Psychologie und Psychiatrie für ZahnmedizinerInnen

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Psychologie und Psychiatrie
für ZahnmedizinerInnen
28.11.2012
Dr. med. Robert Hämmig
Leitender Arzt Schwerpunkt Sucht
Universitäre Psychiatrische Dienste Bern
Fall
• Aktuelle Situation
– 41-jährige Ärztin hatte sich ein
Fentanylpflaster auf die Haut geklebt und
wurde komatös. Nachdem sie sich somatisch
auf der Notfallstation des Inselspitals
stabilisiert hatte, wurde sie zur
Weiterbehandlung in ein psychiatrisches
Spital überwiesen.
Fall
• Konsilliarische Anfrage
– Wie soll die eingeleitete
Substitutionsbehandlung mit Subutex®
weitergeführt werden, nachdem die
ursprüngliche Verabreichung von 4 x 3mg/d
p.o. auf 2 x 4mg/ p.o. umgestellt wurde.
Überblick
• Grundlagen vermitteln, um den Fall zu
verstehen
• Psychiatrisches Vorgehen darstellen
Mensch
•Leib
•Seele
•Geist
• Was ist Leib ohne Seele / Geist?
• Was ist Seele / Geist ohne Leib?
Psychiatrie, Psychologie
• Psychiater: Facharzt für seelische
Störungen und für Geisteskrankheiten
aus: psyche „Hauch, Atem; Seele (als
Träger bewusster Erlebnisse)“ &
iatros „Arzt“
• Psychologe: „Seelenkundiger; Forscher
auf dem Gebiet der Seelenlehre“
aus: psyche & logos „Rede, Wort;
Untersuchung usw.“
Sitz der Seele?
• Gehirn
• (Herz? „Sich etwas zu Herzen nehmen“)
• (Bauch? „Das bereitet mir
Bauchschmerzen“)
• (Leber? „Was ist dir über die Leber
gekrochen?“)
Neurowissenschaften
• Überwindung der “mind - brain barrier”
• Vom Molekül zu den menschlichen
Gefühlen und dem Verhalten
• Entwicklung von Erklärungsmodellen
Semiotik (nach Charles Sanders
Pierce)
Patient
Therapeut
Interpretanz
Interpretanz
Referenz
Repräsentanz
Referenz
Repräsentanz
19. und 20. Jahrhundert
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•
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•
Psychologie
Soziologie
Kulturelle Anthropologie
Politologie
Ökologie
Moderne Psychiatrie
Emil Kraepelin (1856 – 1926)
• Grenze zwischen normal und abnormal
• Psychose
– Dementia praecox
– Manische Depression
• Symptommuster
• Biologie und Genetik
Jahrhundertwende
Sigmund Freud
• Individuum im
Zentrum des
Interesse
• Objekt der Medizin
wird das Subjekt
Industrialisierte Medizin
Eugen Bleuler (1857 – 1939)
• “Dementia praecox”
– Keine Demenz
– Nicht immer praecox
• Grenze zwischen normal und
abnormal fliessend
• Erfinder des Wortes des 20.
Jahrhunderts: Schizophrenie
Emil Kraepelin 1904
• Transkulturelle Untersuchung
– Gleiche biologische und genetische
Bedingungen in Java und Europa
– die lokale Kultur formt nur den variablen
Inhalt, durch den sich die Erkrankungen
manifestieren
• Begründung der transkuturellen
Psychiatrie
Diagnose nach Kraepelin
• Genetische und biologische Grundlage
• Spezifisches Symptommuster
• -> heutige Forschung
– Neurowissenschaften
– Gentypisierung
Diagnostik: ICD-10
• Beobachtete Phänomene werden
“theoriefrei” zu einer Kategorie
zusammengefasst.
• Eine Kategorie entspricht nicht unbedingt
einer Entität.
Nutzen der Diagnose
•
•
•
•
Kommunikation unter Fachleuten
Einleiten einer spezifischen Behandlung
Verhindern von Fehlbehandlungen
Entlastung der Patienten und dadurch
Förderung der Genesung
Arthur Kleinman (1961 - )
• Krankheit = sickness
• Erkrankung = disease
• Kranksein = illness
disease
Fehlfunktion von
• physiologischen
und / oder
• psychologischen Prozessen
• -> messbar!
illness
• Psychosoziale Erfahrung und Bedeutung
der wahrgenommenen „disease“
• Umformung der „disease“ in Verhalten und
Erfahrung
• -> beobacht- / erfragbar!
sickness
• Dichotomie von „disease“ und „illness“
• Verständnis einer Störung in Bezug auf die
makrosozialen Kräfte (Ökonomie, Politik,
Institutionen).
• -> mit verschiedenen wissenschaftlichen
Ansätzen erhebbar (Medizin, Psychologie,
Soziologie, Anthropologie,
Politikwissenschaften, ökonomische
Wissenschaften etc.)
Sickness, disease, and illness
Model by Arthur Kleinman:
Sickness, disease, and illness
power of definitions!
