TEXTGRAMMATISCHE BESONDERHEITEN WS 2010/2011 1. Expansion des Satzes nach rechts Der rechte Rand des Satzes dient in der geschriebenen Sprache häufig dazu, um Informationen nachzutragen, zu akzentuieren und ganz bewusst bestimmte Stilmittel einzusetzen. Solche Elemente können auch nach Schließung des Satzrahmens in den Satz eingefügt werden. Dabei sind zu unterscheiden: a. Einfache Ausrahmungen bzw. Ausklammerungen. Die Spannung im Satz hält an und sie sind von der Vorgängerstruktur graphisch nicht getrennt. b. Graphisch durch Komma abgetrennte Nachträge c. So genannte Rechtsversetzungen, in denen das fragliche Element im Satzinnern kataphorisch angekündigt und dann erst inhaltlich gefüllt wird. Beispiele Einfache Ausklammerung Das Revolutionäre Theater war geplant als eine Serie von Sonntag-VormittagVeranstaltungen (…) (aus: Klaus Mann, Mephisto) Graphisch durch Komma deutlich abgetrennte Nachträge: Frau Mölkenberg hatte ihr zum Einzug zwei junge Kätzchen geschenkt, eine schwarze und eine weiße …) (aus: Klaus Mann, Mephisto) Rechtsversetzung Die Leute haben ihn alle geschluckt, den Steuerzuschlag. 2. Verbspitzenstellung Aufhebung der Zweitstellung des Finitums im deutschen Aussagesatz. – kann auch textsortenbedingt sein, z.B. in Telegrammen bzw. SMS Ankomme Montag gegen Mittag. / Bin gerade angekommen. – in Witzen: Kommt ein Mann in ein Geschäft … – In Lyrik: Sah ein Mann ein Röslein stehn (…) Hier bewirkt die Verbspitzenstellung eine besondere Emotionalität und Expressivität. Hoher Mitteilungswert des Finitums, z.B. in Sportreportagen. Eigentliche Verbspitzenstellung Auer unterscheidet zwischen der eigentlichen und uneigentlichen Verbspitzenstellung. Bei der eigentlichen Verbspitzenstellung sind sämtliche obligatorischen Ergänzungen vorhanden, stehen aber erst nach dem finiten Verb. … hat er wunderbar direkt geschossen. (Sportreportage) Bei der uneigentlichen Verbspitzenstellung fehlt eine der obligatorischen Ergänzungen, die sonst im Vorfeld Position des Satzes ausfüllen könnte. Uneigentliche Verbspitzenstellung Bei der uneigentlichen Verbspitzenstellung fehlt eine der obligatorischen Ergänzungen, die sonst die Vorfeldposition des Satzes ausfüllen könnte. Das ist immer dann möglich, wenn die Referenz hinreichend klar ist. Die fehlende Ergänzung kann: i. Im sprachlichen Kontext gegeben, ii. durch den Situationskontext semantisch erschließbar oder iii. durch die Kategorien der Verbform maskiert sein. Schwer erträglich sind die Pointen-Diskussionen am nächsten Morgen: meiner war aber besser, da hätten mehr gelacht, ich schwör‘s! Mag sein, ist aber wurscht, ist nicht interessant. (aus: B. v. Stuck-Barre: Glosse aus: Remix) 3. Verbletztstellung Ob der Zug wohl pünktlich ist? Wann es wohl endlich losgeht? Wenn es doch endlich soweit wäre? Dass du mir ja keinen Unsinn machst! Solche Sätze werden häufig als kontextuelle Ellipsen eingeordnet, da sie als Nebenätze in einen zu ergänzenden übergeordneten Hauptsatz eingebettet werden können. Ich frage mich, ob der Zug wohl pünktlich ist. Ich wäre froh, wenn es schon soweit wäre. Die Hauptsätze sind, kommunikativ betrachtet, vollkommen entbehrlich. 4. Anapher und Katapher Die Anapher ist das einfachste sprachliche Mittel der thematischen Wiederaufnahme. Textgrammatisch sind folgende Konstellationen möglich: • Der anaphorische Bezug muss über den Wissenskontext hergestellt werden: Mädchen lieben Pferde. Sie betreuen sie gern. • Die Anapher und ihr Bezugswort sind grammatisch nicht kongruent: Madonna hat ein neues Spielzeug – er ist gerade 18! (Überschrift BILD vom 15.3.1996, S. 12) Von draußen klang das Gelächter der restlichen Clique herein – sie vergnügten sich im Swimmingpool. • Mit der Anapher wird ein Thema nicht fortgeführt, sondern spezifiziert bzw. gar neu gesetzt: Das Brautpaar trat aus der Kirche. Er strahlte über das ganze Gesicht. Anapher • Eine Anapher wird verwendet, weil der Gegenstand der Äußerung nicht genauer gefasst werden soll bzw. kann oder weil bestimmte sprachliche Ausdrücke