Prof. Dr. J. Zulley Verhaltenstherapie ausgewählter psychiatrischer Erkrankungen WS 2008/09 VT bei Demenzerkrankungen Dr. K. Gürtler Gliederung 1. Modelle 2. Hauptmerkmale der Demenz 3. Verhaltenstherapeutisches Kompetenztraining (VKT) bei leichter Demenz 4. Therapeutisches Setting - Ressourcenaktivierung - maßgeschneiderte Beziehungsgestaltung 5. Literatur gürtler 2008 2 5-Säulen-Modell der Psychotherapie VT GPT PA NP systemisch gürtler 2008 3 Unbewusstes -Ich, Es (Triebe), Über-Ich -innerpsychische Konflikte bei frühkindlichen Erfahrungen Selbstaktualisierung Plastizität -Selbst/ Selbstkonzept -Hirnverletzungen -Therapeutenvariablen (Intensität und Qualität der Th-PatBeziehung) -kognitive Beeinträchtigung psychischer Störungen Lernen -explizites, implizites Lernen (Konditionierung) -Erlebens- u. Verhaltensmodifikation gürtler 2008 Bezugssystem -Blick auf den Kontext der Persönlichkeitsbildung (Familie, Institutionen) -Kommunikation 4 Persönlichkeitsmodell: Ebenen der Persönlichkeit CORTIKAL Linker assoziativer NC Sprache/Verstand Broca-Wernicke-Areal S Limbische Ebene 3: Vernunft Rechter ass. Neocortex OFC, VMC, ACC, IC Limbische Ebene 2: Big Five U emotionale Konditionierung, Belohnung, Motivation B C BI Amy, VTA, NAcc, Basalganglien O R Limbische Ebene 1: Temperament T A vegetativ-affektives Verhalten (Grundfunktionen) L Hypoth, Z Amy, PAG, vegt. Hirnstammz. C gürtler 2008 5 2. Demenz Hauptmerkmale • multiple kognitive Beeinträchtigungen (Gedächtnis, Orientierung, Sprache, Denkvermögen, Aufmerksamkeit, Raumverarbeitung, exekutive Funktionen) • Störungen im Erleben und Verhalten (Angst, Wahn, illusionäre Verkennung, Depressivität, Euphorie, Apathie, Unruhe, Tag-Nacht-Umkehr, Aggressivität, Enthemmung) gürtler 2008 6 • Beeinträchtigungen der Alltagskompetenz (reduzierte Arbeitsleistung; Schwierigkeiten, Arbeiten unter Zeitdruck auszuführen; Verlust der Selbständigkeit bei der Körperpflege, Medikamenteneinnahme, bei finanziellen Angelegenheiten; verminderte Fähigkeit, komplexe Aufgaben durchzuführen, Geräte zu bedienen, Auto zu fahren, Mahlzeiten zuzubereiten) (Beeinträchtigungen müssen 6 Monate nachweisbar sein) gürtler 2008 7 Schweregrade der Demenz • leichte kognitive Störung: Störung hat noch nicht das Ausmaß einer Demenz erreicht -------------------------------------------------------------------------• leichte Demenz: Grad der Gedächtnisstörung reicht gerade aus, um die tagtäglichen Aktivitäten deutlich zu beeinflussen, ist aber nicht so schwer, dass der Patient nicht alleine zurechtkommt • mittelschwere Demenz: ernstes Handicap für die Eigenständigkeit des Betroffenen, braucht nahezu ständig Beaufsichtigung, evt. Urininkontinenz, Enthemmung • schwere Demenz: Kranker ist pflegebedürftig, geistiger Abbau weit fortgeschritten, hat evt. weitere körperliche Erkrankungen gürtler 2008 8 Erleben und Verhalten bei fortgeschrittener Demenz Störungen • Angst • falsche Anschuldigungen, Wahn • illusionäre Verkennung • Depressivität / Euphorie, rasche Stimmungsschwankungen • Anklammern und Nachlaufen gürtler 2008 • Unruhe und Nervosität • Tag-Nacht-Umkehr • Wutausbrüche/ Aggressivität • Distanzlosigkeit, Enthemmung • Antriebslosigkeit/Apathie 9 3. VKT: Verhaltenstherapeutisches Kompetenztraining bei leichter Demenz Ziele • vorhandene persönliche Ressourcen mobilisieren (externale Stimuli, z.B. Gedächtnishilfen, „Spickzettel“) • depressiven Symptomen entgegenwirken (negative Rückkoppelung vermeiden: Kompetenzverlust > dysfunktionale Kognitionen > negative Emotionen > Vermeidungsverhalten > weiterer Kompetenzverlust) • Genexpression: Veränderung der Hirnfunktionen durch Psychotherapie (Plastizität) gürtler 2008 10 Therapiemodule des VKT 1. Therapieplanung und Problemanalyse • Beschreibung der Probleme • Selektion von Therapiezielen • Planung der Therapie • Evaluation des Therapieerfolgs Technik: nondirektive Exploration systematische Verhaltensbeobachtung, Fremdanamnese,Tests 2. Psychoedukation • Aufklärung und Information über die Krankheit • Einbezug der Angehörigen Technik: