Küche dem Postboten eingefallen wäre, was
es mit ihrem Lieblingspostboten auf sich
hatte. Für Herrn Schmidt überwand sie sich
schließlich und blickte fragend und
abwechselnd Herrn Landlunge und den
Kugelschreiber an.
Offensichtlich genervt zog der Postbote
seinen Blick vom Hausinneren weg und
richtete ihn auf Frau Ginsters Hand.
»Drehen Sie … ach, geben Sie mal her …
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Sie müssen an der Spitze drehen, dann
kommt die Mine heraus. Sehen Sie …
drehen … d r e h e n …«. Mit einer nervösen
Hand wischte er sich über seine Stirn. »Puh,
richtig heiß heute, und das Auto blieb auch
noch auf halber Strecke liegen. Es dauerte
eine Stunde, bis Ersatz vor Ort war und eine
weitere halbe Stunde, bis wir die Pakete
umgeladen hatten. Das war vielleicht eine
Hetzerei.«
Frau Ginster ihrerseits ließ sich keineswegs
hetzen. Sie konnte sehr langsam schreiben,
wenn sie es wollte, und manch einer würde
es nicht für möglich halten, wie lange
jemand tatsächlich für solch eine kurze
Unterschrift benötigen konnte. Nach der
zweiten Unterschrift zögert sie einen
Moment und sah auf. »Dürfte ich Sie noch
einmal darum bitten, sich nicht vielleicht
doch zu erkundigen, was mit Herrn Schmidt
genau geschehen ist?«
Statt einer Antwort zuckte eines der Augen
des Postboten und fordernd wackelte er am
Klemmbrett. Das war Zeichen genug und in
Ingeborg Ginsters Kopf rumorte es, während
sie zwei weitere Unterschriften leistete.
›Ingeborg, was ist denn, wenn der Kerl
genau weiß, wo sich mein Herr Schmidt
befindet und es mir nur nicht erzählen will?‹
Warum war Frau Ginster derart von diesem
Postboten namens Schmidt besessen? Herr
Schmidt war einfach jemand, der sich stets
danach richtete, wann Frau Ginster ihre
Duschtage anzuberaumen pflegte. An diesen
Tagen verlegte er sie an das Ende seiner
Tour. Für solcherlei Rücksichtnahme
wartete stets ein Glas Orangensaft auf ihn.
Im Gegenzug brachte er wiederum Zeit für
ein Schwätzchen mit. Das war eigentlich die
ganze Kunstfertigkeit, die nötig gewesen
war, um Frau Ginster für sich zu gewinnen.
Als sie den Kugelschreiber zum vierten Mal
absetzte, riss ihr der Postbote geradezu das
Klemmbrett aus den Händen und überprüfte
akribisch jede einzelne ihrer Unterschriften.
Kurz darauf verzog sich sein Mund zu
einem schiefen Grinsen. »Soo, ich danke
Ihnen. Das war doch nicht weiter schlimm?
Bis zum nächsten Mal, Frau Ginser. Oh,
Frau G i n s t e r …« Seine Augen flackerten
aufgeregt, während er auf eine Regung
ihrerseits lauerte.
Sie schüttelte schweigend ihren Kopf, was
etwas darüber hinwegtäuschte, dass es für
30
sie selbstverständlich schlimm, geradezu
unerträglich war, über den Verbleib ihres
Herrn
Schmidt
nicht
genauestens
unterrichtet worden zu sein. Zudem sah sie
sich plötzlich in Zeitnot. Sie fasste sich ein
Herz. Kein Postbote würde jemals einem
Glas gekühlten Orangensaft widerstehen
können. »Herr Landlunge, mögen Sie
vielleicht hereinkommen? Dort wartet ein
Gläschen gekühlter Orangensaft auf Sie.«
Der Postbote stand jedoch steif da, während
er sich das Klemmbrett unter seinen Arm
schob. »Landau, L a n d a u, mein Name und
nein, ganz gewiss nicht. Ich muss
schnellstens weiter. Ich bin ohnehin schon
viel zu spät dran, und die Pakete verteilen
sich nicht von selbst.«
Diese Antwort traf Frau Ginster doch sehr.
»Das ist jammerschade. Der Herr Schmidt,
Ihr Kollege, mag jedenfalls meinen
Orangensaft über alles.« Sie blickte an sich
hinunter und zog den Gürtel ihres
Bademantels fest. »Vielleicht bringen Sie
das nächste Mal einfach etwas mehr Ihrer
kostbaren Zeit mit?«
Postbote Landau verzog seinen Mund
abermals zu einem schiefen Lächeln und
schüttelte seinen Kopf, während er auf ihre
Duschhaube starrte. »Ich denke eher nicht.
Es gibt reichlich zu tun. Schönen Tag auch.«
Auf der Stelle wandte er sich um und ohne
noch einmal zurückzublicken, lief er in
Richtung Gartentor. »Tag auch …«, knurrte
Frau Ginster ihm leise hinterher. »Herr
Schmidt blickt stets noch einmal zurück und
das nicht, um sich neugierig umzusehen, wie
jemand haust. Was stimmt mit dem nur
nicht? Jeder Postbote mag Orangensaft …«.
Während sie durch die Tür ging, zischte sie
weiterhin Unverständliches. In ihrem Haus
angelangt ließ sie die schwere Haustür von
selbst in das Schloss fallen. So rasch es ihr
möglich war, lief sie daraufhin an das
Küchenfester. Unterwegs ergriff sie die
Kittelschürze und zog sich den mittlerweile
zu warm gewordenen Bademantel aus. Vom
Fenster aus beobachtete sie Postbote
Landau, wie er ein weiteres Paket dem
Postauto entnahm und drei Gartentore weiter
auf den Klingelknopf drückte.
Unerwartet entdeckte Frau Ginster dort
Helmut, der ausgerechnet bei diesem
Nachbarn eine Pause seines morgendlichen
Raubzugs eingelegt hatte. Dazu hatte sich
Helmut räkelnd auf dem Gartenweg der
32
Familie Nascher niedergelassen. Landau
kam ihm bereits verdächtig nahe. »Ach
herrje, er wird doch nicht über Helmut
stürzen!?« Kurz darauf sah es jedoch so aus,
als ob Landau knapp an ihm vorbei laufen
würde. »Gott sei Dank, ich dachte bereits,
dass der Postbote … nicht auszudenken, ein
Unfall, in den mein Helmut verwickelt ...«.
Plötzlich erschrak Frau Ginster, als sie sah,
dass sich Landau unerwartet doch auf
Helmut zubewegte. Ihr wurde es ganz heiß
und sie ahnte bereits Schlimmes.
Augenblicke später geschah es bereits und
sie musste hilflos mit ansehen, wie Helmut
vor die Füße des Postboten geriet und mit
einem kräftigen Tritt aus dem Weg befördert
wurde. Helmut hatte wohl etwas Futter oder
eine kraulende Hand und schon gar keinen
tretenden Fuß erwartet. Sein Buckel war
noch immer ganz krumm, als er sich einen
halben Meter hoch und weit durch die Luft
bewegte. Auf dem Boden zurückgekehrt
setzte er sich umgehend auf seinen
Katerhintern und leckte aufgeregt zwei-,
dreimal die Stelle, an der er getroffen
worden war.
Helmut erholte sich rasch von dieser
beispiellosen Enttäuschung. Doch es gab
nun keinerlei Grund mehr für ihn, länger als
irgend nötig an diesem Ort zu verweilen.
Frau Ginster biss sich derweil in ihre Faust
und redete beruhigend auf sich ein.
»Helmut, du hast dich keine Sekunde zu
früh von diesem Ausflug erholt … wenn ich
nur zwanzig Jahre jünger … und hätte es
eher mitbekommen ... ich hätte mich
umgehend zwischen Landzunges Fuß und
dich geworfen … beinahe bereue ich es,
dass ich mich gegenüber Unbekannten etwas
zurücknehmen wollte und mich um den
Postboten gesorgt habe. Mit Anlauf in den
Allerwertesten hätte ich dem treten sollen!«
34
Kapitel 2
Kurz darauf war Helmut zwei Gärten weiter
gezogen. Als der Postbote ohne zu halten an
diesem Garten vorbeifuhr, gab es für sie
keinerlei Grund mehr, länger am
Küchenfenster zu verweilen. Sie wandte sich
um, zog sich ihre Schürze zurecht und war
fürs Erste beruhigt. Kurz entschlossen eilte
sie in das Wohnzimmer und setzte sich in
den Beistellsessel, der neben dem
Telefontischchen stand. Wütend griff sie
sich den Hörer des Telefons und das
Notizbuch, in dem alle wichtigen Nummern
verzeichnet waren. Ihre Finger wirbelten
durch die Seiten des winzigen Buches.
»Naturzäune
Ehmke
…
naturnahes
Katzenfutter
…
naturidentisches
Katzenfutter Plauder … Mäusespielzeug aus
Katzenfell … ach nein, Katzenspielzeug aus
naturidentischem Mäusefell … ach, zu weit
… ach, hier … Nascher.« Unruhig erhob sie
sich wieder aus dem Beistellsessel, und
während sie die einzelnen Nummern
geradezu einhämmerte, erfüllte ein beinahe
unheimliches Summen das Wohnzimmer.
»Him, him, hmm, hmmm, him, him, hum,
ham.«
Bei „ham“ drückte sie derart beherzt auf den
Tastenblock des Telefons, dass dieses ein
Stück weit »Ach herrje, Ingeborg!«
verrutschte und an der Schnur hängend
hinabglitt. »Siehst du? Das habe ich
irgendwann einmal kommen sehen. Es steht
nun einmal nicht direkt auf dem
Telefonbeistelltisch und somit sicher. Nein,
ein Spitzendeckchen musste unter das
Telefon drapiert werden.« Sie hob das
Telefon wieder auf den Beistelltisch, und
nachdem sie sich einen genaueren Überblick
über die Standfestigkeit verschafft hatte,
hielt sie sich beruhigt den Hörer an ihr Ohr.
Es tutete bereits.
Es tutete ein weiteres Mal.
Vorsichtig zog sie Deckchen und Telefon
wieder in die alte Position.
Es tutete abermals.
Sie räusperte sich und wurde bereits etwas
ungeduldig, als es endlich im Telefonhörer
knackte:
»Nascher?«
36
»Ja, ach der Herr Nascher. Guten Tag,
Ginster am Apparat, Ingeborg Ginster, von
weiter nebenan, wissen Sie … aus der
Fünfundsechzig. Recht lange haben Sie
mich eben warten lassen … allerdings rufe
ich deswegen nicht bei Ihnen an. Sie kennen
mich sicherlich noch oder aber Sie kannten
meinen Mann. Sie wissen doch, der Ärmste
verstarb schon vor langer Zeit an dieser
schlimmen Kunstgrasallergie.«
»Guten Tag, Frau Ginster. Ihr Mann? Ja, der
ist mir bekannt. Ich sah ihn ab und an, als er
das Haus verließ und ansonsten … Naja, Sie
wissen, wie das ist unter Nachbarn. Man
sieht sich hier und da, und das war es
eigentlich auch schon. Was gibt es denn, wo
brennt es?«
»Ja, es brennt die Luft, das kann ich Ihnen
sagen. Eine Unverschämtheit sondergleichen
ist das. Ich hoffe, Sie haben diesem
Landlunge mal ordentlich die Meinung
gegeigt?«
Herr Nascher räusperte sich. »Was hat denn
der Junge wieder angestellt? Haben Sie ihn
beim Rauchen erwischt? Na, der Bengel soll
mir mal nach Hause kommen.«
Frau Ginster wusste zwar nicht, wie Herr
Nascher darauf kam, doch packte sie gleich
einmal die Gelegenheit beim Schopfe. »Ihr
Sohn? Ja, dem geigen Sie mal ordentlich
Ihre Meinung. Letztens habe ich ihn diese
neumodischen Kopfhörer tragen sehen. Die
Jugend von heute hört lieber Musik, statt
den Erwachsenen zuzuhören. Zu meiner Zeit
waren es wenigstens noch Schwarze, die
schöne Musik gespielt haben. Heute spielen
schöne Menschen schwarze Musik und
beten dabei sogar noch den Teufel an. Wo
das noch mal enden soll? Und wo bitte geht
denn der Ärmste zum Friseur, er sieht ja
schrecklich aus, Ihr Junge. Dass solch ein
hübscher Junge sich derart verunstalten
lassen muss.«
»Ja nun … beim Rauchen haben Sie ihn
allerdings nicht erwischt?«
»Ach, der Bengel raucht auch noch? Ich
glaube, Sie haben ihn verloren, Herr
Nascher. Er ist sicher längst einer Sekte
beigetreten oder, bei Weitem unerfreulicher,
diesen Wachturmzeugen.«
»Nun ja, wir sind kürzlich ebenfalls den
Zeugen beiget … weswegen rufen Sie
eigentlich an, Frau Ginster? Doch nicht, um
38
mir zu sagen, dass mein Junge Musik hört
oder um zu erfahren, welcher Kirche wir
beigetreten sind?«
»Nein, ich würde mir kein Urteil über die
Mitglieder einer Kirche erlauben. Wenn es
denn Mitglieder einer Kirche sind und
keiner Sekte. Haben Sie möglicherweise
gesehen, dass mein Helmut getreten wurde?
Ich benötige einen Zeugen, um Anzeige bei
der Polizei zu erstatten.«
»Nein, ich habe nicht gesehen, wie ein
Helmut getreten wurde. Sollte ich dies
gesehen haben?«
»Helmut saß doch auf Ihrem Gehweg und
wurde vom Postboten getreten. Das müssen
Sie doch gesehen haben. Ich bitte Sie!«
»Nein, ich habe den Postboten niemanden
treten sehen und erst recht saß niemand auf
meinem Gehweg?«
»Hören Sie, welche Verschwörung ist dort
im Gange? Auf Ihrem Gehweg wurde mein
Helmut getreten und Sie wollen von alldem
nichts gesehen haben? Ist der Postbote
möglicherweise
Mitglied
in
Ihrer
Sektenkirche?
Haben
Sie
ein
Schweigegelübde ablegen müssen? Mir
können Sie es doch sagen. Ich nehme es
Ihnen nicht krumm. Wir machen doch alle
mal Fehler.«
»Nein, und ich wiederhole, nein. Hier auf
meinem Gehweg wurde niemand getreten.
Ich muss jetzt auch zur Arbeit und wünsche
Ihnen
weiterhin
eine
angenehme
Geisterjagd!«
»Könnten wir nicht wenigstens so tun, als ob
Sie es gesehen hätten? Es wäre mir eine
große Freude, und ich würde es Ihnen nicht
vergessen. Herr Nascher, kommen Sie
schon. Anderen etwas vorzumachen dürfte
Ihnen doch nichts Unbekanntes sein? …
Hallo? Halloo? Hallo, Herr Nascher?«
Es tutete bereits im Hörer. Doch dieses Mal
hatte dieses Tuten etwas Endgültiges und
Verzweifeltes an sich. Erschöpft ließ sich
Frau Ginster in den Beistellsessel fallen, und
während sie über ihre weiteren Schritte
nachdachte, tippte ihr Zeigefinger auf dem
Spitzendeckchen herum. Sie beobachtete,
wie sich kleinste Knitterfalten unter ihrem
Finger bildeten und sie fühlte, wie sich auch
in ihr diese Unordnung breitmachte.
