objektivistische Konzeption des guten Lebens

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Prof. Kirsten Meyer
WS 2010/11
VL Glück und gutes Leben
Glück und gutes Leben
Subjektivismus versus Objektivismus
Rückblick auf die letzte Vorlesung
• Dem Rekurs auf informierte Wünsche wird ein
Objektivismus unterstellt.
• Oder sogar vorgeschlagen, diesen offensiv
durch eine objektivistische Konzeption des
guten Lebens zu ersetzen.
• Aber was ist das überhaupt?
Was sagt ein Objektivist zum Glück?
• 1. Rede des Objektivisten:
• „Der Subjektivist sagt, dass Menschen mit
ganz verschiedenen Dingen glücklich sind.
Zum Thema Glück kann man seiner Meinung
nach nichts Allgemeingültiges sagen. Das
stimmt aber nicht. Denn es gibt Dinge, die sind
für jeden von uns gut oder wichtig – also
objektiv gut.“
• Aber gegen wen könnte sich diese Rede
richten?
John Locke
• „Der Geschmack des Geistes ist wie der des
Gaumens verschieden, und es wäre ein ebenso
vergebliches Bemühen, alle Menschen mit
Reichtum oder Ruhm zu erfreuen (worin
mancher sein Glück sucht), als den Hunger
aller Menschen durch Käse und Hummern
stillen zu wollen; beides kann wohl diesen und
jenen eine sehr bekömmliche Kost sein, andern
aber kann es höchst zuwider und unzuträglich
sein. (...)
John Locke
• (...) Das dürfte auch der Grund sein, warum die
Philosophen des Altertums vergeblich danach
forschten, ob das summum bonum im
Reichtum, im sinnlichen Genuß, in der Tugend
oder in der Kontemplation bestehe; (...)
John Locke
• (...) mit ebensolchem Recht hätte man darüber
streiten können, ob Äpfel, Pflaumen oder
Nüsse am besten schmecken, und sich danach
in Schulen teilen können. (...) Die Menschen
mögen verschiedene Dinge wählen und doch
alle die richtige Wahl treffen.“
• John Locke, Versuch über den menschlichen
Verstand, 2. Buch, Kapitel XXI, Sektion 55,
zit. nach der deutschen Ausgabe. Hamburg:
Meiner 1981, S. 322.
Allerdings:
• Subjektivisten müssen keineswegs bestreiten,
dass es jenseits der vielen Unterschiede auch
sehr grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen
Menschen gibt.
• So ist z.B. die Befriedigung der
Grundbedürfnisse (z.B. nach Nahrung) für
jeden von uns wichtig.
• These: Niemand wird glücklich, wenn
elementare Bedürfnisse unbefriedigt bleiben.
Explikation der These
• Menschen sind sich qua ihrer biologischen
Natur so ähnlich, dass es (jenseits der vielen
Unterschiede) auch sehr grundlegende
Gemeinsamkeiten gibt.
• Diese Gemeinsamkeiten sorgen dafür, dass
bestimmte Dinge gut für alle Menschen sind.
• In diesem Sinne sind sie objektiv gut.
Das ist aber mit dem Hedonismus gut
verträglich
• Der Hedonist kann sagen:
• Wie gut oder schlecht unser Leben verläuft,
entscheidet sich daran, wie freud- oder leidvoll
es ist.
• Ein Leben, in dem elementare
Grundbedürfnisse unbefriedigt bleiben, ist aber
ein sehr leidvolles Leben.
Zwischenergebnis
• Insofern könnte auch der Hedonist sagen:
Manchen Dinge sind „objektiv gut“ – in dem
Sinne, dass sie für jeden von uns gut sind.
• Außerdem kann er sagen: Das würde (z.B. in
Bezug auf die Befriedigung der
Grundbedürfnisse) jeder von uns selbst
genauso sehen. In diesen Dingen gibt es
gerade keinen Dissens.
Ergänzung
• Zudem gibt es auch Objektivisten, die
einräumen, dass nicht für jeden von uns
dieselben Dinge gut sind.
Ergänzung
• Schaber: „Ist etwas für Personen unabhängig
von ihren Wünschen gut, bedeutet das nicht,
dass für alle Personen dieselben Dinge gut
sind. Unterschiedliche Fähigkeiten,
Biographien und soziale Umfelder führen
dazu, dass unterschiedliche Dinge für Personen
gut sein können. Die Vertreter einer objektiven
Theorie des guten Lebens haben keinen Grund,
dies in Zweifel zu ziehen.“
• Schaber, Peter: Gründe für eine objektive Theorie des menschlichen
Wohls. In: Steinfath, Holmer (Hrsg.): 1998: Was ist ein gutes Leben?
Philosophische Reflexionen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 149-166, hier
S. 165.
Aber gegen wen richtet sich dann noch
die Rede des Objektivisten?
