Bedeutung Medizinischer Selbsthilfegruppen Susanne Kircher 26.Juni 2010 HUNTINGTON-KURIER Schwerpunktthema 1/2010: „Selbsthilfegruppen – wie sie sich sehen“ (20 SHG) • SHG bieten: Gemeinsamkeit, Gleichbetroffenheit, Zusammensein, Kontinuität, Vertrautheit, Zuhören, Anonymität, Freiwilligkeit, soziales Gefüge („Freunde, Familie“) • Man erhält: Austausch einschlägiger Erfahrungen, aktuelle Informationen, kann sich austauschen, als Betroffener, aber auch als Angehöriger, Unterstützung zur Problembewältigung, • Ziel: erleichterter / besserer Umgang mit der Erkrankung, nach innen und nach außen, Steigerung der Lebensqualität. Was sind Medizinische Selbsthilfegruppen ? • Gruppierungen mit oder ohne definierte Organisationsform, • Von Betroffenen selbst oder für Betroffene: (pflegende) Angehörige, Eltern, • Vermehrung des Wissens um die eigene Erkrankung – ”Experte”. Fortsetzung • Entstanden aus großem Leidensdruck (medizinisch, psychisch, sozial), • Zur Verbesserung der Situation Betroffener (Auffangen im “Netz” bei “Lücken” in der Versorgung), • Wechselnd ausgeprägte Beziehungen zu “Kunden”, • Prävention, • Interessensvertretung, • Förderung der Wissenschaft. Probleme in der Bewertung Medizinischer Selbsthilfegruppen • Bewertung durch Kunden verschiedenster Art, • Erwartungshaltungen aller Beteiligten äußerst vielfältig, • Eingebettet in ein komplexes Netzwerk beteiligter Organisationen. Beziehungen und “Kunden” Betroffene Nichtbetroffene Angehörige aktiv intern Medizinische Selbsthilfegruppen im Spannungsfeld extern Gesundheitssystem passiv Gesellschaft Soziales System und Politik Was wollen die “Kunden” ? Zukünftig Betroffene Subventionsgeber Betroffene Lebenspartner, Eltern Sponsoren Medizinische Selbsthilfegruppen Leistungen, Erwartungen und Anforderungen Gesundheitsberufe, Ärzte… Mann von der Soziale Dienste, Straße, Politiker Zivilgesellschaft Was verstehen alle Beteiligten darunter ? Zukünftig Betroffene Subventionsgeber Betroffene Lebenspartner, Eltern Sponsoren Medizinische Selbsthilfegruppen Qualität und Effektivität der Leistungen Gesundheitsberufe, Mann von der Soziale Dienste, Ärzte… Straße, Politiker Zivilgesellschaft Was suchen bzw. wünschen sich die Betroffenen ? • Hilfe, • Aussprache, • Psychische Unterstützung, • Information, • Hilfe zur Bewältigung der medizinischen und sozialen Defizite, • “Entwirrung” des Behördendschungels. • • • • • • • • • Verständnis, Anerkennung, Gleichbehandlung, Gleichberechtigung, Chancengleichheit, Lebensmut, Lebensfreude, Lebensqualität, “Familie”. Was erwarten sich selbsthilfeunterstützende Organisationen ? • gemeinsame (Krankheits-)Erfahrung, Interessenswahrnehmung und Vertretung durch Betroffene und/oder deren Angehörige. • Nachweise der Qualifizierung und Weiterbildung der Verantwortlichen. • Für neue Mitglieder offen, neutral ausgerichtet (unparteilich), kostenlos, Freiwilligkeit. • Ausrichtung vor allem an Mitglieder, nicht primär an Außenstehende gerichtet. • Nicht von Professionellen geleitet, Experten können zu bestimmten Fragestellungen herangezogen werden. • Partnerschaftliche Zusammenarbeit mit relevanten Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitsbereich, keinen Gewinn erwirtschaften. Was erwarten sich Subventionsgebern und Sponsoren ? • Information, Aufklärung und Weiterentwicklung, die zur Gesundheitsförderung und (Krankheits-) Prävention geeignet sind (Ausrichtung nach außen), • Nachweis über den effizienten Einsatz der Mittel, • Rechtsverbindlichkeit, • Qualitätssicherung, • Evaluation. Joint Commission on Accreditation of Healthcare Organizations, 1990: „Charakteristika der Qualität in der Gesundheitsversorgung“ • Generelle