vermieden werden sollen, z.B. aus Gründen eines Tabus. … Sie werden mich abknallen mir ganz wurscht mit einem genickschuß werden sie mich abknallen mir ganz wurscht nieder mit dem großen bruder sie knallen einen immer mit genickschuß ab mir ganz wurscht nieder mit dem großen bruder. (aus: G. Orwell, 1984) Kataphern Die Gebrauchsbedingungen kataphorischer Formen unterliegen weit komplizierteren Mechanismen. Kataphern beziehen sich auf etwas, was bis zu der jeweiligen Textstelle noch nicht versprachlicht wurde, sondern erst noch einzuführen ist. • als Spannungseffekt in der Belletristik • Boulevardpresse ist die Tendenz zu beobachten, einen Referenten in der Überschrift mit einem Personalpronomen einzuführen und die Referenz über ein Foto herzustellen. ER FOTO IST SCHULD AM TUNNEL-INFERNO FOTO ER IST SCHULD AM TUNNEL-INFERNO Kataphern Kataphern stehen häufig in Kombination mit einer Rechtsversetzung des Bezugsworts. Thematisierungsausdruck Ich für meinen Teil hatte die ganze Zeit weitergegessen. Sie machten mir nichts aus, die Gespräche über zerquetschte Finger und so. Der Ausdruck, auf den mit der Katapher fokussiert wird, ist jeweils im rechten Außenfeld des Satzes angebunden. Auf diesen so genannten Thematisierungsausdruck wird die Aufmerksamkeit des Adressaten durch die Katapher in besonderer Weise gelenkt. 5. Parenthese Eine Parenthese ist eine in eine Rahmen-bzw. Trägerkonstruktion eingefügte syntaktische Basiseinheit von nicht zu definierender Komplexität, die strukturell von der Rahmenkonstruktion unabhängig ist. Parenthesen können gezielt eingesetzt werden, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu steuern. Uns, liebe Freundinnen und Freunde, beirrt das nicht. Unser Volk – das wissen wir – wünscht den Regierungswechsel. Seit März – das weisen alle Daten aus – glauben die Menschen in Deutschland auch, dass er kommt. Wir haben – und das ist notwendig – den großen Kassensturz angekündigt. Die Regierung – das ist bereits jetzt sichtbar – hinterlässt Schulden, riesige Schattenhaushalte und eine Abgabenhöhe in nie gekanntem Ausmaß die öffentlichen Haushalte – das wissen die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern, in den Gemeinden ebenso – sind kaum noch seriös zu kalkulieren. (G. Schröder: Die Kraft des Neuen. Rede auf dem außerordentlichen Parteitag der SPD am 17. April 1998 in Leipzig) 6. Anakoluth Anakoluth wird traditionell als „Anomalie“ (H. Paul), „Normwidrigkeit“ oder „Stilfehler“ behandelt. In der in der IdS-Grammatik wird hingegen gezeigt, dass ein großer Teil dessen, was als Anakoluth zu verstehen ist, auf Verbalisierungsverfahren beruht, die von grammatischem Wissen Gebrauch machen. Von einem Anakoluth sprechen wir, wenn Äußerungseinheiten Teile enthalten, die sich syntaktisch nicht einfach integrieren, sich nicht bruchlos anschließen lassen. Dies ist das Ergebnis spezifischer Prozeduren, mit denen Diskrepanzen zwischen Sprecherplan, Bedingungen für die Verwendung sprachlicher Mittel und Verbalisierung systematisch bearbeitet werden. (Zifonun et al. 1997, S. 445) Denn wäre er’s, er würde sich darum drücken. (K. Tucholsky, Zwischen gestern und morgen) Obwohl wir uns so bemüht haben, wir haben es nicht geschafft. Ich bin zu spät gekommen, weil der Bus ausgefallen. Anakoluth Der Sprecher kann aus einem Satzbauplan „aussteigen“, der kann ihn modifizieren oder in einen neuen Plan „umsteigen“, etwa weil der ursprüngliche Plan Defizite ausweist, die sich erst in der Realisierung zeigen, weil die Umsetzung in eine sprachliche Form nicht gelingt, weil die Verbalisierung einen Defekt aufweist oder weil die Einpassung in den laufenden Diskurs fehlschlägt (z.B. (wegen einer Unterbrechung durch den Hörer). • Abbruch innerhalb einer Konstruktion • Modifizierung eines ursprünglichen SBP (Reparatur der Äußerung, Nachtrag) • Retraktion: bereits Geäußertes wird vom Sprecher wieder außer Kraft gesetzt Der Anakoluth ist in der mündlichen Sprache weitaus häufiger als in der geschriebenen. 