Intra- und interkulturelle Variationen - UK-Online

Werbung
Institut für Völkerkunde, Universität zu Köln
Einführungsseminar WS 2004/05
Lioba Lenhart
27.10.2004
5. Sitzung: Enkulturation und
Lebenszyklus
Peoples & Bailey, Kapitel 4:
„Enculturation and the Life Cycle“
Themen:
(1)
(2)
(3)
27.10.2004
Enkulturation und Erziehungspraktiken
Fallbeispiele: Aka, Kongo-Brazzaville und Gusii, Kenia
Lebenszyklus
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
2
(1) Enkulturation und Erziehungspraktiken
• Die Entwicklung eines Menschen erfordert das soziale Erlernen
von Kultur Lernen durch Kommunikation, Unterweisung, Imitation (nicht
durch Versuch und Irrtum).
geschieht vorwiegend im Kindes- und Jugendalter im Prozess der
Enkulturation/Sozialisation (= Weitergabe/Aneignung kulturellen
Wissens an die folgende/von der folgenden Generation), vollzieht
sich prinzipiell aber ein Leben lang;
beinhaltet das kulturelle Wissen, das notwendig ist, um physisch
zu überleben, mit anderen auszukommen und die Welt, die einen
umgibt, zu interpretieren.
vgl. Sitzung 3: Definition von Kultur
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
3
Intra- und interkulturelle Variationen
Intrakulturelle Variation
•
Kinder, die biologisch ähnlich sind und in dem selben kulturellen und
sozialen Umfeld heranwachsen, sind häufig trotzdem äußerst unähnlich
in ihren Reaktionen auf Menschen, Situationen, Ereignisse – obschon
die Mitglieder ihrer Gruppe kulturelle Überzeugungen teilen, die Enkulturation und Erziehungsmethoden mit einbeziehen.
Gründe hierfür sind
• im Individuum angelegte Unterschiede, Persönlichkeitsvariablen,
• Variabilität der innerfamiliären Interaktionen und Bezugspersonen (z.B.
wenn Männer häufig nicht zu Hause sind wg. Jagd, Krieg, Jobs),
• Lebensumstände: ökonomischer oder sozialer Druck, der Eltern anders
handeln lässt als es Erziehungsideale vorgeben (z.B. Problem, Karriere und
Familie / Mutter-, Vaterrolle in Einklang zu bringen).
• u.a.
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
4
… Intra- und interkulturelle Variationen
Interkulturelle Variation
• Der interkulturelle Vergleich zeigt beträchtliche Unterschiede in
Bezug auf
• Stillen, Stillzeiten und Entwöhnung,
• Körperkontakt,
• Toilettentraining,
• Art des Umgangs mit Kindern seitens Erwachsener,
• Belohnen und Strafen im Zusammenhang mit spezifischen
Verhaltensweisen und Art der Belohnung und Bestrafung,
• Unterweisung in grundlegenden Fertigkeiten, die für Erfolg in der
Gesellschaft vonnöten sind,
• Zuwendung seitens der Eltern und anderer Bezugspersonen,
• Vorschriften bzgl. der Beziehungen zu Gleichaltrigen gleichen und
verschiedenen Geschlechts,
• Arbeitserwartungen,
• usw.
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
5
… Intra- und interkulturelle Variationen
!
 neben kulturspezifischen Tendenzen immer individuelle
Varianz !
