Kapitel 1 Vollständige Induktion Inhalt 1.1 Das Prinzip A(n) A(n+1) 1.2 Anwendungen 1 + 2 + 3 + ... + n = ? 1.3 Landkarten schwarz-weiß 1.4 Fibonacci-Zahlen 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, ... Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 2 1.1 Das Prinzip • Ziel: In der Mathematik macht man in der Regel Aussagen über unendlich viele Objekte (alle Zahlen, alle Dreiecke usw.) • Solche Aussagen kann man prinzipiell nicht dadurch klären („beweisen“), dass man alle Fälle einzeln ausprobiert. Man muß die Aissage sozusagen „auf einen Schlag“ erledigen. Dazu dient die (vollständige, mathematische) Induktion. • Bemerkung: Unter „Induktion“ versteht man (im Gegensatz zur „Deduktion“ eigentlich das – logisch unzulässige – Schließen von Einzelfällen auf alle Fälle. Die mathematische Induktion ist ein Werkzeug, mit dem man das sauber machen kann. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 3 Das Prinzip der vollständigen Induktion Prinzip der vollständigen Induktion. Sei A eine Aussage oder eine Eigenschaft, die von einer natürlichen Zahl n abhängt. Wir schreiben auch A(n). Wenn wir wissen, daß folgendes gilt: (1) Induktionsbasis (Induktionsverankerung): Die Aussage A gilt im Fall n = 1 (das heißt, es gilt A(1)), (2) Induktionsschritt: Für jede natürliche Zahl n 1 folgt aus A(n) die Aussage A(n+1), dann gilt die Aussage A für alle natürlichen Zahlen 1. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 4 Erläuterung Bedeutung der vollständigen Induktion: Um eine Aussage über unendlich viele Objekte nachzuweisen, muss man nur zwei Aussagen beweisen: Induktionsbasis: A(1) Induktionsschritt: A(n) A(n+1) Man nennt A(n) auch die Induktionsvoraussetzung. Die hinter diesem Prinzip stehende “Philosophie” ist die, dass man in objektiv kontrollierbarer Weise über eine Unendlichkeit (“alle” natürlichen Zahlen) sprechen kann. Die Bedeutung dieses Prinzips, wurde zwischen 1860 und 1920 u.a. von Moritz Pasch (Professor in Gießen) und Giuseppe Peano (Professor in Turin) entdeckt. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 5 Aussagen A(n): 4n ist eine gerade Zahl A(n): n2 ist eine gerade Zahl A(n): n ist eine Primzahl A(n): Die Anzahl der Sitzordnungen von n Studierenden auf n Stühlen ist n! (:= n(n–1)...21, sprich „n Fakultät”) A(n): n geradlinige Straßen haben höchstens n Kreuzungen A(n): Wenn n Computer zu je zweien durch eine Leitung verbunden werden, so braucht man genau n(n–1)/2 Leitungen Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 6 1.2 Anwendungen Problem (C.F. Gauß): 1+2+3 +...+ 100 = ??? 1.2.1 Satz. Für jede natürliche Zahl n 1 gilt: 1+2+... + n = n(n+1)/2. In Worten: Die Summe der ersten n positiven ganzen Zahlen ist gleich (n+1)n/2. Konsequenz: Man kann die Summe 1+2+3+...+n ganz einfach ausrechnen, und es passieren kaum Rechenfehler. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 7 Dreieckszahlen Definition. Die Zahlen der Form (n+1)n/2, also die Zahlen 1, 3, 6, 10, 15, ... heißen Dreieckszahlen. Man kann Satz 1.2.1 also auch so ausdrücken: Die Summe der ersten n positiven ganzen Zahlen ist gleich der n-ten Dreieckszahl. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 8 Beweis (durch Induktion) Beweis durch Induktion nach n. Die Aussage A(n) sei die Aussage des Satzes, also: A(n): 1+2+3 +...