Mathematische Beschreibungen des menschlichen Lebens Martin Burger CeNoS Institut für Numerische und Angewandte Mathematik Mathematik + Mensch Warum Mathematik + Mensch ? Im 19. und frühen 20. Jahrhundert passierten enorme Fortschritte im Verständnis der Physik (Naturwissenschaft) – durch verstärkte Mathematisierung Im 20. und frühen 21. Jahrhundert passiert technischer Fortschritt und wachsender Lebensstandard - durch mathematische Modellierung und Simulation Im 21. Jahrhundert stellt sich die nächste Herausforderung - Mathematische Beschreibungen menschlichen Lebens Martin Burger 9.4.2008 2 Mathematik + Mensch Menschliches Leben auf allen Skalen Mathematische Probleme stellen sich auf allen Skalen: - Molekulare / Subzellulare Prozesse - Physiologie / Zellulare Prozesse - Zellbewegung und -populationen - Prozesse auf Organebene - Untersuchungen auf Ganzkörperebene - Prozesse mit grosser Anzahl von Menschen(massen) "Mathematics compares the most diverse phenomena and discovers the secret analogies that unite them." Jean Baptiste Joseph Fourier Martin Burger 9.4.2008 3 Mathematik + Mensch Beispiele aus meiner Forschung - Simulation von Ionenkanälen - Simulation von Zellbewegung - Molekulare Bildgebung - Bildgebung auf grösseren Skalen - Simulation sozio-ökonomischer Prozesse "Mathematics creates our standard of living." Bob Eisenberg " Sozialkompetenz ist auch in der Mathematik eine ganz wichtige Eigenschaft." Wolfgang Lück (FOCUS, Jan 08) Martin Burger 9.4.2008 4 Mathematik + Mensch 5 Mathematical Imaging@WWU Christoph Brune Stöcker Claudia Giesbert Grosser Martin Burger Marzena Franek Astrid Heitmann 9.4.2008 Alex Sawatzky Frank Wübbeling Mary Wolfram (Linz) Thomas Kösters Christina Martin Benning Thomas Mathematik + Mensch 6 Diplomanden 07/08 Tanja Mues Steffi Sillekens Oleg Reichmann Möller Katharina Daniel Arvind Sarin Anna Weisweiler Melanie Schröter Bärbel Schlake Tobias Neugebauer Matthias Tillmann Jan Pietschmann (Cambridge) Martin Burger 9.4.2008 Jahn Müller (UCLA) Martin Benning Jan Hegemann (UCLA) Michael Mathematik + Mensch Bildrekonstruktion und inverse Probleme Inverse Probleme bestehen in der Rekonstruktion einer Ursache aus einer beobachteten Wirkung (über ein mathematisches Modell, das sie in Beziehung setzt) Prototyp inverser Probleme: Medizinische Diagnose Nicht-invasive Verfahren in der Medizin basieren immer auf indirekter Beobachtung "The grand thing is to be able to reason backwards." Arthur Conan Doyle (A study in scarlet) Martin Burger 9.4.2008 7 Mathematik + Mensch 8 Molekulare Bildgebung: PET Bildgebung auf molekularer Ebene, funktional und quantitativ Beispiel Positron-Emission-Tomography Externe Messung basierend auf radioaktiven Zerfallsdaten Zerfallsevents zufällig, aber Rate proportional zur Dichte Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch EM-Algorithmus Stochastische Modellierung des Problems, Messungen aus Poisson-Modell Bild u ist Dichtefunktion des Tracers Linearer Operator K entspricht Radon-Transformation Eventuell zu korrigierende Störungen / Messfehler b Johann Radon Martin Burger 9.4.2008 9 Mathematik + Mensch 10 EM-Algorithmus Rekonstruktion als maximum-likelihood Schätzer Modellierung der a-posteriori Wahrscheinlichkeit nach Bayes Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch EM-Algorithmus als Fixpunktiteration Kontinuierlicher Grenzwert für grosse Anzahl von Events (Stirling-Formel) Optimalitätsbedingung führt auf Fixpunktgleichung Martin Burger 9.4.2008 11 Mathematik + Mensch PET Rekonstruktion Rekonstruktion bei guter Statistik (Kleintier PET) Thomas Kösters Frank Wübbeling