!  Erziehungsmethoden stehen mit anderen kulturellen
Teilbereichen – Wirtschaft, soziale Organisation u.a. - in
Zusammenhang !
 hierzu im Folgenden Fallbeispiele
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
6
(2) Fallbeispiele: Aka, Kongo-Brazzaville und Gusii, Kenia
Aka
leben im Regenwald vom
Jagen und Sammeln,
arbeiten saisonal auch für
Naturalien (z.B. Maniok) in
Feldern von benachbarten
bäuerlichen Gruppen
27.10.2004
Gusii
leben in fruchtbarem
Hochland von Ackerbau
und Viehzucht, betreiben
teilweise auch Lohnarbeit
und Kleinhandel
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
7
Aka
Enkulturation und Erziehungspraktiken:
– Mütter und Väter in gleicher Weise involviert
– Stillen auf Wunsch des Säuglings bis zu einem Alter von drei bis vier
Jahren, viel Körperkontakt, Schlafen bei Eltern
– nicht-permissive Erziehung: gewähren lassen, bitten, nicht anordnen,
keine körperliche Züchtigung
– sehr intensive Beteiligung der Väter, viele weitere Bezugspersonen
– Kinder wachsen allmählich durch Zuhören, Beobachten und prägende
Erlebnisse in Aufgabenbereiche der Erwachsenen hinein
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
8
Gusii
Enkulturation und Erziehungspraktiken:
– Erziehung Aufgabe der Mütter
– bis zu einem Alter von knapp
zwei Jahren Stillen auf Wunsch
des Säuglings, der fast ständig
von Mutter getragen wird und bei
ihr schläft,
– danach Beaufsichtigung durch
ältere Geschwister, Lernen
durch Kontakt und Unterweisung
der Geschwister,
– nun vergleichsweise wenig
emotionale Zuwendung durch
die Mutter,
– Vater baut keine engere BeBeziehung zu seinen Kindern
auf, ist an Erziehung nicht
beteiligt.
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
9
Vergleich: Aka und Gusii
Aka
Gusii
Verwandtschaft
bilateral: Seiten von
Mann und Frau beide
wichtig
patrilineal: väterliche Seite
wichtig bzgl. Gruppenzugehörigkeit und Erbe
Eheform
monogam
polygyn (mehrere
Ehefrauen möglich)
Residenzeinheit
Kernfamilie bewohnt
Hütte in Siedlung, lebt dort
mit 25-30 anderen Verwandten
Ehefrauen wohnen
mit ihren Kindern in
separaten Häusern im
Gehöft ihres Ehemannes
Arbeitsteilung
kaum zwischen Männern
und Frauen differenziert
Frauen: Gartenbau,
Männer: Viehzucht
Eigentum an Ressourcen,
Unterschiede bzgl. materiellen Besitzes
kaum Privateigentum,
Kooperation und Teilen
zentral
Land und Herden Privateigentum einzelner Männer,
die jeder Ehefrau Teil davon
zuweisen
Demographie
(keine Angaben)
hohe Fertilität und Mortalität
Sicherheitslage,
Konflikte
unproblematisch,
kaum Konflikte
gewaltsame Konflikte,
intern und interethnisch
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
10
Diskussion
Bitte in den nächsten 5 Minuten mit den unmittelbaren
Banknachbar/innen diskutieren (ggf. nochmals kurz im Lehrbuch
die Seiten 71-72 zu Rate ziehen):
 Auf welche Art und Weise beeinflussen die genannten
Bereiche die unterschiedlichen Enkulturationspraktiken von
Aka und Gusii?
Kurzes Statement vorbereiten (5 Minuten),

27.10.2004
Diskussion.
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
11
Vergleich: Aka und Gusii
Aka- und Gusii-Kinder werden in unterschiedlichen kulturellen Welten erzogen!
Um in diesen Welten erfolgreich zu sein, sind ganz unterschiedliches Wissen und
unterschiedliche Fähigkeiten vonnöten.
 Zentral: natürliche und soziale Umweltbedingungen, die einer jeweils spezifischen
Form der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation (inkl. jeweiliges
Ausmaß der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung) zugrunde liegen. Dies wirkt
sich mittelbar auf Erziehungspraktiken aus.
•
•
•
•
Aka-Paare wirtschaften gemeinsam, Gusii-Paare nicht (Frauen bestellen das Land, Männer ziehen mit Vieh
umher). Aka-Väter sind aufgrund dessen permanent in der Nähe ihrer Kinder, Gusii-Väter nicht.