interaktive didaktische Methoden gürtler 2008 11 Therapiemodule / Fortsetzung 3. Aktivitätenaufbau • Registrierung des Aktivitätsniveaus und dessen Zusammen hang mit dem Affekt • Planung und schrittweise Aufbau von befriedigenden Aktivitäten Technik: Selbstbeobachtungsaufgaben, Tagesprotokolle 4. emotionale Bewältigung • emotionale Bewältigung der Erkrankung und der Diagnosestellung • Komplettierung unterbrochener Emotionsexpressionen Technik: Evokation von Affekt gürtler 2008 12 Therapiemodule / Fortsetzung 5. Modifikation dysfunktionaler Kognitionen • Identifikation und Analyse dysfunktionaler Kognitionen und Kontrollüberzeugungen • Einübung angemessener Kognitionen Technik: Sokratischer Dialog, Realitätstestung 6. Einsatz externaler Gedächtnishilfen • Verbesserung der Alltagsbewältigung • Einschleifen zu erinnernder Informationen • erleichterter Abruf bereits gespeicherter Informationen Technik: Gedächtnishilfen gürtler 2008 13 4. Therapeutisches Setting Einzel- oder Gruppentherapie • Ressourcenaktivierung • maßgeschneiderte Beziehungsgestaltung mit dem Ziel, neue Lernerfahrungen zu ermöglichen gürtler 2008 14 Psychotherapie als Lernprozess • Neuroplastizität: Vorgang neuronaler Veränderungen in neuronalen Netzwerken • Lernen (Hypothese geht auf Donald Hebb zurück): Lernen ist das Ergebnis von Veränderungen der synaptischen Effizienz synaptische Plastizität • Psychotherapie beeinflusst nachweislich die Physiologie und Struktur des Gehirns gürtler 2008 15 Lernen im Rahmen von Psychotherapie: Ein Patient wird neuen Stimuli ausgesetzt • durch Psychoeduktion (um Krankheitsmodell nach SORK-Schema zu vermitteln), • im sokratischen Dialog (um dysfunktionale Meinungen herauszuarbeiten und zu ändern) und • in SOK-Situationen (zur Aktivitätssteigerung/ Ressourcenaktivierung). Dies geschieht gezielt, intensiv (emotionale Qualität = Beziehungsgestaltung) und lang anhaltend. gürtler 2008 16 Beginnende Demenz (Bsp. Herr B. / Problemanalyse: S O R K – Schema) - Situation: Herr B. bemerkt seinen Kompetenzverlustes beim Abendessen mit Freunden. Er kann dem Gespräch nicht mehr folgen. Er möchte antworten, hat aber vergessen, was der andere gesagt hatte. - Organismus/Person: Wie schwer ist Herr B. beeinträchtigt, angeborene Persönlichkeitseigenschaften, Lerngeschichte, erworbene Copingstrategien bei Krisen? gürtler 2008 17 - Reaktionen von Herrn B. • emotional: Gefühl der Trauer, Angst oder Wut • kognitiv: dysfunktionale Kognitionen („kann mir nichts mehr merken...Gespräche strengen mich an“) • Verhalten: Passivität, Rückzug, Aufbau einer Fassade • physiologisch: motorische Unruhe, Schlaflosigkeit, Schwitzen - Konsequenz • Herr B. vermeidet Geselligkeiten wegen Überforderung gürtler 2008 18 Ressourcenaktivierung SOK: selektive Optimierung mit Kompensation Verfahren, bei dem der Patient lernt, häufiger als bisher aktive Handlungen zu initiieren, wenn verringertes Aktivitätsniveau vorliegt gürtler 2008 19 kommunikative Kompetenz: Fragen & Anregungen Pat.: Ich kann nichts mehr! Th.: Wie kommen Sie darauf? Was heißt ‚nichts‘? Bei welchen Gelegenheiten merken Sie das? Pat.: Ich komme mir im Gespräch mit anderen völlig blöd vor! Th.: Sprechen Sie von Ihrer Stimmung, wenn Sie in Gesellschaft sind? ... Hat sich durch Ihre Krankheit Ihre Kommunikation verändert? ... Was machen Sie nicht mehr? ... Was bedeutet der Verlust für Sie? Pat.: Ich weiß nicht, vielleicht brauche ich Hilfe! gürtler 2008 20 Ressourcenaktivierung SOK bei leichter Demenz • Angebot einer homogenen Gesprächs- und Werkgruppe (Selektion: Eingrenzung des kommunikativen Raumes) • mit Moderation und supportiver Zuwendung (Optimierung des Kommunikationsrahmens) • und alternativer Ausdrucksmöglichkeiten, z.B. Malen, Musizieren (Kompensation angesichts des Verlustes kommunikativer Kompetenz) gürtler 2008 21 Ressourcenaktivierung bei fortgeschrittener Demenz gürtler 2008 22 Ressourcenaktivierung bei fortgeschrittener Demenz: Sinneserfahrungen Geistig-seelische Aktivierung Wollen beleben, Antrieb geben und gezielt lenken Erinnerungsangebote