Wirksamkeit der Maßnahme (efficacy) • Angemessenheit für den konkreten Patienten (appropriateness) • Zugangsmöglichkeit zu dieser Maßnahme (accessibility) • Akzeptanz einer richtigen und zugänglichen Maßnahme (acceptability) • Wirksame Ausführung der Maßnahme (effectiveness) • Effizienz (efficiency) • Kontinuität der Gesundheitsversorgung (continuity) Erkennbare Grenzen und Widersprüche • Patienten – im Gesundheitssektor aktiv ? • Laien – verfügen über medizinisches Wissen ? • NPO – Bewertung über die Effizienz ihrer Tätigkeit ? • Nichtexperten – Nachweis einer gesundheitsfördernden Wirkung ? • (lose) Gruppen mit freiwilliger Teilnahme und Fluktuation - Nachweis von Qualität und Effektivität, Rechtsverbindlichkeit ? • Evaluation gefordert – wie und durch wen ? Tatsache ist: • • • • SHG als „Säule“ des Gesundheitswesens SHG als Einrichtung des Gesundheitswesens Patientenrechte: Kontakt zu SHG Krankenanstaltengesetz: Kontakt zu SHG • SHG werden in Gesetzen und Normen angeführt • SHG haben keinen gesetzlichen Anspruch auf Unterstützung Definitionen ÖNORM K 1910 2009: „Terminologie im Gesundheitswesen – Begriffe und Definitionen“ 2.153: Selbsthilfegruppe: freiwilliger Zusammenschluss von Menschen, deren Aktivitäten sich auf gemeinsame Bewältigung von Krankheiten, psychischen und sozialen Problemen richten, von denen sie entweder selber oder als Angehörige betroffen sind. Ihr Ziel ist eine Veränderung ihrer persönlichen Lebensumstände und häufig auch ein Hineinwirken in ihr sozial- und gesundheitspolitisches Umfeld. Definitionen ÖNORM K 1910 2009: „Terminologie im Gesundheitswesen – Begriffe und Definitionen“ 2.128: Qualität: Grad der Erfüllung der Merkmale von patientenorientierter, transparenter, effektiver und effizienter Erbringung der Gesundheitsleistung. Die zentralen Anliegen in diesem Zusammenhang sind die Optimierung von Strukturqualität, Prozessqualität und Ergebnisqualität. (Basis: Gesundheitsqualitätsgetz 2004) Definitionen ÖNORM K 1910 2009: „Terminologie im Gesundheitswesen – Begriffe und Definitionen“ 2.28: Effektivität: Zielerreichungsgrad zwischen einem gesetzten Ziel und dessen Realisierung, wobei das in der Gesundheitsversorgung gesetzte Ziel idealerweise die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger sowie Patientinnen und Patienten ist (Basis: Gesundheitsqualitätsgetz 2004) Definitionen ÖNORM K 1910 2009: „Terminologie im Gesundheitswesen – Begriffe und Definitionen“ 2.46: Gesundheitsleistung: jede durch eine Angehörige oder einen Angehörigen eines gesetzlich anerkannten Gesundheitsberufes am oder für den Menschen erbrachte Handlung, die der Förderung, Bewahrung, Wiederherstellung oder Verbesserung des physischen und psychischen Gesundheitszustandes dient Was ist Gesundheitsförderung ? • Maßnahmen und Programme „state of the art“ (wissenschaftlich fundiert), Bereitschaft zur Innovation, • Qualifiziertes Personal, Arbeitsteilung und Kooperation, • Erreichung der Zielgruppen in der Bevölkerung, Beteiligung dieser und Identifikation mit Maßnahmen, hohe Reichweite, • Verhinderung von Leid und unnötigen Kosten in relevantem und sozial gleich verteiltem Ausmaß, • Kontinuierliche Evaluation. (Lehmann, 2001) Was waren mögliche messbare Parameter für die Untersuchungen an 41 Medizinischen Selbsthilfegruppen? • Qualität • Effektivität • Gesundheitsfördernde Wirkungen Kollektiv Auswahl Teilnahme Von 120 Medizinische Selbsthilfegruppen: 41 (38%) • Alle Bundesländer 8 • Alle Kategorien von Erkrankungen • Alle Organisationsformen • Alle Größen • Gruppen für Bezirke, Regionen, österreichweit 143 Fragen, Fragenblöcke A - M 41 Medizinische Selbsthilfegruppen Kategorien • angeborene