Götter Der Mensch. Was zeichnet ihn aus? Was unterscheidet ihn von den Pokémon? Intelligenz ist es wohl kaum, da gibt es Pokémon, die weitaus mehr dieser Gabe besitzen. Physische Stärke? Nein, kaum ein Pokémon ist körperlich dem Menschen unterlegen. Was Menschen von Pokémon unterscheidet, was den Herrschaftsanspruch der Menschen über die Pokémon erklärt, ist der Größenwahn der Menschen. Mein Team und ich hatten seit Jahren an diesem Projekt gearbeitet. Wir wollten die Welt revolutionieren, beweisen, dass das menschliche Genie fähig war, die Natur zu überlisten, sie zu beherrschen, sie gar zu unterwerfen. Wofür die Natur Jahrhunderte brauchte, ihre wahnsinnigen Projekte, das wollten wir in Jahren schaffen. Und wir waren nicht zum Scheitern verdammt, schließlich waren wir Menschen, gesegnet mit einem äußerst effektiven Geist, der uns Technologie und Herrschaft über einen Planeten verschafft hatte. Wir wussten nicht, wo anzufangen war. Wir wollten nicht kopieren oder klonen, nicht der Natur nachmachen. Wir wollten eigene Schritte gehen, schon allein, weil ein Klon an sich niemals dem Original überlegen sein konnte. Aber wir wollten ja übertrumpfen, die Natur unterwerfen. Wir begannen damit, uns einzuarbeiten in die Thematik. Wir hatten Spezialisten die sich in ihren Bereichen auskannten und wahre Koryphäen waren, jeder von ihnen hatte schon Großartiges in seinem Leben erreicht, doch fiel es mir als Projektleiter schwer, diese einzelnen Genies, die sie ja zweifelsfrei waren, zu vernetzen. Selbst wenn wir in demselben Labor arbeiteten, so war es doch schwer für sie, sich untereinander zu verständigen. Denn so fantastisch ihre Arbeit auch auf ihrem Fachgebiet war, so schwierig fiel es ihnen, sich in andere Areale einzuarbeiten. Doch mussten wir uns auf ein Level hinaufarbeiten, das uns zumindest die angemessene Fachkommunikation ermöglichte. Und da waren schon die ersten Monate vergangen. Zwischenzeitlich hatten wir schon Erfolge erzielt. Es war uns gelungen, ein Raupy zu klonen. Ja, wir sahen ein, dass es wenig Sinn machte, die Natur von Grund auf zu übertrumpfen, wir mussten es in Etappen angehen, damit wir es in einer Zeit schafften, die nicht annähernd so umfassend war, wie die, die die Natur für unser Projekt benötigt hatte. Wir erforschten dieses Raupy von der ersten Zellteilung an. Wir sahen zu, wie sich diese Zellen zu einem Zellhaufen teilten, der sich spezialisierte, sich weiter ausbildete bis wir ein geklontes Raupy in unserem Forschungsbehälter hatten. Und dann … die einen begannen damit, die Entstehung dieses Raupys zu analysieren, während die anderen die verhaltensbiologische Entwicklung des jungen, künstlich erzeugten Pokémons festhielten. Wir verglichen unser eigenes Raupy, es war ja wirklich unser Raupy, denn wir hatten es erschaffen und es nicht nur der Natur mit einem Pokéball genommen, mit natürlich geschlüpften Raupy und waren zufrieden. Es entwickelte sich nicht anders, wie seine herkömmlichen Verwandten — bis aus den Raupy Safcon wurden, aus allen Raupy, mit der Ausnahme unseres. Es überlebte den Vorgang der Entwicklung nicht. Zwar leuchtete es im Licht der Entwicklung, wie die anderen, doch verblasste dieser Botschafter der Änderung wieder und der Klon lag leblos in seinem Studiergehege. Wir hatten den ersten Rückschlag erlitten. Und begannen sofort mit der Ursachenforschung, denn etwas musste beim Vorgang des Klonens missglückt sein, noch nie hatten wir nämlich von so einem Vorfall gehört. Wir fanden Monate später heraus, dass etwas bei der Ergbutübertragung nicht wie geplant geschehen war. Doch da war es bereits irrelevant, hatten wir doch begonnen, an stabileren Pokémon zu forschen. Wir hatten damit begonnen, die artifiziellen Pokémon zu studieren. Voltobal war die erste Spezies die wir untersuchten, allerdings erwies sich das als finanzielle Katastrophe, nachdem Explosion zum dritten Mal das Labor zerstört hatte. Mit Magnetilo taten wir uns da wesentlich leichter. Es war unglaublich, artifizielle Pokémon waren einfacher zu verstehen, sie waren nach der simplen Wissenschaft der Physik aufgebaut, wir mussten nicht erst die Biologie übersetzen. Wir machten so riesige Fortschritte, ja, es schien greifbar nahe, unser Projekt würde sich auszahlen, ganz klar, in absehbarer Zeit wären wir am Ziel. Wie gut, das geniale Köpfe vor uns bereits ein System entwickelt hatten, mit denen wir Pokémon digitalisieren konnten. Mithilfe des