Martin Burger 9.4.2008 12 Mathematik + Mensch EM-Algorithmus an der Grenze Schlechtere Statistik = weniger Radioaktivität / schneller zerfallende Isotope ~10.000 Events Für Patienten verträglich/ für gewisse Untersuchungen besser ~600 Events Alex Sawatzky Thomas Kösters Martin Burger 9.4.2008 13 Mathematik + Mensch Vom Bild zum Cartoon Wie können wir auch im Fall schlechter Daten vernünftige Rekonstruktionen erhalten ? Anforderungen müssen adaptiert werden Suche Methode, die nicht alle detaillierten Muster zu rekonstruieren versucht, sondern sich auf die wesentliche Struktur konzentriert: Cartoon-Rekonstruktion Martin Burger 9.4.2008 14 Mathematik + Mensch 15 Das Auge des Betrachters Was sind vernünftig rekonstruierte Strukturen ? Hauptanforderung: müssen für den (menschlichen) Betrachter sinnvolle Rückschlüsse zulassen Übersetze Augenfunktion und Psyche in Mathematik Scharfe Objektkanten sind viel wichtiger als Texturen Morel et al, From Gestalt Theory to Image Analysis, Springer 2007 Haddad-Meyer, UCLA CAM Report 2004 Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch Das Auge des Betrachters Was sind vernünftig rekonstruierte Strukturen ? Was nimmt unser Auge /Hirn wahr ? Martin Burger 9.4.2008 16 Mathematik + Mensch Das Auge des Betrachters Lokale Änderungen von Texturen ändern wenig Martin Burger 9.4.2008 17 Mathematik + Mensch Das Auge des Betrachters Zusätzliche Strukturen ändern viel ! Martin Burger 9.4.2008 18 Mathematik + Mensch TV-Methoden Bestrafung der totalen Variation Formal Exakt ROF-Modell zum Entrauschen von g : minimiere totale Variation unter Nebenbedingung Rudin-Osher-Fatemi 89,92 Martin Burger 9.4.2008 19 Mathematik + Mensch Warum TV-Methoden ? Deswegen ! Linearer Filter Martin Burger 9.4.2008 TV-Methode 20 Mathematik + Mensch 21 TV-Methoden und Bayes Es existiert ein Lagrange Parameter, sodass ROF äquivalent ist zu Z Erster Term aus log-likelihood für ¸ Gauss-Verteilung, p(g j u)Wahrscheinlichkeit » exp(¡ (u !¡ g) 2 dx) zweiter als a-priori 2 p(u) » exp(¡ J (u)) Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch 22 TV-Methoden und Geometrie Verbindung zu Längen/Oberflächenminimierung durch coareaFormel Erster Term zerfällt in Volumsintegrale mit Gewichtung u-g Lösung isoperimetrischer Probleme auf Level Sets ! Stan Osher Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch TV-Methoden und Geometrie Optimalitätsbedingung ¸ (u ¡ g) + p = 0; p 2 @J (u) Duale Variable p hat geometrische Bedeutung p = div q; kqk1 · 1 q ist verallgemeinertes Normalenvektorfeld an Level Sets p ist mittlere Krümmung Martin Burger 9.4.2008 23 Mathematik + Mensch TV-Methoden Analysis und Numerik von TV-Minimierung ist schwierig: - nichtdifferenzierbar - nicht strikt konvex - degenerierter Differentialoperator - keine starke Konvergenz - unstetige Lösungen - potentiell grosse Datenmengen (3D / 4D Imaging) Martin Burger 9.4.2008 24 Mathematik + Mensch 25 TV-Methoden Fehlerabschätzungen brauchen eigenes Distanzmaß: Verallgemeinerte Bregman-distance mb-Osher 04 p muss bei Diskretisierung richtig behandelt werden (primalduale Methoden) mb 08 DFG-Projekt Regularisierung mit Singulären Energien, 2008-2011 Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch Effiziente Löser Parallele Methoden basierend auf Gebietszerlegung – Minimierung auf Teilgebieten mit passender Randkopplung Jahn Müller Martin Burger 9.4.2008 26 Mathematik + Mensch Allgemeinere Probleme Durch Anpassung des Datenfit-Terms (Bayes) Gauss‘sche Entzerrung statt Gauss‘scher Entrauschung (Verzerrung modelliert durch linearen Integraloperator K ) → Poisson-Modell mit