Rosa, Bürgisser, Blaser

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Klassen, Lebensstile & Geschmack /
Kunstwahrnehmung
Seminar: P. Bourdieu / FS 2010 / Prof. Dr. Jörg Rössel
Referenten: Jenny Rosa, Reto Bürgisser, Nina Blaser
Programm
1.
Die Klassen im sozialen Raum und Raum der Lebensstile
2.
Geschmack: Theorie und Empirie
3.
Exkurs: Theorie Kunstwahrnehmung und Empirie
4.
Lebensstile der Klassen
5.
Gibt es die „feinen Unterschiede“?
1
Sozialraum-Modell
Raum der sozialen Positionen
Quelle: Bourdieu 1998
2
Klassen im sozialen Raum
Herrschende Klasse
ökonomische Herrschaft (Unternehmer)
intellektuelle Herrschaft (Intellektuelle)
Mittelklasse oder Kleinbürgertum
Techniker, Mittlere Führungskräfte, Kulturvermittler etc.
(die mobilste Klasse)
Volksklasse
Klasse der Beherrschten (Hilfsarbeiter, Dienstpersonal, Landarbeiter)
3
Sozialraum-Modell
Raum der sozialen Positionen
Quelle: Bourdieu 1998
4
Sozialraum-Modell
Raum der Lebensstile
„repräsentierte soziale Welt“
Quelle: Bourdieu 1998
5
Homologie der Räume
Raum der sozialen Positionen: Verortet (objektive) ökonomische,
kulturelle und soziale Bedingungslage von Akteuren
Raum der Lebensstile: Verortet symbolische Merkmale der
Lebensführung, die durch klassenspezifische (subjektive)
Wahrnehmungen und Wertschätzungen entstehen
➡ Übereinstimmung der Räume: Systematische Beziehungen
zwischen objektiven Klassenpositionen und den symbolischen
Formen der Lebensstile
6
Sozialraum-Modell
Raum der Lebensstile
„repräsentierte soziale Welt“
und
Raum der sozialen Positionen
Quelle: Bourdieu 1998
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Einleitung Geschmack I
• Lebensstile werden durch die ästhetischen
Klassifikations-, Bewertungs- und Handlungsschemata
(Geschmack) strukturiert
• Geschmack ist im Habitus angelegt
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Einleitung Geschmack II
«Der Habitus bewirkt, dass die Gesamtheit der
Praxisformen eines Akteurs (...) als Produkt der
Anwendung identischer (...) Schemata zugleich
systematischen Charakter tragen und systematisch
unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen
eines anderen Lebensstils.»
Bourdieu 1982: S. 278
9
Programm
1.
Die Klassen im sozialen Raum und Raum der Lebensstile
2.
Geschmack: Theorie und Empirie
3.
Exkurs: Theorie Kunstwahrnehmung und Empirie
1.
Lebensstile der Klassen
2.
Gibt es die „feinen Unterschiede“?
10
Geschmack
Bourdieu stellt die Naturalisierung des Geschmacks in Frage
Indem er:
• die Verteilung der verschiedenen Lebensstile erfasst
• typische Kombinationen von Lebensstilen entdeckt und
fragt
• warum gerade sie zusammen auftreten bzw.
klassenspezifisch verteilt sind
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Kulturbegriff
• weit gefasst
• von der Ethnologie entlehnter Begriff
• dadurch ist es möglich:
 Geschmack im Hinblick auf Speisen, auf die Besichtigung
einer Kunstausstellung, auf Kleidungsstücke und auf das
Hören von klassischer Musik gemeinsam zu erforschen
 und in ein und derselben Dimension zu analysieren
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Empirisches Beispiel I:
Präferenzen für Musikstücke je nach
Klassenfraktion
Geschmack für legitime Werke
„Sein Auftreten wächst mit
steigender Bildung, um bei den
Kreisen der herrschenden
Klasse mit den grössten
schulischen Kapitalien zu
kulminieren.“
(Bourdieu 1982: 38)
13
Empirisches Beispiel I:
Präferenzen für Musikstücke je nach
Klassenfraktion
Geschmack für minderbewertete Werke der legitimen
Künste
häufiger bei Angehörigen der
Mittelklasse als in
Arbeiterkreisen oder den
„intellektuellen Fraktionen“ der
herrschenden Klasse
anzutreffen.