Aka-Paare leben mit ihren Kindern in einer gemeinsamen Hütte, Gusii-Kinder leben bei ihren Müttern.
Aka verstehen Ressourcen als Kollektivbesitz, bei Gusii liegen Besitz und Arbeitskontrolle (inkl. Arbeit der Frauen)
in Händen der Männer. Gusii-Männer haben ein Interesse daran, ihren Besitz (Land und Tiere) zu vermehren,
weshalb sie mehrere Frauen und viele Nachkommen haben (die das Land bestellen, die Herden versorgen) –
weshalb sie aber nicht in der Lage sind, sich so intensiv wie Aka-Väter um ihre einzelnen Kinder zu kümmern.
Aka konkurrieren nicht um Ressourcen mit anderen Aka oder benachbarten ethnischen Gruppen. Gusii müssen
Land und Vieh gegen andere Gusii und benachbarte Gruppen verteidigen, was Aufgabe der Männer ist.
 Erziehungspraktiken sind durch ideale Vorstellungen der Eltern über angemessene Methoden (die in der eigenen Kindheit erlebt und im Verlauf des Lebens durch
Kommunikation mit und Beobachtung von anderen Bestätigung finden) und durch
die spezifischen Lebensumständen geprägt, die sie als notwendig und praktikabler als andere erscheinen lassen.
•
Wenn Gusii-Mütter und -Väter ihren Kindern genauso viel physische und emotionale Nähe einräumen wollten wie
Aka-Mütter und -Väter, so könnten Gusii-Mütter dies nicht aufgrund ihrer Verpflichtungen gegenüber Ehemann,
Verwandten und ihren anderen Kindern; und Gusii-Väter könnten dies nicht aufgrund ihrer Verpflichtungen, ihren
Besitz zu schützen, so den Söhnen ein angemessenes Erbe zu hinterlassen, was ihnen in der weiteren Gesellschaft Prestige und Status bringt.
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
12
(3) Lebenszyklus
Der Lebenszyklus besteht aus kulturell definierten Alterskategorien
(Säugling, Kleinkind, Jugendliche/r, Erwachsene/r, Alte/r), die das Individuum von der Geburt bis zum Tod durchläuft und die verschiedene
Rollen implizieren.
 Auch wenn jede Gesellschaft Alterskategorien kennt - Anzahl und
Definition der Kategorien variieren interkulturell beträchtlich.
 Alter ist eine biologische Kategorie und eine soziale Kategorie.
Das biologisches Alter ist vorgegeben, deckt sich aber nicht unbedingt
mit dem sozialen Alter (definiert über Rollenausfüllung in spezifischen
Lebenszyklusphasen).
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
13
Lebenszyklusphasen
– alle Gesellschaften unterscheiden zumindest die Phasen
• Säuglingszeit,
• Kindheit und Adoleszenz,
• Erwachsenendasein,
• Alter.
– Variation besteht bezüglich
• Anzahl der Alterskategorien,
• Schärfe der Trennungen zwischen den Alterskategorien,
• relative Bedeutung im Vergleich zu anderen Dimensionen
(z.B. Geschlecht),
• Rollenerwartungen bezüglich bestimmter Alterskategorien.
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
14
Übergangsriten
Der Übergang von einer Lebenszyklusphase in eine andere kann sich
allmählich und ohne besondere Berücksichtigung vollziehen.
Übergänge sind jedoch in vielen Gesellschaften durch so genannte
Übergangsriten (rites de passage) markiert.
 Der Begriff wurde 1909 von A. van Gennep
in die Ethnologie eingeführt.
• Ein Übergangsritus ist eine öffentliche Zeremonie, die den Übergang
von einer Alterskategorie in die nächste und den damit einher gehenden Statuswandel markiert.
• Beispiele aus unserer Gesellschaft:
• Taufe,
• Hochzeit,
• religiöse Zeremonien (Erstkommunion, Konfirmation etc.),
• Verleihung von Abitur- oder Magisterzeugnis,
• Beerdigung.