TV-Prior: Martin Burger 9.4.2008 27 Mathematik + Mensch Konstruktion numerischer Verfahren Geeignete numerische Lösung durch 2-Schritt Verfahren Klassischer EM-Teil im ersten Schritt TV-Minimierung im zweiten Schritt Martin Burger 9.4.2008 28 Mathematik + Mensch ~600 Events EM Alex Sawatzky EM-TV Thomas Kösters Martin Burger 9.4.2008 29 Mathematik + Mensch EM-TV Rekonstruktion aus simulierten Daten Bild Martin Burger Daten 9.4.2008 EM 30 EM-TV Mathematik + Mensch 31 Quantitative Verfahren Verbleibendes Problem: systematischer Fehler der TV-Methode Variation wird zu stark reduziert, quantitative Werte können vor allem bei kleinen Strukturen stark abweichen Probleme bei quantitativen Verfahren, z.B. Auswertung von physiologischen Parametern basierend auf PET-Rekonstruktionen Projekt PM 6 im SFB 656 (mb/Klaus Schäfers) Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch 32 Rekonstruktion physiologischer Parameter Myokardiales Blutfluss-Modell in jedem Pixel. Vereinfachtes Modell: Bestimmung der Perfusion F und des arteriellen Blutfluss CA aus @CT (x; t) CT (x; t) = F (x)(CA (t) ¡ ) t VD Bildintensität u berechnet aus CT Nichtlineares inverses Problem Martin Benning Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch 33 Quantitative Verfahren Kontrastkorrektur durch iterative Regularisierung p(u) » exp(¡ J (u)) Die prior probability null zentriert bei u^ 1 Anpassung: sei» exp(¡ das[J Minimum p(u) (u) + J (des u^ 1 )Poisson-TV + h^ p1 ; u ¡ Modells u^ 1 i ]) Iterativer Algorithmus, EM-TV kann für jeden Schritt verwendet werden mb-Osher-Goldfarb-Xu-Yin 05, mb-Gilboa-Osher-Xu 06 Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch 34 Nanoskopie – STED & 4Pi Analoge Probleme in der optischen Nanoskopie: Stimulated Emission Depletion (Stefan Hell, MPI Göttingen) BMBF Projekt „INVERS“, Göttingen(MPI+Univ)-Münster-Bochum-Bremen, Leica Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch Nanoskopie – STED & 4Pi Ähnliches Modell der Bildformation, K ist Faltungsoperator Verwendet u.a. zum Studium menschlicher Zellen Martin Burger 9.4.2008 35 Mathematik + Mensch Nano-Dekan Simulierte Bildformation → Christoph Brune Martin Burger 9.4.2008 36 Mathematik + Mensch Dekan-Cartoon Iterierte EM-TV Rekonstruktion Christoph Brune Martin Burger 9.4.2008 37 Mathematik + Mensch Nanoskopie an der Grenze: Syntaxin PC12, 53nm Christoph Brune Martin Burger 9.4.2008 38 Mathematik + Mensch 3D Zellstruktur Christoph Brune Martin Burger 9.4.2008 39 Mathematik + Mensch 40 Mathematische Modelle: Kollektives Verhalten Mathematische Modelle lassen sich für verschiedenste Aspekte des menschlichen Lebens herleiten, zB - Transport durch Ionenkanäle - Zellbewegung und –aggregation (Chemotaxis) - Verhalten von Menschenmengen bei Evakuierung - Verhalten von Händlern auf Finanzmärkten - …. Martin Burger 9.4.2008 41 Mathematik + Mensch Individuelle Modelle Mikroskopische Modelle (individual based) für den Zustand einzelner Teilchen (Position, Impuls) oder Menschen (Position, Meinung, …) können in Form stochastischer Differential-gleichungen gewonnen werden dX N = F N (X N )dt ¡ r V (X N )dt + ¾N (X N )dW j j j j Interaktion der Teilchen j X F N (X N )dt = H N (X N ; X N ) j j k k6 =j Berechnung der Interaktionskräfte aus weiteren Gleichungen Martin Burger 9.4.2008 t Mathematik + Mensch Ionenkanäle Transport durch Zellmembrane passiert Chemist’s View durch Ionenkanäle Ionenkanäle sind Proteine mit einem Loch in der Mitte Proteine erzeugen effektive Ladung im Kanal Bob Eisenberg Martin Burger 9.4.2008 All Atoms View Chemical Bonds are lines Surface is Electrical Potential Red is