• 2. Rede des Objektivisten:
• „Wenn wir uns fragen, wie gut das Leben einer
Person verläuft, dann hängt die Antwort von
dieser Frage nicht (lediglich) von der eigenen
Einschätzung dieser Person ab. Es gibt Dinge,
die sind objektiv gut oder schlecht für sie,
unabhängig davon, wie sie selbst das subjektiv
sieht.“
Beispiel
• „[A] person‘s good is a different thing from
what she holds good, either actually or
rationally, even from her point of view.“
• Stephen Darwall (2002): Welfare and rational
Care. Princeton University Press, S. 1.
Aber gegen wen wendet sich diese
Rede?
• Auch der individualethische Hedonist könnte
denjenigen kritisieren, der Freude nicht für
einen zentralen Bestandteil des guten Lebens
hält.
• Insofern könnte auch der Hedonist sagen: Ein
freudvolles Leben ist eben objektiv gut – wer
das anders sieht, hat etwas Wesentliches
übersehen.
Was sagt ein Objektivist nun?
• 3. Rede des Objektivisten:
• „Es gibt aber nicht nur dieses eine Gut
‚Freude‘, sondern es gibt auch andere
objektive Güter. Daher sollten wir uns nicht
lediglich daran orientieren, was uns Freude
bereitet, sondern auch an anderen objektiv
wertvollen Dingen.“
• „Das gilt übrigens auch für den
Wunschtheoretiker. Es kommt nicht nur auf
unsere Wünsche an.“
Beispiel
• „[A]n objective theory of the good [..] holds
that certain states and activities are good, not
because of any connection with desire, but in
themselves.“
• Thomas Hurka (1993): Perfectionism. New
York: Oxford University Press, S. 5.
Frage:
• Welche Zustände und Aktivitäten sind also
jenseits solcher Wünsche „an sich“ gut?
• Der Objektivist sagt:
• Jedenfalls nicht nur Freude (bzw. die Dinge,
die Freude bereiten).
• Stärker: Freude ist überhaupt kein
entscheidendes Kriterium.
• Im Folgenden: Die schwächere Variante.
Subjektivismus versus Objektivismus
• Aufschlussreich: Unterscheidung, die sich bei
Sher (1997) findet.
• Den Subjektivismus charakterisiert Sher so,
dass alles, was gut (für uns) ist, entweder auf
unsere aktuellen oder idealen Wünsche
(desires), Wahlakte (choices) oder Freuden
(enjoyments) oder eine Kombination dieser
Dinge zurückgeführt werde.
Objektivismus
• Der Objektivist (bei Sher: “Perfektionist”)
bestreite hingegen, dass dies ausreiche:
• „By contrast, if a view denies that these factors
exhaust the determinants of value, I shall call it
a form of perfectionism.”
Objektivismus
• Der Objektivist nehme also an, dass manche
Dinge auch unabhängig davon gut (für uns)
seien, ob sich dadurch unsere Wünsche
erfüllen oder ob wir uns an diesen Dingen
freuen können.
Objektivismus = Perfektionismus
• Die Gegenposition zum Subjektivismus
bezeichnet Sher (mit vielen anderen) nicht als
Objektivismus, sondern als Perfektionismus.
• Daran hängt jedoch inhaltlich nichts – man
hätte auch „Objektivismus“ sagen können.
Subjektivismus
• Ein Subjektivist ist also (nach Sher) entweder
der Auffassung, dass es an unseren
Einstellungen hängt, wie gut unser Leben
verläuft (A), oder er sagt, dass wir dazu die
Qualität unserer Erfahrungen in den Blick
nehmen müssen (B).
• A: Wunschtheorie
• B: Hedonismus
Subjektivismus
• Es kann natürlich auch Subjektivisten geben,
die meinen, dass beides wichtig ist, wobei
dann das genaue Verhältnis zwischen (A) und
(B) genauer geklärt werden müsste.
• (Das waren die in der letzten Vorlesung
diskutieren Mischformen zwischen
Hedonismus und Wunschtheorie)
Noch einmal: Subjektivismus
• Es hängt an unseren Einstellungen, wie gut
unser Leben verläuft (A)
• oder/und
• Es hängt an der Qualität unserer Erfahrungen,
wie gut unser Leben verläuft (B).
Objektivismus
• Vertreter einer objektivistischen Konzeption
des guten Lebens meinen hingegen, darüber
hinaus sei auch (C) dafür maßgeblich, wie gut
unser Leben verläuft.
• Wir werden im Folgenden insbesondere klären
müssen, was genau sich hinter C verbirgt.
• Ein Beispiel vorab: C = Die Entwicklung
bestimmter Fähigkeiten.
Objektivismus
• Objektivisten könnten allerdings behaupten,
dass (A) und (C) oder (B) und (C) notwendig
miteinander verknüpft sind.
• So könnten sie z.B. annehmen, dass eine
Entwicklung unserer Fähigkeiten tatsächlich
und sogar notwendig Lust gewährt.
• Und in dieser Hinsicht wäre (C) dann nicht
unabhängig von (B).