Aktivierung des episodischen Gedächtnisses durch eine Lebensrückschau mittels alter Briefe, Bilder, Videos, Musik, alte Freunde, Rituale gürtler 2008 23 Therapeutenverhalten allgemein • Simplifizierung • Verständlichkeit • Strukturierung • Transparenz • Wiederholungen • Therapiematerial • Problem- und Alltagsorientierung • keine Konfrontation gürtler 2008 24 Maßgeschneiderte Beziehungsgestaltung Wertschätzung • definiert sich in einem Beziehungsgeschehen • meint eine offene, auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehung • bezeichnet eine erkundende Haltung, die von Höflichkeit und Takt geprägt ist und den sozialen Raum/die Intimsphäre des Gegenübers einfühlsam respektiert gürtler 2008 25 Wertschätzung und Zuverlässigkeit • • • • Zuverlässigkeit vermittelt sich im Beziehungsgeschehen als eine Haltung oder Verhaltensweise, die von Dauer ist als eine Haltung, die echt oder ernst gemeint ist ermöglicht, dass ein Gegenüber auf längere Sicht planen kann erzeugt im Gegenüber ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit (Vertrauen) gürtler 2008 26 Therapeut/in (Hilfs-ICH) hat Leitfunktion kompensiert die fehlende Handlungsplanung und Alltagsgestaltung des Kranken gewährleistet Kontinuität und Sicherheit • durch überschaubare Aktivitäten/Stressreduktion • ritualisierte Abläufe • Anpassung der Umgebung an den Demenzkranken gürtler 2008 • Vermeidung von Reizüberflutung 27 Kommunikation (Körper-)Sprache Klärende Kommunikation vom Inhalts- zum Beziehungsaspekt (Kommunikation weniger auf inhaltliche Gesichtspunkte, sondern auf beruhigende Aspekten ausrichten) gürtler 2008 28 Erkundende Haltung /Suchhaltung • empathisches Verstehen (Würde des alten Menschen) • szenisches Verstehen (Was läuft im Augenblick ab? Hier und Jetzt) • biographisches Verstehen (lebensgeschichtliche Bezüge als Hintergrund des Hier und Jetzt) gürtler 2008 29 Körpersprache • • • • ruhig und zugewandt bleiben Augenkontakt herstellen keine brüsken und hektischen Bewegungen Gesten können viele Worte ersetzen. gürtler 2008 30 Sprache • Langsam, ruhig und klar sprechen. Nicht schreien, vielleicht sogar Nähe und Vertrautheit herstellen durch flüstern. • Kurze, einfache Sätze bilden. Nicht zu viele Informationen oder Fragen auf einmal. Keine Alternativfragen! • Nebengeräusche vermeiden! • Kranken mit Familiennamen ansprechen. gürtler 2008 31 gürtler 2008 32 Lebenswelt: Milieugestaltung Alltagsstrukturierung • überschaubare Aktivitäten anbieten (einfache Tätigkeiten, z.B. Wäsche zusammenlegen, Schälen von Obst) • ritualisierte Abläufe einführen (Essenszeiten, Spaziergänge, Besuche, alte Fotos anschauen) gürtler 2008 33 Lebenswelt: Milieugestaltung Stressreduktion / Sicherheit • Anpassung der Umgebung an den Demenzkranken (viel Licht, gefährliche Gegenstände wegschließen, Wegweiser anbringen, Bewegungsfreiheit ermöglichen, Handläufe) • Vermeidung von Reizüberflutung (zu viele Menschen, zu viele Worte, Radio, Fernseher, Besucher, ständige Umgebungswechsel vermeiden) gürtler 2008 34 Hilfen ohne psychotherapeutischen Anspruch • Selbsthilfegruppen der Alzheimer Gesellschaften • Betreuungsgruppen • Demenzcafes gürtler 2008 35 5. Literatur Alzheimer Europe (Hrsg) (2005) Handbuch der Betreuung und Pflege von Alzheimer Patienten. Georg Thieme Verlag, Stuttgart Ehrhardt T, Plattner A (1998) Verhaltenstherapie bei Morbus Alzheimer. Hogrefe, Göttingen Forstmeier S, Maercker A (2009) Altersprobleme. In: Margraf J Schreiber S (Hrsg) Handbuch der Verhaltenstherapie Bd 2. Springer Verlag, Heidelberg., 583-616 Gürtler K (2000) Einfühlsamkeit gefragt. Der Hausarzt 12:58-60 Gürtler K (2006) Neuropsychotherapie bei Demenzerkrankungen. psychoneuro 2: 87-92 Grawe K (2004) Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen Hirsch RD (2001) Sozio- und Psychotherapie bei Alzheimerkranken. ZGerontolGeria 34:92-100 Maercker A (Hrsg) (2002) Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie. Springer-Verlag, Berlin u.a. Roth G (2008) Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Klett-Cotta, Stuttgart gürtler 2008 36