Diagnostik ist dynamisch
• Diagnosen werden revidiert
(aktuell: ICD-11 wird diskutiert,
Inkrafttreten ws. 2015)
• Diagnosen werden entfernt
(z.B. Homosexualität)
• Diagnosen werden neu eingeführt
(z.B. ADHD im Erwachsenenalter)
Vom Befund zur Diagnose
• Wichtig: Interaktion zwischen Patient
und Arzt!
• Ablauf
– Kontaktaufnahme: Gespräch
– Erfassen: Beschwerden, Anamnese, Befund
– Abklärungen: Labor, bildgebende Verfahren,
(neuro-)psychologische Testung
• Kategorisierung der Erhebung
• Wahrnehmung!
Erstkontakt
• Ziele des Interviews
– Kontakt herstellen, sich eine Übersicht verschaffen
• Erzählung des Patienten unterstützen
– Das Narrativ ist der wichtigste Zugang zum Patienten,
Erzählfluss nicht unnötig stoppen
– Aber: Strukturieren; Vermitteln, was verstanden
wurde
• Nicht-verbale Kommunikation
• Ethik
Fall
• K + L Situation: Ziele des Interviews
– Erhalten von Informationen
– Errichten einer professionellen Beziehung
– Erfassen der PatientInnen in ihrer Gesamtheit
– Hypothesen entwickeln
– Vorschläge zu einem Procedere (weitere
Abklärungen, Therapievorschläge etc.)
Arzt-Patient-Beziehung
• Institutioneller Rahmen
– Status und Rolle der Beteiligten
• Individual-psychologische Komponenten
– Einstellung und Persönlichkeit des Arztes und
Einflussnahme auf Patienten
– Affektive Bindung des Patienten zu dem Arzt
(Übertragung)
Institutionelle Grundaspekte der
Arzt-Patient-Beziehung
• Kulturbedingte Gemeinsamkeiten
– Ähnliche Grundvorstellungen von
Krankheiten, Ursache und Behandlung
• A) Schwierigkeiten in der gleichen Kultur
– Populäre vs. wissenschaftlicher Nosologie
• B) Differenzen, wenn Arzt und Patient
verschiedener Kulturen angehören
Institutionelle Grundaspekte der
Arzt-Patient-Beziehung
• Kulturelles Primat somatischer Faktoren
A) zwei Kausalvorstellungen der Krankheit
– Exogene Konzeption
– Endogene Konzeption
B) Schuld in der Krankheit
Institutionelle Grundaspekte der
Arzt-Patient-Beziehung
C) Körperliche Krankheitskonzeption
– Rangordnung der Krankheiten:
Schwerste Erkrankung: anatomische Läsion
„funktionelle Störung“: letzter Rekurs
D) Lernvorgänge von Seiten des Kranken
– Kranker ist auf 3 Dinge eingestellt:
1. Körperliche Untersuchung
2. Verordnung
3. Evtl. Besuch eines Facharztes
Fall
• Die Patientin erzählt:
– Sie besitze ein „Suchtgen“ und verschiedene ihrer
Vorfahren litten unter schweren Suchtstörungen.
– So habe sie selber vor Jahren eine TramadolAbhängigkeit entwickelt. Sie habe sich deswegen in
eine mehrmonatige stationäre Behandlung gegeben.
Sie sei dort unter ständigen Urinkontrollen gestanden,
wobei nicht entdeckt worden sei, dass sie während
der ganzen Dauer der Behandlung weiter Tramadol
konsumiert habe.
Fall
• Tramadol (Tramal®)
– Tramadol ist ein zentral wirksames Opioid
Analgetikum. Es ist ein nicht selektiver reiner
Agonist an µ-, δ- und κ-Opioidrezeptoren mit
grösserer Affinität an µ-Rezeptoren. Andere
Mechanismen, die zu einer analgetischen
Wirkung beitragen, sind die Hemmung der
neuronalen Wiederaufnahme von
Noradrenalin sowie die Verstärkung der
Serotonin-Freisetzung.
Fall
• Die Patientin erzählt:
– Sie habe danach selber das Tramadol
ausgeschlichen und sei auf
Dextromethorphan (Bexin®) umgestiegen,
das sie in den letzten Monaten regelmässig
einnahm.
Fall
• Dextromethorphan (Bexin®)
– Dextromethorphan ist ein Morphinderivat.
Dextromethorphan und sein aktiver Metabolit
Dextrorphan dämpfen den Hustenreflex durch
Erhöhung der zentralen Reizschwelle.
– Dextromethorphan und Dextrorphan binden
im ZNS u.a. an Sigma- und PCP2-Rezeptoren
(Dopamin-Wiederaufnahme). Dextrorphan ist
zudem ein N-Methyl-D-Aspartat-Antagonist.
Fall
• Erklärungsmodell
– Die Patientin erklärt sich ihre Erkrankung als
genetische Störung
– Sie kann die Erklärung, dass genetische
Anlagen sich nicht voll ausprägen müssen, im
Gespräch akzeptieren.
Fall
• 1. Arbeitshypothese
– Patientin leidet unter einer Suchtstörung
• Fragen
– Wie ist die Störung im Kontext zu
positionieren?
– Co-Morbidität?
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