Pokémon-Lagerungssystems schufen wir eine digitale Signatur eines Magnetilo und versuchten, diese zu bearbeiten. Doch Erfolg hatten wir erst, als wir Signaturen verschiedener Magnetilo und Magneton verglichen, von da an machten wir die Teile der Signatur aus, identifizierten sie, erfuhren, was sie bewirkten. Es gelang uns die Magneten zu entfernen oder sie zu färben. Wir gaben Magnetilo zwei oder drei Augen, wir änderten die Form der Schrauben, gaben ihm Beine… Wir maßten uns an, an diesem Geschöpf, das nur mehr aus Daten bestand, herumzuspielen. Wir änderten die Formen, das Aussehen, versuchten es zu perfektionieren. Doch es misslang. Wir hatten zu viele Ideen, die wir einfließen ließen. Mein Team und ich, wir setzten uns zusammen, überlegten, was wir schaffen wollten. Nach langen Gesprächen hatten wir ein Thema, wir wussten, wie das Ergebnis aussehen sollte und hielten doch eine Flexibilität ein, die es zu etwas noch Besondererem machen sollte. Und wieder begannen wir damit, die Signaturen, diese virtuelle DNA, zu manipulieren. Zuerst erschufen wir einen Körper der zu unserem Thema passte, ein Körper, der aber zugleich auch lebensfähig war, sollte er jemals materialisiert werden. Das Design hatte uns ein besonderer Grafiker erstellt (an dieser Stelle möchte ich mich bei Ken bedanken). Nach Monaten dann war es geschaffen. Der erste Teil war vollendet. Wir hatten eine Hülle. Zumindest in digitaler Form. Doch wie leicht es war einen Körper zu formen, dass wussten wir bereits, seitdem die Menschheit Klone hervorbringen konnte. Diese Klone erhielten ihren Geist einfach vom Original. Da diese Hülle aber kein Klon, sondern eine Eigenkreation des Menschen war, fehlte es ihr noch ein einem Geist, einer Seele, dem Leben. Ich möchte hier nicht auf die Details eingehen, es ist auch nicht erwähnenswert, jeder kann sich vorstellen, dass es äußerst schwierig ist, eine virtuelle Intelligenz zu programmieren, die auch noch mit ihrem künftigen Körper interagieren können soll. Doch es gelang uns. Und nun … vor vier Jahren und sechs Monaten hatten wir das Projekt begonnen. Nun standen wir hier und hofften, dass es nicht vergebens war. Die Simulationen, die wir noch die letzten Tage durchgeführt hatten, sagten eigentlich, dass es gut gehen würde. Doch diese Spannung, die gerade jetzt in mir aufstieg, sollte es gelingen, ich würde der meist gefragte Mensch dieses Planeten sein, der Mensch, der die Natur übertrumpft hatte, so würde ich in die Annalen eingehen, wenn doch nun, jetzt endlich der finale Erfolg sichtbar würde. „Materialisierungsvorgang wird eingeleitet, Professor“, sprach dieser unwichtige Assistent, dessen Namen ich nicht kennen brauchte. Ihn würde man zukünftig sowieso nicht erwähnen. Nur ich, der Leiter des Projekts, nur ich war von Wichtigkeit! Mein Assistent gab den Befehl in den Computer ein. Mein Team, ich, allesamt angespannt, wir sahen zu, sahen, wie durch die Fenster der Reaktorkammer des umgebauten Terminals des PokémonLagerungssystems grelles, helles Licht, Licht der Innovation, Licht der Superiorität der Menschheit drang. Und dann, die Kammer öffnete sich. Alle wollten durch die Luke schauen, aber nein, mir stand es zu, ich habe dieses Projekt geleitet, ich hatte das natürliche Recht, zuerst hindurchzuschauen! Ich drängelte mich vor, schubste die hübsche aber unwichtigte Doktorin zur Seite, sie würde mich bald verehren, mich für mein Genie vergöttern, und mir diese Ungeste verzeihen, und blickte durch die Luke. Das aus Vielecken bestehende Wesen starrte mich an. Seine rosa und türkisfarbene Komponenten, sie hielten, es bewegte sich sogar. Das Thema der Virtualität sah man diesem wirklich artifiziellen Pokémon an. Und ich, ich hatte es geschafft. Die Evolution der Natur hatte Millionen Jahre gebraucht um Pokémon hervorzubringen. Doch ich, ein einfacher Mensch, ich hatte es in weniger als fünf Jahren geschafft, ich habe ein Pokémon von Grund auf entwickelt, geschaffen. Von nun an konnte sich die Menschheit, allein wegen meiner Taten, eine Gottheit nennen, und ich würde der höchste der Götter sein. Es schloss diesen albernen Ledereinband, dessen Geschichte sich vor Jahrzehnten abgespielt hatte, wenn man der Datierung des Tagebuchs trauen konnte. Und dann sah es sich um. Die Straßen waren menschenleer, die Gebäude, Türme zum Himmel, unbewohnt. Mit Schritten der künstlichen Beine setzte es sich in Bewegung. Götter hatte es ewig nicht mehr gesehen.