Erkrankungen (ev. genetisch bedingt): 12 • Krebserkrankungen: 7 • chronische Erkrankungen, die später auftreten: 11 • Erkrankungen mit präventiver Einflussnahme: 11 Mit körperlichen Einschränkungen verbunden: 35 Mit psychischen Problemen verbunden: 35 Mit intellektuellen Einschränkungen verbunden: 17 Vertretene Krankheitsbilder • Typ 1: angeboren – genetisch: angeborene Stoffwechselerkrankungen, behinderte Kinder, Down-Syndrom, Epidermiolysis bullosa hereditaria, Epilepsie, Morbus Huntington, Hyperinsulinismus, Mukopolysaccharidosen, Musica Kontakt, Prader-WilliSyndrom, Lobby4Kids. • Typ 2: Krebserkrankungen: Brustkrebs, Frauenkrebserkrankungen, Hodenkrebs, Krebs allgemein, Myelom, Prostatakrebs. • Typ 3: chronisch, später erworben: ADHS, Colitis ulcerosa, Depressionen, Dystonie, Endometriose, Morbus Alzheimer, Morbus Crohn, Multiple Sklerose, Restless legs, Stoma, Schmerzen, Stottern, Tinnitus. • Typ 4: Erkrankungen mit präventiver Einflussnahme: aktives eigenes Immunsystem, Allergie, Diabetes, Elektrosmog, Fresssucht, Herzinfarkt, Neurodermitis, Pilzbelastung, Schlaganfall, Wirbelsäulen- und Gelenksprobleme. Trauernde Eltern und Geschwister, pflegende Angehörige. Primäre und weitere Zielgruppen • • • • • Betroffene Angehörige von Betroffenen Eltern betroffener Kinder und Jugendlicher Angehörige von verstorbenen Betroffene Ehemals Betroffene 39 Gruppen 34 Gruppen 23 Gruppen 13 Gruppen 11 Gruppen • • • • • • + Ärzte Angehörige der Pflegeberufe Sonstige medizinische Berufe Nichtbetroffene Sponsoren Wissenschaftlich Tätige 34 Gruppen 27 Gruppen 25 Gruppen 24 Gruppen 23 Gruppen 22 Gruppen Spezifische Personengruppen – Bevölkerung – Gesundheitsund Sozialwesen – Politik – EU, WHO Regelmäßige Zusammenarbeit mit: • • • • • • • Gruppenzahl / Gesamtzahl Angehörige medizinischer Berufe 39 / 41 Krankenkassen, Sozialversicherungsträger, Hauptverband 15 / 30 Bundessozialamt 11 / 30 Andere Behinderten– und Patientenorganisationen 9 / 30 Stadt, Gemeinde, Bezirkshauptmannschaft 8 / 30 Andere Selbsthilfeorganisationen 4 / 30 Schulen, Schulbehörden 2 / 30 Angebotene Auskünfte über (n = 41): • • • • • • • • • Gruppenzahl 39 36 32 Zur Krankheit Zu Therapiemaßnahmen Rechtliche Auskünfte Auskünfte zu Krankenkassen und Sozialversicherungsträgern 26 Auskünfte zu Pflegemaßnahmen 24 Auskünfte über soziale Dienstleistungen 24 Auskünfte zum Bundessozialamt 8 Auskünfte zu Heilbehelfen und Versorgungsartikeln 22 Auskünfte betreffend der Mobilität 18 Offenheit für neue Mitglieder • • • • • • • • • • Erreichbarkeit über festgelegte Zeiten hinaus: jederzeit, immer: 34 Grupppen Englisch (28) Spanisch (5) Französisch (4) Italienisch (4) Schwedisch (2) Kroatisch (2) Griechisch (1) Serbisch (1) Ungarisch (1) Keine (7) Religiöse Zugehörigkeit relevant ? Nein: 40 Teilweise: 1 Nationalität relevant ? Nein: 40 Teilweise: 1 Voraussetzungen für ein ungestörtes persönliches Gespräch: 33 Gruppen Technisch möglicher Zugang: 29 Gruppen Adäquate Sanitäranlagen: 31 Gruppen Informationen „State of the art“ • Informationen über das betreffende Krankheitsbild bieten alle 41 Gruppen: Papierform (40), Internet (29), Film (14) und weitere Formen (Video, Audio, CD, Folder, Fotos, Plakate etc.) • Sicherstellung, dass „state of the art“: 37 Gruppen Letzte Aktualisierung: laufend (15), im aktuellen Jahr / monatlich (11), in den vergangenen 3 Jahren (9) • Dabei Beratung / Unterstützung von Angehörigen medizinischer Berufe: überwiegend (12), teilweise (17) • Wer war eingebunden: Ärzte (26), Therapeuten und Berater (18), Pflegepersonal (7) und weitere (Fachbeamte, Pharmazeuten etc.) • Eigene Aus-, Fort- und Weiterbildung: 18 Gruppen Einschätzung des Gewinns