40
Schließlich entschloss sie sich dazu, eine
weitere Front zu eröffnen und wählte die
Nummer, die ihr bereits hinreichend bekannt
war. Die Nummer der Beschwerdestelle des
Postamtes. Sie war ganz aufgeregt, als sie
den Telefonhörer in die Hand nahm. In
wenigen Momenten würde sie dorthin einen
Draht legen, wo ihr Herr Schmidt ständig
ein- und ausging. Während sie den Hörer an
ihr Ohr nahm, konnte sie beinahe ihr Herz
schlagen hören.
Es tutete im Hörer.
Es tutete ein zweites Mal.
»Ingeborg, bring dich zur Räson, du willst
nicht wieder Ärger mit dem Postamt …«
Es tutete ein drittes Mal.
Es klickte im Hörer.
»Beschwerdestelle Post, Schirmherr am
Telefon.«
»Ja, weshalb haben Sie mich so lange
warten lassen? Guten Tag, Ingeborg Ginster
am Apparat. Vergessen Sie es, das war nicht
der Zweck meines Anrufs. Ich möchte mich
allerdings über einen Ihrer Mitarbeiter
erkundigen. Herr Schmidt, ich wiederhole,
Herr Schmidt … Schmidt.«
»Ja … von wo aus rufen Sie denn an?«
»Ich rufe aus Oberklang an. Ingeborg
Ginster, Oberklang an der Unteraue,
Brombeerstrauchweg 65.«
»Einen Moment, ach ja … gibt es denn ein
Problem?«
»Ja, es gibt durchaus eins. Ich möchte
wissen, was mit Herrn Schmidt geschehen
ist. Ist der Ärmste krank oder wurde er gar
entlassen? Er ist derjenige, der mir
ansonsten die Post vorbeibringt, und mit
dem jetzigen Postboten, Herrn Landlunge …
Landau, mag ich mich nicht, so schwer es
mir fällt, anfreunden. Er quält Katzen und ist
unhöflich … und will mir partout nicht
erzählen, wo Herr Schmidt abgeblieben ist.«
»Warten Sie einen Moment. Bleiben Sie
solange am Apparat.« Frau Ginster nickte
und spielte derweil mit einer Hand
„Däumchen drehen“. Plötzlich raschelte
wieder etwas im Hörer. »Unsere Mitarbeiter
sind nicht befugt, aus den Interna der Post
zu berichten. So leid es mir tut, doch Herr
42
Landlunge-Landau hat in diesem Fall
vollumfänglich richtig gehandelt.«
Frau Ginster starrte erbost in die Luft. »Sie
meinen, es ist richtig, dass er Katzen quält?«
»Kein Mitarbeiter der Post quält Katzen, da
müssen Sie sich verguckt haben.«
»Er hat den Helmut doch getreten. Ich habe
es mit eigenen Augen beobachten können.
Ich möchte Sie daher bitten, ihn umgehend
zu entlassen und Herrn Schmidt stattdessen
die Post bringen zu lassen. Wären Sie bitte
so freundlich?«
»Er hat einen Herrn Helmut getreten? Ich
dachte, es wäre eine Katze? Passen Sie auf,
ich notiere mir, dass Herr Helmut getreten
wurde. Sollte in den nächsten Tagen eine
Anzeige hier eintreffen, werde ich es
umgehend
an
den
Bezirksleiter
weiterreichen.«
»Ja … selbstverständlich … das wird sie mit
Sicherheit … die Anzeige … damit wäre
dann alles geklärt. Ich entschuldige mich für
die in Anspruch genommene Zeit und
bedanke mich bei Ihnen im Voraus. Sie
werden froh sein, wenn Sie den Herrn
Landlunge los sind, er bereitet Ihnen
ohnehin nur Ärger.«
Erleichtert legte Frau Ginster den
Telefonhörer auf und ließ sich abermals
erschöpft an die Rückenlehne fallen.
Plötzlich fiel ihr brennend heiß etwas
anderes ein. Sie sprang auf und lief hastig
erschrocken vor den Dielenspiegel. Dort hob
sie vorsichtig die Duschhaube von ihrem
Kopf, und als sie mit Schrecken entdeckte,
was durch die Sonne angerichtet worden
war, gelangten ihr drei gezischte Worte über
ihre Lippen.
»Dieser Esel Landlunge!«
Weitere solcher Worte wären ohnehin
überflüssig gewesen, denn sie beschrieben
recht gut, was sie in diesem Moment
empfand. Durch die Hitze unter der
Duschhaube hingen feucht glänzende
Strähnen ihres einst so »schillernden
Haares« bis weit über die Stirn herab. Sonst
»nahezu perfekt gewellt«, glich ihr Kopf
nun einem dieser »Plastikköpfe, an denen
ein Friseurlehrling seinen ersten Schnitt
üben darf«. Verzweifelt hob sie einzelne
»Haarleichen« an und versuchte, mit einer
Rundbürste zu retten, was längst nicht mehr
44
zu retten war. Letztlich gab sie auf, wusch
ihren Kopf, und während sie dieses »einzige
Trümmerfeld«
um
eine
Vielzahl
voluminöser
Lockenwickler
drehte,
versprühten ihre Augen Verachtung und
Hass.
»Was du meinem Helmut angetan hast, wirst
du bereuen. Was du mir und meinem
Duschtag angetan hast ebenso.«
Es dauerte eine geraume Zeit, bis sie diese
»Fronarbeit eines Friseurknechts« beendet
hatte. Doch letztlich war sie irgendwann
soweit und sank abermals in den
Beistellsessel. Beherzt griff sie zum Telefon.
Im Hörer rauschte es und sie wählte die 110.
Bereits nach dem ersten Klingelzeichen
knackte etwas in der Leitung. Davon
überrascht lauschte Frau Ginster still.
»Polizeirevier Oberklang,
Spatzeck. Guten Tag!«
Wachtmeister
Frau Ginster zuckte zusammen. »Guten Tag
auch … Ingeborg Ginster … Ginster am
Apparat …«. Plötzlich war sie sich nicht
mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen
war, bei der Polizei anzurufen.
»… ja, worum geht es … weswegen rufen
Sie an? Hören Sie, das hier ist das
Polizeirevier. Hier ruft man nicht zum Spaß
an.«
Doch sie fasste sich ein Herz. Immerhin
ging es nicht um irgendwen, sondern um
ihren Helmut und um Herrn Schmidt. Sie
hörte es abermals im Hörer knacken.
»Frau
Ginster
am
Apparat,
Brombeerstrauchweg 65, Oberklang.«
»Ja, das sehe ich hier, Frau Ginster. Worum
geht es nun!?«
»Ich möchte Anzeige erstatten gegen einen
Herrn Landlunge … Landau.«
»Ah ja … einen Moment …«
»Der Helmut wurde von einem Postboten
getreten und ich möchte nun Anzeige gegen
diesen Unhold erstatten.«
»Ist der Täter noch vor Ort, wird er
festgehalten?«
»Nein, der Täter hat den Tatort verlassen. Es
war der Postbote, wissen Sie, … der Herr
Landau.«
46
»Kann der Herr Helmut laufen oder befindet
er sich im Krankenhaus?«
»Helmut ist zurzeit nicht da, und soweit ich
gesehen habe, kann er sehr gut laufen.«
»Ja, dann kommt Herr Helmut am besten her
und erstattet persönlich Anzeige. Am
Telefon geht das nicht und außerdem sollte
er, wenn schon, persönlich anrufen, wenn es
ihn betrifft. Oder ist ihm das nicht mehr
möglich?«
»Deswegen rufe ich ja an. Wenn er nach
Hause kommt, legt er sich meistens gleich
hin, und es wird mir kaum mehr möglich
sein, mit ihm persönlich bei Ihnen
vorbeizukommen. Er hört ohnehin nicht auf
mich und wenn, dann hört er nur die
Türklingel und die Dose, die ich für ihn
öffne. Er ist eben alt und ein Starrkopf.«
»Wohnt denn der Herr Helmut bei Ihnen, ist
er ein Bekannter?«
»Ja, selbstverständlich wohnt er bei mir.
Eigentlich ist er nur auf der Fluch… Raub
… Durchreise, wissen Sie. Ich bin eine alte
Dame, mir gelingt es nicht mehr, den
Helmut zu Ihnen zu bringen. Dazu habe ich
einfach nicht die Kraft.«
Während des Telefonierens schoss es Frau
Ginster durch den Kopf. Beinahe hätte sie
ihren Helmut, der sich auf einem seiner
Raubzüge befand, an die Polizei verraten.
»Er muss schon persönlich in das Revier
kommen. Anders geht es nicht.«
»Ja, selbstverständlich. Ich werde es ihm
sofort sagen, wenn er nach Hause kommt,
versprechen kann ich Ihnen jedoch nichts.
Ich wünsche einen angenehmen Tag, Herr
Wachtmeister. Auf Wiederhören!«
Rasch wie selten zuvor und mit einem
kräftigen Fingerdruck beendete Frau Ginster
das Telefonat, indem sie den Unterbrecher
betätigte. Hoffentlich war es noch
rechtzeitig, bevor der Anruf zurückverfolgt
werden könnte. So hatte sie es einmal in
einem Spielfilm gesehen, und nur, wenn das
Gespräch unter den magischen 30 Minuten
blieb, war es nicht zurückzuverfolgen. Doch
als sie nun darüber nachdachte, kam es ihr
bereits wie Stunden vor, die sie mit Herrn
Spatzeck telefoniert hatte.
48
»Ingeborg, das war reichlich unbedacht von
dir. Wie konnte ich für Herrn Schmidt
beinahe Helmut verraten?«
Sie wurde ganz still, und plötzlich fühlte sie
sich allein gelassen von sämtlichen
Beschwerdestellen, der Polizei und allen
Bezirksleitern. Es half alles nichts, sie
musste die Dinge nun selbst in die Hand
nehmen. Sie stand auf und ging in die
Küche. Dort riss sie geräuschvoll einen
Zettel vom Notizblock ab, legte den Zettel
auf den
Küchentisch,
ergriff den
Kugelschreiber und schrieb in ihrer typisch
krakeligen Handschrift „den Postboten im
Auge behalten und nach Herrn Schmidt
erkundigen“.
Diesen Zettel nahm sie und ging zum
Kühlschrank hinüber. Dort positionierte sie
ihn sorgsam neben vielen anderen Zetteln,
die dort bereits hingen, und griff sich einen
der Kühlschrankmagneten. Nach kurzem
Überlegen entschied sie sich für den blauen
Magneten in Katzensilhouettenform.
Wenige Minuten später kehrte durch das
Küchenfenster und längst sehnlichst erwartet
Helmut heim. Nachdem er gierig eine
mittelgroße
Portion
Katzenfutter
verschlungen hatte, erzählte er aufgebracht
und gebärdenreich, was er unterwegs hatte
durchleiden müssen. Er sparte keineswegs
an den Details und suchte händeringend
Trost an diesem, seinem wohl liebsten
Zufluchtsort.
Nein, selbstverständlich erzählte Helmut ihr
nichts von alledem, denn seit jeher war seine
Sprachbegabung,
ähnlich
seiner
Hörbegabung, recht eingeschränkter Natur.
Doch war es heute nicht so, dass sich seit
seiner Heimkehr sein Rücken ganz
besonders eng an Frau Ginsters Hand
anschmiegt hatte? »Du musst auch nicht
reden, Helmutchen. Ich weiß längst, was dir
draußen widerfahren ist. Und wenn ich dich
so ansehe, hoffst du insgeheim längst auf
eine zweite Portion Futter. Pass auf,
nachher, wenn du erwachst, wirst du keinen
Grund
mehr
haben,
mürrisch
dreinzublicken.«
Sie
zog
ihren
Lieblingsstuhl näher an den von Helmut
heran und betrachtete seine Körperseite
eingehend, während sich seine müden
Augen vollständig schlossen.
»Mein Helmut, schade, dass du kein Hund
bist und sei es nur ein ganz kleiner … dann
50
hätte dieser Unhold wenigstens Respekt vor
dir gehabt. Einen weiten Bogen hätte der um
dich herum gemacht. Es tut mir so leid. Ich
werde ihn davonjagen, sobald ich erfahren
habe, wo unser Herr Schmidt abgeblieben
ist. Allerdings müssen wir uns solange noch
gedulden. Ja, und der Herr Ginster, den
kennst du nicht mehr, er ging von mir, noch
bevor du zu mir gekommen bist. Jedenfalls,
der hätte ihn nach allen Regeln
davongescheucht, dessen kannst du dir
sicher sein. Schade eigentlich, dass du ihn
nicht mehr kennengelernt hast. Im
Gegensatz zu seiner eigenen Frau mochte er
nämlich Katzen recht gut leiden. Nein,
Landau wird dir nie wieder etwas antun, uns
bei irgendetwas stören oder für dumm
verkaufen.« So blieb sie noch einige Zeit bei
Helmut sitzen und redete weiterhin mit
beruhigenden Worten auf ihn ein.
Wie war Frau Ginster überhaupt an diesen
beinahe gehörlosen und vagabundierenden
Kater geraten? Gar nicht, denn wie es sich
für einen waschechten Dieb gehörte,
gelangte der Kater zu ihr. Es war zur
Mittagszeit gewesen, als er durch das
Küchenfenster in ihr Haus eingestiegen war.
Dort hatte er sich lauernd unter einem Stuhl
verborgen,
seinem
zukünftigen
Lieblingsstuhl. Frau Ginster war soeben in
ihre Küche zurückgekommen und hatte sich
einen Linseneintopf zu Gemüte führen
wollen, als sie aus dem Stuhlschatten heraus
zwei glühend blaue Augen anzwinkerten.
Nachdem sich ihr anfänglicher Schrecken
etwas gelegt hatte, musterte sie den
diebischen Kater vorsichtig aus der Nähe. Er
hatte sie frech zurückgemustert und um
Unterschlupf und um etwas vom
Mittagessen gebeten, was möglicherweise
auch der Hauptgrund gewesen war, weshalb
er ursprünglich in ihr Haus eingedrungen
war.
Frau Ginster, recht unerfahren in
Katzendingen, hatte gar angenommen, dass
dieser diebische Kater vor irgendetwas oder
irgendjemanden auf der Flucht gewesen sei.
Auf dem Halsband, das er um den Hals trug,
stand sogar sein Name. Insgeheim hatte sich
in ihr bereits die Hoffnung geregt, dass nun
endlich wieder jemand da sein würde, der
ihr zuhören könnte. Und tatsächlich wäre
Kater Helmut auch beinahe der Richtige
gewesen, wenn er, wie gesagt, nicht etwas
mit seinen Ohren gehabt hätte.
52
Der restliche Tag verging rasch, und als es
Abend wurde, begab sich Frau Ginster in
das Schlafzimmer. Dort holte sie ein frisches
Nachthemd aus der Nachthemdenschublade
des Schlafzimmerschrankes, entfaltete es
mit gekonntem Schwung und ließ es
bedächtig auf das Bett herabgleiten. Soeben
wollte sie in die Küche gehen, um Helmut
begreiflich zu machen, dass sie nun schlafen
ginge, da läutete es am Gartentor. Sofort fiel
es ihr brennend heiß ein, wer dort läutete.
Sie atmete einmal durch und fasste sich ein
Herz, denn in Kürze würde sie ein zweites
Mal dieses Paket berühren müssen.
Den gesamten Tag über hatte sie nicht
vergessen können, dass dieses Paket der
Wagner in ihrem Haus und auf dem
Kirschbaumholzschuhschrank der Diele lag.