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
15
Lebenszyklusphase:Säuglingsalter
Wann wird ein Mensch zum Menschen?
• In vielen Gesellschaften werden biologische Geburt und soziale
Geburt nicht als identisch erachtet.
• Zudem gibt es äußerst unterschiedliche Vorstellungen über den Status
des ungeborenen Kindes (auch in unserer Gesellschaft umstritten und
Wandel unterworfen!).
 Die Vorstellung, dass das Menschseins oder die Existenz der
sozialen Person mit der Geburt beginnt, ist eine mögliche Variante.
Andere Varianten sind z.B. der Zeitpunkt der Empfängnis oder der
Taufe oder aber ein bestimmtes Stadium der Entwicklung des
Embryos im Mutterleib.
• Der Erwerb des vollen menschlichen Status ist in vielen Gesellschaften mit der Namensgebung verbunden.
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
16
… Lebenszyklusphase:Säuglingsalter
• In einigen Gesellschaften werden Säuglinge unter bestimmten Umständen vernachlässigt oder getötet. Die Vernachlässigung und auch
der aktive Infantizid sind meist eine aus wirtschaftlicher oder sozialer
Not geborene Option.
• Mitunter wird ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und
sozialer Situation, Infantizid und hoher Kindersterblichkeit und
noch nicht vollem menschlichem Status konstruiert.
 Beispiel: Nordostbrasilien: Der Tod schwächlicher Babys wird
rituell kaum ausgestaltet und wenig betrauert. Diese Babys
„wollen sterben“ und „als Engel zum Himmel hinauffliegen“. Die Tränen der Mütter fehlen, da sie „die Flügel
der kleinen Engel beschweren und die Reise in den
Himmel verhindern“. (vgl. Scheper-Hughes, Nancy. 1992.
Death Without Weeping: The Violence of Everyday Life in
Brazil. Berkeley: University of California Press).
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
17
Lebenszyklusphase: Kindheit und Adoleszenz
•
Kindheit beginnt in den meisten Gesellschaften nach Ende der Stillzeit
(die mehrere Jahre umfassen kann!), wenn Laufen und Toilettengang
kein Problem mehr darstellen und erste technische und mechanische
Fähigkeiten erlernt sind.
•
In vielen Gesellschaften beginnt während der Kindheit das Hineinwachsen in die Aufgabenbereiche von Erwachsenen: Kinder im Alter
von fünf bis sechs Jahren (mitunter noch jünger) beteiligen sich sukzessive an der Arbeit der Erwachsenen bzw. erlernen die dafür nötigen
Fähigkeiten.
•
Adoleszenz ist die Phase zwischen Geschlechtsreife und Erlangung des
vollen Erwachsenenstatus
•
Der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenendasein ist durch so
genannte Initiationsriten markiert.
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
18
Initiationsriten
•
Initiationsriten (auch: Pubertätsriten) markieren den Eintritt der
sexuellen Reife und Übergang zum Erwachsenendasein.
• In einigen Gesellschaften gibt es Initiationsriten nur für Männer, in
anderen nur für Frauen, in manchen für beide, dann aber fast immer
geschlechtergetrennt.
Initiationsriten sind
• vielfach mit physischen Härten und Einschüchterungen
verbunden,
• nicht selten mit körperlichen Veränderungen verbunden:
Beschneidungen (circumcision bei Mann und Frau, auch
cliterectomy bei der Frau), Ziernarben, Tätowierungen etc.
• fast immer mit Unterweisungen für das Erwachsenenleben
verbunden,
- häufig den Umgang mit dem anderen Geschlecht
betreffend,
- zudem auch religiöses Wissen, rituelles Wissen
betreffend ( oft Geheimwissen, nur Initiierten
zugänglich).