14
Empirisches Beispiel I:
Präferenzen für Musikstücke je nach
Klassenfraktion
Geschmack für Werke der
sogenannten „leichten“ oder
aber durch Verarbeitung
entwerteten „ernsten“ Musik
Am häufigsten in den unteren
Schichten
steht im umgekehrten
Verhältnis zum Bildungskapital
15
Empirisches Beispiel II: Fotomotive
Frage:
Bei welchem der folgenden Motive wird sich Ihrer Ansicht nach
am ehesten ein schönes, interessantes, nichtssagendes oder
hässliches Photo ergeben?
Motive:
Schwangere Frau – Kohlköpfe – Sonnenuntergang am Meer –
Folkloristischer Tanz – Metzgerstand – Baumrinde –
Erstkommunion – Verwundeter – Schlange – etc.
16
Empirisches Beispiel II: Fotomotive
Ergebnisse:
Zusammenhang von kulturellem Kapital und negativem (Ablehnung des
„Platten“) wie positiven Indiz (Vermögen, auch dem nichtssagenden
Gegenstand einen höheren Rang einzuräumen) für ästhetische
Einstellung.
Die Urteile für schönes Motiv für Kohlköpfe und Schlangen steigen nach
höherer Klasse, wogegen auch die Aussage „hässlich“ für
Sonnenuntergang zunimmt.
Frauen bekunden viel häufiger als Männer ihre Abneigung gegenüber
abstossenden, schrecklichen oder wenig schicklichen Motiven
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Die drei Geschmacksformen
Legitimer („reiner“) Geschmack  herrschende Klasse
• zeichnet sich durch die Betonung der Form gegenüber dem Inhalt
von kulturellen Gütern bzw. Praktiken jeglicher Art aus
• eine (ästhetische) Distanzierung meidet jegliche Involviertheit des
Kunstwerks ins Lebens
• meidet jegliches affektive oder ethische Interesse am Dargestellten
• geprägt durch einen selbstverständlichen „Sinn für Distinktion“
• „Distanz zur Welt“ als „Fundament der bürgerlichen Welt-Erfahrung“
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Die drei Geschmacksformen
Mittleren bzw. prätentiösen Geschmack 
Kleinbürgertum/Mittelklasse
•
eifert den Präferenzen und Praktiken des legitimen Geschmacks angestrengt
nach
•
orientiert sich an den legitimen Objekten der herrschenden Klasse
•
„dass die legitime Kultur nicht führ ihn [den Kleinbürger] geschaffen ist,
wenn nicht sogar gegen ihn, und er also auch nicht für sie geschaffen ist,
und dass sie aufhört zu sein, was sie ist, wenn er sie sich aneignet“
•
Das Kleinbürgertum ist die am wenigsten homogene, die in grösster
Bewegung befindliche Klasse dar.
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Die drei Geschmacksformen
Populärer Geschmack  beherrschte Klasse/Volksklasse
•
gilt vor allem als Kontrastfolie – als „Natur“
•
interessiert sich nicht für die Form, sondern hauptsächlich für den Inhalt
•
„barbarischer Geschmack“, da er die Beimischung der Reize und Rührungen zum
Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Massstabe seines Beifalls macht.
•
ihre Lebensführung ist geprägt durch zeitliche und materielle Zwänge
•
aber auch auf der Vorstellung von dem, „was zu einem passt“ (Klassenhabitus)
•
Typisch für die Angehörigen der unteren Klasse ist, dass sie das bevorzugen, „wozu sie
ohnehin verdammt sind“.
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Schlüsse
• Bei genauerer Betrachtung gibt es eigentlich nur zwei
Geschmacksformen:
– Der Geschmack der Ober- und der Unterklasse, der
„Luxusgeschmack“ und der „Notwendigkeitsgeschmack“.
• Mit steigender sozialer Stufenleiter nimmt die Intentionalität
des Umgangs mit dem eigenen Geschmack zu. Der Anteil
einer „Stilisierung des Lebens“ wird grösser.
• Die Menschen und Gruppen grenzen sich vor allem von der
jeweils sozial benachbarten Klasse ab.
21
Gründe...
...für den Zusammenhang der kulturellen
Wahrnehmungs- und Handlungsschemata:
• primär: Ausbildungsgrad
• sekundär: soziale Herkunft
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Programm
1.
Die Klassen im sozialen Raum und Raum der Lebensstile
2.
Geschmack: Theorie und Empirie
3.
Exkurs: Theorie Kunstwahrnehmung und Empirie
1.
Lebensstile der Klassen
2.
Gibt es die „feinen Unterschiede“?