Längst war sie sich sicher, dass dieses Paket
»Dinge,
unsägliche
Dinge,
die
ausschließlich Frauen des Schlages Wagner
benutzen«
beinhaltete.
»Elektrische,
neumodische Geräte«. Weiter mochte sie am
Nachmittag nicht darüber nachdenken. Es
bereitete ihr Kopfweh und Atemnot. Soeben
schauderte es sie abermals bei dem
Gedanken, dass sie so etwas in ihrem Haus
aufbewahrte. Während ihr Herz bis zum
Hals schlug, lief sie hoch erröteten Kopfes
an die Wechselsprechanlage und wollte
dieses »Paket der Schande« endlich aus
ihrem Hause haben. Es läutete bereits zum
zweiten Mal.
Doch so leicht würde sie es der Wagner
nicht machen, das hatte sie sich geschworen.
Kater Helmut stand bereits bei Fuß und
wartete ungeduldig auf die Fortsetzung
seines Raubzuges. »Ach Helmut, wenn du
ein Hund wärst, dann würdest du ebenfalls
an dieser Stelle stehen. Und statt deinen
Rücken derart zu verbiegen, würdest du
kräftig knurren und keineswegs flüchten
wollen.«
Zum Abschied kraulte sie ihm noch einmal
kräftig den Buckel, denn die nächsten ein bis
zwei Stunden würde sie ihn nicht zu Gesicht
bekommen. Es klingelte zum dritten Mal.
Grund
genug
für
Frau
Ginster,
zusammenzuzucken. »Das ist doch eine
Frechheit ohnegleichen. Die Wagner kann es
wohl nicht erwarten, das dort in ihre Finger
zu bekommen?« Augen rollend räusperte sie
sich, spitzte aufgeregt ihre Lippen und
führte zögerlich den Hörer an ihr Ohr.
»Ja, wer ist denn dort bitte?«
54
Im Hörer knackte es. Ein Rauschen schwoll
an und unterbrach plötzlich. »Hallo, Frau
Ginster?«,
sprach
eine
freundliche
mädchenhafte Stimme. Die Person schien
darüber hinaus zu lächeln. »Guten Abend.
Hier ist Frau Wagner, Ihre Nachbarin von
gegenüber. Ich habe einen Zettel in meinem
Briefkasten gefunden. Auf dem steht, dass
sich ein Paket bei Ihnen befindet. Mein
Paket wohl, und ich möchte es bei Ihnen
abholen.«
»Ja … Ingeborg Ginster am Apparat …
guten Abend auch … einen Moment …«.
Sie streckte ihren Arm weit aus und wartete
einige Augenblicke ab, bevor sie den Hörer
wieder an ihr Ohr führte. »Ja, hier befindet
sich tatsächlich ein Paket … ja, und es ist für
Sie … ich muss wohl vergessen haben, dass
es hier liegt. Einen Moment bitte …«
Nach einigem Suchen fand und drückte Frau
Ginster einmal kräftig den rot leuchtenden
Knopf, der umgehend das Schloss des
Gartentores elektrisch summend entriegelte.
Dieses Summen hörte sie auch im Hörer und
es lief ihr eiskalt den Rücken herunter. Im
nächsten Moment fiel es ihr wieder ein, was
sie sich einige Abende zuvor auf einen der
Kühlschrankzettel
notiert
hatte:
„Nächtliches
Fernsehprogramm
überdenken“. Als sie sich diese Erinnerung
geschrieben hatte, konnte Frau Ginster die
allnächtliche nackte Haut und die sich
ständig wiederholende Reklame für
»neumodische, elektrische Geräte der
Schande« nicht länger ertragen.
Beinahe gleichzeitig öffneten sich Gartentor
und Haustür. Helmut juckte es plötzlich am
Rücken und er versuchte in der Zeitnot, die
vermaledeite Stelle, von der aus das
Juckgefühl streute, zu finden. Ebenso
verzweifelt suchte Frau Ginster den
Gartennachtlichtknopf. Den benutzte sie
einfach zu selten. Doch endlich fand sie ihn,
und als hätte sie es geahnt, befand sich der
blau leuchtende Gartennachtlichtknopf
direkt neben dem rot leuchtenden
Gartentorknopf. Sie war erleichtert und
drückte umgehend einmal kräftig diesen
Knopf, der das elektrisch knisternde
Gartennachtlicht entzündete. Das Licht
flackerte noch etwas nach, während Frau
Ginster tief Luft holte und Worte der
Warnung in Richtung Gartentor rief:
56
»Frau Wagner? Ich bitte Sie, noch etwas zu
warten, bis das Gartennachtlicht seine volle
Leuchtkraft entfaltet hat. Das dauert nur
wenige Augenblicke.«
Doch
längst
hallte
»klapperndes
Schuhwerk« durch die Nacht und näherte
sich zielstrebig ihrem Haus. Konturen der
Frau Wagner erschienen im Kegel des
Lichts. Ein langer Mantel umwehte eine
große schlanke Gestalt. Als sie sich den
Stufen näherte, die zur Haustür führen, lief
ihr der von seinem Juckreiz befreite Helmut
entgegen. Erhobenen Schwanzes lief er
einen mittleren Bogen um sie herum und
verschmolz ein Stückchen weiter im Garten
mit der Schwärze der Nacht.
»Sie sollten sich das nächste Mal ein
Beispiel an Helmut nehmen. Er hat
wenigstens gewartet, bis das Licht
einigermaßen leuchtet. Sie hätten nicht in
der Dunkelheit umherirren und ebenfalls
warten sollen. Es dient nur Ihrer Sicherheit
... nicht auszudenken … ein Unfall auf
meinem Gartenweg.« Frau Ginsters Stimme
senkte sich mit dem Abstand der
herannahenden Frau Wagner. Der leichte
Abendwind hatte bereits eine Wolke des
üblichen »Wagnerparfums« zu ihr getragen.
»Ach, Frau Ginster, ich komme soeben von
der Arbeit und habe nicht den ganzen Abend
Zeit, um auf Ihr Licht zu warten. Sehen Sie,
es hellt sich doch noch immer auf und ich
konnte sehr gut auch so Ihren Gartenweg
erkennen. Es ist allerdings lieb, dass Sie sich
sorgen, und dass Sie mein Paket
entgegengenommen
haben
selbstverständlich auch.«
Frau Ginster tat überrascht. »Ach, Sie sind
wegen Ihres Paketes hier? Ja, natürlich,
warum auch sonst … einen Moment.«
Zögernd überwand sie ihre Abscheu vor
dem Paket und griff beherzt zu. ›Nur raus
damit aus meinem Haus.‹
»Ich wollte mich soeben zu Bett begeben,
als es läutete. Das waren Sie dann wohl …
na, wer auch sonst, ich Dummerchen. So
und hier ist es auch schon.« Während sie das
Paket an Frau Wagner übergab, hielt sich
Frau Ginster geradezu an dem Paket fest.
»Das ist überaus freundlich von Ihnen.«
Schüttelnd und aufmerksam das Gewicht
prüfend verstaute Frau Wagner das Paket
58
unter ihrem Arm. »Ach, das sind mit
Sicherheit die Kassetten meines Freundes.
Da hat der sich letztens doch tatsächlich eine
dieser neumodischen Videokameras gekauft.
„Hi acht Sonie“ oder wie auch immer das
heißt. Und seitdem er das Ding hat, filmt er
einfach alles damit. Und damit meine ich
alles, was Sie sich vorstellen können.«
Während Frau Wagner genervt ihre Augen
rollte und den Kopf schüttelte, blickte Frau
Ginster erschrocken und schüttelte ebenfalls
ihren Kopf. »Und seitdem nervt er mich
ständig damit. Ich selbst mag allerdings nur
ungern gefilmt werden, doch ihm zuliebe
lasse ich ihn machen. Soll er doch seinem
Hobby nachgehen. Er schneidet es im
Nachhinein, nicht mit der Schere, es heißt
trotzdem so, sagt er … jedenfalls wollte er
nicht abwarten, bis er wieder bei mir ist, und
hat mir die Filme zugeschickt. Nun ja, ich
sehe es mir nachher an und derweil
telefonieren wir und ich muss ihm erzählen,
wie toll ich seine Filme finde.«
Frau Ginster hatte die ganze Zeit
geschwiegen und fand nur sehr langsam ihre
Worte wieder. »Ach, oh je … natürlich.
Herrje, Frau Wagner.« Sie blickte an sich
hinunter und schloss die obersten beide
Knöpfe ihrer Kittelschürze und strich diese
anschließend mit ihrer flachen Hand glatt.
Offensichtlich unverstanden legte sich Frau
Wagners Stirn in Falten. »Oh je, herrje?
Frau Ginster?«
Frau Ginster sah unterdessen auf und nickte.
»Ach herrje … Ist er noch immer nur Ihr
Freund, Ihr Freund? Sie Arme … möchte er
Sie denn nicht heiraten? Sie sollten den Kerl
schnellstens loswerden. Sie sind doch schon
länger als zwei Jahre mit dem zusammen.
Allerdings könnte es durchaus sein, dass es
ihr sehnlichster Wunsch ist, eines Tages
einen Bastard in die zur Welt setzen? In dem
Fall würde ich mich keinesfalls in Ihre
Angelegenheiten einmischen wollen.«
Entschlossen wandte sie sich halb um, um
Platz für Frau Wagner zu machen.
»Möchten
Sie
nicht
vielleicht
hereinkommen? Auf ein Glas Orangensaft
oder möglicherweise zwei? Wir sollten uns
mal darüber unterhalten, wie Sie Ihren
Freund am schnellsten loswerden.«
Wütend fuhr sich Frau Wagner durch ihr
wild umherfliegendes Haar. »Frau Ginster!?
Warum machen Sie es mir eigentlich jedes
60
Mal derart schwer? Ich wollte einfach nur
dieses Paket bei Ihnen abholen. Können Sie
es mir nicht einfach geben, ich bedanke
mich bei Ihnen und gehe? Mir ist schon
bewusst, dass Sie immer zu Hause sind und
ich nie ein Paket von Ihnen annehmen
könnte … als Ausgleich sozusagen … wie
denn auch … Sie sind doch ständig in Ihrem
Haus!«
Damit war für Frau Ginster die Unterhaltung
beendet. »Ach, ich vergaß, Sie wollten
gehen … Sie haben keine Zeit, wie immer.
Na, wenn mein Helmut und dieser Postbote
nicht wären, hätte ich Ihr Paket ohnehin
nicht angenom…«
»Frau Ginster!«, unterbrach sie Frau
Wagner. »Da Sie Ihren Kater soeben
erwähnen, das trifft sich hervorragend. Ich
fand heute Morgen den Dreck Ihres Katers
auf meinem Rasen. Ich habe es
aufgesammelt und entsorgt. Wissen Sie, wie
das ist, fremden Katzendreck wegmachen zu
müssen?«
»Ja, der Helmut ist viel unterwegs im
Gegensatz zu Ihrer Katze. Möglich, dass er
bei Ihnen nach einem neuen Zufluchtsort …
Behausung gesucht hat. Sie sollten etwas
netter zu ihm sein und ihn ruhig auch mal zu
sich lassen. Ich nehme an, hier bei mir ist er
nicht allzu gern.«
Mit ihrem ausgestreckten Finger zeigte Frau
Wagner in die Richtung ihres Gartens.
»Hören Sie, erwische ich Ihren Kater dabei
oder finde Dreck auf meinem Rasen, rufe
ich das Ordnungsamt an und anschließend
die
Tierfänger.
Haben
Sie
mich
verstanden?«
Frau Ginster zeigte ebenfalls in diese
Richtung. »Mein Helmut ist ein viel
beschäftigter Kater. Genau wie Sie ist er den
größten Teil des Tages unterwegs. Er macht
nur das, was die Natur ihm vorgibt. Wie soll
ich ihn davon abhalten? Verstehen Sie?
Ohnehin ist er manchmal griesgrämig und
hört nicht darauf, was ich ihm sage.
Eigentlich hört er nur die Dose, die ich ihm
öffne und die Türklingel. Wir können uns
nur anschauen und ich fühle, dass er da ist.
Was er dabei fühlt, weiß ich allerdings nicht.
Und
wenn
ich
heute
Nacht
außerordentliches Glück habe, schläft er auf
seinem Lieblingsstuhl und nicht wieder
irgendwo draußen. Das ist bereits die
62
gesamte Zuneigung, die Helmut bereit ist,
mir zu geben.«
»Das ist mir egal, sperren Sie ihn ein oder
rufen Sie selbst bei den Tierfängern an. Gute
Nacht!«
Mit einem »Ach!« wandte sich Frau Wagner
um und stolzierte klappernden und
stechenden Schrittes zurück in Richtung
ihres Hauses. Das Letzte, was Frau Ginster
an diesem Abend von ihr zu Gesicht bekam,
war ihr wehender Mantel. Das Letzte, was
sie von ihr zu hören bekam, war ihre
geräuschvoll zugeworfene Haustür. So lange
hatte Frau Ginster noch abgewartet und ging
kopfschüttelnd zurück in das Haus.
Kapitel 3
Nachdem sie die Haustür verschlossen hatte,
löschte sie das Gartennachtlicht und zog das
»beschmutzte
Schrankdeckchen«
vom
Schuhschrank. Still faltete sie es zu einem
winzigen Päckchen zusammen, lief in das
Bad
und
legte
es
in
den
Schmutzwäschekorb. Einen Moment hielt
sie inne und holte es wieder aus dem
Wäschekorb heraus und ging in die Küche.
Dort wollte sie es soeben in den Mülleimer
werfen, als sie es sich abermals anders
überlegte. »Sonderbares zum Sonderabfall«
und so gab sie das Deckchen in das kleine
Müllsäckchen mit den leeren Batterien.
Schließlich ging sie in die Diele zurück und
zog ein frisches Deckchen aus der
Deckchenschublade
des
Dielenschränkchens, legte das Bündel auf
den Schuhschrank und faltete bedächtig eine
Ecke nach der anderen in die vorgesehene
Endposition. Zum Abschluss strich sie, einer
Liebkosung gleich, einige Male mit der
flachen Hand darüber. »Ingeborg, nun hat
alles wieder seine Ordnung. Das ist mir doch
überaus gut gelungen. Nun wird es Zeit für
mich, die Wagner zu vergessen.«
64
Da fiel ihr ein, dass sie sich, sofort, nachdem
die Haustür in das Schloss gefallen war,
etwas notieren gehen wollte, doch war ihr
auf
dem
Weg
dorthin
das
»Schrankspitzendeckchen der Schande«
dazwischen geraten. Selbst mehrmals
gewaschen hätte sie es nicht ertragen
können, wenn es weiterhin in ihrem Haus, in
ihrer Diele, auf ihrem Schuhschrank
herumgelungert hätte. Tatsächlich gab es
nun keinen Grund mehr, die Notiz weiter
hinauszuzögern. Doch als sie die Küche
betrat, wurde sie unversehens von sich selbst
abgelenkt.
Spiegelnd hatte sie sich im Küchenfenster
entdeckt und gab unumwunden zu, dass sie
trotz der Umstände und der Schwierigkeiten
des Tages noch großartig aussah. Sie atmete
durch, ergriff den Kugelschreiber und riss
zögerlich und doch bestimmt einen Zettel
ab. Den Zettel legte sie auf den Küchentisch
und notierte sich … nichts.