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
19
Männliche Initiationsrituale: Das Beispiel der Awa,
Papua-Neuguinea
Awa: eine Gartenbau betreibende Gruppe im Hochland von PapuaNeuguinea (wurde erst in 1920er Jahren „entdeckt“).
 Wie auch bei anderen Hochland-Gruppen herrscht ein starker
Antagonismus der Geschlechter:
• Frauen, vor allem ihre Körpersekrete, insbes. Menstruationsblut,
gelten als extrem verunreinigend und gefährlich für Männer;
Menstruierende Frauen werden in Menstruationshütten isoliert.
• Ältere Jungen und Männer wohnen im Männerhaus.
• Mitunter benutzen Männer und Frauen separate Felder und
Wege.
 Es gibt fünf Phasen von Initiationsriten, die mit 12-14 Jahren beginnen
und sich bis in ein Alter von Mitte Zwanzig erstrecken.
Zu Abhärtungen, Einschüchterungen, geheimen Unterweisungen etc.
kommen reinigende Rituale, die den schädigenden Einfluss der
Mütter durch induziertes Nasenbluten, Erbrechen, Schwitzen und
Herausschneiden von Stücken der Glans abbauen sollen.
 Die Durchführung des Initiationsrituals gilt als Ursache des
biologischen Erwachsenwerdens.
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
20
Weibliche Initiationsrituale: Das Beispiel der
Mescalero-Apachen, USA
Weibliche Initiationsrituale sind insgesamt seltener und weniger
elaboriert.
Beispiel: Mescalero-Apachen
Einmal jährlich findet ein viertägiges Ritual für Mädchen nach der ersten
Menstruation statt.
 Apachen sind matrilinealer Stamm, weibliche Mitglieder sollen
zu „Müttern des Stammes“ werden.
• Die Mädchen werden im Ritual mit White Painted Woman, einem
lebensgebendem weiblichen Geist identifiziert – im Tanz als dessen
Reinkarnation betrachtet.
• Im Ritual werden die Bedeutung der Gemeinschaft und ihrer
Geschichte und des weiblichen Beitrags dazu herausgestrichen.
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
21
Struktur von Übergangsriten
Victor Turner beschäftigte sich – anknüpfend an die Arbeiten von
Arnold van Gennep – mit der universellen Struktur von Übergangsriten.
Ihm zufolge lassen sich drei Phasen unterscheiden:
• Abtrennung (separation)
• Liminalität oder liminale Phase (liminality)
• Wiedereingliederung (incorporation)
Die mittlere liminale Phase – also das Zwischenstadium, „betwixt
and between“ – ist häufig mit der völligen Umkehrung der alltäglichen
sozialen Verhältnisse verbunden; die Initianden sind
• deindividualisiert, statusgleich, ihrer Besitztümer beraubt,
• untergeordnet unter die Autorität der bereits Initiierten.
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
22
Liminale Phase
Studien von Victor Turner zu Initiationsriten und Liminalität (u.a. Ndembu, Zambia)
•
•
•
•
Die Jungen werden gewaltsam von ihren Häusern weggebracht – um sie dadurch
von den Frauen zu separieren – insbesondere von ihren Müttern (die mitunter
Wehklagen anstimmen, so als ob ihre Söhne gestorben wären).
Separiert von früherem Heim und früheren Rollen, durchlaufen die Jungen die
liminale Phase. Sie leben abgesondert, halten Nahrungstabus ein und müssen sich
immer wieder Prozeduren unterziehen, die ihre Fähigkeit belegen, physische und
seelische Schmerzen ohne Aufschrei zu ertragen (fasten, tagelang nicht trinken;
Einschüchterungen; aber auch körperliche Eingriffe als bleibende sichtbare Zeichen
für Erreichen des Mannesalters).