der Teilnehmer • Profit (n = 40) – Psychisch – Sozial – Körperlich 36 Gruppen 30 Gruppen 23 Gruppen • Gewinn an Lebensqualität (n = 40) – Ja oder eher öfters 38 Gruppen Für die Person selbst, aber auch Interaktion mit Umgebung, Verbesserung des Umgangs mit Erkrankungen, Bewältigung von Krisen, soziale Integration, Freizeitgestaltung, Besserung der Krankheitserscheinungen. Beobachtete gesundheitliche Wirkungen • • • • • • • Häufig / Öfters / Selten / Nein Weniger Spätschäden 3 9 1 3 Vermeidung von Spätfolgen 1 9 6 2 Vorgaben des Arztes eher befolgen 6 11 2 1 Früherkennung fördern 5 11 0 4 Aktiv an der Therapieführung teilnehmen 1 9 12 3 Bewusster leben 3 15 11 1 Besser mit der Therapie umgehen können 16 7 2 1 Bessere Körperwahrnehmung, besserer Körperumgang, besser mit Behinderung umgehen, Krankheit besser bewältigen, nicht alleine sein, mehr Wissen über Therapien, Schmerzen behandeln. Präventive Maßnahmen Bewusst präventive Aktivitäten: • 23 Gruppen: ja • 7 Gruppen: gelegentlich • 10 Gruppen: in Vorsorgekampagne anderer Gesundheitseinrichtungen eingebunden Körperlich: Wirbelsäulenturnen, Beckenbodentraining, Aktivtage, pränatale Diagnostik, Yoga, Physiotherapie erhalten, ... Aufklärung: Betroffene, Angehörige, Schulen, Öffentlichkeit, Teilnahme an Gesundheitsmessen etc., ... Informationsverbreitung: Medien, Presse, öffentliche Veranstaltungen, Seminare, Folder, Internet, ... Anzahl der Personen im Wirkungsgebiet (n = 34) 1600 SHG? • • • • • • • • • • Personenzahl: Gruppenzahl -100: 5 100 – 1.000: 10 Über 1.000 - 10.000: 9 Über 10.000 – 50.000: 3 Über 50.000 – 100.000: 1 Über 100.000: 1 Jede 3.Frau: 1 Jede 8.Frau: 1 5 % aller Kinder und Jugendlichen: 1 Nicht abschätzbar: 1 Anzahl der aktiven Gruppenmitglieder Alle Selbsthilfegruppen (n = 41): • 20 Gruppen: 1 – 4 Personen Vereine (n = 27): • • • • 9 Vereine: 1 – 5 Personen 12 Vereine: 6 – 10 Personen 5 Vereine: 11 – 20 Personen 1 Verein: 21 - 40 Personen 1600 SHG ? Mitgliederzahlen: -100 Mitglieder: 9 Vereine 100 – 500 Mitglieder: 15 Vereine 500 – 1000 Mitglieder: 3 Vereine Hauptamtlich angestellte Personen: 5 Vereine: 1 Verein: 1 x Vollzeit 1 Verein: 1 x Teilzeit 3 Vereine: 2 x Teilzeit Öffentlichkeitsauftritte • Veranstaltungen im vergangenen Jahr: 2 Gruppen: 187 – 460 Veranstaltungen 30 Gruppen : durchschn. 11 Veranstaltungen • Öffentliche Ankündigung in Medien: 31 Gruppen • Besucher im vergangenen Jahr: • 23 Gruppen: jeweils durchschnittlich 572 Besucher • Teilnahme an Messen: • Vorstellung in öffentlichen Medien: 1600 SHG ? 30 Gruppen 33 Gruppen Finanzielle Basis (Grundlage: Budget vom Vorjahr der 41 Gruppen) • Spenden: – Für 24 Gruppen: durchschnittlich 27 % (Median 10%), davon für 5 Gruppen: über 50 % des Budgets • Subventionen: – Für 21 Gruppen: durchschnittlich 41 % (Median: 44%), davon für 9 Gruppen: über 50 % des Budgets • Differenz: eigene Mittel durch Gruppenmitglieder, 5 Gruppen agieren ohne jegliches Budget ! Nach welchen Kriterien werden Ausgaben getätigt ? ( Angaben von 34 Gruppen): Zweckmäßigkeit (31), Sorgfalt (24), Sparsamkeit (22), Wirtschaftlichkeit (17) Zusammenfassung • Medizinische Selbsthilfegruppen sind miteinander vergleichbar • Sie erfüllen Anforderungen der Qualität, Effektivität und gesundheitsfördernden Wirkungen • Sie arbeiten nach wirtschaftlichen Kriterien • Sie sind präventiv aktiv • Der Multiplikatoreffekt ist ungeheuer groß • Sie sind wichtig, anerkannt und werden „hochgelobt“ Aber: • Die Arbeit ruht auf einigen wenigen Aktiven • Sie erhalten wenige Subventionen und noch weniger Spenden • Sie haben keine rechtliche Grundlage auf Unterstützung „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ Erich Kästner