Da sie vergessen hatte, den Klicker des
Kugelschreibers zu betätigen, stand auf dem
Zettel
nur
der
„Abdruck
der
Kugelschreiberspitze“. Sie konnte darüber
nur müde lächeln und verstand es darüber
hinaus, mit den Steinen, die ihr in den Weg
gelegt wurden, eine Burg zu errichten. Der
Mörtel war ihr Humor und das Fundament
ihr Selbstvertrauen.
Nach kurzem Suchen fand und drückte sie
einmal kräftig den Klickerknopf des
Kugelschreibers. Anschließend drückte sie
ihn noch einmal, und um sicherzugehen
gleich noch einmal. Dabei beobachtete sie
misstrauisch die Mine, ob diese wirklich
keinen weiteren Schabernack mit ihr trieb.
Als die Mine nun offensichtlich in ihrer
Schreibposition gefangen war, notierte in
ihrer typisch krakeligen Handschrift:
„Ordnungsamt
und
Tierfänger
benachrichtigen.“
Mit dem Zettel ging sie hinüber zum
Kühlschrank und suchte einen gut
einsehbaren Platz für diese Notiz. Zwischen
den vielen Zetteln, die dort bereits hingen,
war jedoch keine Lücke mehr ausfindig zu
machen. Diese Erinnerung sollte doch
wenigstens in Sichthöhe hängen. Mit etwas
Geduld gelang es ihr, den Zettel so zu
positionieren, dass er zwar einsehbar, doch
zu zwei Dritteln über den Rand des
Kühlschranks hinausragte. Mit
dem
66
nächsten Windzug würde er fortgerissen
werden und womöglich unter den
Küchenschrank gleiten. Wie sollte er dort
den Zweck des Erinnerns erfüllen?
Mit einem Seufzer wandte sie sich um, legte
den Zettel auf den Küchentisch und ergriff
den gelben Zettelkarton, der stets neben dem
Notizblock auf dem Küchenschrank stand.
„Nicht mehr benötigte Notizen“ stand
darauf. Gut, dass sie vor einigen Jahren
damit begonnen hatte, die Dinge, die sie
sehr oft benutzte, zu beschriften.
Anschließend las sie eingehend die Zettel,
die am Kühlschrank hingen, um die Zettel,
die nicht mehr benötigt wurden, in den
bereitgestellten Karton zu befördern.
„Wintersocken für die Wagner stricken“
»Tja, wer meinem Helmut droht, der soll
eben leiden. Niemals stricke ich etwas für
eine Katzenrassistin! Ab in den Karton
damit.«
„Wagner darum bitten, weniger telefonisch
einzukaufen“
»Das mit den Pakten hat sich ohnehin
erledigt. Um die Ernte ihrer Kaufsucht
einzufahren, wird sie von nun an jeden
Samstagvormittag mit einem Handwagen
zum Postamt gehen müssen. Ach herrje,
Ingeborg. Dann siehst du allerdings Herrn
Schmidt seltener, falls er demnächst wieder
arbeitet. Nun gut, diesen Punkt werde ich
später noch einmal überdenken.«
„Der Wagner
loszuwerden“
helfen,
ihren
Freund
»Auch hier wird sich in Kürze bestätigen:
Wer nicht hören will, muss leiden. So
ähnlich war doch der Spruch? Ich muss mir
den bei Gelegenheit mal notieren …
vielleicht, wenn Gertrud zum Kaffee
erscheint und eine ihrer hellen Minuten
mitbringt. Der nächste Zettel.«
„Nächtliches
überdenken.“
Fernsehprogramm
»Du kannst ebenfalls in den Karton. Ich
muss erst herausfinden, was auf den
Wagnervideos zu sehen sein könnte. Ach
und Ingeborg, trotz deiner Recherche,
vergiss rasch wieder, was du dort gesehen
hast, sonst wirst du wohl oder übel
umziehen müssen. Denke doch nur an das
Schrankdeckchen, das du nicht mehr
68
ertragen konntest. Nun gut, dennoch ab in
den Karton mit dir zu den anderen Zetteln.
„Rasensprenger Wagner, 15 Uhr anstellen.
Und um 16 Uhr abstellen.“
»Du kennst den Weg … der nächste Zettel
…«
„Herr Schmidt ist wegen einer Frau
unglücklich!“
Ursprünglich wollte sie diesen Zettel
stillschweigend zu den anderen Zetteln
legen. Doch kurz bevor er im Zettelmeer
versank, hielt sie inne. »Ach, der Herr
Schmidt … mein Herr Schmidt. Bestimmt
sehe ich ihn nie wieder … Andererseits wäre
es doch möglich, dass er nur erkrankt ist und
schon bald wieder seine Tour fortsetzen
kann. Möglich, dass sich die Krankheit auch
Monate hinzieht oder Jahre. Warum will
Herr Landzunge mir nicht erzählen, was mit
ihm geschehen ist? Regeln sind doch dazu
da, um gebrochen zu werden.«
Nein, der Zettel war mitnichten einer dieser
Zettel, die in dem Karton verschwinden
durften. Er musste zurück an den
Kühlschrank, und sie entschied sich diesmal
für einen anderen Magneten. Einen roten
Kühlschrankmagneten in Herzform, und so
fand der Zettel seinen neuen alten Platz.
„Den Postboten im Auge behalten und nach
Herrn Schmidt erkundigen“
»Hochaktuell und brisant. Ingeborg, der
Zettel bleibt selbstverständlich dort, wo er
ist.«
So und was haben wir hier?
„Ordnungsamt
benachrichtigen.“
und
Tierfänger
Nachdenklich hielt Frau Ginster inne.
»Ingeborg! Den Zettel schrieb ich doch eben
erst! Ja, das muss doch vorhin gewesen sein!
Der lag doch dort auf dem T … «, sie sah
zum Tisch hinüber. Dort lag jedoch kein
Zettel.
»Hatte ich denselben Zettel schon einmal
geschrieben? Und falls ja, weshalb liegt der
Zettel nicht auf dem Küchentisch? Nein, er
liegt nicht auf dem Tisch. Ich halte ihn doch
in der Hand. Ich könnte schwören, ich hatte
ihn auf den Tisch gelegt. Dieser hier hing
doch eben noch am Kühlschrank?«
70
Nachdenklich
blickte
sie
in
das
Küchenfenster
und
betrachtete
ihr
Spiegelbild. Es war irgendwie verzerrt, und
sie fand sich nun überhaupt nicht mehr
großartig aussehend. Ängstlich geweitete
Augen starrten sie an. Ihr Haar hing strähnig
herunter, als hätte sie es nie um einen
Wickler gelegt. Während sie weiter über ihr
Aussehen
nachdachte,
erkannte
sie
zusätzlich zu ihrem Spiegelbild eine
schemenhafte Gestalt. Diese Gestalt
bewegte sich fließend, beinahe wie ein
Schatten und auch ihr Spiegelbild bewegte
sich. Erst zögernd, dann abgehackt und
plötzlich verschwand es mit einem Ruck
vollständig aus dem Fenster. Klirrend
zerbarst etwas auf dem Boden, und während
sie erschrocken aufschrie und nach unten
blickte, trauerte sie bereits um ihre
Lieblingstasse. Nun erst wurde es ihr
bewusst, dass Helmut heimgekehrt war.
Er stand noch immer auf dem Fensterbrett
und sah sich erhobenen Schwanzes an, was
Frau Ginster dort unten auf dem Boden
angerichtet hatte. Eigentlich sollte sie doch
wissen, dass er sich stets um das angelehnte
Fenster herumschlängelte, und dass er das
Fenster dazu von außen nach innen
aufdrücken musste. Sie wollte doch nie eine
dieser Katzenklappen einbauen lassen. Und
selbst wenn sie eine einbauen ließe, so war
er sich nun sicher, würde er dennoch durch
das Fenster hereinkommen wollen. Viel zu
spannend war die Hektik, die durch sein
unangemeldetes
Heimkommen
ausgebrochen war. Wozu ließ Frau Ginster
denn sonst das Küchenfenster angelehnt und
stellte ab und an eine ihrer derzeitigen
Lieblingstassen dort ab?
Heute Abend war es zur Abwechslung eine
dieser neumodischen Fototassen gewesen.
Nach der zwanzigsten gemeinsamen
Kaffeefahrt war Frau Ginster von Frau
Lisbeth mit diesem außergewöhnlichen
Andenken überrascht worden. »Mädchen,
spüle diese Tasse nicht zu oft«, hatte Frau
Lisbeth sie daraufhin inständig gebeten.
Doch was sollte sie tun, es war doch ihre
derzeitige Lieblingstasse und sie benutzte
sie eben häufig. »Das ist das Zeichen
unserer Freundschaft. Wenn das Foto
ausbleicht, ergeht es unserer Freundschaft
ebenso«, hatte Frau Lisbeth obendrein
orakelt. Längst war das Bild verblichen, aber
ihre Freundschaft war noch ebenso frisch
wie am ersten Tag. Doch da, wo Frau
72
Lisbeth einst so stolz die Wärmedecke in die
Fotokamera gehalten hatte, lagen nun
Dutzende,
gar
Hunderte
kleiner
Wärmedeckchen.
»Was soll ich nur machen? Ach, Helmut,
entschuldige. Ich habe vergessen, die Tasse
fortzuräumen. Ich will nicht hoffen, dass sie
dich allzu sehr verschreckt hat? Ach nein,
verzeih. Ich vergaß einen Moment deine
Gehörlosigkeit und wollte mich keineswegs
über deine Behinderung lustig machen.«
Helmut war nicht eingeschnappt. Er hatte
gar nicht erst versucht, darauf zu hören, was
ihm gesagt wurde. Längst hatte er
wichtigere Dinge in seinem Kopf und die
hatten
vordergründig
mit
seinem
Lieblingsstuhl zu tun. Voller Ungeduld
nahm er den Umweg über den Tisch und im
Sprung sah es keineswegs so aus, als ob er
eine Antwort zu der Tassenfrage parat
gehabt hätte.
Es klapperte metallisch borstig, als Frau
Ginster den Mülleimer beiseite stieß und
Handfeger und Müllschippe unter der Spüle
hervorzog. Eilig lief sie zurück und fegte
selbst die winzigsten Splitter zusammen.
»Ich muss die Tasse schleunigst verstecken,
Helmut. Wenn Gertrud sie am Donnerstag
findet, gibt es gewaltigen Ärger …
gewaltigen Ärger wird es geben. Ach, was
mache ich denn nur? Was ist, wenn Gertrud
ihre Tasse mitbringt und möchte, dass wir
gemeinsam aus unseren Tassen trinken?
Was ist, wenn sie mit mir anstoßen oder
einfach nur vergleichen will, welches von
den Tassenfotos ausgeblichener ist?
Helmut?«
Während des Sprunges musste Helmuts
Blick zufällig auf den leeren Fressnapf
gefallen sein und die Scherbe, die dieser
Anblick in seinem Magen hinterließ, würde
nun erst einmal verdaut werden müssen,
denn er hatte bereits die Augen geschlossen.
»Helmut, du hast dich der Lösung des
Problems auf deine Art angenommen. Ist
recht so, ich werde es dir in Kürze
gleichtun.«
Frau Ginster beförderte die Scherben in den
Mülleimer. Sie stellte Müllschippe und
Handfeger an ihren Platz und ging
anschließend in die Diele. Dort griff sie sich
die Tageszeitung. Ein kurzer Blick darauf
genügte, es war die vom Dienstag. Sie war
74
einfach nicht dazu gekommen, sie zu lesen,
und morgen würde sie ohnehin nicht mehr
aktuell sein. Damit lief sie zurück in die
Küche und legte die Zeitung in den offenen
Mülleimer und zog sie sorgsam über die
Scherben. Nach getaner Arbeit überzeugte
sie sich von der Qualität ihres perfiden
Werkes, indem sie den Deckel auf den
Mülleimer hob, einige Male gegen den
Mülleimer schlug und den Deckel wieder
abhob.
»Nichts zu sehen, außer der Zeitung …
Ingeborg, du bist ein Miststück.«
Das Ganze hatte den alleinigen Zweck
gehabt, dass Frau Lisbeth der direkte Blick
in den Untergrund des Mülleimers verwehrt
bleiben würde. Mit jeweils verschiedenen
Gewichtungen legte sie nun den Deckel auf
den Mülleimer und hob ihn wieder ab und
sah aus unterschiedlichen Blickwinkeln
abermals hinein. Ein letztes Mal setzte sie
ihn auf, um den Mülleimer unter die Spüle
zu schieben. Die Scherben sollten nun selbst
dem geübtesten Auge verborgen bleiben.
Falls Frau Lisbeth wieder die Folie des
Kaffeekuchens entsorgen sollte, warum auch
immer entsorgte stets Gertrud sie, würde
selbst der »geübte Mülleimerblick eines
Aasgeiers« nichts entdecken können.
Bevor Frau Ginster nun in ihr Bett
entschwinden konnte, erfolgte geschwind
Teil zwei ihres teuflischen Plans. Bereits
dreißig Minuten später stand alles, was sie
dafür benötigte, auf dem Küchentisch bereit.
1. Eine ähnliche Tasse wie die Zerbrochene.
Selbstverständlich noch ohne Foto.
2. Ein ähnliches Foto wie das zerbrochene
Foto, allerdings noch ohne Tasse.
»Ingeborg, du hast wahrlich einen
Volltreffer gelandet, als du den Reiseleiter
darum batest, dieses Foto zu knipsen.«
Unter den vielen Fotos von anderen
Kaffeefahrtenfotos hatte sie eines von der
sechszehnten Kaffeefahrt entdeckt, bei dem
jedes Detail übereinstimmte. Es war wie
verhext, als sie es sich genauer betrachtete.
Dieselbe Kleidung, dieselbe Frisur, dieselbe
Wärmedecke. Als ob sie damals schon
geahnt hätte, dass sie dieses Foto
irgendwann einmal benötigen würde.
3. Schere (die sie letztendlich
Spülbecken aufgefunden hatte)
76
im
4. Rolle durchsichtiges Klebeband
Sie sah recht zufrieden mit sich aus, als nach
getaner Arbeit und unter ihrer Hand das
fertige Ergebnis einen langsamen Walzer
auf dem Tisch tanzte. »Wenn ich die Tasse
nur schnell genug bewege, merkt Gertrud
nichts davon. Ingeborg, du bist manchmal
wahrhaftig ein Biest. Morgen wird die Tasse
den gesamten Tag zum Ausbleichen in der
Sonne
stehen.
Das
sollte
dieses
Fototassenfaksimile
perfekt
machen.«
Erleichtert schwang sie sich auf. »So,
Ingeborg, nun ist es an der Zeit, in das Bett
zu gehen.«
Mit einem sanften Krauler verabschiedete
sie sich bei Helmut und löschte mit einem
letzten prüfenden Blick das Licht in der
Küche. Sie ging ins Bad, legte die Schürze
in den Wäschekorb und wusch sich. Auch
ein Blick in den Spiegel gehörte zur
allabendlichen Pflicht. Morgen früh würde
sie wieder etwas älter sein.
Mit der angenehmen Erinnerung an ihr
Dienstagsspiegelbild ging sie in das
Schlafzimmer, zog das blau gesprenkelte
Nachthemd über ihren Kopf und achtete,
nachdem sie wieder etwas sehen konnte, auf
einen knitterfreien Sitz. Mit einem geübten
Schwung zog sie die Bettdecke zurück und
legte sich mit einem erlösenden Seufzer auf
das Bett. Da sie vergessen hatte, das
Schlafzimmerlicht zu löschen, erhob sie sich
abermals und entzündete vorher die
Nachttischlampe.