23
Theorie der Kunstrezeption I
Bourdieu 1970
• Prozess der Decodierung vs. oberflächliches Musikhören:
-
Code zur Entschlüsselung eines Kunstwerkes
- Ästhetische Kompetenz: „Kenntnis der spezifisch
künstlerischen Unterteilungsprinzipien, die es gestatten,
einer Darstellung durch die Gliederung der stilistischen
Indikatoren ihren Ort zuzuweisen.“
24
Theorie der Kunstrezeption II
Bourdieu 1970
Zur Erinnerung: die drei Kapitalsorten
• Ökonomisches Kapital: Geld und Eigentumsrechte
• Soziales Kapital: Beziehungsnetze
• Kulturelles Kapital:
- Institutionalisiertes Kulturkapital: Bildungstitel
- Objektiviertes Kulturkapital: Gegenstände wie Bücher,
Musikinstrumente, Bilder usw.
- Inkorporiertes Kulturkapital: einverleibte Fähigkeiten, die man zur
Rezeption von Kunstwerken benötigt
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Theorie der Kunstrezeption III
Bourdieu 1970
Quellen von ästhetischer Kompetenz / kulturellem Kapital:
- wiederholte Beschäftigung mit Kunst
- Bildung
- Elternhaus
26
Theorie der Kunstrezeption 4
Bourdieu 1970
Unterschiedliche Rezeptionsformen von Personen:
1. ist das kulturelle Kapital stark ausgeprägt, bevorzugt man
Werke der legitimen Kultur
2. ist das kulturelle Kapital stark ausgeprägt, nimmt man
kulturelle Werke weniger oberflächlich wahr.
27
Kulturelles Kapital und Musikrezeption I
Jörg Rössel 2009
Fragestellungen:
Wie wird Musik wahrgenommen?
Inwiefern hängt die Musikrezeption mit dem kulturellen
Kapital einer Person zusammen?
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Kulturelles Kapital und Musikrezeption II
Jörg Rössel 2009
Analytische Hörweise:
Aufbau und Form der Musik werden bewusst analysiert
Ergebnisse:
- Personen mit analytischer Hörweise besuchen häufig
Hochkulturveranstaltungen und besitzen viel opern- und
musikspezifisches Kapital
- Vergleich mit Bourdieus Theorie der Kunstrezeption: von den 6
gefundenen Formen der Musikrezeption passt nur die „Analyse“ zu
seiner Theorie (decodiertes vs. oberflächliches Musikhören)
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Programm
1.
Die Klassen im sozialen Raum und Raum der Lebensstile
1.
Geschmack: Theorie und Empirie
2.
Exkurs: Theorie Kunstwahrnehmung und Empirie
3.
Lebensstile der Klassen
4.
Gibt es die „feinen Unterschiede“?
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Lebensstilspektrum der Klassen kurz illustriert
• Die Nahrung der herrschenden Klasse
• Körper / Schönheit am Beispiel der Frauen
• Klassenspezifische Sportarten
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Nahrungs-Strukturen der
herrschenden Klasse
Lehrkräfte an höheren
Schulen:
Asketisches Nahrungsverhalten
Freie Berufe:
Lockerung der ökonomischen
Fesseln
Unternehmer:
Teure und schwere („fette“)
Lebensmittel
Quelle: Bourdieu 1982: 300
32
Körper / Schönheit – die Mittelklasse-Problematik
Frauen aus unteren Klassen: Keine oder wenig Investitionen in Schönheit und
Kosmetik (keine Orientierung nach oben)
Frauen der oberen Mittelklasse: Orientieren sich am „perfekten Körper“
(Schönheitsideal der oberen Klasse), grosse Investitionen in Schönheit und
Kosmetik
Frauen der herrschenden Klasse: Körper/Schönheit ist doppelte Quelle von
Selbstwertgefühl (angeborene Pflicht zur Schönheit, Schönheit als Gnade
der Natur)
➡ Frauen der oberen Mittelklasse und der Herrschenden Klasse zollen
demselben Bild von legitimer Körpergestalt ihre Anerkennung, sind aber
zu dessen Realisierung höchst ungleich gerüstet
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Klassenspezifische Sportarten
Volksklasse: Sportarten, die höchsten Krafteinsatz erfordern, den
Einsatz des ganzen Körpers: Rugby, Ringen, Boxen
Mannschaftssportarten
Mittelklasse: Beschäftigung mit Körperkult, Gesundheitskult:
Gymnastik
Herrschende Klasse: Suche nach Exklusivität, Selbstbestimmung und
neuen Erfahrungen. Golf Tennis, Jachtsegeln, Springreiten Ski,
Fechten.