7. Syntaktische Polyfunktionalität Syntaktische Polyfunktionalität liegt dann vor, wenn ein syntaktisches Glied zugleich mehrere verschiedene Funktionen realisiert. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet und wirklich keine Lust mehr, dieses auch noch zu erledigen. Hier kommt es zu einem nachträglichen syntaktischen Umfunktionieren des einmal eingeführten Elements. keramische und Glasindustrie syntaktische und Wortbildungsmittel in politischen und Fernsehdiskussionen sowohl Original-wie auch aus dem Russischen übersetzte Literatur organisatorische, geographische, energiewirtschaftliche, planerische sowie Problemlösungs- und Berechnungsschemata Koordinationsellipsen Ein-und dasselbe Wort kann in Bezug auf eine bestimmte morphologische Kategorie offen ein: Eine Nachtklingel rief einen verkrüppelten Portier herbei, der uns einließ und die Zimmerschlüssel gab. (Chr. Hein, Der fremde Freund) Koordinationsellipsen dieser Art sind laut Duden streng verboten. Man kann sie aber auch als Argument für grundsätzlich offene Kategorien und dynamische Paradigmen heranziehen, z. B. Akkdat. (!!!) Kategorien einer Textgrammatik sollten so offen und flexibel sein, dass sie dem Funktionieren und der Dynamik des konkreten Sprechens bzw. Schreibens gerecht werden können. 8. Linksversetzung Beispiele: • die Brigitte – die kann ich schon gar nicht leiden ... • aber der von meinem Verlobten – der hat einige hundert gekostet ... ----------------------------------Merkmale: o satzgliedwertig (NP, PP) o links, vor V2-Satz, im Vorfeld, erscheint wie eine doppelte VF-Besetzung o rechts: eine mit links koreferente Proform, unmarkiertes Demonstrativum o Kasuskogruenz, Genus- und Numeruskongruenz o keine Satzpause, intonatorisch und syntaktisch von der folgenden Einheit abhängig Freies Thema Beispiele: • die Brigitte, (.) die kann ich schon gar nicht leiden ... • apropos Pferde; (.) hast du Peters neue Stallungen schon gesehen ... • in Mannheim; (.) haben Sie da lange gewohnt ... • gestern; (.) hast du da ferngesehen ... • die schlanke blondine da drüben; (.) ich glaube – ich habe dieses gesicht schon einmal gesehen ... ---------------------------------------------------------Merkmale: o satzgliedwertiger Ausdruck steht vor Satz mit beliebiger Verbstellung o freies Thema wird wiederaufgenommen (Pronomen, Hyperonym, Hyponym oder durch assoziiertes Element / thematische Assoziationen) o isoliert oder mit Einleitungsfloskeln (‚apropos‘) o im Nominativ o deutliche Satzpause, intonatorisch und syntaktisch von der folgenden Einheit unabhängig, freies Thema hat einen eigenen Satzakzent und eigenes Tonmuster (steigend / fallend) Funktionen des Freien Themas • Neubeginn • Fokussierung auf neuen Themenaspekt eines zuvor thematisierten Sachverhalts • Der Sprecher plant nicht immer die vollständige Satzstruktur im voraus, um sie dann bewusst aufzulösen. • Die Herausstellung nach links erfolgt oft, ohne dass die Planung des vorausgehenden Bezugssyntagmas schon abgeschlossen, ihre Rezeption, ohne dass das Bezugssyntagma schon projizierbar wäre. Schriftlichkeit / Mündlichkeit: auch in bestimmten Textsorten, z.B. Zeitungskommentaren. Als Unterscheidung zwischen LV und FT gilt die Interpunktion: Linksversetzung wird durch Komma, Freies Thema wird durch Punkt abgetrennt. Beispiele: Gansel / Jürgens, S. 210. 9. Besonderheiten der Thema-Rhema-Struktur Lexikonartikel u.a.: (Freies) Thema, das häufig nicht wiederaufgenommen wird. Beim Lesen ist das Thema dennoch immer präsent. Der Zusammenhang ist aufgrund von Interpretationen bzw. Schlüssen verständlich und inhaltlich kohärent. Analepse Thematischer Anschluss an positionsspezifische Verbalisierungen des Vorgängersatzes bzw. –konjunkts, die an der fraglichen Stelle noch präsent bzw. nicht defokussiert sind. • in Gesprächen und koordinierten Strukturen und Satzfolgen Beispiel: Ein junges Mädchen, schön, lebhaft, ehrgeizig, scheinbar begabt, floh das elterliche Haus. Zündete an, was brennen wollte, oben und unten zugleich. Suchte das Wunderbare, hielt vor allem sich