»Ach Ingeborg, du bist ein Fuchs.«
Als das nun geklärt war und sie endlich ins
Liegen und zur Ruhe gelangt war, gingen ihr
noch einige Gedanken und Bilder durch den
Kopf. Sie handelten vom Postboten
Landzunge, der Polizei und dem, was am
nächsten Tag alles erledigt werden müsste.
Nach und nach verschwommen ihre
Gedanken und plötzlich war sie wieder da,
die, von der sie so sehr gehofft hatte, dass
sie sie längst vergessen gehabt hätte.
›Ich kann nicht begreifen, wozu die Wagner
das Ordnungsamt anrufen will. Sie sollte
besser einsehen, dass es die natürliche
Ordnung der Dinge ist, dass Helmut in
ihrem Garten nach dem Rechten sieht.
Anstatt froh zu sein, dass sie keinen Ärger
mit Mäusen und Getier jeglicher Art hat,
regt sie sich mit Hingabe darüber auf, dass
Helmut seinen Instinkten folgt. Wenn
78
Helmut ihr Freund wäre, dann dürfte er sie
sogar filmen und das, obwohl sie das nicht
möchte. Es wäre dann sein Hobby, dem er
nachgehen dürfte. Ich glaube allerdings
nicht, dass Helmut sie wirklich filmen
wollte. Er ist ein gesitteter Kater, mit
reichlich kätzischem Anstand. Helmut
arbeitet den ganzen Tag mit Hingabe an
seinen Raubzügen, an seiner Flucht aus dem
Haus und geht sonstigen Katerdingen nach.
Ingeborg, nun wird es aber Zeit, das Licht
auszumachen.‹
Ohne längeres Suchen fand und drückte sie
den Knopf, der die Nachttischlampe zum
Erlöschen brachte. Die mondlose Finsternis
dieser Nacht umhüllte sie schlagartig.
Angenehme Gedanken an eine längst
vergangene Reise verdrängten die bisherigen
Sorgen. An einem Strand liegend konnte sie
beinahe den Seewind in ihrem Nacken
spüren. In ihren Gedanken blickte sie auf
das blauschwarze gischende Meer hinaus.
Ihr Herz schlug gleichmäßig und ruhig. Sie
fühlte, dass sie jeden Moment einschlafen
würde. Wie angenehm dieser sanfte Wind
doch war und er wehte tatsächlich in ihr
Gesicht.
›Wo stammt bloß der Wind her? Ich liege
doch in meinem Bett in meinem Haus …
INGEBORG! Woher stammt dieser Wind?‹
Aufgeschreckt ließ ihr die einzig mögliche
Antwort ein Zucken durch sämtliche ihrer
Glieder fahren. Augenblicklich schoss
Adrenalin durch ihren Körper. Im nächsten
Moment war sie hellwach und konnte sich
dennoch nicht rühren. Schreckliche Angst
lähmte bereits ihren Körper. So achtete sie
doch penibel stets darauf, dass nachts
sämtliche Fenster geschlossen waren. Woher
stammte dann dieser Luftzug, der stoßartig
ihren Nacken umwehte? Als Nächstes
dachte sie an einen Einbrecher, der ein
vergessenes und offenes Fenster entdeckt
und nur darauf gewartet hatte, bis das Licht
gelöscht wurde und er das Fenster
unentdeckt öffnen konnte. Langsam tastete
ihre Hand in Richtung des Lichtschalters.
Sie fand ihn nicht. Kaum wagte sie zu
atmen, um keines der möglichen Geräusche
zu überhören.
›Ingeborg, was war das gerade?!‹ Dort hörte
sie doch jemanden atmen. Dieses Geräusch
war ihr so schrecklich nah. Ihr Blut pulsierte
wie ein reißender Fluss, und sie spürte die
80
verzweifelten und hämmernden Schläge
ihres Herzens bis in die engsten Äderchen
ihres Körpers. Wie konnte das nur möglich
sein? Schweiß rann ihr aus sämtlichen
Poren. ›War dieser Einbrecher bereits länger
im Haus? Die Tasse! Warum wurde die
nicht heruntergeworfen? Mein Spiegelbild!
War der Schatten, den ich dort sah,
überhaupt Helmuts Schatten?‹
Vorsichtig wandte sie ihren Kopf in die
Richtung, aus der sie das Geräusch
vermutete. Dort stand er an ihrem Bett! Ein
Teufel in Menschengestalt. Schwarz wie ein
Rabe, ein schweigsamer Umriss des Bösen.
Zwei glühende Augen starrten sie an. Der
kühle Atem dieses Gauners war es, der bis
zu ihr wehte und schrecklich sanft den
Haaransatz, die Stirn, das Ohr und den Hals
umspielte. Das war diese Art schweigsamer
Einbrecher, die sie aus unzähligen
Spielfilmen her kannte, doch hatte sie nie
daran geglaubt, solch einem selbst einmal
gegenüberzuliegen. Nach nochmaligem
Suchen fand sie endlich den Schalter und
drückte
beherzt
den
Knopf
der
Nachttischlampe, deren grelles Licht
umgehend das Schlafzimmer erhellte.
Helmut saß auf ihrem Kopfkissen. Soeben
konnte sie noch beobachten, wie sich seine
Augen zu einem schmalen Schlitz
zusammenkniffen. Das plötzliche Licht war
ihm wohl unangenehm gewesen. Es war das
erste Mal, dass sich Helmut überhaupt in
ihrem Schlafzimmer befand, und erst recht
befand er sich das erste Mal auf ihrem Bett.
Erleichtert zog sie ihren Kopf zurück und
sah in die schwarze und fiepend atmende
Katzensilhouette. Offensichtlich hatte er
sich auch durch das Löschen des
Küchenlichts nicht davon abbringen lassen,
dass Frau Ginster vergessen hatte, sein
Futter für ihn bereitzustellen. Helmut
gehörte nämlich zu den Katern, die ihre
Futterdosen nicht allein öffnen konnten oder
es einfach nicht wollten. Sie wusste dies
nicht mit Sicherheit zu bestimmen.
Irgendwann war er wohl entnervt
aufgesprungen, denn wollte er nicht elendig
verhungern, musste er entweder selbst etwas
jagen gehen oder die restliche Energie dazu
nutzen, um durch das Haus zu schleichen
und irgendwie auf sich aufmerksam zu
machen. Vor Jahrtausenden hatten sich die
meisten Kater wohl für die Jagd
entschieden, und ganz nach Darwin blieben
82
die Erfolgreicheren über, die ihre Chance
rechtzeitig erkannt und ergriffen hatten. Die
überlebenden Helmuts dieser Welt saßen
irgendwann auf den Kopfkissen ihrer
Knechte und rissen sie geräuschvoll atmend
aus ihren Träumen und letztendlich so aus
ihren Betten und an die Futternäpfe.
»Helmut, warum tust du mir das an? Weißt
du eigentlich, was ich durchgemacht habe?«
Natürlich wusste Helmut sehr genau, was
Frau Ginster durchgemacht hatte. Das war
doch der eigentliche Sinn seiner nächtlichen
Hausbeschleichung gewesen. Ein zweites
Mal würde sie nicht vergessen, seinen
Futternapf zu füllen. So war er es gewohnt
und so war es Gesetz. Und Gesetze waren
für ihn nicht nur ausschließlich dazu da, um
gebrochen zu werden.
»Helmut, entschuldige. Ich vergaß doch
tatsächlich dein Futter. Mit mir hast du es
aber auch nicht leicht«, sprach Frau Ginster
erleichtert und erhob sich ächzend aus ihrem
Bett. Helmut zögerte ebenfalls keinen
Moment. In der Küche angelangt nahm Frau
Ginster das Katzentrockenfutter, welches sie
stets nach dem Einkauf in eine
Cornflakesplastikdose umfüllte. Geschwind
überzeugte sie sich davon, dass es sich auch
um die richtige Dose handelte. Ja, auf der
stand mit einem gelben Klebezettel
geschrieben: „Helmuts Lieblingsessen“. Sie
schüttelte solange Futter in Helmuts
Futternapf, bis ein ansehnliches Hügelchen
entstanden war. Keinesfalls durfte etwas
davon auf den Boden gelangen, denn
Helmut sollte nicht von dort essen müssen.
»Wohlerzogene Kater tun so etwas nicht.«
Als »die Fronarbeit einer müden Magd«
erledigt war, löschte sie das Küchenlicht und
schlurfte,
noch
immer
etwas
schreckensgelähmt,
zurück
in
das
Schlafzimmer. Überrascht stellte sie dort
fest, dass Helmut ihr Kopfkissen längst als
sein
Körperkissen
bestimmt
und
vereinnahmt hatte. Eingerollt lag er bis zur
Hälfte darin versunken und schlief längst
fest.
»Ich war doch nur wenige Sekunden in der
Küche! Helmut sieht aus, als ob er bereits
seit Stunden schliefe. Helmut, das ist mein
Bett und auch mein Kopfkissen … ach,
entschuldige, du kannst mich ohnehin nicht
hören. Ich dachte, du hast Hunger? Kannst
du mir mal sagen, was das soll? Ach …«.
84
Sie ging um das Bett herum und setzte sich
vorsichtig tastend auf die Bettkante. Helmut
störten die Bewegungen des Bettes
keineswegs. Er öffnete nicht einmal ein
Auge, nur seine Schwanzspitze zitterte
leicht, als sie langsam das Kopfkissen weit
bis an den Rand des schmalen Bettes zog.
Währenddessen dachte sie längst darüber
nach, im Beistellsessel am Telefonapparat
zu nächtigen. Die Couch kam dafür nicht
infrage. Die war beinahe neu und nur zum
Anschauen gedacht und keineswegs zum
Sitzen. Und zum Liegen noch viel weniger.
Es galt also, einen Versuch des
gemeinsamen Nächtigens zu wagen. Wie in
der
ultrapeniblen
Zeitlupe
der
Olympiadeübertragung der russischen und
ostdeutschen Turmspringer legte sich Frau
Ginster rücklings auf das Bett und prüfte
eingehend, ob auf diese Weise überhaupt an
einen erholsamen Schlaf zu denken war.
›Erholsam kaum, doch bei Weitem
erholsamer, als im Beistellsessel zu
nächtigen‹, dachte sie sich, und lies sich,
etwas hölzern zwar, endgültig fallen.
Sie atmete durch. Das Etappenziel war
sicher erreicht und es blieb noch etwas Zeit,
die Aussicht zu genießen. Sie drehte den
Kopf zur Seite und warf einen
ehrfurchtsvollen Blick auf den Mount
Helmut, der sich majestätisch und unweit
von ihr emporhob. Nun war sie sich beinahe
sicher, dass ein erholsamer Schlaf gelingen
könnte.
Die Bettdecke über ihren Körper und bis an
den Hals gezogen, achtete sie sorgsam
darauf, dass sowohl ihr ehemaliges
Kopfkissen als auch Helmut weiträumig
ausgespart blieben. Nicht auszudenken,
wenn Gertrud erführe, dass sie im selben
Bett mit diesem Kater geschlafen hätte.
Erhobenen Fingers hörte sie ihre Freundin
bereits »Sodom und Gomorrha« rufen. Das
wollte sie unter allen Umständen ihrer
Gertrud ersparen. Nun, erfahren müsste sie
es dennoch, immerhin war sie ihre beste
Freundin, und sie hatten keinerlei
Geheimnisse voreinander. Wenn es brenzlig
würde, könnte sie noch immer darauf
bestehen, dass sie keineswegs unter
derselben Bettdecke mit dem Kater
geschlafen hätte. Ein wichtiges Detail,
welches Gertrud durchaus anzuerkennen
wüsste.
86
Nun drehte sie ihren Kopf in die Richtung
der Nachttischlampe und entdeckte sofort
den Schalter. Nach einigem Recken und
Strecken gelang es ihr auch tatsächlich, ihn
zu erreichen. Jetzt müsste sie nur noch mit
dem Finger zucken und sie könnte endlich
schlafen. Es brauchte dennoch einige Zeit,
bis sie sich zutraute, neben dem
stadtbekannten Räuber in den Schlaf zu
versinken. Einige Stunden später schreckte
sie noch einmal zuckend auf und erfuhr in
dieser Nacht, dass Helmut auch schnarchen
konnte.
Als sie am Morgen erwachte, kitzelten
bereits die ersten Sonnenstrahlen ihre
Nasenspitze.
Mit
dem
ersten
Augenaufschlag fiel es ihr sogleich ein,
neben wem sie die gesamte Nacht verbracht
hatte. Sie wollte ihn umgehend mit einem
Krauler begrüßen. Doch im Gegensatz zu
ihr, die sich kaum gewagt hatte zu rühren,
zeugte nur noch eine tiefe Delle auf dem
Kopfkissen davon, dass sie sich die
Geschehnisse der letzten Nacht keineswegs
nur eingebildet hatte.
»Typisch, sind doch alle gleich diese Kerle«,
ächzte sie und machte Anstalten, sich zu
erheben. Noch vor dem Frühstück wollte sie
die Fototasse in die Sonne verbringen. »Auf
dass sich das Foto dem gestrig Zerbrochenen
angleichen möge«. Kaum ein Tag verblieb
ihr noch, bis Gertrud zum Kaffee bei ihr
erscheinen
würde.
»Ingeborg,
das
gemeinsame Trinkerlebnis aus einer oft
bespülten Fototasse soll keineswegs dadurch
getrübt werden, dass diese nicht wie bespült
aussieht.«
Der Rücken schmerzte und nun, als sie
versuchte, sich etwas zu bewegen, spürte
sie, dass keine Stelle an ihrem Körper
existierte, die nicht höllisch wehtat.
»Ingeborg, du kannst doch hier nicht so
liegen bleiben. Wie lange soll denn das gut
gehen? Helmut hat in Kürze kein Futter
mehr. Du weißt doch, dass er es sich selten
einteilt. Landlunge klingelt ebenfalls bald
und bringt meine Kräuterpillen und die
Meersalzcreme. Herrje, auf die Toilette
musst du nun obendrein noch. Vom
Zurechtmachen mal abgesehen, musst du
heute erfahren, wo dein Herr Schmidt
abgeblieben ist. Und nicht zu vergessen sind
da noch die Anrufe beim Ordnungsamt und
bei den Tierfängern.«
88
Diese Gedanken mobilisierten Energien in
ihr, von denen sie gedacht hatte, dass sie die
seit ihrer Jugend nicht mehr besessen hatte.
Sie betrachtete sich die Zimmerdecke und
suchte sich verzweifelt einen Punkt, auf den
sie ihre Aufmerksamkeit lenken konnte.
Eine sich putzende Stubenfliege kam ihr
dabei recht gelegen.
»Ingeborg, bewege den Arm, den anderen
Arm, Finger … alle Finger, Bein … Beine,
Zeh … Zehe, Knie … anderes Knie …
Hintern hoch … Kopf … Kopf seitlich?
Kopf! Der Kopf ging doch vorhin schon? Ja
Ingeborg, sicher ist sicher. Er lässt sich ohne
Weiteres neigen und wenden … na also, was
beschwerst du dich dann?«
Alle
Gliedmaßen
funktionierten
ordnungsgemäß und waren ihrem Alter
entsprechend beweglich. Ihre Hände ruhten
unter der Bettdecke und lagen rücklings auf
der Matratze. Zuversichtlich begann sie nun,
von zehn an rückwärts zu zählen. Dazu
klappte Sie jeweils einen ihrer Finger ein,
bei „null“ und zwei geballten Fäusten wollte
sie sich, komme, was da wolle, erheben.