+ n = n(n+1)/2. Sowohl bei der Induktionsbasis als auch beim Induktionsschritt zeigen wir, dass in der entsprechenden Gleichung links und rechts das Gleiche steht. Induktionsbasis: Sei n = 1. Dann steht auf der linken Seite nur der Summand 1, und auf der rechten Seite steht 21/2, also ebenfalls 1. Also gilt A(1) Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 9 Induktionsschritt Induktionsschritt: Sei n eine natürliche Zahl 1, und sei die Aussage richtig für n. Wir müssen A(n+1) beweisen, das heißt, die Summe 1+2+3+... +(n–1) + n + (n+1) berechnen. Wir spalten wir diese Summe auf: 1+2+3+... +(n–1) + n + (n+1) = [1+2+3+... +(n–1) + n] + (n+1) = n(n+1)/2 + (n+1) (nach Induktion) = [n(n+1) + 2(n+1)]/2 = (n+2)(n+1)/2. Insgesamt haben wir die Aussage A(n+1) bewiesen. Somit gilt der Satz. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 10 Der Trick von Gauß Gauß hat die Summe 1+2+3+...+100 nicht so bestimmt, sondern mit folgendem genialen Trick: 1 + 2 + 3 + ... + n–2 + n–1 + n + n + n–1 + n–2 + ... + 3 + 2 + 1 = n+1 + n+1 + n+1 + ... + n+1 + n+1 + n+1 = n(n+1). Also gilt 1+2+3+...+n = n(n+1)/2. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 11 Summe der ungeraden Zahlen 1.2.2 Satz. Für jede natürliche Zahl n 1 gilt: 1+3+5 + ... + (2n–1) = n2. In Worten: Die Summe der ersten n ungeraden Zahlen ist gleich der n-ten Quadratzahl. Beispiele: (a) 1 + 3 + 5 = 9 (b) 1 + 3 + 5 + ... + 1999 = 1.000.000 Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 12 Beweis Beweis durch Induktion nach n. Induktionsbasis: Sei n = 1. Dann steht auf der linken Seite nur der Summand 1, und auf der rechten Seite steht 12 = 1. Somit gilt A(1). Induktionsschritt: Sei n eine natürliche Zahl mit n 1, und es gelte A(n). Wir müssen A(n+1) nachweisen. Wir beginnen mit der linken Seite von A(n+1) und formen diese so lange um, bis wir die rechte Seite von A(n+1) erhalten: 1+3+5+ ... + (2n–1) + (2n+1) = [1+3+5+ ... + (2n–1)] + (2n+1) = n2 + (2n+1) (nach Induktion) = n2 + 2n + 1 = (n+1)2 . Somit gilt A(n+1), und damit ist die Aussage bewiesen. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 13 Die Bernoullische Ungleichung 1.2.3 Satz. Für jede nat. Zahl n und für jede reelle Zahl x -1 gilt (1+x)n 1 + nx. Beweis durch Induktion nach n. Induktionsbasis: Sei n = 1. Dann ist linke Seite = 1+x = rechte Seite; insbesondere ist linke Seite rechte Seite. Induktionsschritt: Sei n eine natürliche Zahl mit n 1, und sei die Behauptung richtig für n. Damit folgt (1+x)n+1 = (1+x)n(1+x) (1 + nx) (1+x) (nach Induktion) = 1 + nx + x + nx2 1 + nx + x = 1 + (n+1)x. Damit ist der Induktionsschritt bewiesen, und damit gilt der Satz. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 14 1.3 Landkarten schwarz - weiß Ein Gebiet, etwa ein Erdteil, durch geradlinige Grenzen in Länder aufgeteilt ist. Die Grenzen sollen dabei so gezogen sein, dass sie den ganzen Erdteil durchqueren. Frage: Wieviel Farben braucht man, um die Länder so zu färben, dass keine zwei Länder, die ein Stück Grenze gemeinsam haben, gleich gefärbt sind? Bemerkungen: 1. Länder, die nur einen Punkt gemeinsam haben, dürfen sehr wohl gleich gefärbt sein. 2. Eine solche Färbung nennt man auch eine zulässige Färbung. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 15 Färbung von Landkarten 1.3.1 Satz. Jede Landkarte, die dadurch entsteht, dass man einen Erdteil durch Geraden aufteilt, kann mit zwei Farben so gefärbt werden, dass je zwei Länder, die eine gemeinsame Grenze haben, verschieden gefärbt sind. Beweis durch Induktion. Was ist n? Sei n die Anzahl der Geraden, die den Erdteil aufteilen. Dann lautet A(n) so: A(n): Jede Landkarte, die dadurch entsteht, dass man einen Erdteil durch n Geraden aufteilt, kann mit den Farben schwarz und weiß so gefärbt werden, dass je zwei Länder, die eine gemeinsame Grenze haben, verschieden gefärbt sind. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 16 Beweis Induktionsbasis: Sei n = 1. Jede Landkarte, die durch Aufteilung durch nur eine Gerade entsteht, kann mit zwei Farben gefärbt werden. Klar: Durch eine Gerade entstehen nur zwei Länder, die man mit zwei Farben färben kann. Induktionsschritt: Sei n eine natürliche Zahl mit n 1, und sei die Aussage A(n) richtig. Wir müssen beweisen, dass auch A(n+1) gilt. Dazu betrachten wir eine beliebige Landkarte, die durch Ziehen von n+1 Geraden g1, g2, ..., gn+1 entstanden ist. Wir müssen zeigen, dass diese Landkarte zulässig mit den Farben schwarz und weiß gefärbt werden kann. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 17 Beweis (Der Trick) Sei die Gerade gn+1 waagrecht und betrachten diese Gerade (vorerst) nicht. Damit entsteht eine Landkarte, die durch die n Geraden g1,..., gn entstanden ist. Nach Induktionsvoraussetzung ist diese Landkarte also mit den Farben schwarz und weiß zulässig färbbar! Wir müssen die Originallandkarte mit färben! Dazu fügen wir die (n+1)-te Gerade wieder ein. Dabei entstehen neue Länder. Wir müssen die Länder, oder jedenfalls einen Teil umfärben. Trick: Wir färben die obere Hälfte der Karte um! Die Länder im südlichen Teil der Karte behalten dagegen ihre Farbe. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 18 Beweis (Abschluss) Behauptung: Diese Färbung ist zulässig. 1. Fall: Die Grenze von L und L' liegt unterhalb von gn+1. Dann hatten die Länder L, L' verschiedene Farbe. Da sich unten nichts geändert hat, haben L und L' nach wie vor verschiedene Farbe. 2. Fall: Die Grenze von L und L' liegt oberhalb von gn+1. Oberhalb von gn+1 hat sich alles geändert. Da L und L' vorher verschiedene Farben hatten, haben sie auch jetzt verschiedene Farben. 3. Fall: Die Grenze von L und L' liegt auf gn+1. Dann sind L und L' durch Aufteilung eines alten Landes L* entstanden. Wenn L* weiß war, bleibt L weiß, während L' schwarz wird. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 19 Das Vierfarbenproblem Berühmtes Problem der Mathematik: Wie viele Farben braucht man, um eine beliebige Landkarte, also eine Landkarte, die nicht durch Ziehen von Geraden entsteht, zulässig zu färben? Über 100 Jahre war die Vermutung, dass vier Farben ausreichen, unbewiesen. 1976 haben die Amerikaner Apel und Haken mit massivem Computereinsatz den “Vierfarbensatz” beweisen. Dabei bauten sie entscheidend auf Vorarbeiten des Deutschen H. Heesch auf. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 20 1.4 Die Fibonacci-Zahlen Fibonacci (= Leonardo von Pisa) um 1200 Definition der Fibonacci-Zahlen: (a) 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, ... (b) Jedes Folgenglied ist die Summe seiner beiden Vorgänger. (c) Wir definieren die Folge f1, f2, f3, ... von natürlichen Zahlen mit folgenden Eigenschaften: fn = fn–1+ fn–2 und f1 = 1, f2 = 1. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 21 Beispiele • Kaninchen (jedenfalls mathematische Kaninchen) vermehren sich nach folgenden Regeln: – Jedes Kaninchenpaar braucht nach seiner Geburt zwei Monate, bis es geschlechtsreif ist. – Von da an gebiert es in jedem Monat ein neues Paar – Alle Kaninchen leben ewig. Wenn fn die Anzahl der Kaninchen zu Beginn des n-ten Monats bezeichnet. Dann sind die fn genau die Fibonacci-Zahlen. • Ein Briefträger steigt eine lange Treppe hoch, indem er die erste Stufe betritt und von da an jeweils eine oder genau zwei Stufen auf einmal nimmt. Auf wie viele Arten kann er die n-te Stufe erreichen? Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 22 Beispiele aus der Biologie • Bei Pflanzen kommen Fibonacci-Zahlen häufig vor. • Beispiele: Bei Sonnenblumen sind die Kerne in Spiralen angeordnet, die nach links und nach rechts drehen. Die Anzahlen der linksdrehenden und der rechtsdrehenden Spiralen sind aufeinanderfolgende Fibonacci-Zahlen. Ähnlich bei Gänseblümchen, Ananas, (manchen) Kakteen, .... Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 23 Wie kann man Fibonacci-Zahlen ausrechnen? 1. Durch Anwenden der rekursiven Definition. 2. Durch Anwenden der folgenden expiziten Formel: 1.4.1 Satz (Binet-Formel). Für jede natürliche Zahl n 1 gilt fn = [((1+5)/2)n – ((1–5)/2)n] / 5. Bemerkung. Das Erstaunliche an dieser Formel ist, dass sich für jedes n die Wurzelterme so weg heben, dass nur eine natürliche Zahl, nämlich fn stehenbleibt. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 24 Beweis (Induktionsbasis) Beweis durch Induktion nach n. Die Aussage A(n) ist fn = [((1+5)/2)n – ((1–5)/2)n] / 5. A(n): Induktionsbasis: Sei n = 1. Wir müssen die Aussage A(1) beweisen. Dazu rechnen wir einfach die Formel (also die rechte Seite) für den Fall n = 1 aus: [((1+5)/2)1 – ((1–5)/2)1] / 5 = [(1+5)/2 – (1–5)/2] / 5 = [25)/2] / 5 = 1 Damit gilt A(1). Beweisen Sie A(2): Übungsaufgabe. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 25 Beweis (Induktionsschritt) Induktionsschritt: Sei n eine natürliche Zahl mit n 2, und es mögen die Aussagen A(n) und A(n–1) gelten. Wir müssen zeigen, dass dann auch A(n+1) gilt. Dazu verwenden wir die Rekursionsformel fn+1 = fn + fn–1, und wenden sowohl auf fn also auch auf fn–1 die Induktionsvoraussetzung an: fn+1 = fn + fn–1 = [((1+5)/2)n – ((1–5)/2)n] / 5 + [((1+5)/2)n–1 – ((1–5)/2)n–1] / 5 = [((1+5)/2)n–1[(1+ 5)/2 + 1] – ((1–5)/2)n–1[(1– 5)/2 + 1]] / 5 ... Wie kann man diese monströse Formel auflösen ??? Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 26 Beweis (das Wunder) Wir können die kleinen eckigen Klammern günstig umformen: [(1+5)/2 + 1] = [(1+5)/2]2 = [(1–5)/2 + 1] = [(1–5)/2]2 . Man sieht beide Formeln sofort ein, wenn man die jeweiligen rechten Seiten ausrechnet. Nun kann uns aber nichts mehr hindern, weiterzurechnen: ... = [((1+5)/2)n–1 [(1+5)/2]2 – ((1–5)/2)n–1 [(1–5)/2]2 ] / 5 = [((1+5)/2)n+1 – ((1–5)/2)n+1] / 5. ... und damit ist die Aussage A(n+1) bewiesen. Nach dem Prinzip der vollständigen Induktion gilt also die Aussage. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 27 Ein Zaubertrick 8 5 13 8 5 8 8 5 8 13 Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 28 Simpson-Identität 1.4.2 Satz. Für jede natürliche Zahl n 2 gilt fn+1fn–1 – fn2 = (–1)n. In Worten: fn+1fn–1 und fn2 unterscheiden sich nur um 1, mal um +1, mal um –1. Beweis durch Induktion nach n. Die Aussage A(n) sei die Aussage des Satzes. Induktionsbasis. Sei n = 2. Wir müssen die Aussage A(2) zeigen. Dazu rechnen wir einfach die linke Seite aus: L.S. = f3f1 – f22 = 21 – 12 = 1 = (–1)2 = R.S. Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 29 Beweis (Induktionsschritt) Induktionsschritt. Sei n eine natürliche Zahl 2, und es gelte die Aussage A(n). Wir müssen A(n+1) zeigen. Auch dazu rechnen wir einfach die entsprechende linke Seite aus: fn+2fn – fn+12 = (fn+1 + fn) fn – fn+12 = fn+1(fn - fn+1) + fn2 = fn+1(fn - fn+1) + fn+1fn–1 – (–1)n (nach Induktion) = fn+1(fn + fn-1 – fn+1) + (–1)n+1 = fn+10 + (–1)n+1 = (–1)n+1. Somit gilt die Aussage A(n+1). Kapitel 1 © Beutelspacher April 2004 Seite 30