selbst dafür. Wurde Schauspielerin auf einer kleinen Bühne. Hielt lange [...] die auftrumpfen der Illusion ihres Ruhms aufrecht kam aber schließlich, von Schmiere zu Schmiere getrieben nirgends mehr unter. (Beispiel aus G. Zifonun u.a. 1997, S. 569 – E. Bloch: Spuren) 10. Doppelpunkt, Bindestrich (Gedankenstrich) als Gliederungssignale • dienen zur syntaktischen Gliederung • sehr häufig in der Boulevardpresse und in jugendsprachlichen Texten und Szene-Magazinen Traditioneller “Reemtsma”-Medientreff im Café “Schöne Aussichten”. Mit dabei: Zwar nicht Top-, aber immerhin Model Tasha de Vasconcelos [...] (Bild-Zeitung) Gestern trat Berti Vogts sein Amt als Nationaltrainer an – Erstes Training mit den Kuwait-Kickern. Ernst wird's für ihn Ende Oktober – Turnier bei den westasiatischen Spielen. (Bild-Zeitung) Operation geglückt: Das Berliner SO36, das seit massiver Mieterhöhung ständig mit dem Überleben zu kämpfen hat, wurde durch drei Benefizkonzerte der Ärzte vor dem Aus gerettet. Endlich Wind! Du packst dein Zeug, glühst zum Strand, springst aus dem Auto und – Mist, kein Wasser typischer Nordsee-Anfänger-Fehler. Interpunktion • werden eingesetzt, wenn nicht satzförmige syntaktische Basiseinheiten voneinander abgegrenzt werden sollen • Doppelpunkt statt Kopulaverb • Doppelpunkt nach Ankündigung bzw. vorweggenommener Zusammenfassung der Folgeäußerung Sein Erfolgsrezept: Klasse Songs und coole Posen. Unschön: Marcin Stypulowski brach sich am dritten Tag seines AustinAufenthaltes den Kiefer beim Überspringen eines Bordsteins. Auch blöd: Stefan Redinius brach sich bei einem Blumenbeet-Gap den Mittelfinger. Wo wir gerade dabei sind: Alexis Desolneux knickte beim Stre-Fahren um und musste fünf Wochen pausieren. Doppelpunkt • vor dem Doppelpunkt können auch Konjunkturen stehen In der Nacht der Nächte vergaßen die obersten Drahtzieher ein paar Sektselige Stunden lang, dass ihre Traumfabrik keinen Grund zum Träumen hat. Denn: Die Produktionskosten [...] stiegen kontinuierlich, die Gagen der Topstars haben die 20-Millionen Marke-überschritten. Außerdem floppten zu viele hochgehandelte Streifen am Markt. Und: Unter den ersten Trophäen-Gewinnern befand sich keine Produktion der sieben in Hollywood ansässigen Major-Studios. – Besondere Akzentuierung des Folgetexts. Formen des Verbs in Text und Diskurs Tempus Übergang zu einem neuen zeitlichen Interpretationskontext innerhalb eines Textsegments: 1899 wird Wittgenstein in Wien geboren. 1918 wird er den Tractatus veröffentlichen Gestern war der zweite Spieltag der Eishockey-Bundesliga. Mannheim verliert in München 2:4. Präsens als neue Betrachtzeit. Effekt der Vergegenwärtigung des Geschehens. Präteritum bleibt als Orientierungsgröße im Hintergrund präsent. Tempusunterschiede in Texten – nicht nur zur zeitlichen Situierung, sondern auch zur Kennzeichnung von Statusunterschieden einzelner Textteile. 11. Formen des Verbs in Text und Diskurs Genuswechsel in Texten Wechsel von Aktiv zu Passiv und umgekehrt, die Referenz auf den jeweils Handelnden zu verschweigen und/oder um differenzierter und amtsmäßiger zu klingen usw. Progressiv / Verlaufsform Die Kategorie Aspekte gilt in der deutschen Grammatik als nicht belegt. Dennoch gibt es im Sprachgebrauch immer häufiger so genannte Verlaufsformen: Ich bin gerade am Telefonieren. Wir sind gerade beim Essen. Auch die öffentlich-rechtlichen Banken sind eifrig dabei, durch Zusammenschlüsse ihre Stellung zu stärken. Windräder sind im Kommen. Warst du wieder Telefonieren? Progressiv • • • • der Progressiv ist im Deutschen nicht ausreichend grammatikalisiert meist mit Präposition (an, bei) ‚unabgeschlossen‘ fokussierend – das Verbalgeschehen wird in einem bestimmten Moment festgehalten und fokussiert sinds am kochen? (.) machens ruhig weiter • durativ – auf einen längeren Zeitraum bezogen er war die ganze Zeit am schreien Literatur Gansel, Christina und Frank Jürgens (2007). Textlinguistik und Textgrammatik: Eine Einführung Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.