positive Blue is negative 42 Mathematik + Mensch 43 Ionenkanäle Zustand ist Position der einzelnen Ionen im Kanal und umliegenden Flüssigkeiten Interaktion über elektrische (Coulomb) und chemische Kräfte Externe Kräfte von Proteinen, analoge elektrische und chemische Kräfte Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch 44 Fussgängersimulation Beschrieben durch Newton‘sche Bewegungsgleichungen mit starker Dämpfung (hin zur typischen Gehgeschwindigkeit) „Soziale Kräfte“ (Helbing 93): - Bevorzugte Geschwindigkeitsrichtung (zB zum Ausgang) - Externe abstossende Potentiale (Wände, Hindernisse) - Lokal abstossende Kraft zu anderen Fussgängern Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch Fussgängersimulation Simulation der Entleerung eines Raumes mit zwei Türen und einem Hindernis Bärbel Schlake Martin Burger 9.4.2008 45 Mathematik + Mensch Finanzmärkte und Meinungsbildung Händlerverhalten nach ähnlichem Muster - Externe Potentiale: Wirtschaftsdaten, DAX, Zinsniveau, ... - Interaktion: Anpassung an / Abgrenzung von Konkurrenz Bsp: Preisbildung, Volatilitätsmodelle, Einschätzungen des Wirtschaftsklimas, Verteilung von Wohlstand … Lux et al, Helbing et al, Toscani et al, Lasry-Lions, Bianchi-CapassoMorale, … Daniela Morale Martin Burger Vincenzo Capasso 9.4.2008 46 Mathematik + Mensch PDE-Modelle Im Grenzwert einer grossen Anzahl von Inviduen Herleitung von Kontinuumsmodellen mit asymptotischen Methoden Liouville (2Nd+1 Dimensionen) BBGKY-Hierarchie (2kd+1 Dimensionen) Boltzmann/Vlasov Gleichungen (2d+1) Mean-Field Fokker-Planck Gleichungen (d+1) Ludwig Boltzmann Martin Burger 9.4.2008 47 Mathematik + Mensch Finanzmärkte und Meinungsbildung Analoge Modelle auch aus diskreten Sprungmodellen (random walks). Anwendung auf Finanzmarktdaten, Parameterschätzung Lux et al 05,07 Random Walk / Markov Prozess [Mastergleichung (hochdimensional)] Mastergleichung (niedrigdimensional) Fokker-Planck Gleichung Katharina Daniel Martin Burger 9.4.2008 48 Mathematik + Mensch 49 Nichtlineare Fokker-Planck Gleichungen Kanonische Form der Fokker-Planck Gleichung @t ½= r ¢(D (½)r ¹ ) ¹ = E 0(½) wobei für eine Entropie / Energie E Degenerierte nichtlineare Diffusion, wenn D nicht strikt positiv ist und E 0(½) = f (½) + nicht lokaler Teil Peter Markowich Martin Burger 9.4.2008 Mathematik + Mensch Nichtlineare Fokker-Planck Gleichungen Allgemeine Formulierung als metrischer Gradientenfluss @t ½= r M E (½) Benötigen dafür Riemann‘sche Mannigfaltigkeit Z Transport Z Metrik definiert über optimalen 1 d(½0 ; ½1 ) 2 := inf ½;V D (½)jV j 2 dx ds 0 @s ½= r ¢(D (½)V ) ½(0) = ½0 ; Otto, Brenier, DeGiorgi Ambrosio-Gigli-Savare Martin Burger 9.4.2008 ½(1) = ½1 50 Mathematik + Mensch Nichtlineare Fokker-Planck Gleichungen Mathematische Herausforderungen: - Struktur der Metrik / Mannigfaltigkeit / Geodäten - Geodätische Konvexität der Entropie / Energie Verstanden für D=1 (H - 1 Norm) und D=r (Wasserstein Metrik) Allgemeinerer Fall und Systeme (noch) offen Jan Pietschmann Martin Burger 9.4.2008 51 Mathematik + Mensch 52 Optimaler Transport Weitere Arbeitsgebiete: - Robuste numerische Verfahren basierend auf opt. Transport - Anwendungen, Modellierung, Mikro-Makro Übergang Mary Wolfram Martin Burger Jose Carrillo 9.4.2008 Mathematik + Mensch Optimaler Transport Weitere Arbeitsgebiete: - Inverse Probleme: Bestimmung von unbekannten Termen aus Daten, zB Interaktionspotentiale, Ionenkanalstruktur - Optimales Design, zB Topologieoptimierung von Fluchtwegen - Optimaler Transport in (teilweise) unbekannter Umgebung Heinz Engl Martin Burger Marzena Franek 9.4.2008 Richard Tsai 53