»9. Die Toilette schreit förmlich nach dir,
Ingeborg.
Nicht
auszudenken,
was
geschieht, falls du es nicht mehr bis dahin
schaffst.
8. Denke an das Futter für Helmut. Er wird
dir das sonst nie verzeihen.
7. Erinnere dich doch nur daran, was
geschah, als du es gestern Abend vergessen
hattest.
6. Und da hatte er bereits viermal gefressen.
5. Herr Schmidt. Es geht um den Verbleib
von Herrn Schmidt.
4. Das Ordnungsamt, Ingeborg … das
Ordnungsamt muss angerufen werden. Sonst
schicken die noch jemanden Unbekanntes zu
dir. Womöglich noch jemanden, der dir
etwas über Katzendreck erzählen will.
3. Die Tierfänger, Ingeborg, … Helmut und
Kosmetik. Denk doch nur an sein
mürrisches Gesicht, das dich auf ewig
verfolgen wird.
2. Die Fototasse muss in die Sonne,
Ingeborg. Zur Not könnte ich sie auch den
restlichen Tag bespülen. Ich weiß allerdings
nicht, ob das Foto von „Foto und
Fotoausrüstung Pütze“ so empfindlich auf
90
Putzmittel reagiert, wie das originale
Tassenfoto. Was ich doch sehr hoffe.
1. AU! VERDAMMICH! … HELMUT!
Was sollte das denn?«, kreischte sie auf. Auf
dem Bett saß der blinzelnde Helmut und
hatte Frau Ginster auf seine Weise motiviert
aufzustehen. Sie hatte sich tatsächlich
aufgerichtet und betrachtete sich mit
schmerzverzerrtem Gesicht ihre Hand. Die
einklappenden Finger hatte Helmut wohl für
ein Mäuschen gehalten und herzhaft
zugeschnappt. Es war nicht sehr heftig, es
blutete nicht und hinterließ keine bösartigen
Zahnabdrücke. Nein, nicht einmal rot wurde
es, da die Bettdecke schützend dazwischen
gelegen hatte. Durch den kleinen
Zwischenfall wusste sie nun zumindest, dass
sie noch immer Gefühl in den Fingern hatte
und somit auch die Extremitäten durchblutet
wurden.
»Helmut, darüber reden wir noch!«
Lächelnd ballte sie abwechselnd ihre Hand
und streckte ihre Finger. »Was fällt dir denn
ein? Du denkst, du verbringst eine Nacht in
meinem Bett und kannst … nicht nur, dass
du mich am Morgen hier einfach liegen lässt
… Ach, ist schon gut. Aua … Bösartigkeit
möchte ich dir keineswegs unterstellen.
Nein, dazu müsstest du erst einmal ein
Mensch sein.«
Vorsichtig stieg sie aus dem Bett. Auf dem
Boden sicher zum Stehen gekommen,
vollzog sie eine nahezu perfekte Kniebeuge,
welche ohne hörbares Knacken oder
Knirschen gelang. Nun wurde es aber Zeit,
sich auf den Tag vorzubereiten. Noch immer
etwas steif lief sie stöhnend in ihr
Badezimmer,
stellte
sich
an
das
Waschbecken und drehte den Wasserhahn
auf. »Ach herrje, Ingeborg, nun bist du
wieder eine Nacht älter und … was ist hier
los!?«
Spinnennetzartige Risse durchzogen den
Spiegel und statt einer blickten sie Hunderte
kleiner Ingeborgs an. »Was zum Teufel?«
Neben einer der kleinen Ingeborgs entdeckte
sie die Duschhaube, die nicht an ihrem
angestammten
Haken,
sondern
am
Thermometer hing. »Die habe ich dort
gewiss nicht aufgehängt.« Sie wandte sich
um und lief zu dem eindrucksvollen
Badezimmerthermometer hinüber, welches
dort einst von ihrem Mann an die Wand
montiert worden war. »Ingeborg, ich könnte
92
beschwören, dass du die Duschhaube nicht
am Thermometer, sondern am Haken
aufgehängt hast?« Grüblerisch ergriff sie die
Duschhaube und lief zur Duschkabine
hinüber, um sie dort aufzuhängen. Während
sie sich wusch, dachte sie kopfschüttelnd
über sich nach, wie ihr Zorn und ihre
Vergesslichkeit noch einmal enden sollten.
Kapitel 4
Grünblumig beschürzt stand Frau Ginster
kurze Zeit später in ihrer Küche und
sinnierte darüber nach, welche weiteren
Schritte es zu unternehmen galt. Die
Fototasse stand relativ katergeschützt
draußen auf der Küchenfensterbank und das
angeklebte Foto verlor in der bleichenden
Sonne hoffentlich stündlich an seiner
Brillanz. Helmut hatte gerade noch
pünktlich sein Futter erhalten. Während er
vor sich hin verdaute, wachte er mit einem
geöffneten Auge auf eine Gelegenheit, um
aus dem Haus zu flüchten.
Für Frau Ginster gab es wie jeden Morgen
zwei
Scheiben
Knäckebrot
mit
Erdbeermarmelade
und
eine
Tasse
Pfefferminztee. Bald stand alles bereit und
sie musste nur noch die Tageszeitung
herbeischaffen. Dazu musste sie allerdings
das Haus verlassen und bis an den
Briefkasten laufen. Helmut wusste das ganz
genau und äugte wohl deshalb so entspannt auf das Knäckebrot.
Frau Ginster hob den Finger und wedelte
damit herum. »Helmut, du weißt genau, dass
94
du nichts auf dem Tisch zu suchen hast. Das
ist eine rote Linie der Kater-IngeborgBeziehung, die nicht überschritten werden
sollte.« Helmut verstand das Zeichen und
hielt sich selbstverständlich an diese
vermeintliche und imaginäre rote Linie.
Allerdings sollte nicht unerwähnt bleiben,
dass er bereits mehrmals eingehend
sensorisch überprüft hatte, ob sich
Knäckebrot, Marmelade und Pfefferminztee
mit Katern seines Schlages vertragen.
Selbstverständlich nur, wenn er sich
unbeobachtet genug gefühlt hatte. Nein, das
war nicht der Maus- und Vogelgeschmack,
den er sich ursprünglich erhofft hatte. Es
waren
auch
keine
würzig-fettigen
Gaumenfreuden, die er vom sonstigen
Menschenessen her kannte.
Nachdem er die unzähligen Male, die er
bereits dort oben gewesen war, einfach
nichts hatte entdecken können, gab er die
Überprüfungen irgendwann frustriert auf.
Gelangweilt und mit stetig schwindender
Hoffnung erkannte er jeden Morgen aus der
Entfernung, dass sich das Futter dort auf
dem Tisch einfach nicht verändern oder
wenigstens anders riechen wollte. Helmut
akzeptierte daher die „rote Linie“ schlicht
aufgrund
seiner
andauernden
Erfolglosigkeit. Kurz darauf ging er wohl
auch deshalb zusammen mit Frau Ginster
vor die Haustür und verließ sie auch an
diesem Morgen, ohne noch einmal
zurückzublicken.
Um einen Kater ärmer, dafür jedoch um
einen ansehnlichen Stapel Papier reicher,
saß Frau Ginster einige Zeit später wieder
am Küchentisch. Sorgsam breitete sie ein
bedrucktes Kleinod nach dem anderen vor
sich aus.
»Der Kleinanzeigenpostillion für Unter-,
Mittel- und Oberklang … na wollen wir
doch mal sehen, was so Schönes angeboten
wird«, geräuschvoll blätterte sie die Zeitung
auf, » … aha, „Kater am 15.05. entlaufen,
schwarzes
Fell,
ziemlich
stattlich,
mürrischer Gesichtsausdruck, Rundweg
Ecke Steinstraße … hört manchmal auf den
Namen Tom.“ Ach herrje …
„Kater am 15.05. zugelaufen, schwarzes
Fell,
zufriedener
Gesichtsausdruck,
abzuholen bei Halmichs… Plundergasse 19
… FIM“
FIM? Ach, Finderlohn ist mitzubringen …
96
„Kater am 16.05. entlaufen: schwarzes Fell,
stattliche
Figur,
mürrischer
Gesichtsausdruck,
Rundweg
Ecke
Steinstraße“
Das ist hier doch ganz in der Nähe.
Vielleicht habe ich demnächst zwei
schwarze Kater zu versorgen. Hi, hi, hi …
„Kater am 18.05. zugelaufen: schwarzes
Fell, ziemlich fett, seltsamer Blick,
Brandgasse 7, FIM, Tel.“
Ingeborg, stell dir mal vor, du würdest jedes
Mal eine Anzeige aufgeben, wenn Helmut
aus
deinem
Haus
flüchtet.
Nicht
auszudenken, was das alles kostet … so, das
genügt vorerst. Ich habe genug von den
Anzeigen. Allerdings … oh, was haben wir
denn da? Eine Hochglanzwerbung … für …
Haustürklingeln?
Ingeborg,
Haustürklingeln!
„Unschlagbar günstig! Nur für kurze Zeit!
Nur
bei
Klingelkalle!
Sonderrabatt
ausschließlich für Rentner und Witwen!
Nehmen Sie drei und behalten Sie zwei!“
Ach, nein … „Nehmen Sie drei und
bezahlen Sie nur zwei!“
Na, umso besser, Ingeborg. Hervorragend.
Das werde ich mir gleich mal in die
Anzeigenschublade des Dielenschränkchens
legen. Vielleicht benötige ich demnächst
drei neue Haustürklingeln und dann weiß
ich, wo ich am günstigsten welche
herbekomme. Ja, das kann ich immer mal
gebrauchen. Und dabei dachte ich stets, dass
diese elenden Werbezettel nutzlos seien …«
Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck saß
Frau Ginster bald wieder am Küchentisch.
Sie biss vom Knäckebrot ab und trank einen
großen Schluck Pfefferminztee. »Dann
wollen wir doch mal sehen. Klänger
Kurierschwalbe, Mittwochsausgabe. 28. Mai
1986, Einzugsbereich: Ober-, Mittel-,
Unterklang und Klang. Oh, haben wir denn
heute schon Mittwoch? Morgen kommt
Gertrud zu Besuch. Das darf ich keinesfalls
vergessen …
Die Titelseite … „Clint Eastwood zum
Bürgermeister ernannt!“
Na, das wurde auch mal Zeit. Der Herr
Eastwood hat sich mit Sicherheit sehr
verdient gemacht um die Belange seiner
Gemeinde.
98
„Tschernobyl: Reaktorkatastrophe nimmt
erschreckendes Ausmaß an!“
Gut, dass wir diesen Eisernen Vorhang
haben. Und gut, dass wir vor dem Eisernen
Vorhang sitzen, nicht wahr, Helmut …
Helmut? Ach, Helmut ist unterwegs … oh,
da fällt mir ein … die armen eingesperrten
Bürger der DDR.
„Sri Lanka: Damm der Kantale-Talsperre
gebrochen!“
Dutzende Dörfer überschwemmt … 176
Tote … unzählige Verl… Ach herrje, dieser
Damm hätte von jemandem gebaut werden
sollen, der sich damit auskennt. Der Herr
Schmidt, der hätte das mit Sicherheit
gekonnt. Erzählt er mir doch oft von seinem
Garten und dem Teich, den er extra für diese
wohlhabenden Karpfen angelegt hat. Nun
gut Ingeborg, es ist nun mal geschehen, und
im Nachhinein auf jemanden mit dem Finger
zu zeigen, geziemt sich nicht. Ich hoffe nur,
die haben dort daraus gelernt.
Seite 5 …
Endlich,
Seite
5
der
Klänger
Kurierschwalbe, und ein wahres Feuerwerk
an Ereignissen springt mir entgegen.
„Mittelklang: Unglaubliche Sensation!
Ringeltaubenzüchterverband
Mittelklang
wählt
nach
dreißig
Jahren
neuen
Verbandsleiter!
Wie die Redaktion aus gut unterrichteten
Kreisen erfahren hatte, wurde der bisherige
und auf den Tag genau seit dreißig Jahren
amtierende
Verbandsleiter
Bischoff
abgewählt, und es mussten daraufhin
kurzfristig neue Wahlen angesetzt werden.
Wann diese Wahlen stattfinden werden,
darüber dürfen wir vorerst nicht berichten …
einige der befragten Verbandsmitglieder
allerdings … dessen Namen … nach
heftigen Diskussionen … zitiert … „Mit
eiserner Hand regierte er zuletzt … Herr
Bischoff ist mit Verlaub, ein Quadrat****!“
Bitte was? Ein Quadratvierfachsternchen?
Ach, Quadratarschloch … darauf soll einer
kommen. Oh, da ging es aber ordentlich zur
Sache! Ingeborg, du bist ganz aufgeregt,
nicht wahr?
Seite 6 …
100
„Schwerverbrecher Midrel aus JVA
entflohen!“ Der zu einer lebenslangen
Haftstrafe verurteilte Schwerverbrecher
Midrel ist aus der Justizvollzugsanstalt der
Nachbargemeinde Missklang geflohen.“
Oh, da ist sogar ein Bild von ihm …
eigentlich ein nett aussehender junger Mann,
wenn er sich denn jemals dazu entschlösse,
sich die Haare schneiden zu lassen … und
wohl auch sich gründlich zu rasieren. Ach,
da steht noch etwas: „Werte Mitbürger
Klangs. Wir bitten Sie, sich dieses Bild des
Schwerverbrechers
Midrel
genau
einzuprägen oder aber es stets bei sich zu
tragen. Achtung! Besondere Kennzeichen
gibt es keine. Achten Sie des Weiteren in
Ihrer Nachbarschaft auf ungewöhnliche
Fluchtund
Wanderbewegungen.
Veränderungen des Gesichtes, der Mimik
und/ oder der Gestalt Midrels sind
keineswegs ausgeschlossen.
»Es ist doch ein außerordentlicher
Glücksfall, dass Missklang derart weit von
hier entfernt liegt. Nicht auszudenken, was
ein nett aussehender Schwerbrecher in
unserer friedvollen Kleinstadt so alles
anrichten könnte. Hach ja, dann wollen wir
mal losschneiden … wo ist denn nur die
Schere wieder hin ... Ich würde mir sofort
dieses Foto ausschneiden, wenn … wo hast
du sie zuletzt nur hingetan, Ingeborg? Nein,
in das Bett hast du sie ganz gewiss nicht
mitgenommen.
Ach,
dieser
Schwerverbrecher langweilt mich doch
plötzlich sehr. Ich blättere mal seelenruhig
weiter, versprochen … oder doch nicht? …
du hast es mir versprochen, Ingeborg …
dann tu es bitte auch.«
Seite 7 …
»Hier wird es endlich wieder spannend,
Ingeborg.«
Mittelklang:
Ringeltaubenzüchterverband
wählt neuen Verbandsleiter!
Wie Teile der Redaktion bereits berichteten,
wurde durch heftige Streiterei und
handfestes Gemenge der bisherige und auf
den Tag genau seit dreißig Jahren
amtierende
Verbandsleiter
Bischoff
abgewählt. Kurzfristig mussten daher neue
Wahlen angesetzt werden. Wann diese
stattfinden sollen, konnten wir bis zuletzt
nicht in Erfahrung bringen. Für eine
Stellungnahme war keiner der beiden
102
Kontrahenten zu erreichen. Allerdings
erhielten wir kurz vor Redaktionsschluss ein
bissiges Fax aus dem Vorstandsbüro des
Ringeltaubenzüchterverbands. Aus dem ging
in etwa hervor, dass sich die Journalisten der
Klänger
Kurierschwalbe
auf
ihre
Kernkompetenzen beschränken sollten.“
Na, schau mal an, Ingeborg, da hat wohl
irgendwer seine Kompetenzen überschritten.