Objektivismus
• Aber: Unabhängigkeit der Begründung.
• Der Objektivist sagt: (C) ist auch unabhängig
von (B) ein Grund dafür, den Verlauf des
Lebens als besser oder schlechter zu
beurteilen.
Unabhängigkeit der Begründung
• Objektivisten könnten z.B. behaupten, dass die
Entwicklung bestimmter Fähigkeiten (C) „an
sich“ gut ist, und nicht gut, weil dies Lust
gewährt.
• Vgl. dazu z.B. Hurka.
Unabhängigkeit der Begründung
• Allerdings: Der Verweis darauf, dass etwas
„an sich“ gut ist, stellt für denjenigen, der
anderer Auffassung ist, keine befriedigende
Begründung dar.
• Der Objektivist muss also nach einer anderen
Begründung suchen. Im Folgenden:
• 1. Wofür (für welches C) argumentieren
einzelne Objektivisten?
• 2. Wie begründen sie das?
Welches C?
• 1. Vorschlag:
• Objektiv wertvoll ist die bestmögliche
Entwicklung spezifisch menschlicher
Fähigkeiten
• Neo-aristotelischer Ansatz.
• Vertreten z.B. von Hurka 1993, Foot 2003.
Hurkas Position
• „Certain properties [...] constitute human
nature or are definitive of humanity – they
make humans humans. The good life [...]
develops these properties to a high degree or
realizes what is central to human nature.“
• Hurka 1993, S. 3.
Welches C?
• 2. Vorschlag
• Es gibt objektiv wertvolle Dinge, deren Wert
nicht mit Hilfe des 1. Vorschlags erklärt
werden muss. (Also nicht so, wie die NeoAristoteliker das tun).
• Das gute menschliche Leben besteht in der
Realisierung dieser Dinge.
Objektive Listen
• Auch „objective-list-theories “ des guten
Lebens genannt
• Darunter versteht Parfit (1984, S. 493)
Theorien, die folgendes behaupten:
• „[C]ertain things are good or bad for us,
whether or not we want to have the good
things, or to avoid the bad things.“
Objektive Listen
• Aber wieso „Listen“?
• Es geht dabei um die Verteidigung einer Liste
von objektiv guten Dingen, die das Leben
besser machen.
Objektive-Liste-Theorie
• „The theory holds that what is intrinsically
good for an individual, good for its own sake
rather than as a means to some further good, is
to get or achieve the items that are specified on
a correct and complete list of such goods.“
• Richard Arneson (1999): „Human Flourishing
versus Desire Satisfaction.“ In: Social Philosophy
and Policy 16 (Cambridge University Press), S.
113-143, hier S. 118.
Exkurs zum Hedonismus
• Man könnte allerdings auch den Hedonisten
als Vertreter einer solchen Theorie auffassen.
• Er hätte nur eine Sache auf seiner Liste stehen,
nämlich:
1. Freude
2.
3.
4.
Was aber haben die Objektivisten noch auf
ihrer Liste stehen?
1. Freudvolle Erfahrungen und speziell Freude
an Großartigem („of the excellent“)
2. Das Erreichen vernünftiger Lebensziele
3. Freundschafts- und Liebesbeziehungen
4. Intellektuelle und kulturelle Errungenschaften
5. Sinnvolle Arbeit
6. Sportliche Exzellenz
7. Autonomie
8. Systematischer Verständnis der kausalen
Struktur der Welt
Arnesons Liste
Dies sind die Einträge auf Arnesons Liste.
Arneson, Richard J. (2003): „Liberal
Neutrality on the Good: An Autopsy.” In:
Wall, Steven/Klosko, Gregor (Hrsg.):
Perfectionism and Neutrality. Essays in
Liberal Theory. Oxford u. a.: Roman &
Littlefield Publishers, S. 191-218.
Fazit
• 1. Auch ein Subjektivist kann durchaus
einräumen, dass manche Dinge gut für jeden
von uns sind – und er kann dabei durchaus auf
unsere menschliche Natur verweisen (z.B. auf
unsere Grundbedürfnisse).
Fazit
• Damit lassen sich also auch solche Theorien
als „subjektivistisch“ bezeichnen, die darauf
verweisen, dass manche Dinge insofern
objektiv gut für uns sind, dass sie gut für jeden
von uns sind.
• Z.B. eine Reihe von instrumentell wertvollen
Gütern (z.B. Nahrung).
• Aber was ist nicht-instrumentell gut für jeden?
• Der Hedonist sagt: Freude.
Fazit
• 2. Ein Objektivist meint, dass letztlich nicht
nur Freude und Leid (an sich bzw. nichtinstrumentell) gut bzw. schlecht für jeden von
uns ist.
• Vgl. die „objektiven Listen“
• Aber wie (falls überhaupt) lassen sich deren
Einträge rechtfertigen?
• Um diese Frage geht es in den nächsten beiden
Vorlesungen.
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