Die liminale Phase ist durch eine simple soziale Struktur gekennzeichnet: Um zu
symbolisierenden, dass die Initianden gleichen Status zugewiesen bekommen,
werden ihnen alle Habseligkeiten weggenommen, ihre Gesichter oder Körper werden
in der gleichen Farbe bemalt, sie tragen die gleiche Kleidung und ihr Haupthaar wird
geschoren. Dadurch sehen sie sich ähnlich, was ihre gemeinsame Identität und ihre
Unterordnung unter die Ritual-Ältesten, die für ihre Initiation verantwortlich zeichnen,
unterstreichen soll.
Nach dieser Zeit der gemeinsamen Erfahrung werden die jungen Männer wieder in
ihre Gruppe eingegliedert, nun aber mit neuen Rechten und Pflichten . Nun können
sie heiraten, erhalten ein Teil des Erbes, kleiden sich anders, beziehen eine neue
Wohnstätte – sie kehren ins soziale Leben als neue Personen zurück.
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
23
Diskussion
Bitte in den nächsten 5 Minuten mit den unmittelbaren
Banknachbar/innen diskutieren:
 Lässt sich Turners Modell auch auf Phänomene in
unserer Gesellschaft anwenden?
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
24
… Diskussion:
 Initiationsriten mit Turners drei Phasen in unserer Gesellschaft
• Eintritt in Bundeswehr,
• Aufnahme in religiöse Orden, Priesterweihe,
• Burschenschaften
• Sonstiges…
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
25
Lebenszyklusphase: Erwachsenendasein
•
In vielen Gesellschaften ist das Erwachsenenalter mit Ehe (Hochzeit
häufig auch Übergangsritual!) und Kindern verbunden – insbesondere in
nicht-industriellen Gesellschaften.
 Frauen heiraten in der Regel früher als Männer;
 Ehe und Kinder gelten als erstrebenwerte Form der Lebensgestaltung,
bedeuten Prestigegewinn,
 Ehe und Kinder bedeuten soziale und ökonomische Unabhängigkeit,
 Kinder bedeuten Alterssicherung.
 ältere unverheiratete Personen ohne Kinder sind oft Objekt von
Spott – die mit biologischem und sozialem Alter verbundenen Erwartungen decken sich nicht
•
In Industriegesellschaften ist diesbzgl. ein immenser Wandel zu verzeichnen !
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
26
Lebenszyklusphase: Alter
• In vielen Gesellschaften werden alte Menschen wegen ihrer Erfahrung
und Weisheit besonders geachtet, nehmen wichtige Positionen ein,
ziehen sich (weitgehend) nicht aus den alltäglichen wirtschaftlichen und
sozialen Aktivitäten zurück.
• In anderen Gesellschaften ist das Alter dagegen die Zeit des Ruhestands und mitunter auch der zunehmenden Isolation.
• Isolierung, Verspottung, Aussetzung oder Tötung von alten Menschen
(parricide) gibt es in industriellen und auch in nicht-industriellen
Gesellschaften (z.B. Inuit, Kanada: alte Menschen werden aufgrund von
Alter, Krankheit usw. zur Last für ihre Familien, werden abhängig, ihr
Prestige sinkt).
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
27
… Lebenszyklusphase: Alter
• Folgende Faktoren wirken sich für alte Menschen Statussteigernd
aus:
• Kontrolle über produktive Ressourcen ihrer Familien (Land,
Vieh u.ä.);
• Schriftlosigkeit, da es dann die Alten sind, die das historische,
religiöse und technische Wissen angesammelt haben und
weitergeben können;
• langsame Veränderungen, denn dann bleiben die Erfahrungen der
Alten wertvoll (dagegen sind bei rapidem Wandel ihr Wissen und
ihre Erfahrung „von gestern“).
27.10.2004
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
28
Zur nächsten Stunde:
Homepage des Instituts für Völkerkunde
durchstöbern
http://www.uni-koeln.de/phil-fak/voelkerkunde
 insbesondere Link
27.10.2004
bibliothek
Einführungsseminar WS 2004/05 (L. Lenhart):
Enkulturation und Lebenszyklus
29
Herunterladen