➤ Klassenspezifische Verbreitung bestimmter Sportarten sind nicht nur
durch ökonomische Gegebenheiten determiniert
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Programm
1.
Die Klassen im sozialen Raum und Raum der Lebensstile
2.
Geschmack: Theorie und Empirie
3.
Exkurs: Theorie Kunstwahrnehmung und Empirie
1.
Lebensstile der Klassen
2.
Gibt es die „feinen Unterschiede“?
35
Studie 1: Jörg Blasius / Joachim Winkler (1989):
Gibt es die „feinen Unterschiede“?
Zentrale Frage: Gibt es die feinen Unterschiede innerhalb der Klassen
wirklich?
Ziel: Prüfung der Theorie Bourdieus mit Daten aus Köln
Methode: Korrespondenzanalyse, Fragebogen angepasst
Schritt 1: Untersuchung der „groben Unterschiede“ (Unterschiede
zwischen den Klassen)
Schritt 2: Untersuchung der „feinen Unterschiede“ (Unterschiede
innerhalb der Klassen)
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Studie 1: Jörg Blasius / Joachim Winkler (1989):
Gibt es die „feinen Unterschiede“?
Resultate Schritt 1: Kein flächendeckendes Muster von Lebensstilen für alle sozialen Positionen im
Raum.
Resultate Schritt 2: Die feinen Unterschiede zwischen den Klassenfraktionen der „herrschenden
Klasse“ und „Arbeiterklasse“ sind gering. Bei den Fraktionen der „mittleren Klasse“, herrscht ein
positiver Zusammenhang zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital.
Fazit: Konträre Lebensstile herrschen zwischen, aber kaum innerhalb der Klassen.
Neue Erkenntnisse: Lebensstile existieren auch unabhängig von berufsbezogenen sozialen Lagen.
Die Teilnahme am Berufsleben bzw. die Nichtteilnahme am Berufsleben hat einen grösseren
Einfluss auf den Lebensstil, als die Position im Berufsleben.
Kritik: Unpräzises Vorgehen bei Bourdieu:
Unzulässige Interpretation
Keine exakte Verortung der sozialen Lage im Raum
Replikation der Befunde schwierig
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Studie 2: The Changing Impact of social Background on
Lifestyle (Van Eijck / Bargeman 2004)
Forschungsfrage:
Sinkt der Einfluss der sozio-demographischen Faktoren auf kulturelle und andere
Freizeitaktivitäten?
Sample:
Erwachsene zwischen 18 bis 70 Jahre (aus Holland)
Total: ca. 12'500 Befragte
Dutch Times Budget Studies (TBS)
Zeitraum:
alle 5 Jahre von 1980 bis 2000
38
Studie 2: The Changing Impact of social Background on
Lifestyle (Van Eijck / Bargeman 2004)
Variablen:
Quelle: Van Eijck / Bargeman 2004: 446-447
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Studie 2: The Changing Impact of social Background on
Lifestyle (Van Eijck / Bargeman 2004)
Ergebnisse:
•
Bildung (als Proxy für kulturelles Kapital) ist der wichtigste Faktor bei der
„Lebensstilformation“
•
Alter auch sehr wichtig
•
Einkommen und traditionelle Genderrollen beeinflussen Geschmacksmuster
weniger
•
Religion und politische Präferenz haben weiterhin relevanten Einfluss auf die
populäre Kultur und die Freizeitaktivitäten
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Studie 2: The Changing Impact of social Background on
Lifestyle (Van Eijck / Bargeman 2004)
Schlussfolgerung:
• einerseits lässt der Einfluss der traditionellen Grenzen
(Gender, ökonomische Ressourcen) nach
• anderseits leben die Menschen weiterhin ihre Leben
nach Präferenzen, die mit ihrem sozialen Hintergrund
verbunden sind.
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Take aways
• Geschmack ist nichts rein persönliches, sondern hängt von der Position im
sozialen Raum und von der sozialen Laufbahn ab.
• Unterscheidung zwischen: Legitimer, mittlerer und populärer Geschmack
• Dreidimensionale Struktur der sozialen Ungleichheit bezüglich:
– Lebensbedingungen (vor allem Kapitalvolumen und Kapitalstruktur)
– Habitusformen
– Lebensstilen
• Die Klassengesellschaft reproduziert sich nicht (mehr) allein durch einen
Kampf um die Verteilung des Besitzes von Produktionsmitteln oder
materiellen Ressourcen allgemein, sondern auch durch einen
Klassenkampf ums Symbolische.
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Fragen?
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