Zudem wollte da jemand wohl unbeobachtet
Wahlfälschungen
betreiben?
Eine
Unverfrorenheit sondergleichen, falls du
mich fragst.
Seite 9 …
„Mittelklang: Neu gewählter Verbandsleiter
des Ringeltaubenzüchterverbands seit Tagen
vermisst!
Wie die Redaktion der Kurierschwalbe
bereits zuvor berichtet hatte, wurde der
bisherige und auf den Tag genau seit dreißig
Jahren amtierende Verbandsleiter Bischoff
abgewählt, und es wurden kurzfristig neue
Wahlen unter Ausschluss der interessierten
Öffentlichkeit festgesetzt. Der neu gewählte
Verbandsleiter sollte am Dienstag seine
erste Rede halten, doch war er zu dieser
nicht erschienen. Intensive Recherchen im
Kreise der Angehörigen des Herrn Schmidts
brachten Erschreckendes zutage: ´Weiß ich
doch nicht, wo der sich rumtreibt. Mit
Sicherheit bei diesem Flitt**** Fräulein
****. Soll mir nur recht sein, ich bin
jedenfalls froh, dass der Kerl seit Tagen
verschwunden ist´, so die Freundin des
Vermissten.“
Seltsamer Zufall, Ingeborg … im
Ringeltaubenzüchterverband wird ebenfalls
ein Herr Schmidt vermisst? Da läuft doch
was ganz Großes. Alle Schmidts dieser Welt
verschwinden plötzlich? So, Ingeborg, nun
überblätter ich mal ungelesen den Sportteil
und gelange durch diesen geschickten
Schachzug direkt zu der Seite mit dem
Kreuzworträtsel. Wo ist denn nur wieder
mein Kugelschreiber hin? Ingeborg, wo hast
du ihn wieder hingetan … ach,
Dummerchen … ich halte ihn doch in der
Hand.«
Nach kurzer Denkpause füllte Frau Ginster
die Rätsel des Kreuzworträtsels aus, die sie
ohne Weiteres lösen konnte. Für die
restlichen Rätsel musste sie sich noch einen
104
Tag gedulden, bis Freundin Gertrud bei ihr
erscheinen würde.
» „Grünanlage“, 6 Buchstaben, waagerecht.
Ingeborg, das dürfte dann wohl der „Garten“
sein … G A R T E N …Ja passt, wackelt
und hat Luft. Sehr schön. Ingeborg, ich bin
hoch erfreut, deine Bekanntschaft machen
zu dürfen ...
„Ego“; 3 Buchstaben, senkrecht. Das dürfte
dann wohl das „EGO“ sein. Quatsch doch
nicht, Ingeborg … „ICH“, nun gut, „ICH“.
„Metallarbeiter“, 7 Buchstaben, waagerecht.
Oh, das erfordert meine gesamte
Aufmerksamkeit. Ach herrje und das gerade
jetzt, wo ich noch so viel zu tun habe. Passt
dennoch gut in das „ICH“ hinein … der
„SCHMIED“ … ach, mein Herr Schmidt.
Womöglich bringt er mir heute bereits das
Paket. Das wäre mal eine Überraschung.
„Lagerstatt“, 5 Buchstaben, senkrecht. Das
ist knifflig, Ingeborg … das ist knifflig. Ah,
die „LIEGE“, was sonst, das passt gut. Da
hat sich die Kurierschwalbe mal wieder
selbst übertroffen. Respekt! So fertig. Na, da
wird Gertrud noch einiges zu rätseln haben.
Umso besser, ich weiß ohnehin nie, was ich
mit ihr bereden soll.«
Sorgsam faltete sie alles zusammen, ging in
die Diele und legte das Zeitungskonglomerat
auf den Altpapierstapel. Als sie in die Küche
zurückkehrte, war das Fenster bereits ein
Stück weit geöffnet worden und Helmut
hatte auf seinem Stuhl Platz genommen.
»Na, Helmut, schön, dass du mal wieder
hereinschaust. Ja, heute habe ich
Katzenfutter im Angebot. Friss dreimal und
lass dich nur zweimal kraulen. Du hast doch
mit
Sicherheit
die
entsprechende
Hochglanzwerbung
auf
deinem
Lieblingsstuhl entdeckt?« Sie lächelte und
wollte Helmut soeben mit einem ihrer
stürmischen Krauler begrüßen, als sie
erschrocken innehielt. »Was ist das!
Helmut? Du blutest ja, mein Junge! Oh je …
lass mich mal sehen.«
Helmut wollte jedoch nicht, dass Frau
Ginster sich das ansah und sprang vom Stuhl
herunter, duckte sich an ihr vorbei und
verschwand in Richtung Diele und letztlich
in das Wohnzimmer.
106
»Helmut, nun stell dich nicht so an! Ich will
dir doch nichts Böses. Ich will nur
nachsehen, was du da hast. Ach herrje, jetzt
mach doch nicht solch ein Aufhebens
darum. Ich bekomme dich doch ohnehin zu
fassen … früher oder später … Du wirst
dich umgehend von mir untersuchen lassen!
Oder uns beide bis zur Erschöpfung durch
das Haus jagen und dich anschließend
trotzdem untersuchen lassen müssen. Was
ist dir lieber?«
An einer Wand der Diele befand sich bereits
Blut. Frau Ginster wurde mit jeder Sekunde
nervöser. »Oh nein, Helmut. Jetzt rennst du
auch noch in das Schlafzimmer. Warum tust
du mir das an? Muss ich etwa warten, bis du
derart viel Blut verloren hast, dass du dich
nicht mehr rühren kannst?«
Helmut verschwand unter dem Bett. Hastig
griff
sie
in
die
Schublade
des
Nachtschränkchens und kramte dort das
wohl wichtigste Utensil ihres Schlafzimmers
heraus. Ja, es war nun mal kein Mann
zugegen, den sie antippen könnte, wenn er
benötigt wurde und somit musste sie
solcherlei Dinge selbst erledigen. Daher kam
dieses prächtige Gerät vor allen Dingen
dann zum Einsatz, wenn das Licht auf
urplötzliche und unvorhergesehene Weise
erloschen war. Leider waren die Batterien
bereits schwach, ein Umstand, den sie
möglicherweise recht bald bereuen würde.
Sie ging in die Knie und kroch mit dem
Oberkörper voran unter das Bett und Helmut
hinterher. Bereits jetzt war sich nicht mehr
sicher, ob sie sich jemals wieder selbst aus
dieser Lage würde befreien können. Ihre
Augen gewöhnten sich rasch an die
Dunkelheit, und als sich der Großteil der
Staubmäuse gelegt hatte, entdeckte sie zwei
leuchtende Augen, die sie aufgeregt
anstarrten. Nach einigem Suchen und Tasten
fand und schob sie beherzt den riesigen
grün-fluoreszierenden Schiebeknopf, der die
Taschenlampe umgehend zum Erglimmen
brachte.
»Ingeborg, gut, dass du hier mal
nachgesehen hast. Ich werde hier
unverzüglich mit dem Wischmob drunter
gehen müssen. Jetzt ist es allerdings
offiziell, du bist ein Ferkel. Doch vorerst
bist du wichtiger, Helmutchen. Und denke
bitte daran, dass sich mein Gesicht in der
Nähe deiner sagenhaft spitzen und präzise
108
geschärften Krallen befindet. Mach mir bitte
keinen Unsinn damit. So, nun zeig mal her,
mein Junge.«
Sichtlich erschrocken beobachtete Helmut,
was Frau Ginster dort fuhrwerkte. Ihr großes
rundes
Gesicht
rückte
stetig
und
möglicherweise für ihn auch recht
bedrohlich näher. Im Vergleich zu Helmut
waren es riesige Hände, welche sich kurz
drauf anschickten, um nach seinem Leib zu
greifen. Plötzlich leuchtete ihm auch noch
etwas (für ihn) unsäglich Helles in seine
Augen, und er konnte nur noch schemenhaft
erkennen, was weiter vor sich ging. Das war
wohl auch der Grund, weshalb er sich nicht
mehr zu rühren wagte und einfach mit sich
machen ließ, was er ohnehin nicht
verhindern
konnte.
Eigentlich
recht
ungewöhnlich für einen Kater seines
Schlages.
Nach einigem Wühlen entdeckte Frau
Ginster die Stelle, an der das Haar mit Blut
verklebt Strähnen bildete. Beherzt griff sie
in die Umgegend, und auch dort befand sich
etwas Blut, allerdings schien es bereits
geronnen zu sein. Zudem tropfte, soweit sie
es erkennen konnte, nichts mehr nach und
Helmut lag in keiner Blutlache. Letztendlich
gab es wohl keinen Grund, Helmuts
Hinterteil zu rasieren und dieses mit allerlei
Smiley- und Pustepuste-Pflastern zu
bekleben.
Sie
leuchtete
mit
der
Taschenlampe auf die Wunde und sah
genauer hin.
»Es war nichts Spitzes oder Scharfes, was
ihm diese Wunde zugefügt hat. Keineswegs
die Kralle einer Nachbarskatze und auch
nicht der Biss eines tollwütigen Spatzen. Es
sieht wie eine Wunde aus, die sich ein Kater
zuzieht, der sich an etwas stößt. Hä, Moment
mal, Ingeborg ... Kater stoßen sich doch nie
an irgendetwas. Geschickt gehen sie allem
aus dem Wege, das sie auch nur um
Haaresbreite berühren könnte. Sei es etwa
eine kraulende Hand oder was auch immer
für sie Unangenehmes. Falls sie allerdings
Futter wollen und werden dabei unerwartet
gestoßen oder gar getreten, .... Ingeborg,
wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde
ich sagen, dass Helmut getreten wurde.
Dabei könnte er an etwas Kantiges, aber
Unscharfes gekommen sein. Das war
stumpfe Gewalt! Verdammich noch mal!
Wer tut denn meinem Helmut so etwas an?
Derzeit würde mir nur einer einfallen!«
110
Die flache Hand auf dem Boden abgelegt
und vorsichtig unter Helmut geschoben,
drückte sie ihn ein Stückchen weit hoch.
Helmut beobachtete genau, was Frau Ginster
an ihm herumhantierte. Allerdings konnte er
es nicht einordnen und verhielt sich
weiterhin still. Mit Akribie befühlte sie die
andere Seite seines Körpers, ob sie
geschwollen war oder sich anderweitig
verändert hatte.
»Dein Bauch fühlt sich tatsächlich
geschwollen an, Helmutchen … Die
Wagner, dieses Biest! Nein, Ingeborg, die ist
doch überhaupt nicht da. Dann kann es nur
dieser Landau gewesen sein! Nein,
Ingeborg, der klingelt später bei mir. Sicher
wartet er noch, bis ich unter der Dusche
stehe. Da hat er sich jedoch geschnitten. Als
Erstes sollten wir herausfinden, wo es
geschehen ist und dann können wir den
Täterkreis eingrenzen.«
Frau Ginster löschte die Taschenlampe und
drückte sich rückwärts und Stück für Stück
unter dem Bett hervor. Dabei zog ihre
Plastikschürze sämtliche Staubflusen mit
sich, derer sie habhaft werden konnte.
Nachdem das Licht erloschen war, konnte
Helmut seine Augen wieder öffnen und
sofort etwas sehen. Verdutzt sah er dem
Gesicht nach, das sich nun ruckweise
verkleinerte, und er beobachtete irritiert Frau
Ginsters Hände, die rhythmisch auf den
Boden patschten. Da der Ausgang nun
wieder freigeworden war, beruhigte er sich
zudem rasch. Müde sah er plötzlich aus, und
da er ohnehin nun schon und auch
einigermaßen bequem ruhte , blieb er auch
gleich liegen, leckte sich noch einmal die
Wunde und schlief darüber ein.
Heil dem beengenden Unterbett entkommen
holte sich Frau Ginster eine andere
Kittelschürze
aus
dem
Kittelschürzenschrank und zog sich diese
schimpfend über. Ärgerlich schlüpfte sie
anschließend in ihre »Draußenschuhe«.
Hochrot stand ihr die Wut ins Gesicht
geschrieben und wild flatterte ihr Haar in
sämtliche Himmelsrichtungen. Auf einen
knitterfreien Sitz der Kittelschürze pfiff sie
obendrein. »Derjenige kann was erleben. Oh
ja, Ingeborg kann fuchsteufelswild werden,
was sicher kaum einer vermuten würde!«
Geräuschvoll riss sie die Haustür auf und
sah in einem weiten Umkreis in die
112
Nachbarschaft, um zu ergründen, wer sich
alles in seinem Haus befand. Ihre Stirn legte
sich in Falten. Still war es an diesem
Vormittag. Verdächtig still. Nun suchte sie
aufmerksam den Boden ab, um Helmuts
Blutspuren zu entdecken. Während sie um
das Haus herumschlich, streiften ihre Blicke
mal nach rechts, mal nach links, mal vor die
Füße, mal in die Ferne. Schließlich fand sie
Blutspuren auf dem Fensterbrett, über
welches Helmut heimgekehrt war.
Das
gesamte
Repertoire
ihres
kriminalistischen Gespüres war plötzlich
gefragt. Aus unzähligen Filmen wusste Frau
Ginster, wie so etwas gemacht wird und
stets war es dieselbe Reihenfolge, die
eingehalten wurde: »10 Minuten lang
werden die Spuren festgestellt, anschließend
Zeugen befragt, Täter festgenommen,
abgeurteilt, Gefängnisausbruch, in der 85.
Minute wird der Täter auf der Flucht
erschossen. Das hier ist kein Film, Ingeborg.
Und ich bin auch keine Polizistin und schon
gar kein Kommissar. Sollte ich den Täter in
Kürze dingfest machen, läuft der Abspann in
meinem Film bereits nach zwanzig
Minuten.« Zwischen ihren Fingern zerrieb
sie etwas von dem Blut und roch zögernd
daran.
›Sieh an, sieh an. Es riecht seltsam kräftig.
Leider gibt es kein Geruchsfernsehen. Aber
er muss schon außerhalb des Hauses
geblutet haben! Falls Blut auf die dunkle
Erde getropft ist, wird es schwer werden,
dieses dort zu entdecken. Im Garten wuchert
das Grün und steht meterhoch. Vielleicht
sollte hier mal gemäht werden? Ich muss
mal den Jungen der Familie Nascher fragen,
ob er nicht etwas Taschengeld für seine
Zigaretten benötigt.‹
Im dichten Gewächs war nichts zu
entdecken. Es war auch kein einziger Halm
heruntergetreten worden, was nur bedeuten
konnte, dass Helmut dem Unmenschen
außerhalb des Gartenzaunes begegnet sein
musste. Dessen wollte sie sich umgehend
vergewissern und lief an den Gartenzaun.
Dort lehnte sich etwas hinüber, um auch den
Bereich außerhalb des Gartens im Auge zu
behalten. Während sie ihr Haus umrundete,
strich sie mit einer Hand am Zaun entlang.
Am Gartentor fand sie obenauf wiederum
Blut. Es war recht schwer für sie zu
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ergründen, aus welcher Richtung dieses Blut
abgestreift worden war.
»Helmut kam höchstwahrscheinlich von
außerhalb des Gartens und wollte zu mir in
das Haus. Ja, ich muss davon ausgehen. Ich
werde diesen Mistkerl erwischen, der
Helmut das angetan hat.«
Frau Ginster atmete schwer und spähte
angestrengt in die Nachbarschaft, während
sie leise das Gartentor öffnete. In weiten
Kreisen blickte sie abermals um sich,
während sie den Brombeerstrauchweg
entlanglief.
»Ingeborg, wenn ich nur wüsste, wie weit
Helmut seine raubzügerischen Kreise zieht.
Ich wohne in der 65. Zur anderen Seite geht
es bis in die 100 und höher. Diese Seite hier
geht bis zur 1. Herrje, wann soll ich
einhundert Vorgärten durchsuchen?«
Da erinnerte sie sich, dass Helmut zu rasch
zurückgekehrt war, um großartige Raubzüge
durch einhundert Vorgärten unternommen
zu haben. Zudem hatte sie beobachtet, dass
die Kater der Umgebung einander achteten
und sich gegenseitig auffallend viel Platz
ließen. »Der nächste Kater lebt in der 55 und
zur anderen Seite etwa in der 78. Ingeborg,
das dürfte das Suchgebiet um einiges
einschränken.«
Bald stand sie vor der 55 und entdeckte
tatsächlich einen Kater. Der saß jedoch
hinter der Küchenfensterscheibe und bereute
in diesem Moment wohl, dass er sich nicht
Frau Ginsters Haus als seinen Zufluchtsort
auserkoren hatte. »Er muss wohl warten, bis
ihn Familie Ebert hinauslässt. Soweit so gut,
nun die andere Seite.«
Zur Sicherheit warf sie noch einen Blick auf
die 64. Der Garten der Frau Wagner.
»Ingeborg, Helmut war tatsächlich hier. Das,
was er dort im Gras hinterlassen hat, spricht
eindeutig dafür. Allerdings ist kein Blut zu
sehen. Nun gut, sie hat sich diesmal wirklich
nichts
zuschulden
kommen
lassen.
Vielleicht nehme ich das ein oder andere
Paket doch wieder für sie an.«
Frau Ginster wandte sich um und blickte in
den Garten ihres Hauses.
»Am besten, ich stelle mir dazu ein Regal
neben die Haustür und breite darauf
reichlich Altpapier aus. Gute Idee, Ingeborg
du bist wirklich unschlagbar, was das
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Organisatorische angeht. Wenn Herr
Schmidt wieder da ist, dann weiß er
sowieso,
dass
ich
diejenige
im
Brombeerstrauchweg bin, die die Pakete
annimmt ... Solange Landlunge sein
Unwesen treibt, werde ich bis auf Weiteres
nichts mehr annehmen.
Ach herrje, der Herr Schmidt … war das
noch schön, als ich zum Briefkasten gehen
konnte in der Gewissheit, er war dort
gewesen. Wenn er nicht läutete, dann war
zumindest irgendein Brief im Briefkasten.
Irgendwie habe ich stets das Gefühl gehabt,
er sei von ihm gewesen. Er hatte ihn
immerhin berührt und ihn sich angesehen,
bevor er ihn einwarf. Ingeborg, jetzt spinnst
du aber … Bist du etwa? Du bist verknallt!
... Quatsch, ich bin doch nicht verknallt. Das
ist nur dieses seltsame Gefühl, das
Uniformträger selbst in reifen Damen wie
mir auslösen. Keineswegs bin ich verknallt,
pah, erzähl du doch nicht.«
Von den letzten Erkenntnissen war sie
gleichzeitig überrascht und durchaus auch
erschüttert. In Gedanken versunken ging sie
soeben an dem Briefkasten ihres Hauses
vorbei und zog wie selbstverständlich den
Briefkastenschlüssel
aus
ihrer
Schürzentasche und öffnete den stählernen
Kasten. Eigentlich wusste sie doch, dass der
Postbote noch nicht durchgekommen war
und der Briefkasten leer …
»Ingeborg? … Ingeborg! Der Briefkasten ist
nicht leer … Da liegt doch etwas drin und
weißt du, was das ist? Das ist eine
Benachrichtigung vom Postamt … ich soll
heute Nachmittag ein Paket dort abholen?
Weißt du, was das bedeutet, Ingeborg?
Weißt du, was das bedeutet? Moment, da
unten ist doch Blut!«
Ihr Puls beschleunigte sich und das Atmen
fiel ihr schwer. Das, was sie vorhin
übersehen hatte, als sie den Blick zu den
Nachbarn schweifen ließ, offenbarte sich ihr
nun mit aller Konsequenz. Letztlich hatte ihr
sogar Herr Schmidt dabei geholfen, das Blut
zu finden. Sie sah es am Pfahl des
Briefkastens kleben und bekam weiche
Knie.
»Landei … dieser Landei! Er hat einfach
diese Karte eingeworfen, statt zu klingeln.
Er hat den Helmut getreten … dort ist doch
noch Blut zu sehen. Bist du dir überhaupt
sicher, dass es Landei war? Wann soll er
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denn die Karte eingeworfen haben, und
warum hat er nicht geläutet? Dem bereitet es
doch eine besondere Freude, dich unter der
Dusche zu stören. Er weiß allerdings nicht,
dass heute nicht mein Duschtag ist. Das
wusste nur Herr Schmidt. Ach, herrje, was
ist, wenn Herr Schmidt wieder arbeiten
gehen durfte? Was ist, wenn letztendlich alle
Postboten dieser Welt Katzen quälen?
Quatsch doch kein wirres Zeug, Ingeborg!
Die Unterschrift, die Unterschrift, Ingeborg!
Ach, zeig mal her …«
Frau
Ginster
untersuchte
die
Benachrichtigung und eine Unterschrift
entdeckte sie dabei auch. Doch war es mehr
ein Häkchen mit Strich und Kreis, als eine
Unterschrift. Diese Hieroglyphen konnten
alles und nichts bedeuten. Dennoch dachte
sie fieberhaft darüber nach. ›Habe ich
irgendwo eine ältere Benachrichtigung
herumliegen? Nein, ich bin stets im Haus
und dieses eine Mal, als ich eine
Benachrichtigung bekam, wurde sie später
im Postamt einbehalten. Die Post weiß
schon genau warum … Verdammich!«
Nun bereute Frau Ginster zutiefst, dass sie
sich nie die Unterschriften von Herrn
Schmidt oder von Landau eingeprägt oder
wenigstens genauer angesehen hatte. Neuer
Postbote, neue Unterschrift! »Das nächste
Mal weiß ich besser Bescheid. Am besten,
ich mache mir ein Foto von der Unterschrift
und notiere mir, wessen Unterschrift das
ist.«
Nachdenklich dreinblickend schlenderte sie
zu ihrem Haus zurück. »Ingeborg, nun bleib
mal auf dem Teppich. Du glaubst doch nicht
ernsthaft, dass Herr Schmidt heute wieder
arbeiten gehen konnte, nicht geläutet und
nebenbei auch noch Helmut getreten hat.
Mit Verlaub. Spinnst du? Wer hat denn
gestern den Helmut getreten, das war doch
ganz sicher nicht Herr Schmidt? Dem traust
du so etwas zu?
Dann kann es genauso gut … ja, du könntest
es genauso gewesen sein! Ha, jetzt hast du
was zum Grübeln. So und nun erzähle mir
bitte, weshalb du es nicht gewesen warst?«
Erschrocken hielt Frau Ginster inne und sah
auf den Löwenzahn herab, der zwischen
zwei Gehwegplatten geradezu alle viere von
sich streckte. »Ich … weil … weil ich so
etwas nie tun würde. Punkt … Siehst du und
Herr Schmidt ebenfalls nicht. Den kannst du
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endlich mal außen vor lassen, Dummerchen.
Die besondere Erkenntnis von vorhin hat dir
dermaßen den Kopf verdreht, dass du
überall verschwundene und bösartige
Schmidts siehst. Fühlst du dich etwa allein
gelassen von ihm und nun beschuldigst du
ihn mit hanebüchenem Mist, auf dass er sich
rechtfertigen muss? Es war Landau, du
weißt es genau. Und dass er es tatsächlich
war, werden wir erfahren, wenn wir gleich
beim Postamt anrufen und uns erkundigen,
wer heute die Post im Brombeerstrauchweg
ausgefahren hat. Punkt meinerseits.«
Frau
Ginster
ersparte
sich
den
beschwerlichen
Weg
zur
78,
um
nachzusehen, ob tatsächlich ein Kater dieses
Haus als Zufluchtsort nutzte. Das war nicht
mehr wichtig, seit sie das Blut am
Briefkastenpfahl entdeckt hatte. Zumindest
hatte der Aufklärungsgang zur 78 Zeit, bis
wichtigere Dinge geklärt worden wären.
Einige Minuten und einige HelmutBeinahekrauler später saß Frau Ginster
wieder in ihrem Beistellsessel und hatte mit
ihrem Zeigefinger die Nummer der
Beschwerdestelle des Postamtes in den
Ziffernblock ihres
eingemeißelt.
Telefons
geradezu
Es tutete.
Es tutete ein zweites Mal.
Es tutete ein drittes Mal.
Ein Knacken erklang im Hörer. »Ja!
Augenblick, bleib in der Leitung … hör mal,
ich habe hier zu telefonieren, Mutter! Frank
hat doch gesagt, er ruft an, sobald er sich
entschieden hat … würdest du nun bitte
mein Zimmer verlassen!? Oh nein, Moment
…«
Unter den polternden Laufgeräuschen, die
plötzlich zu hören waren, zuckte Frau
Ginster merklich zusammen.
»Verdammt Mutter, ich frage mich, was ich
hier noch tue!«
Eine schwere Tür fiel in ihr Schloss, und die
aufgeregte Stimme näherte sich wieder dem
Telefon.
»Danke, dass du gewartet hast. Hallo noch
mal, sorry.«
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»Was Sie dort tun? Ja, das frage ich mich
ebenfalls. Und ich frage Sie obendrein,
weshalb Sie das Telefon stets dreimal
klingeln lassen, bevor Sie an den
Telefonapparat gehen? Sie sehen wohl, dass
ich anrufe, und tun dies mit Absicht?
Ingeborg
Ginster
am
Apparat.
Brombeerstrauchweg 65.«
»Ja, ähhm Meier hier …«
»Und noch etwas, Ihre Privatgespräche
können Sie zu Hause führen. Gut, dass ich
bereits mit der Beschwerdestelle des
Postamtes verbunden bin, da können Sie
sich gleich einmal selbst notieren. Sie haben
doch sicherlich einen Kugelschreiber zur
Hand? Falls Sie nicht wissen, wie der
funktioniert, ich kann Ihnen behilflich sein.
Drehen Sie an der Spitze. Ja, drehen,
verstehen Sie? D r e h e n.«
Im Telefonhörer erklang ein atmendes
Rauschen und die Stimme am anderen Ende
holte tief Luft.
»Hören Sie, Frau Gangster, würden Sie bitte
diese Leitung freimachen, ich erwarte einen
dringenden Anruf meines Freundes. Es geht,
wenn Sie es so wollen, um Leben und Tod!«
Solch eine Unverfrorenheit hatte Frau
Ginster noch nicht erlebt und sie errötete vor
Wut.
»Papperlapapp, hier geht es ebenfalls um
Leben und Tod! Wenn Sie es so wollen.
Falls Sie sich nun endlich einmal selbst
notiert haben, können Sie mir eine Frage
beantworten. Ich möchte mich über Herrn
Landau beschweren. Postbote Landau. Er
war doch heute im Brombeerstrauchweg
unterwegs?«
»Das weiß ich doch nicht, und warum sollte
ich mich bitteschön notieren. Im Prinzip
können Sie mich doch mal. Notieren Sie
sich doch selbst, Sie unverschämte Ziege!«
»Das hört mir aber sofort auf! Ich würde
mich umgehend selbst notieren, falls ich
mich wie Sie benehmen würde! Letztlich ist
es doch überhaupt kein Wunder, dass Ihr
Freund Sie nicht heiraten will. Er wird sich
nie für Sie entscheiden. Sie können sich ja
noch nicht einmal eingestehen, dass Sie
einen Fehler begehen.«
Plötzlich wurde es ziemlich still am anderen
Ende der Leitung.
124
»Meinen Sie wirklich? Der Frank liebt mich
nicht, oder? Und Sie sollen mich anrufen,
um mir das begreiflich zu machen?«
Leise schluchzte es im Hörer.
»Ja, wenn Sie es so wollen. Ich tue, was ich
kann, um zu verhindern, dass jemand
offenen Auges in sein Unglück stürzt. Ich
bemerke allerdings, dass Sie nicht mehr
fähig sind, sich klar auszudrücken und eine
einfache Antwort auf meine Frage zu geben.
Ich bin nachher ohnehin im Postamt und
glauben Sie mir, ich werde erfahren, wer
heute Morgen an meinem Briefkasten war.
Das schwöre ich Ihnen, so wahr ich
Ingeborg
Ginster
heiße!
Ihre
Verschleierungstaktiken
können
Sie
anwenden, wenn Sie wieder einmal um
lukrative Postadressen gebeten werden.«
Das Schluchzen wollte einfach nicht
aufhören. »Sagen Sie ihm, es tut mir leid.
Ich bin des Öfteren ein solches Ekel
gewesen. Und es tut mir außerdem leid, dass
ich mit Adrian geschlafen habe.«
»Das sollte es auch, und falls ich Adrian
treffe, werde ich ihm sagen, was Sie für ein
Früchtchen sind! Darauf haben Sie mein
Wort. Einen schönen Tag noch.«
….
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….
Über den Autor
Geboren 1972 wuchs Steffen Wittenbecher
in der ehemaligen DDR auf und lebt heute
zwischen den manchmal immer noch
ungleichen Welten des Ostens und des
Westens Deutschlands in NordrheinWestfalen. Hauptberuflich IT-ler hatte er
bereits seit vielen Jahren das Bedürfnis,
Gedanken niederzuschreiben und seiner
regen Fantasie auf diese Weise Ausdruck zu
verleihen. Die Ideen zu seinen Geschichten
kommen plötzlich, während alltäglicher
Situationen in sein Bewusstsein und reifen.
Längst hat er sich damit abgefunden, dass es
Dinge gibt, die man nicht beschreiben kann,
sondern ausschließlich selbst erfahren muss,
um sie wirklich verstehen zu können. Doch
davon wollte er sich nicht entmutigen lassen
und zumindest versuchen, sie zu
beschreiben. Als Kind liebte er die Märchen
der Gebrüder Grimm und Welten, deren
Zeitrechnungen weit in der Zukunft lagen.
Er las viel und ausgiebig und die Grenze
bildete nicht nur das Inventar der kleinen
Bibliothek seines Wohnblocks. Eines
Nachts, und bereits jenseits der 40, im
September 2012 entschloss er sich, einfach
die Gedanken niederzuschreiben, die in
seinem Kopf herumschwirrten. Das zu tun,
wofür sein Herz brennt, etwas aus seiner
Kindheit zurückzugeben und die Grenze von
damals für zukünftige Generationen zu
erweitern.
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Dortmund, 25.09.2013
Steffen Wittenbecher
Erweitertes Impressum
Ingeschenk 3. Auflage und das Halloween
Special 1. Auflage
von Steffen Wittenbecher
Alle Rechte vorbehalten.
Steffen Wittenbecher, Hostedder Straße 43,
44329 Dortmund
Gewidmet meiner Nicola
Ingeschenk und das Halloween Special ist
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